Traumboot der Liebe

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Wie groß die Aufregung der schönen Journalistin Anny ist, als sie ihn wiedersieht: Im sonnigen Ventimiglia soll sie ein Interview mit dem Computerspezialisten Van Carlisle führen. Seit ihrer Kindheit auf der Sea Dreams war Van ihre ganz große Liebe - bis es damals zum Bruch kam...


  • Erscheinungstag 01.07.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733778743
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die beiden jungen Leute, die durch den belebten Hydepark spazierten, hätten Bruder und Schwester sein können, so ähnlich sahen sie sich. Beide waren groß und hatten blondes Haar. Entspannt und sorglos genossen sie das schöne Wetter an diesem herrlichen Frühlingsnachmittag, an dem nach dem langen, kalten Winter der strahlende Sonnenschein viele Londoner ins Freie lockte.

Als Jon Annys Hand in seine nahm und seine Finger mit ihren verschränkte, spürte sie, dass es mehr war als nur eine freundliche Geste. Anny wusste instinktiv, dass er ihr einen Heiratsantrag machen wollte.

Sie hatte sich ausgemalt, er würde sie irgendwann bei einem romantischen Dinner mit Kerzenlicht in einem gemütlichen Restaurant bitten, seine Frau zu werden. Das hätte zu Jon gepasst, denn er war gefühlvoll, außerdem sehr zuverlässig und berechenbar. Alle hatten ihn gern. Obwohl Anny und Jon sich schon länger kannten, war sie sich nicht sicher, ob sie ihn heiraten wollte.

Über die Rasenfläche gingen sie auf den kleinen See zu, wo sie ziemlich ungestört waren. Jon blieb stehen, ließ ihre Hand los und umfasste ihr Gesicht.

Annys langes Haar wehte in der frischen Brise, und ihre Wangen waren gerötet. Sie blickte Jon an und hätte ihm am liebsten gesagt, sie sei noch nicht bereit, sich zu binden. Sie schwieg jedoch, weil sie ihn nicht verletzen wollte.

Plötzlich läutete ihr Handy, das sie in der Tasche ihrer warmen roten Jacke bei sich trug.

Jon fluchte leise vor sich hin. Er war eigentlich ein friedlicher und eher sanftmütiger Mensch und ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen.

„Es dauert nicht lange. Ich sage, ich sei beschäftigt.“ Sie zog das Handy hervor. „Hallo?“, meldete sie sich.

„Greg hier. Ich habe einen Job für dich.“ Greg war Redakteur eines Magazins, das als Beilage zu einer Sonntagszeitung erschien. „Alle Vormittagsflüge von Gatwick und Heathrow sind ausgebucht, du musst ab Stansted fliegen. Ich gebe dir rasch die Flugnummer durch.“

Seit fünf Jahren arbeitete Anny in London als Journalistin und hatte immer etwas zu schreiben bei sich. Während sie das Handy mit der einen Hand ans Ohr hielt, notierte sie mit der anderen die Flugdaten.

Man schickte sie nach Nizza, an die französische Riviera. Sie stellte sich vor, wie die Fontänen der Springbrunnen an der Baie des Anges in der Sonne glitzerten, und sah die Palmen vor sich, die die Promenade säumten. Die Wellen des blauen Meers rollten sanft an den Strand, und in der Altstadt ganz in der Nähe konnte man den Blumenmarkt besuchen, dessen Stände überquollen von goldgelben Mimosen, die in dem milden Klima prächtig gediehen.

Anny kannte die Stadt gut, wäre jedoch freiwillig nie dorthin zurückgekehrt.

„Warum ausgerechnet nach Nizza?“, fragte sie.

„Weil du ein Interview mit Giovanni Carlisle führen sollst. Er wohnt an der italienischen Riviera, direkt an der französischen Grenze. Du kannst dir ein Auto mieten und bist in weniger als einer Stunde da.“

Plötzlich fühlte sie sich ganz elend, und ihr wurde schwindlig.

„Damit wirst du Karriere machen! Zum ersten Mal lässt sich der King of Cyberspace interviewen. Hoffentlich bist du dir bewusst, was es für dich bedeutet“, sagte Greg.

„Warum muss ausgerechnet ich hinfliegen? Man kann doch jemanden schicken, der mit der Materie vertraut ist.“

„Wir sind nicht an dem Computerexperten, sondern an dem Privatmann interessiert. Ich habe am Flughafenschalter Zeitungsausschnitte für dich hinterlegen lassen. Du kannst sie während des Flugs lesen, dann weißt du schon etwas über ihn. Es ist deine große Chance, Anny. Lass sie dir nicht entgehen“, beendete Greg das Gespräch.

„Was gibt’s?“, fragte Jon, als sie das Handy, den Notizblock und den Bleistift in die Tasche steckte.

„Ich muss morgen nach Nizza fliegen und Giovanni Carlisle interviewen.“

„Dann bist du ja morgen Abend wieder hier“, antwortete er erleichtert. „Ich habe schon befürchtet, du wärst länger weg, gerade jetzt, da ich etwas mehr Zeit habe.“ Als Pflanzenkonservator hielt Jon sich oft im Ausland auf. „Angeblich hasst Carlisle Journalisten“, fügte er hinzu, während sie langsam weitergingen.

„Das stimmt. Gerade deshalb ist er für Leute wie Greg auch so interessant. Die meisten Prominenten legen großen Wert auf eine gute Presse und arbeiten mit den Medien zusammen. Aber um die wenigen, die das Rampenlicht scheuen, reißt man sich ganz besonders.“

„Warum hat Carlisle wohl seine Meinung geändert?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Anny.

„Ich kann dir einiges über ihn erzählen.“

„Ja?“ Überrascht zog sie die Augenbrauen hoch.

Jon hatte Gartenbau studiert und arbeitete seit einigen Jahren für eine internationale Organisation, die sich für die Erhaltung der verschiedenen Pflanzenarten in ihrer natürlichen Umgebung einsetzte und sich aktiv damit befasste. Außerdem kannte er sich ganz gut in der Computerbranche aus.

„Er wohnt im Palazzo Orengo bei Ventimiglia“, begann Jon. „Von dort bis nach Cannes ist die ganze Küste praktisch übersät mit berühmten Gärten, die angelegt wurden, als man hauptsächlich im Winter den Urlaub dort verbrachte, weil es den Leuten im Sommer zu heiß war. Der Garten um den Palazzo Orengo stammt aus der edwardianischen Zeit. Nach dem Tod des Besitzers verwahrloste alles, bis Carlisle das Grundstück mit dem Palazzo übernahm. Carlisle hat noch keinem Journalisten Zutritt gewährt.“

„Wie hat Greg es wohl geschafft, ihn umzustimmen?“, fragte Anny.

Jon war klar, dass sie nur noch an den neuen Auftrag dachte. Was er ihr vor dem Anruf hatte sagen wollen, interessierte sie gar nicht mehr. Sie liebte ihren Beruf, war Journalistin mit Leib und Seele, und ihre Karriere stand bei ihr an erster Stelle. Jon akzeptierte es, in gewisser Weise war er sogar froh darüber, denn sie hatte viel Verständnis für seine Auslandsreisen und langweilte sich nie ohne ihn. Seine früheren Freundinnen waren nicht so tolerant gewesen.

„Wahrscheinlich gibt es in den Archiven der Royal Horticultural Society Aufzeichnungen über Orengo. Ich kümmere mich morgen darum, ich habe nichts anderes vor.“

„Das ist lieb von dir, Jon. Aber vielleicht verschwendest du nur deine Zeit. Warte, bis ich zurück bin. Es kann sein, dass der King of Cyberspace mich sogleich wieder wegschickt.“

„Keine Angst, das wird er nicht tun, dafür bist du viel zu schön.“ Seine Stimme klang liebevoll.

Er war natürlich voreingenommen, weil er sie liebte, aber auch viele andere hielten Anny Howard für eine Schönheit. Sie hatte große graue Augen und lange, dichte dunkle Wimpern. Die Männer bewunderten ihre schlanke Figur und ihre langen Beine, und die Frauen beneideten sie um ihre Klasse und ihren Stil. Anny verstand es, sich mit wenig Aufwand so perfekt zu kleiden, dass sie besser aussah als so manche Frau in einem Designeroutfit. Aber sie fiel vor allem durch die Wärme und Herzlichkeit auf, die sie ausstrahlte, und durch ihre wundervolle Stimme.

Schon vor einigen Monaten hatte Jon beschlossen, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Er hatte jedoch gespürt, dass sie noch nicht so weit war, und ihr Zeit lassen wollen. Der verdammte Anruf hatte seine Pläne durchkreuzt. Jetzt hatte Anny nur noch das Interview mit Giovanni Carlisle im Kopf.

In der milden, warmen Luft stand in Monaco ein großer dunkelhaariger Mann im Smokingjackett vor der Skulptur einer nackten Frau, die sich mit den Armen auf die Schultern eines nackten Mannes stützte und die Hände hinter seinem Nacken verschränkte.

Van, wie Giovanni Carlisle von seinen Verwandten und guten Freunden genannt wurde, hatte die Bronzefigur noch nie im Mondschein betrachtet. Der Künstler, der sie geschaffen hatte, hatte sie „Aufforderung“ genannt. Sie erinnerte Van Carlisle an ein bestimmtes Ereignis in seinem Leben.

Er hielt sich nicht gern in Monaco auf und fuhr sehr selten in das Fürstentum. Aber es wäre unhöflich gewesen, die Einladung einer Bekannten zur Dinnerparty abzulehnen, die wie er einen amerikanischen Elternteil hatte.

Ihm war klar, dass es vorbei war mit dem Leben in der Anonymität. Er bemühte sich jedoch, wenig aufzufallen, lebte sehr zurückgezogen und verkehrte nicht mit seinesgleichen, den Reichen und Schönen dieser Welt. Niemand durfte ihn stören in seiner Abgeschiedenheit, nur wer eingeladen war, wurde in den Palazzo gelassen.

Als er an die Frau dachte, die man für den nächsten Tag nach Orengo bestellt hatte, lächelte er ironisch.

Ist Anny Howard vielleicht zu stolz, zu mir zu kommen? überlegte er, bezweifelte es jedoch. Er kannte sie und hielt es für wahrscheinlicher, dass sie sich das in Aussicht gestellte Interview nicht entgehen lassen würde. Die Karriere war ihr wichtiger als alles andere.

Aber sie würde nicht bekommen, was sie haben wollte, das hatte er sich fest vorgenommen.

Um zehn vor sieben am nächsten Morgen war im Westend wenig Verkehr. Anny fuhr mit dem Taxi zur Liverpool-Street-Station und stieg in den Stansted-Express, der sie zu dem kleinen Flughafen dreißig Meilen nördlich von London brachte.

In der Abflughalle setzte sie sich in ein kleines Café. Nach der mehr oder weniger schlaflosen Nacht brauchte sie einen starken Kaffee und musste die Gedanken ordnen. Die Zeitungsartikel über Giovanni Carlisle würde sie später durchlesen. Sein Produkt Cyberscout, das den allgemeinen Zugriff auf die ungeheuren Ressourcen im Cyberspace erleichterte, hatte ihn zum Multimillionär gemacht.

Seinetwegen hatte sie die halbe Nacht nicht schlafen können und schlecht geträumt. Viel lieber würde sie zu Hause bleiben und nicht nach Nizza fliegen. Sie hatte sich bemüht, die Vergangenheit zu vergessen, und geglaubt, es geschafft zu haben. Aber jetzt wusste sie, dass sie sich getäuscht hatte.

Das, was damals geschehen war, schmerzte immer noch so sehr, als wäre es erst gestern passiert. Bei dem Gedanken, in wenigen Stunden Van wieder zu sehen, bekam sie Kopfschmerzen, und ihr schauderte. Warum hatte sie sich überhaupt darauf eingelassen?

Seit drei Jahren arbeitete Charlene Moore schon für Giovanni Carlisle als seine persönliche Assistentin. Sie verließ den Palazzo durch den Seiteneingang und ging über abschüssige Pfade und Steintreppen zum Swimmingpool hinunter.

Der übergroße Pool lag am unteren Ende des Gartens und war mit Meerwasser gefüllt, das aus der abgeschiedenen Bucht hinaufgepumpt wurde. Mr. Carlisle schwamm jeden Morgen vor dem Frühstück seine Runden. Manchmal frühstückte er erst um zehn oder elf, wenn er die ganze Nacht gearbeitet hatte.

Schon gleich zu Anfang hatte Charlene gemerkt, dass Mr. Carlisle nach seinem eigenen Rhythmus lebte. Ihn interessierte wenig, was andere taten oder dachten. Obwohl sie im Palazzo wohnte, wusste sie wenig über sein Privatleben. Man erzählte sich, er habe in Nizza eine schöne Geliebte. Wenn es stimmte, war es eine sehr diskrete Angelegenheit, denn man sah die beiden nie zusammen.

In gewisser Weise tat er ihr Leid. Er war unglaublich intelligent, sagenhaft reich und sah auch noch umwerfend gut aus. Aber er würde nie sicher sein können, ob eine Frau nur ihn oder vor allem seinen Reichtum liebte.

Als sie die geflieste Terrasse erreichte, die den Pool umgab, erblickte sie Mr. Carlisle. Er saß am anderen Ende, hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen und las irgendwelche Akten durch.

Ein großer grüner Sonnenschirm neben dem Frühstückstisch spendete Schatten, denn die Sonne brannte schon vom Himmel. Giovanni Carlisle hatte sich ein weißes Badetuch umgeschlungen und trug marineblaue Leinenschuhe. Die langen gebräunten Beine hatte er weit von sich gestreckt und die Füße übereinander geschlagen. Das dichte schwarze Haar und seine dunkle Haut bewiesen, dass er italienische Vorfahren hatte.

Er sah seine Assistentin kommen und stand auf. Besonders seinen Mitarbeitern gegenüber war er immer höflich und zuvorkommend.

„Guten Morgen, Charlene.“ Gleich zu Anfang hatte er gebeten, sie mit dem Vornamen anreden zu dürfen, hatte jedoch nie vorgeschlagen, dass sie ihn auch so zwanglos anredete.

„Guten Morgen, Mr. Carlisle.“

Mit einer Handbewegung forderte er sie auf, sich auf den mit Leinen bespannten Gartensessel unter den Sonnenschirm zu setzen.

„Hatten Sie einen schönen Tag gestern?“

„Ja danke. Ich war in Èze.“ Sie war Hobbymalerin und hielt sich in ihrer freien Zeit am liebsten in den malerischen Dörfern in der Umgebung auf.

„Heute wird ein Gast ankommen, Anny Howard. Sie wird bei uns übernachten“, erklärte er.

Charlene wusste, wer Anny Howard war, denn es gehörte zu ihren Aufgaben, alle Artikel der englischen Journalistin zu sammeln und abzulegen. Ein Mal im Monat wurden Giovanni Carlisle von einer Londoner Presseagentur diese Artikel zugeschickt. Mehrere Aktenordner waren bereits damit gefüllt. Warum er an Miss Howard interessiert war, war Charlene rätselhaft.

„Sie bekommt das Turmzimmer. Veranlassen Sie bitte, dass heute Abend der runde Tisch benutzt wird. Setzen Sie Miss Howard mir gegenüber.“

„Dann kommen dreizehn Leute zum Dinner. Ich weiß, dass Sie nicht abergläubisch sind, aber einige Ihrer Gäste sind es vielleicht. Außerdem würden zwei Frauen nebeneinander sitzen.“

„Was natürlich unmöglich ist“, erwiderte er ironisch. „Rufen Sie General Foster an. Er nimmt es nicht übel, so kurzfristig eingeladen zu werden.“

Charlene notierte sich auf dem Block, den sie mitgebracht hatte, den Namen des achtzigjährigen Engländers, der in Menton wohnte.

„Um wie viel Uhr trifft Miss Howard ein? Soll Carlo sie abholen?“

Giovanni Carlisle nahm die Sonnenbrille ab. Wenn man ihm zum ersten Mal begegnete, war man überrascht über seine leuchtend blauen Augen.

„Der Flieger landet um vier. Wir brauchen sie nicht abzuholen, sie kennt sich aus.“

Seine Stimme klang genauso ruhig wie immer, aber seine Miene verfinsterte sich. So sah er nur aus, wenn er sich ärgerte.

Wenn seine seltsame Laune mit Miss Howards Besuch zusammenhängt, verstehe ich nicht, warum er sie überhaupt kommen lässt, überlegte Charlene. Viele bekannte Journalisten hatten ihn um ein Interview gebeten, aber er hatte sich nie darauf eingelassen. Warum machte er wohl bei Anny Howard eine Ausnahme?

Die Maschine nach Nizza war startklar. Anny verstaute ihr Handgepäck und legte die Mappe mit den Zeitungsausschnitten neben sich auf den Sitz. Sie wollte es noch eine Weile hinauszögern, sich mit Vans Leistungen und Erfolgen während der letzten fünf Jahre zu befassen.

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Erinnerungen, die sogleich auf sie einstürzten, taten immer noch weh.

Obwohl sie jetzt fünf Jahre älter und viel selbstbewusster war, fragte sie sich, ob sie ihm gewachsen sein würde. Van war auf seinem Gebiet ein Genie, aber wie alle Machtmenschen war er rücksichtslos und bekam stets, was er wollte. Nur sie hatte er nicht bekommen, weil sie seine Bedingungen nicht hatte akzeptieren können.

Würde er sich von neuem ärgern, wenn er sie wieder sah? Vielleicht wäre es besser, sie würde es gar nicht erst darauf ankommen lassen, sondern mit dem nächsten Flieger nach London zurückfliegen. Und was dann? Es würde wahrscheinlich ihrem Ruf schaden. Greg würde ihr keine Vorwürfe machen, wenn Van sie wegschickte. Aber wenn sie erst gar nicht hinging, wäre sie als freiberufliche Journalistin erledigt. Sie konnte es sich nicht erlauben, sich zu blamieren.

Vierzig Minuten vor der Landung nahm Anny sich die Mappe vor und las die Artikel aus den Computerfachzeitschriften durch. Dann zog sie einen Umschlag aus der Tasche, den sie vor fünf Jahren zugeklebt und seitdem nicht wieder geöffnet hatte. Mit zittrigen Fingern holte sie die Schnappschüsse und andere Andenken hervor. Als sie sie betrachtete, war ihr ganz weh ums Herz. Die Amateurfotos waren Erinnerungen an die Zeit, als Van noch nicht bekannt und berühmt gewesen war.

Der moderne Flughafen von Nizza lag direkt am Meer. Während des Landeanflugs betrachtete Anny die Küste mit den Stränden, die ihr so vertraut waren. In ihre Freude mischte sich Angst.

Das glitzernde Wasser, das den blauen Himmel widerspiegelte, war viele Jahre ihre Heimat gewesen.

„Du siehst genauso aus, wie man sich eine Meerjungfrau vorstellt“, hatte einmal jemand zu ihr gesagt. Aber das war lange her.

Nachdem sie durch die Passkontrolle gegangen war, zog sie sich in eine ruhige Ecke zurück, holte ihr Handy hervor und rief Greg an.

Er meldete sich sogleich. „Hallo, Anny. Was ist los?“

„Bis jetzt ist alles in Ordnung. Du warst gestern nicht besonders mitteilsam. Wie hast du Carlisle überredet, Journalisten zu mögen?“

Greg zögerte kurz. „Okay, ich will dir nichts vormachen. Ich habe ihn nicht zu überreden brauchen, sondern er hat mir das Interview selbst vorgeschlagen, hat aber Bedingungen gestellt.“

„Welche?“

„Dass ich nur dich zu ihm schicke. Offenbar hat er Reportagen von dir gelesen und meint, du seist gut.“

„Was wollte er sonst noch?“

„Er hat die schriftliche Zusage verlangt, dass er eine Vorabkopie deines Artikels bekommt und Änderungen oder Kürzungen vornehmen und im schlimmsten Fall sogar die Veröffentlichung ganz untersagen darf.“

„Damit warst du nicht einverstanden, oder?“

„Doch, ich hatte keine andere Wahl. Ist aber auch egal, ihm wird schon gefallen, was du über ihn schreibst. Du kannst die Wahrheit geschickt ausdrücken, ohne jemanden zu verletzen.“

„Darauf würde ich mich in diesem Fall nicht verlassen.“ Mit ihren fünfundzwanzig Jahren hatte sie gelernt, sich zu beherrschen, während sie früher viel zu heftig und temperamentvoll reagiert hatte. Aber wie sie mit Van Carlisle umgehen würde, war ihr noch nicht klar.

„Es ist gut für deinen Ruf, dass du das Exklusivinterview bekommst“, antwortete Greg.

Er ahnt ja nicht, was Giovanni Carlisle und mich einmal verbunden hat, dachte sie, sagte jedoch nur: „Vielleicht hast du Recht. Ich rufe später wieder an.“

Anny sprach fließend Französisch und Italienisch und auch etwas Spanisch und Katalanisch und hatte deshalb keine Probleme, als sie sich einen Wagen mietete.

Am schnellsten gelangte man vom Flughafen über die Küstenstraße nach Orengo. Aber Anny wollte sich nicht in den dichten Verkehr einreihen. Nachdem sie erfahren hatte, dass das Interview auf ausdrücklichen Wunsch von Giovanni Carlisle stattfinden würde, brauchte sie Zeit zum Nachdenken.

Bei dem schönen Wetter war die berühmte Prachtstraße Nizzas, die Promenade des Anglais, sehr belebt. Beim Anblick der Palmen, der herrlich blühenden Geranien in den Töpfen und der Markisen vor den Fenstern der Hotels wurde Anny bewusst, wie sehr sie die mediterrane Atmosphäre vermisst hatte.

Einmal war das alles auch ihre Welt gewesen.

2. KAPITEL

Als die Sea Dreams zum ersten Mal in der ruhigen Bucht am Fuß des Hügels geankert hatte, auf dem der ziemlich verfallene Palazzo Orengo thronte, hatte Anny auch den entferntesten Winkel des verwilderten Gartens erforscht.

Lucio, der ältere Gärtner, der dort arbeitete, hatte Annys Onkel, dem Kapitän der Segelyacht, erklärt, das Grundstück sei fünfundvierzig Hektar groß. Am besten gefiel Anny der Pavillon, von dem aus sie die italienische Riviera im Osten und die französische Riviera im Westen sehen konnte. Das Dach des Pavillons wurde von Säulen aus pinkfarbenem Marmor getragen, um die sich Glyzinien rankten, die mit blassroten Blüten übersät waren.

Eines Nachmittags, während ihr Onkel Bert in seiner Koje schlief, setzte Anny sich auf das Geländer des Pavillons und interviewte in Gedanken die spanische Königin.

Das machte sie oft, um sich auf ihren späteren Beruf vorzubereiten. Sie war fest entschlossen, Journalistin zu werden, eine der besten sogar. Es lag ihr irgendwie im Blut, denn ihr Großvater war Herausgeber einer Wochenzeitung gewesen, ihr Vater war in Afrika als Kriegsberichterstatter umgekommen, und ihr Onkel schrieb für Segelsportzeitschriften.

Da sie außer den Eidechsen, die um die Säulen herumhuschten, niemand hören konnte, sprach Anny ihre Fragen laut aus.

„Wer bist du denn?“, ertönte plötzlich hinter ihr eine Stimme.

Anny erschrak so sehr, dass sie beinah vom Geländer gefallen wäre.

Ein großer junger Mann stand am Eingang des Pavillons. Er trug ein weißes T-Shirt, Jeans und braune weiche Schnürschuhe. Er sah so aus wie die anderen Jugendlichen hier an der Küste, nur seine Augen waren wunderschön blau und nicht schwarz oder braun.

„Ich bin Anny Howard. Und wer bist du?“, gab sie seine Frage neugierig zurück und rutschte vom Geländer.

„Van Carlisle. Hallo.“ Er kam auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Entschuldige, dass ich dich erschreckt habe. Du bist sicher das Mädchen von dem Schoner unten in der Bucht. Lucio hat mir schon von dir erzählt.“

„Bist du mit ihm verwandt?“

„Nein, aber mit der alten Dame, die im Palazzo wohnt. Sie ist meine Urgroßmutter.“

„Ich habe sie noch nie gesehen“, sagte Anny. „Ist sie wirklich eine Contessa, wie Lucio behauptet?“

„Ja, das ist ihr Titel. Sie ist aber in Amerika geboren, genau wie ich. Sie ist schon dreiundachtzig und so gebrechlich, dass sie oft im Bett liegen muss. Deshalb hast du sie noch nie gesehen.“

„Du hörst dich nicht an wie ein Amerikaner.“

„Meine Schwester und ich hatten eine englische Nanny. Meine Mutter ist Italienerin, mein Vater Amerikaner. Wir haben lange in Rom gelebt, bis ich ungefähr so alt war wie du jetzt. Erzähl mir lieber etwas von dir.“

„Ich bin Waise, aber überhaupt nicht unglücklich. Wenn ich Eltern hätte wie andere Kinder, müsste ich in irgendeinem Haus wohnen. Doch ich lebe viel lieber mit Onkel Bert auf der Sea Dreams.“ Sie blickte auf die Uhr. „Ich muss zurück, es ist Zeit für den Tee. Hast du Lust, mitzukommen und Onkel Bert kennen zu lernen? Er ist um die ganze Welt gesegelt, mit mir aber nur im Mittelmeer.“

„Ja, ich komme gern mit. Lucio hat gesagt, ihr würdet nicht zum ersten Mal in der Bucht ankern.“

„Wir sind jedes Jahr hier, weil wir die hohen Liegegebühren in den Yachthäfen oft nicht bezahlen können“, gab sie ehrlich zu. „Deshalb ankern wir da, wo es nichts kostet. Lucio hat gesagt, wir dürfen im Strandhaus Wasser holen und die Toilette benutzen. Die Contessa hat nichts dagegen. Dafür helfen wir ihm im Garten, solange wir hier sind.“

Das stimmte nicht ganz, denn nur sie half dem alten Mann, der sich vergeblich abmühte, das riesige Grundstück in Ordnung zu halten.

„Wie lange bleibt ihr hier?“, fragte Van.

„Zwei oder drei Wochen, dann segeln wir nach Korsika. Und wie lange bleibst du hier?“

„Während der ganzen Sommerferien. Ich gehe aufs College in den USA. Wo gehst du zur Schule?“

Langsam schlenderten sie zum Strand hinunter.

„Gar nicht“, antwortete Anny. „Onkel Bert ist mein Lehrer. Er bringt mir alles bei, damit ich später die Prüfungen bestehe. Ich bin jetzt schon meiner Altersgruppe zwei Jahre voraus.“

Van, der so groß war wie ihr Onkel, blickte auf sie hinab. „Wie alt bist du denn?“

„Neun Jahre und drei Monate. Und du?“

Er lächelte. „Bald neunzehn. Was ist mit deinen Eltern passiert?“

„Mein Vater war Fernsehreporter. Er und sein Kameramann wurden in einem Bürgerkrieg in Afrika aus einem Hinterhalt überfallen und getötet. Ich war noch gar nicht geboren. Meine Mutter ist zwei Jahre später gestorben, ich kann mich nicht an sie erinnern. Onkel Bert hat mich adoptiert, weil ich sonst niemanden hatte. Als Erstes hat er mir das Schwimmen beigebracht, damit ich nicht ertrinke, wenn ich mal über Bord falle. Kannst du schwimmen?“

„Ja, ich habe es in der Schule gelernt, tue es aber nicht besonders gern. Am meisten interessieren mich Computer. Hat dein Onkel auch einen?“

Anny schüttelte den Kopf.

„Heutzutage muss man mit Computern umgehen können, sonst wird man nichts“, fügte er hinzu. „Vielleicht zeige ich dir einmal, was man damit machen kann.“

„Was ist es für ein Kind?“, fragte die alte Dame, die mit vielen Kissen im Rücken in dem breiten, mit Schnitzerei verzierten Bett saß. „Ist es hübsch?“

„Nicht unbedingt, aber sehr intelligent. Man meint, man würde mit einer Dreizehnjährigen und nicht mit einer Neunjährigen reden. Vielleicht segle ich mit ihnen nach Korsika und komme mit der Fähre zurück.“

„Gute Idee“, antwortete die Contessa und beobachtete Van, der eine große Portion Pasta aß. „Du solltest sowieso nicht die ganze Zeit am Computer sitzen. Es schadet deiner Gesundheit.“

Mit vollem Mund lächelte er sie an.

Wieder einmal erinnerte er sie an ihren Mann, der schon lange tot war. Vor sechzig Jahren war der attraktive italienische Aristokrat nach New York gekommen auf der Suche nach einer reichen Frau, um mit ihrer Hilfe und ihrem Geld den Palazzo zu retten und zu erhalten.

Jetzt verfiel Orengo schon wieder. Bald würde der Palazzo abgerissen werden, und man würde ein Hotel oder Ferienapartments auf dem Grundstück errichten. So verfuhr man mit allen prachtvollen Palästen aus vergangener Zeit. Es tat der Contessa sehr weh, sie befürchtete jedoch, keine Alternative zu haben.

Autor

Anne Weale
Jay Blakeney alias Anne Weale wurde am 20. Juni 1929 geboren. Ihr Urgroßvater war als Verfasser theologischer Schriften bekannt. Vielleicht hat sie das Autorengen von ihm geerbt? Lange bevor sie lesen konnte, erzählte sie sich selbst Geschichten. Als sie noch zur Schule ging, verkaufte sie ihre ersten Kurzgeschichten an ein...
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