Spiel der Herzen

1. KAPITEL

Er kam kurz vor Mitternacht, als die Stimmung im Kasino fast den Siedepunkt erreicht hatte.

Savannah hatte den Durchgang zwischen dem mit weißem Marmor ausgekleideten Foyer und dem großen Saal schon seit einer Weile nicht mehr aus den Augen gelassen. Aus Angst, ihn zu übersehen.

Was für ein absurder Gedanke.

O’Connell übersehen? Das war schlicht unmöglich. Er war atemberaubend.

„Wie erkenne ich ihn?“, hatte sie Alain gefragt.

Alain beschrieb O’Connell als groß, dunkelhaarig und gut aussehend.

„Reiche Ausstrahlung“, hatte er dann hinzugefügt. „Du weißt schon, was ich meine, chérie. Äußerst kultiviert.“ Lächelnd tätschelte er ihre Wange. „Vertrau mir, Savannah. Du wirst ihn auf Anhieb erkennen.“

Doch als sie vor einer Stunde das Kasino betreten hatte, war ihr klar geworden, dass Alains Beschreibung unbrauchbar war. Weil sie auf die Hälfte der männlichen Gäste zutraf.

Das Kasino lag auf den Bahamas. Emeraude Island war eine Insel mit schneeweißem Sandstrand und türkisfarbenem Wasser, eine Art Klub mit handverlesenen Mitgliedern – die reichsten und erfolgreichsten Spieler Europas, Asiens und Nordamerikas. Alle Männer hier an den Spieltischen hatten eine reiche Ausstrahlung, und viele sahen gut aus.

Savannah hob die Champagnerflöte an die Lippen und trank. Sean O’Connell als gut aussehend zu bezeichnen traf es nicht einmal annähernd.

Wie viele Männer mochte es wohl geben, bei deren Auftauchen sich die Raumtemperatur schlagartig erhöhte? Dieser hier gehörte auf jeden Fall dazu. Sie spürte bereits, dass die Atmosphäre zu sieden begann.

Er zog die Aufmerksamkeit auf sich. Die Männer warfen ihm abschätzende Blicke zu. Die Frauen sehnsüchtige. Wahrscheinlich konnte nicht jeder so unterschwellige Signale auffangen, aber für Savannah gehörte es mit zum Geschäft.

Von der richtigen Einschätzung der Atmosphäre hing unter anderem ihr Erfolg an den Spieltischen ab.

Und heute Nacht auch noch ihre Zukunft.

Nein. Bloß nicht daran denken. Nicht jetzt. Bereits vor Jahren, als sie in New Orleans noch Touristen geschröpft hatte, hatte sie gelernt, dass man nur gewann, wenn man den Kopf freihatte. Man durfte an nichts anderes als an das Spiel denken, an den armen Trottel, den man auserwählt hatte, und die Geschwindigkeit der eigenen Hände.

Und vor allem musste man fest an seinen Sieg glauben.

Diese Philosophie funktionierte immer noch. Angefangen hatte Savannah damals mit Three-Card-Monte, einem Bauernfängerspiel für naive Touristen, das an Straßenecken gespielt wurde, und obwohl sie inzwischen in ausgesucht eleganter Umgebung Baccara und Poker spielte, hatte sich ihre Vorgehensweise nicht geändert.

Konzentration war alles. Man musste ganz ruhig bleiben und die Gedanken auf einen einzigen Punkt bündeln.

Heute Nacht dauerte es länger, diesen Zustand zu erreichen.

Ihre Hand zitterte, als sie noch einen Schluck Champagner trank. Man sah es kaum, es war nur der Anflug eines Zitterns im kleinen Finger, aber selbst das war zu viel. Später am Pokertisch würde sie nichts mehr trinken, doch falls sich dieses Zittern beim Aufnehmen der Karten wiederholte, würde es O’Connell garantiert nicht entgehen. Weil er genau wie sie gelernt hatte, die Körpersprache seines Gegners zu interpretieren.

Sein Talent war legendär.

Jeder Spieler träumte davon, ihn zu schlagen.

Jede Frau träumte davon, mit ihm zu schlafen.

Auch jede Frau hier im Saal. Pech, dachte Savannah und verzog leicht verächtlich den Mund. Sie hatten alle Pech, weil Sean O’Connell in dieser heißen Nacht ganz allein ihr gehören würde.

Wieder hob sie ihr Glas. Mit ruhiger Hand diesmal. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, trank sie noch einen winzigen Schluck von dem eisgekühlten Cristal, gerade genug, um Lippen und Kehle zu benetzen. Dass er sie sehen konnte, war kaum zu befürchten, dafür hatte sie ihren Standort zu sorgfältig gewählt. Von dem Erker aus konnte sie beobachten, ohne beobachtet zu werden.

Sie wollte sich erst ein Bild machen, bevor sie aktiv wurde.

Er hielt es offenbar genauso. Er hatte sich nicht bewegt und stand immer noch in dem bogenförmigen Durchgang zwischen Foyer und großem Spielsaal. Ein geschickter Einstieg, wie sie zugeben musste. So zog er automatisch die Aufmerksamkeit auf sich.

All diese abschätzenden Blicke von Männern, die sich darum rissen, sein nächstes Opfer zu werden. All diese katzenhaft lächelnden Frauen, die dasselbe wollten, nur auf eine andere Art.

Was die Männer bewegte, konnte Savannah verstehen. Für jeden Spieler, der etwas auf sich hielt, war es eine Herausforderung, jemanden wie O’Connell zum Gegner zu haben. Selbst wenn man verlor, konnte man später bei Unterhaltungen beiläufig einflechten, dass man gegen ihn gespielt hatte. Oh, konnte man dann sagen, habe ich eigentlich schon erzählt, wie mich Sean O’Connell mit zwei Zweien geschlagen hat?

Da würden alle aufhorchen.

Aber was die Frauen antrieb, war Savannah schleierhaft. Wo doch bekannt war, dass O’Connell ein Herzensbrecher erster Güte war. Warum sollte man sich so etwas antun? Gefühle waren gefährlich. Und unpraktisch obendrein. Trotzdem musste sie zugeben, dass O’Connell eine Wohltat für die Augen war.

Er war hochgewachsen, bestimmt eins neunzig, wenn nicht größer. Er trug Schwarz, über einem schwarzen T-Shirt ein offenes schwarzes Dinnerjackett zu einer schwarzen Hose, die seinen sehnigen muskulösen Körper betonte. Und er war dunkelhaarig, wie Alain gesagt hatte. Nachtschwarz träfe es noch besser.

Über seine Augen hatte Alain nichts gesagt.

Was für eine Farbe sie wohl hatten? Bestimmt blau, vermutete sie aus irgendeinem Grund. Sie war zu weit weg, um es sehen zu können, aber einen Herzschlag lang versuchte sie sich vorzustellen, was wohl passieren mochte, wenn sie den Raum durchquerte, dicht vor ihm stehen bliebe und ihm in die Augen schaute.

Savannah runzelte die Stirn, gönnte sich noch einen winzigen Schluck Champagner.

Sie hatte eine Aufgabe vor sich. O’Connells Augenfarbe war absolut nebensächlich. Entscheidend war, wie sie ihr Wissen über ihn heute Nacht für ihre Zwecke nutzte.

Er galt als einer der besten Spieler der Welt. Kühl, kalkuliert, intelligent und knallhart. Allerdings stand er auch in dem Ruf, keiner Herausforderung widerstehen zu können, egal ob es sich dabei um eine Pokerpartie oder um die Eroberung einer schönen Frau handelte.

Deshalb war sie heute Nacht hier. Um O’Connell in eine Falle zu locken. Alain wollte es so.

Sie hatte noch nie versucht, ihre weiblichen Reize so einzusetzen, dass sich ihr männliches Gegenüber nicht mehr auf das Spiel konzentrieren konnte.

Aber warum eigentlich nicht? Schließlich war es doch nur eine Variante der Taschenspielertricks, die sie sich angeeignet hatte, als sie noch Three-Card-Monte gespielt hatte. Da brauchte man sein Opfer nur abzulenken, indem man rasend schnell die Hände bewegte, damit nicht auffiel, wie man die Dame verschwinden ließ und noch einen König aus dem Ärmel zog.

Sie würde tun, was sie tun musste.

Ihr Ziel war der Sieg. Der Sieg auf ganzer Linie. Sie musste Sean O’Connell vernichtend schlagen. Ihn vor allen Leuten demütigen. Und danach würde sie endlich frei sein.

Frei, dachte Savannah und spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.

Sie konnte es. Sie musste es tun.

Und sie wollte endlich anfangen. Die lange Warterei machte sie unruhig und nervös. Beweg dich, überlegte sie. Na los, mach schon, O’Connell. Such dir einen Tisch, damit wir endlich loslegen können.

Obwohl sie natürlich auch den ersten Schritt machen könnte … Nein. Das war keine gute Idee. Er musste den Anfang machen. Sie musste warten, bis er bereit war.

Er stand immer noch im Durchgang. Ein Kellner brachte ihm einen Drink in einem Kristallglas. Bourbon aus Tennessee wahrscheinlich. Das trank er immer. Wenn er überhaupt trank. Von Alain hatte sie außerdem erfahren, dass er aus Amerika kam, wie sie selbst auch. Obwohl er wirkte, als ob er überall auf der Welt zu Hause wäre.

Er führte das Glas zum Mund. Trank nur einen winzigen Schluck, genau wie sie selbst eben. Er wirkte vollkommen entspannt. Nach allem, was sie wusste, zeigte er niemals irgendwelche Anzeichen von Nervosität, aber sein Puls hatte sich bestimmt beschleunigt, während er die Atmosphäre schnupperte.

Niemand versuchte sich ihm zu nähern. Man gab ihm Raum.

„Die Leute wissen, dass sie sich nicht aufdrängen dürfen“, hatte Alain ihr erklärt. „Er inszeniert sich gern als einsamer Wolf.“

Falsch. O’Connell war kein Wolf. Er war ein Panther, schwarz und gefährlich. Extrem gefährlich, dachte Savannah, wobei ihr ein leiser Schauer über den Rücken lief.

„Keine Angst, du schaffst das, chérie“, klangen ihr Alains Worte im Ohr. „Habe ich dich je in die Irre geführt?“

Nein, noch nie, seit dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Obwohl sich sein Verhalten ihr gegenüber in letzter Zeit verändert hatte. Er sah sie anders an, berührte ihre Hand anders …

Nein. Daran wollte sie jetzt nicht denken. Vor ihr lag eine Aufgabe, die sie bewältigen musste, und zwar mit Bravour.

Sie würde die Pokerpartie mit Sean O’Connell in einen verführerischen Schleiertanz verwandeln. Und gleichzeitig würde sie ihm jeden Cent aus der Tasche ziehen, den er besaß. Da sich dies in aller Öffentlichkeit abspielte, würde die Demütigung perfekt sein.

„Ich will, dass Sean O’Connell beschämend verliert, hast du mich verstanden?“ Alains Flüstern hatte ihr eine Gänsehaut über den Rücken gejagt. „Und zwar nicht nur sein Geld, sondern auch seine Selbstbeherrschung. Seine Arroganz. Seinen Stolz. Du ziehst ihn nackt aus und lässt ihn dann einfach sitzen.“ Bei seinem Lächeln hatte sich ihr der Hals zusammengeschnürt. „Wenn du deine Sache gut machst, bekommst du einen Bonus, chérie. Damit meine ich, du darfst den Gewinn behalten, was sagst du dazu?“

Es wäre traumhaft, denn wenn sie dieses Geld hätte, dann … dann wäre sie endlich frei.

Bis vor Kurzem hätte sie es noch nicht gewagt, so etwas zu denken, aus Angst, Alain könnte es ihr ansehen. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Was sie heute Abend vorhatte, machte sie nicht für Alain, sondern für sich selbst.

Für sich und ihre Schwester.

Am Ende dieser Nacht würde sie über genug Geld verfügen, um Alain zu verlassen und sich wieder selbst um Missy kümmern zu können. Dann würde sie frei sein … und dem entkommen, was Alain wahrscheinlich als Nächstes mit ihr vorhatte.

Und wenn der Weg dahin nur über Sean O’Connells Demütigung, seinen beruflichen Niedergang führte, dann war es eben so. Sie konnte es nicht ändern. Außerdem, warum sollte sie sich Gedanken machen? O’Connell war ein Fremder für sie.

Und darüber hinaus war er auch noch ein Falschspieler und Betrüger.

Vor einem Jahr war er auf der Jacht gewesen, um mit Alain zu spielen. Am Ende hatte er Alain um eine Million Dollar betrogen. Savannah war nicht dabei gewesen, weil sie – wie immer zu Monatsanfang – in der Schweiz gewesen war, bei Missy in ihrem Sanatorium. Aber nach ihrer Rückkehr hatte Alain ihr die ganze Geschichte erzählt.

Das folgende Jahr hatte Alain damit zugebracht, Rachepläne zu schmieden.

Es ging dabei nicht ums Geld. Alain hatte Geld wie Heu, da kam es auf eine Million mehr oder weniger nicht an. Nein, ihm ging es ums Prinzip, wie er gesagt hatte.

Das konnte Savannah gut verstehen.

Falschspieler durfte man nicht dulden, sie brachten die ganze Branche in Verruf, deshalb musste man sich gegen sie wehren. Ein Falschspieler wurde gesperrt, er durfte kein Kasino mehr betreten. Oder man brach ihm – wenn er Pech hatte und mit den falschen Leuten spielte – die Hände.

Auf die Idee, die Polizei zu rufen, kam niemand.

Alain aber wollte etwas anderes. O’Connell hatte ihn gedemütigt, wenn auch nicht öffentlich. Und jetzt wollte Alain sich rächen, allerdings so öffentlich wie nur möglich. Deshalb hatte er einen Plan ausgeheckt, von dem er ihr vergangene Woche erzählt hatte.

Er hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt und ihr erklärt, wie er sich die Sache vorstellte. Als sie protestiert hatte, hatte er so gelächelt, wie sie es vor ein paar Monaten zum ersten Mal bei ihm gesehen hatte, ein Lächeln, bei dem sich ihr die Nackenhaare sträubten.

„Wie geht es Missy?“, hatte er sanft gefragt. „Fühlt sie sich auch wirklich wohl in dieser Privatklinik, chérie? Geht es ihr schon besser? Vielleicht sollte man ja über ein paar Veränderungen nachdenken.“

Was hatte er damit gemeint? Sein Gesichtsausdruck hatte keinen Anlass zu Besorgnis gegeben, aber irgendetwas in seinem Tonfall und in seinen Augen hatte sie nervös gemacht. Savannah hatte ihn angestarrt und nicht gewusst, was sie sagen sollte. Doch dann hatte er auch schon wieder gelacht und ihr einen Kuss auf die Wange gegeben.

„Es wird dir Spaß machen, chérie“, hatte er gesagt. „Dein Debüt zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag, gewissermaßen.“

Damit hatte er gemeint, dass sie O’Connell in einem öffentlichen Kasino schlagen sollte. Bisher hatte Alain sie nur in Privatklubs eingesetzt.

Sie war mit sechzehn zu ihm gekommen, direkt von der Straße in New Orleans, wo sie sich und Missy über Wasser hielt, indem sie naive Touristen bei Spielen wie Three-Card-Monte übers Ohr haute. Reich wurde man dabei natürlich nicht, vor allem, weil diese Art Spiele verboten war und man immer nur so lange spielen konnte, bis einen die Cops wegjagten.

Eines Abends hatte Alain am Rand der kleinen Menschenmenge gestanden, die sich um sie versammelt hatte. Er hatte beobachtet, wie sie ein paar Touristen ausgenommen hatte, die ihren Verstand zusammen mit ihrem Gepäck im Hotelzimmer gelassen hatten.

Und dann hatte er sie plötzlich angesprochen.

„Du bist gut, chérie“, sagte er mit einem leichten Lächeln, und sein französischer Akzent hatte seinen Charme noch unterstützt.

Savannah schaute ihm offen in die Augen.

„Die Beste“, sagte sie. Alain lächelte wieder und nahm ihr das Kartenspiel aus der Hand.

„He“, rief sie aus. „Die gehören mir.“

Er hörte nicht auf sie, mischte die Karten, dann fächerte er sie auf und hielt sie ihr hin. „Wo ist die Dame?“

Savannah verdrehte die Augen und deutete auf eine Karte. Alain grinste und mischte die Karten wieder. Diesmal so blitzschnell, dass seine Hände verschwammen.

„Wo ist sie jetzt, chérie?“

Savannah deutete wieder. Alain zeigte die Karte.

Pech. Es war die Karosieben.

„Pass genau auf“, forderte er sie auf.

Sie schaute und schaute, aber sie kam nicht drauf, wie er es machte. Fünf Minuten später gab sie auf.

„Wie machen Sie das?“

Er warf die Karten hin und deutete mit dem Kopf auf eine große schwarze Limousine am Straßenrand.

„Komm mit, dann zeig ich es dir. Du bist gut, chérie, aber ich werde dir beibringen, deinen Verstand genauso zu benutzen wie deine Hände. Zusammen können wir ein Vermögen verdienen.“

„Sieht ganz so aus, als hätten Sie bereits ein Vermögen verdient, Mister.“

Alain musste lachen. „Stimmt, aber Geld kann man nie genug haben. Davon abgesehen machst du mich neugierig. Außerdem brauchst du dringend eine Badewanne.“

„He, he!“, protestierte sie.

„Aber es stimmt, chérie. Wie die Eliza von Professor Higgins.“

„Ich kenne keine Eliza und auch keinen Professor Higgins“, erwiderte Savannah ungeduldig.

„Macht nichts. Für dich zählt nur, dass sich durch mich dein Leben entscheidend verändern kann.“

Wollte er sie auf den Arm nehmen? Oder Schlimmeres? Sie war ganz bestimmt nicht so naiv, in das Auto eines Fremden einzusteigen.

Allerdings war sie auch nicht so dumm, sich eine Chance entgehen zu lassen.

Sie schaute erst auf die Limousine, dann auf den Mann, dessen Anzug wahrscheinlich mehr gekostet hatte, als sie in den nächsten fünf Jahren verdienen konnte. Ihr Blick wanderte weiter zu Missy, die stumm neben ihr auf dem Bürgersteig hockte und eine Melodie vor sich hinsummte, die außer ihr selbst niemand hören konnte.

Da schaute Alain ebenfalls auf Missy.

„Wer ist das?“

„Meine Schwester“, gab Savannah mit blitzenden Augen und trotzig gerecktem Kinn zurück.

„Was ist mit ihr?“

„Sie ist autistisch.“

„Soll heißen?“

„Soll heißen, dass sie nicht spricht.“

„Kann sie nicht, oder will sie nicht?“

Das schien ein feiner Unterschied zu sein, den bisher noch niemand erwähnt hatte.

„Ich weiß es nicht“, gestand Savannah. „Sie sagt einfach nichts.“

„Bestimmt gibt es Ärzte, die ihr helfen können. Ich könnte ihr helfen. Die Entscheidung liegt bei dir.“

Savannah hatte ihn angestarrt. Dann hatte sie an das lange Schnappmesser gedacht, das sie immer zur Verteidigung bei sich trug.

„Wenn Sie versuchen, mich reinzulegen, werden Sie es bereuen“, hatte sie mit vor Angst klopfendem Herzen gesagt.

Alain hatte genickt und ihr seine Hand hingehalten. Sie hatte sie übersehen und Missy sanft hochgezogen. Dann waren sie beide in ein neues Leben gegangen, in dem es täglich ein heißes Bad, saubere Kleidung, gutes Essen, ein Zimmer für sie ganz allein und eine Privatklinik für Missy gab.

Er hatte Wort gehalten. Sie hatte ihm wirklich viel zu verdanken.

Und angerührt hatte er sie auch nicht.

Bis vor Kurzem jedenfalls nicht.

Bis er angefangen hatte, sie so komisch anzusehen, mit klebrigen Blicken, bei denen sich ihr die Nackenhaare sträubten. Und dann hatte er sich auch noch angewöhnt, feuchte Küsse in ihre Handfläche zu drücken oder, viel schlimmer noch, sie zu rufen, wenn er Besuch hatte, um sie Männern mit ebenso klebrigen Blicken vorzustellen, die ihr mit den Fingerspitzen über Wangenknochen und Schultern fuhren.

Deshalb hatte sie sich bereit erklärt, Sean O’Connell bis aufs Hemd auszuziehen.

So war es am besten. Alain würde bekommen, was er wollte. Und sie auch. Morgen früh würde sie genug Geld haben, um ohne Alains Hilfe existieren zu können. Und Missy auch. Um weglaufen zu können – obwohl sie vor Alain bestimmt nicht weglaufen musste.

Er würde sie gehen lassen.

Natürlich würde er das.

Savannah hob ihr Glas an die Lippen. Es war leer. Auch gut. Normalerweise trank sie nicht, wenn sie spielte. Nur heute hatte sie sich an der Bar einen Cristal geben lassen, weil sie das angenehme Kribbeln spüren wollte.

Aber jetzt brauchte sie das nicht mehr.

Sie stellte ihr leeres Glas ab und zog den schockierend kurzen Rock ihres roten Kleides nach unten. Das Kleid hatte Alain ausgesucht. Es war zwar überhaupt nicht ihr Stil, aber das Leben, das sie derzeit führte, war schließlich auch nicht ihr Stil. Manche Dinge im Leben konnte man sich eben nicht aussuchen.

Savannah atmete tief durch und versuchte sich wieder zu konzentrieren. Sie schüttelte ihr langes goldblondes Haar zurück und trat aus dem Schatten.

Egal, ob du bereit bist oder nicht, Sean O’Connell, ich komme.

2. KAPITEL

Jetzt endlich war es so weit. Goldlocke würde gleich in Aktion treten.

Sean spürte es genau. Irgendetwas an der Art, wie sie das Glas zum Mund führte, wie sich ihr Körper straffte, verriet ihre Absicht. Am liebsten hätte er laut Beifall geklatscht.

Wird auch langsam Zeit, Baby, hätte er ihr gern zugerufen.

Was er natürlich nicht tat. Warum sollte er sich verraten? Sie hatte nämlich keine Ahnung, dass sie beobachtet wurde, darauf wäre er jede Wette eingegangen.

Während er wusste, dass sie ihn beobachtete.

Sie war ihm sofort aufgefallen, gleich nachdem er den Saal betreten hatte. Oder genauer: nicht betreten hatte. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man gut daran tat, erst etwas Atmosphäre zu schnuppern, statt sich gleich ins Getümmel zu stürzen. Deshalb hatte er sich Zeit gelassen und war in dem Durchgang zwischen Foyer und Spielsaal stehen geblieben, hatte hin und wieder einen kleinen Schluck Whiskey getrunken und den Blick schweifen lassen.

Über die Tische. Die Spieler. Die Kartengeber. Im Kasino musste man ebenso abwarten und beobachten wie im Leben. Meistens lohnte es sich.

Dabei war sie ihm aufgefallen.

Groß und blond, super Figur, traumhaft lange Beine. Ihr Gesicht wäre für Botticelli gewiss eine Inspiration gewesen, und beim Anblick der glänzend blonden Mähne verspürte man sofort den Wunsch, mit den Fingern durchzufahren.

Sean trank noch einen kleinen Schluck von seinem Bourbon.

O ja, er hatte sie sofort bemerkt.

Sie peilte ebenfalls die Lage. Zumindest hatte er das anfangs angenommen. Doch nach einer Weile war ihm klar geworden, dass das so nicht ganz stimmte.

Sie beobachtete ihn.

Sie verhielt sich äußerst vorsichtig. Geschickt. Ihr Aussichtspunkt war gut gewählt, ein kleiner schummrig beleuchteter Erker. Sean hatte jedoch schon vor langer Zeit gelernt, auf jede noch so winzige Einzelheit zu achten, deshalb entging ihm nichts. Davon hing sein Erfolg beim Spiel ab.

Um die Blonde zu übersehen, hätte ein Mann allerdings schon blind sein müssen. Sie war definitiv atemberaubend.

Und sie führte irgendetwas im Schilde. Etwas, das mit ihm zu tun hatte. Fragte sich nur, was das war.

Er hatte gute Lust, einfach zu ihr zu gehen, ihr tief in die Augen zu schauen und zu sagen: So, Herzchen, da bin ich. Womit kann ich dienen?

Aber natürlich tat er es nicht, sondern wartete weiterhin ab.

Was würde passieren? Goldlocke hatte irgendetwas vor, das sie nervös machte. Als sie eben einen Schluck getrunken hatte, hatte ihr kleiner Finger ganz leicht gezittert.

Und dann hätte er vor lauter Ungeduld fast doch noch einen Fehler gemacht, aber da bewegte sie sich.

Sean kniff die Augen zusammen, als sie aus dem Erker trat und auf ihn zukam. O ja, sie war wirklich schön. Das Gesicht hatte definitiv Botticelli’sche Qualitäten. Ihr Körper erinnerte an eine griechische Statue. Hohe, feste Brüste. Schlanke Taille. Und, o Mann, o Mann, diese langen Beine.

Das Beste aber war ihr Gang.

Durchgedrücktes Kreuz. Gestraffte Schultern. Mit schwingenden Armen näherte sie sich ihm, ein langes schlankes Bein elegant vors andere setzend, raubkatzenhaft. Sie hatte den Gang eines Models. Es erregte ihn, zu sehen, wie ihr Kleid an ihren Brüsten und ihren Hüften klebte. Und was für Hüften das waren, wie geschaffen dafür …

Himmel.

Allein ihr Anblick machte ihn fertig.

Sean trank schnell seinen Whiskey aus. Dabei wünschte er sich dringend eine kalte Dusche und rätselte immer noch, warum ihn die Blonde so aufmerksam beobachtet hatte.

Jetzt war sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Sie zögerte. Dann reckte sie entschlossen das Kinn, warf das Haar zurück, atmete tief durch und setzte ein Lächeln auf.

Ein Lächeln, das ihm durch und durch ging, er konnte es bis in die Zehenspitzen spüren.

„Hallo.“

Ihre Zungenspitze schob sich hervor, fuhr über die Unterlippe. Sean hätte fast laut aufgestöhnt. Er lächelte mühsam.

„Hallo“, sagte er. „Ich würde ja sagen, dass ich bereits mein ganzes Leben lang auf Sie gewartet habe, aber ich befürchte, dass Sie mir für so einen blöden Spruch gleich eine runterhauen.“

Sie lachte. Und wurde rot. Oh, so süß. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal eine Frau hatte rot werden sehen.

„Bestimmt nicht. Ich bin heute Abend schon viel zu lange allein.“

Ihre Stimme war weich. Ein samtiges Schnurren. Es erinnerte ihn an warme Südstaatennächte. Er machte einen Schritt auf sie zu.

„Dann trifft es sich ja gut, dass ich noch gekommen bin. Wie heißen Sie, schöne Frau?“

„Savannah.“

„Ah.“

„Ah?“

„Der Name passt zu Ihnen. Und in diesem sexy Akzent schwingen Mondschein und Magnolienduft mit. Ich wette, Sie sind aus Georgia.“

Wieder stieg ihr die Röte in die Wangen. Komisch, dass sie so leicht rot wurde, wo sie ihn doch so direkt angemacht hatte.

„Savannah, und wie noch?“

Wieder fuhr sie sich mit dieser rosa Zungenspitze über ihren Rosenknospenmund. War ihr eigentlich bewusst, was sie mit ihm anstellte? Er nahm es an, doch als er ihr in die klaren grünen Augen schaute, war er sich nicht mehr so sicher.

„Einfach nur Savannah.“ Sie trat dicht an ihn heran. Jetzt stieg ihm ihr Duft in die Nase, eine verführerisch unschuldige Mischung aus Vanille und Frau.

„Soll mir recht sein.“ Sean räusperte sich. „Ich liebe Geheimnisse, Einfach-nur-Savannah.“

„Einfach-nur …“ Sie hob leicht die Augenbrauen, dann lächelte sie. „Klingt nett. Einfach-nur-Savannah.“

„Freut mich, wenn es Ihnen gefällt.“

„Und wie darf ich Sie nennen?“

„Sean.“

Irgendetwas flackerte in diesen wunderschönen Augen. Erleichterung? Unmöglich. Warum sollte sie erleichtert sein?

„Einfach-nur-Sean“, sagte sie lächelnd.

„Einfach-nur-Sean und Einfach-nur-Savannah. Zwei Leute ohne Nachnamen, die sich eben erst kennengelernt haben und neugierig sind, was die Nacht noch für sie bereithält.“

„Das gefällt mir.“ Sie legte ihm leicht die Hand auf die Brust. „Was für ein Spiel wollen Sie heute spielen, Sean?“