Ungezähmte Begierde

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Während der Halbindianer Dan versucht, den wilden Araberhengst zu zähmen, kann Jessica den Blick nicht von seinem nackten Oberkörper wenden. Begierde pur! Am liebsten würde sie ihn sofort ins Bett ziehen, nur ein kleiner Rest ihres Verstandes warnt sie, sich nicht erneut in eine Beziehung zu stürzen …


  • Erscheinungstag 07.04.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756437
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Jessica Donovan warf sich stöhnend in dem alten Messingbett hin und her, doch die dunkle Wolke verfolgte sie unerbittlich. Der Albtraum erinnerte sie an die Gewitter, die jeden Sommer über den Mogollon Rim und die Donovan-Ranch hinweggezogen waren. Die Unwetter ihrer Kindheit in Arizona hatten ihr so viel Angst eingejagt wie die schwarze Wolke in ihrem Traum.

Jessica atmete schneller. Die Wolke, die sie oft verfolgte, nahm zum ersten Mal seit einem Jahr Gestalt an. Jessica fand sich oben auf der Bergkette wieder. Der Sturm zerrte an ihrer Kleidung und dem blonden Haar, doch bei aller Angst hob sie den Kopf und trotzte dem Unwetter.

Ihre Mutter Odula, eine Medizinfrau vom Wolfs-Clan der östlichen Cherokees, hatte ihr beigebracht, nie der Angst zu weichen, sondern sich ihr zu stellen. Statt wegzulaufen, sollte sie standhalten.

Ächzend rollte Jessica sich auf den Rücken. Die Wolke nahm Form an … eines Tiers … oder eines Menschen? Jessica rechnete mit Carl Roman, ihrem brutalen Exmann, und bekam Herzklopfen. Blitze zuckten durch die schwarzen Wolken, und der Sturm heulte. Für einen Moment tauchte eine alte Erinnerung auf, alt und wundervoll, und die Angst wich, doch das Unwetter war stärker.

Jessica glaubte zu sterben, ein Gefühl, das sie in der Ehe mit Carl oft genug durchlitten hatte. Erinnerte sie sich an den Aufenthalt im Krankenhaus, den sie Carl zu verdanken hatte? Tränen liefen ihr über das Gesicht. Wie oft war sie dem Tod nahe gewesen. Sie wollte keine Angst mehr haben, weil das die Seele abtötete. Das galt auch für den Albtraum, der sie mehrmals in der Woche verfolgte.

Der Sturm rüttelte an ihr. Jessica riss die türkisblauen Augen weit auf, als die Wolken ein Pferd formten. Ein schwarzes Pferd! Über dem Mogollon Rim stieg das herrliche und doch gefährliche Tier hoch in den Himmel hinauf.

Aus Angst wurde Bewunderung für den Araberhengst, pechschwarz, mit geblähten Nüstern und wilden schwarzen Augen. Schaum tropfte aus seinem Maul.

Gan! Das war der Araberhengst der Donovan-Ranch, den ihr Vater Kelly oft misshandelt hatte, um seinen Willen zu brechen. Alkoholisiert hatte Kelly sogar zur Peitsche gegriffen.

Schluchzend sah Jessica zu, wie der Hengst mit wehender Mähne und erhobenem Schweif über den Himmel jagte, frei von Kelly Donovan, der das Pferd beim Poker in Reno gewonnen hatte. Es gab nur wenige schwarze Araberpferde. Daher standen sie hoch im Kurs, und Gan sollte für Nachwuchs sorgen.

Meistens hatte Kelly beim Glücksspiel verloren, bis auf dieses eine Mal. Doch er hatte keinen gefügigen Hengst gewonnen, sondern einen Kämpfer. Gan war wie Jessica – zutiefst verletzt, aber ungebrochen.

Jessica erwachte weinend. Der Morgen graute schon, als sie sich im Bett aufsetzte. Wieso verfolgte der Albtraum sie noch immer? Begonnen hatte er mit dem Anruf, dass ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Sie griff nach einem Taschentuch und wischte die Tränen weg. Ihre Mutter war eine Medizinfrau gewesen. Von Odula hatte sie die Veranlagung zum Übersinnlichen geerbt. Träume kamen nicht grundlos. Man musste sie nur verstehen.

Schwaches Licht sickerte durch die Vorhänge des Schlafzimmers. Jessica lebte nördlich von Vancouver in British Columbia, seit sie achtzehn war. Hier gefiel es ihr. Der unberührte Tannenwald rings um ihr Zuhause bot ihr Sicherheit. Selbst im kältesten Winter ließ sie das Fenster stets einen kleinen Spalt geöffnet, um frische Luft ins Zimmer zu lassen. Odula hatte die gleiche Gewohnheit gehabt.

In vieler Hinsicht war sie Odulas Ebenbild, zumindest innerlich, wenn schon nicht im Aussehen. Kate und Rachel, ihre älteren Schwestern, hatten das schwarze Haar der Mutter geerbt. Jessica hatte keine Ahnung, woher ihr blondes Haar stammte, jedenfalls nicht von den Cherokees. Wenigstens die ausdrucksvollen blauen Augen stammten von ihrer Mutter. Die Cherokees hatten hellere Haut als andere indianische Stämme. Manche besaßen blaue, grüne oder grünbraune Augen. Bei den Cherokees gab es auch braunes oder rotbraunes Haar. Odulas Haar war schwarz wie das Gefieder eines Raben gewesen.

Jessica musste aufstehen. Heute wollte sie Vancouver verlassen und die lange Heimfahrt antreten. Anfang Mai war es in Kanada noch kühl. In ihrer Heimatstadt Sedona in Arizona gab es bestimmt schon dreißig Grad und mehr und dazu blauen Himmel und Sonnenschein. Bestimmt würden ihr die kleine Hütte und der Wald fehlen, der sie vor der Welt abgeschirmt hatte.

Rasch zog sie eine alte Jeans und ein langärmeliges rosa Shirt an, band das Haar mit einem bunten Band zum Pferdeschwanz und ging in die Küche, um Rührei und Kaffee zu machen.

Auf dem Tisch stand eine ihrer bevorzugten Orchideen. Jessica strich lächelnd über ein langes weißes Blütenblatt mit violetten Punkten. „Du hast keinen Albtraum gehabt, nicht wahr?“, fragte sie. Obwohl die Blüte nicht duftete, war sie doch unbeschreiblich schön. Wie konnte jemand in einem Haus leben, in dem es nicht in jedem Raum eine Orchidee gab? Jessica begriff das nicht, war sie doch nicht nur für die Energie von Menschen empfänglich, sondern auch für die von Tieren und Pflanzen. Und manche Pflanzen verbesserten einfach die Atmosphäre.

Nachdem sie das Rührei in der Pfanne mit geriebenem Käse bestreut hatte, sah sie sich betrübt in der Hütte um. Hier wohnte sie seit der Scheidung vor zwei Jahren, und sie fühlte sich wohl. Das Gleiche galt für die Orchideen und die anderen Blumen, die sie für ihre Firma Mother Earth Flower Essences züchtete, die Blütenessenzen herstellte.

Der Traum ihrer Mutter wurde in Jessica wahr. Von den drei Schwestern war sie mit den Blütenessenzen direkt in die Fußstapfen der Medizinfrau getreten, wenn auch auf ihre eigene Weise.

Die Abreise war für zehn Uhr festgesetzt. Dann ging es zurück auf die Donovan-Ranch, doch diesmal würde alles ganz anders sein. Davon war Jessica fest überzeugt, als sie das Essen auf einem Teller mit hübschem Blumenmuster verteilte.

Es klopfte.

„Herein!“, rief Jessica und holte einen zweiten Teller aus dem Schrank. Eine junge Frau mit langem, schwarzem Haar und dunkelgrünen Augen trat ein. „Du kommst gerade rechtzeitig, Moyra“, sagte Jessica zu ihrer besten Freundin und teilte das Rührei.

„Iss du nur“, erwiderte Moyra. „Mir genügt eine Tasse Kaffee.“ Sie nahm die Kaffeekanne vom Herd und holte zwei Tassen mit Blumenmuster.

„Hast du schon gefrühstückt?“, fragte Jessica.

„Na ja“, meinte Moyra sanft, „das zwar nicht, aber …“

„Dann setz dich! Du hilfst mir, die Orchideen für die Reise zu verpacken. Es wäre ganz schön undankbar, dich nicht vorher zu verköstigen, oder?“

Moyra stellte lächelnd die gefüllten Tassen auf den Tisch. „Du wirst mir schrecklich fehlen“, sagte sie und griff zum Besteck.

„Du mir auch“, bestätigte Jessica traurig. Moyra, die aus Südamerika stammte, war vor zwei Jahren während Jessicas schmutziger und lebensgefährlicher Scheidung aufgetaucht. Sie war Mitte dreißig, unglaublich begabt, schön und von geheimnisvoller Herkunft. Da Moyra im Urwald von Peru aufgewachsen war, kannte sie sich gut mit Orchideen aus. Sie hatte Mother Earth auf die Beine geholfen, bis die Firma Gewinn abwarf, und Jessica beim Versand der heilenden Orchideen-Essenzen geholfen.

„Du kommst gut und sicher nach Hause“, bemerkte Moyra während des Essens. „Ich fühle es in meinem Herzen.“

„Hoffentlich hast du recht.“ Jessica fiel das Lächeln schwer. Sie hatte versucht, Moyra zu überreden, sie zu begleiten, doch ihre Freundin hatte abgelehnt. Das heiße und trockene Wetter in Arizona wäre nichts für sie. Sie war an die Feuchtigkeit der Wälder am Amazonas gewöhnt und liebte den Regen, von dem es in Vancouver jede Menge gab.

„Für dich ist es am besten“, fuhr Moyra fort, „dass du Vancouver verlässt. So kann Carl dich nicht länger verfolgen.“

Jessica nickte betrübt. Normalerweise liebte sie die morgendliche Unterhaltung mit Moyra. Dabei war es stets darum gegangen, was an diesem Tag zu tun war, welche Bestellungen ausgeführt und welche Orchideen versorgt werden mussten. Heute jedoch brach Jessica das Herz.

„Ich hatte wieder den Albtraum“, vertraute sie ihrer Freundin an.

„Tatsächlich?“

„Ja.“ Jessica schob den leeren Teller von sich und legte die Hände an die Tasse. „Diesmal war es allerdings anders.“ Sie beschrieb genau, was sie gesehen hatte.

Moyra nickte nachdenklich. „Meine Großmutter war eine Jaguar-Priesterin. Sie würde sagen, dass dir der Albtraum etwas ankündigt. Die bedrohlichen Wolken haben sich in einen Hengst verwandelt. Was liest du daraus?“

„Ist das nicht die Sechzigtausend-Dollar-Frage?“ Jessica lachte leise und trank einen Schluck Kaffee. Moyra würde ihr fehlen. Vielleicht standen sie einander so nahe, weil ihre Herkunft ähnlich war.

Ihre peruanische Freundin stammte von Indianern und spanischen Aristokraten ab. Die Angehörigen mütterlicherseits waren Mitglieder des mächtigen und geheimnisvollen Jaguar-Clans. Es hieß, dass sie sich in Notlagen oder bei Bedrohung in einen Jaguar verwandeln konnten. Das nannte man Gestaltenwechsel.

Jessica hatte noch nie erlebt, wie Moyra sich in einen Jaguar verwandelte, doch sie fühlte ständig die unglaubliche Energie ihrer Freundin, die sich von allen anderen Menschen unterschied, die sie kannte. Wurde Moyra zornig, schimmerten ihre grünen mandelförmigen Augen gelb, und Jessica glaubte, in das Gesicht eines Jaguars zu blicken.

Unsinn? Vielleicht. Doch Moyra hatte Jessica seit der Scheidung beigestanden, und mehr als einmal hatte sie sich gegen Carl gestellt, der seine Exfrau verfolgte und belästigte und sie vernichten wollte. In dieser Hinsicht war Moyra wahrhaftig wie ein Jaguar, der Jessica beschützte.

Nun musste Jessica auf diesen Schutz verzichten. Carl hatte gedroht, sie aufzuspüren und zu töten. Doch vielleicht konnte sie dieses Kapitel ihres Lebens abschließen und ein neues beginnen. Ob Carl ihr nach Arizona folgen würde?

„Freust du dich, nach Hause zu fahren?“, fragte Moyra und aß genüsslich den letzten Bissen.

Jessica seufzte. „Ich weiß nicht so recht. Meine Familie hat mir schrecklich gefehlt. Das war die ganze Zeit wie ein Loch im Herzen.“

„Die Familie fügt einem die schlimmsten Wunden zu.“ Moyra bestrich eine Scheibe Toast mit Butter und Orangenmarmelade. „Aber was sage ich da“, fügte sie lachend hinzu.

Jessica nickte stumm. Auch nach zwei Jahren war sie nicht hinter Moyras Geheimnisse gekommen und wusste nicht, wieso ihre Freundin nach Kanada gezogen war. Die Familie stand bei Moyra an erster Stelle. Weshalb kehrte sie dann nicht nach Hause zurück?

Zuhause bedeutete für Moyra allerdings nicht nur einen einzigen Ort. Sie hatte Angehörige im Urwald von Peru und in der Hauptstadt Lima. Jessica hatte nie neugierige Fragen gestellt. Moyra war wie eine typische nordamerikanische Indianerin. Wenn sie etwas mitteilen wollte, sprach sie schon von sich aus darüber. Ansonsten war das Thema vom Tisch.

„Ich muss nur noch die Orchideen auf den Pick-up laden“, sagte Jessica, „und bin fahrbereit.“ Die kobaltblauen Fläschchen, die Etiketten, das Büromaterial, der Computer, der Drucker und die Akten waren schon eingepackt. Die fünfzig Orchideen aus allen Teilen der Welt mussten ständig auf Temperatur und Feuchtigkeit überprüft werden. Die Kälte in Kanada hätten sie nicht überstanden. Darum hatte Moyra die Heizung im Wagen repariert, damit es die Blumen unter der Plane warm hatten.

Moyra stand geschmeidig wie eine Raubkatze auf. „Ich starte schon den Motor und schalte die Heizung ein. Dann überprüfe ich noch einmal, ob es keine Löcher gibt, durch die kalte Luft hereinzieht. Du brauchst unterwegs nur einen Blick aufs Thermometer zu werfen und weißt sofort, ob es deinen Schützlingen gut geht.“ Moyra berührte zart die Blüte auf dem Tisch. „So schön! Sie wird mir fehlen.“

Jessica stand auf und stellte die Teller in die Spüle. „Schlimmer noch, du wirst mir fehlen.“

Moyra umarmte sie. „Im Geist werde ich bei dir sein, das weißt du. Wenn dich eine Jaguar-Priesterin adoptiert, bist du eine von uns und stehst unter dem Schutz der Jaguar-Göttin. Ich hoffe nur, Carl ist klug genug, dir nicht nach Arizona zu folgen.“

„Das wagt er nicht“, erwiderte Jessica erschrocken.

„Dieser elende Kerl ist zu allem fähig.“ Moyra betrachtete Jessica, die etwas kleiner als sie war, eingehend. „Du, meine Freundin, musst dich auf die Kraft deines Wolf-Clans stützen. Du bist dein ganzes Leben vor deiner eigenen Kraft weggelaufen. Du bist deiner Mutter sehr ähnlich, und trotzdem hast du Angst vor der Kraft des Wolfs.“ Todernst fuhr sie fort: „Ich bin vor Jahren vor dem Jaguar-Clan geflohen. Mach es nicht wie ich. Wir gehen halb als Tier und halb als Mensch durchs Leben. Unsere Aufgabe im Leben ist es, beide Hälften miteinander zu vereinigen, damit wir zu einem Ganzen werden.“

„Ich weiß, dass du recht hast, weil ich es im Herzen fühle“, bestätigte Jessica.

„Gut. Du kehrst nach Hause zurück, um den ersten Zyklus deines Lebens abzuschließen. Bemächtige dich der Kraft des Wolf-Clans, die dir zusteht, und laufe nicht mehr weg. Der Traum von Gan, dem Araberhengst, hat etwas damit zu tun.“

„Was soll ich bloß ohne dich machen?“, fragte Jessica betrübt.

Moyra lächelte rätselhaft. „Mein Jaguar-Auge sieht einen Mann in Schwarz, der bald in deine Nähe kommt. Ihm kannst du vertrauen. Wende dich an ihn.“

„Aber ja, natürlich, ausgerechnet ein Mann“, wehrte Jessica ab. „Du weißt sehr gut, dass ich mit Männern nur Pech hatte. Ich vertraue keinem mehr.“

„Carl war ein Fehler.“ Moyra holte tief Atem. „Dieser Mann, der in dein Leben treten wird, ist eine Gefahr – nicht für dich, sondern für sich selbst. Ich sehe ihn vor mir, ganz in Schwarz gekleidet, in Dunkelheit eingehüllt. Es ist aber keine gefährliche Dunkelheit, wie Carl sie ausstrahlt. Stell mir keine Fragen. Nur du kannst die Wahrheit herausfinden. Ich habe schon genug gesagt. So, und jetzt kümmere ich mich um den Wagen. Komm nach draußen, wenn du fertig bist. Dann helfe ich dir, deine Orchideen zu verladen.“

Es bedrückte Jessica, Vancouver, Moyra und die anderen Freunde zu verlassen, die sie hier gefunden hatte. Kanada war ihr Zuhause geworden, fern von ihrem eigentlichen Zuhause. Sie liebte dieses schöne Land mit seinen freundlichen Einwohnern.

Andererseits freute sie sich darauf, Kate wieder zu sehen. Ihre Schwester Rachel konnte noch nicht heimkommen, weil sie erst ihren Vertrag als Lehrerin an einem College in England erfüllen musste. Im Dezember kam sie auch nach Hause. Dann war der Rest der Familie Donovan zum ersten Mal seit der chaotischen Kindheit wieder vereint.

Als Jessica mit dem Karton mit den letzten Küchenutensilien ins Freie trat, schimmerte der Himmel hellblau. Sogar das kanadische Wetter war bei Reiseantritt schön, und sie musste sich nicht durch Schnee oder Regen kämpfen.

Moyra hatte den Pick-up rückwärts an das kleine Gewächshaus mit den Orchideen gefahren. Jessica ging zuerst zum Anhänger, der später angekuppelt wurde, und verstaute das restliche Gepäck. In einem Karton lag die Daunendecke, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte, als sie fünfzehn war. Odulas Energie und Liebe steckten in dieser Decke. Selbst in den schlimmsten Zeiten mit Carl hatte Jessica sich darin einwickeln und die heilende Energie ihrer Mutter in sich aufsaugen können.

Nachdem sie den Anhänger verschlossen hatte, betrat sie das Gewächshaus. Moyra hatte die Orchideen schon mit viel Zeitungspapier in Kartons gestellt, in denen sie während der dreitägigen Fahrt nicht umfallen konnten.

„Fertig?“, fragte Moyra.

„Ja.“ Jessica sah sich im Gewächshaus um. Kate hatte ein ähnliches für sie auf der Ranch vorbereitet.

Moyra lächelte sanft. „Klein-Jessica schließt erneut ein Kapitel ihres Lebens ab und beginnt ein neues. Du bist sicher aufgeregt.“

„Und ich habe Angst“, gestand Jessica und griff nach dem ersten Karton mit Orchideen.

Lachend folgte Moyra ihr mit dem zweiten zum Pick-up. „Du kannst ruhig Angst haben, meine Freundin, aber trotze dem Sturm.“

„Gesprochen wie eine wahre Jaguar-Priesterin“, scherzte Jessica. Sie wusste, dass ihre Freundin seherisch begabt war. In der Vergangenheit hatte Moyra sie jedes Mal gewarnt, wenn Carl in ihre Nähe kam. Dadurch hatte Jessica stets die Polizei rechtzeitig verständigen können. Nur Moyra hatte sie zu verdanken, dass Carl die Drohung, sie umzubringen, nicht ausgeführt hatte.

Sie stellten die Kartons in den vorgewärmten Pick-up und eilten so lange hin und her, bis der Wagen voll war. Danach kuppelten sie die beiden Fahrzeuge zusammen.

„Fertig.“ Moyra putzte sich die Hände ab. „Mach kein so trauriges Gesicht, kleine Schwester. Im Geist werde ich bei dir sein und dich ständig beobachten. Das weißt du.“

Tränen stiegen Jessica in die Augen. „Du warst mir wirklich eine Schwester. Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte. Ich stehe tief in deiner Schuld. Du hast mir so viel gegeben und warst ein so wunderbares Vorbild, dass …“

„Schon gut, Schwester. Du kehrst nach Hause zurück, um deine Kraft wieder zu finden. Geh heim und habe keine Angst.“ Moyra legte ihr die Hände auf die Schultern. „Hör mir gut zu, was ich sehe. Du bist in großer Gefahr. Wenn du heimkommst, wirst du auf die Probe gestellt. Um zu überleben, musst du dich auf deine Kraft besinnen. Wenn nicht …“ Moyra hatte Tränen in den Augen. „Ich weiß, dass du es schaffst. Jetzt bist du nur ein verängstigter Schatten deiner selbst. Der Mann in Schwarz wird dir helfen und dich leiten, wenn du es zulässt.“

„Ich vertraue Männern nicht.“

„Carl hat auch deinen Geist verletzt, Jessica, aber dieser Mann kann deine Seele heilen. Auf dich wartet ein doppelter Test, meine Schwester“, fuhr Moyra mit rauer Stimme fort. „Du musst dich deiner Angst stellen, und du musst lernen, Männern wieder zu vertrauen. Beides ist nicht leicht, aber du bist die Tochter einer Medizinfrau. Wenn du dich deiner ererbten Kraft besinnst, wirst du überleben. Sei auf der Hut.“

„Manchmal wäre es mir lieber, du würdest dich deutlicher ausdrücken“, erwiderte Jessica und griff nach Moyras Händen.

„Meine Großmutter, eine alte Jaguar-Priesterin, hat mir schon früh beigebracht, nicht zu viel zu sagen.“ Moyra lächelte. „Das Leben besteht aus Entdeckungen. Das darf ich dir nicht nehmen.“ Sie drückte Jessica fest an sich und ließ sie wieder los. „Beginne dein neues Leben, vertraue dem Mann in Schwarz, öffne ihm dein Herz und warte ab, was geschieht.“

Jessica nickte und stieg in den Pick-up, als die Sonne soeben über den Baumwipfeln erschien. „Und was ist mit dir? Wo wirst du sein?“

Moyra lächelte traurig. „Ich muss jetzt nach Peru zurück, kleine Schwester. Meine Leute haben mich nach Hause gerufen.“

„Der Jaguar-Clan oder deine Familie?“ Jessica wusste, dass sie ihre Freundin vielleicht nie wieder sehen würde.

„Beide.“

„Bleiben wir in Verbindung?“

„Ich werde dich in der anderen Welt sehen.“

Jessica hielt die Tränen zurück. „Ich liebe dich, Moyra. Du bist für mich wie eine wahre Schwester.“

„Ja, und du hast mir geholfen, mein Herz zu heilen“, entgegnete Moyra mit belegter Stimme. „Du hast mich daran erinnert, wie gut und hilfreich die Familie ist. Das habe ich gebraucht. Auch du bist eine große Heilerin.“ Sie deutete auf die Orchideen im Wagen. „Denk nur daran, was du für die vielen Menschen getan hast, die deine Essenzen gekauft haben. Also, geh jetzt deiner Bestimmung entgegen. Ich habe meinen eigenen Weg vor mir. Und ich verspreche dir, dass ich mich melden werde.“

Die Schotterstraße verschwamm vor Jessicas Augen, als sie langsam losfuhr. Sie wischte mit dem Ärmel des Shirts übers Gesicht und setzte die Sonnenbrille auf. Im Rückspiegel sah sie Moyra stolz und kerzengerade vor der Hütte stehen. Im nächsten Moment veränderte sie die Gestalt und wurde zu einem Jaguar mit gelbem Fell und schwarzen Flecken.

Jessica wollte schon hart bremsen, doch im nächsten Moment sah sie Moyra wieder in ihrer menschlichen Gestalt. Jessica war dankbar, dass ihre Mutter aus dem Jenseits Moyra nach der Scheidung von Carl zu ihrer Beschützerin bestellt hatte.

Das Gewächshaus und die Hütte verschwanden, als Jessica die Kurve nahm, hinter der sie den asphaltierten Highway erreichte. Angst und Erregung erfüllten sie. Viel Freude hatte sie bisher nicht erlebt, außer wenn sie mit den Orchideen arbeitete und Essenzen herstellte. Jetzt war sie frei wie Gan, der schwarze Araberhengst.

Ein Mann in Schwarz. Wer das wohl war? Plötzlich empfand sie Hoffnung, etwas, das ihr seit einem Jahrzehnt fremd war. Die Hoffnung hatte sie an dem Tag verloren, an dem sie von der Donovan-Ranch geflohen war. Nun kehrte dieses Gefühl wundersamer Weise zurück, wenn auch nur als winzige Flamme.

Jessica holte tief Atem. Allein schon der Gedanke an den geheimnisvollen Mann in Schwarz stärkte ihren verwundeten Geist.

Vielleicht gelang ihr, was Moyra angekündigt hatte. Sie kehrte heim, um sich ihren alten Ängsten zu stellen und sie zu überwinden. Mit der Hilfe des Mannes in Schwarz.

2. KAPITEL

Angst hielt Dan Black schmerzhaft gepackt. Schweiß lief ihm in die Augen, während die leise, heisere Stimme von Ai Gvhdi Waya – „Die mit den Wölfen läuft“ – die Schwitzhütte erfüllte.

Ai Gvhdi Waya war eine Medizinfrau der östlichen Cherokees, eine mächtige Heilerin im Navajo-Reservat, in dem Dan vor dreißig Jahren zur Welt gekommen war. Jetzt schöpfte sie eine Kelle Wasser nach der anderen auf die rot glühenden Lavabrocken, die er durch den Dampf kaum sehen konnte.

Warum war er bloß hergekommen? Wieso hatte er geglaubt, dies hier könnte ihm helfen?

Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Die Hitze stieg. Die Stimme der Frau war leise, aber mächtig. Die Angst wuchs. Er presste die Augen zu und versuchte, die Angst zu kontrollieren. Doch war er nicht hergekommen, um die Angst zu überstehen, anstatt sie zu kontrollieren? Angst durfte man nicht ignorieren. Man musste sich ihr hingeben, sich von ihr verzehren lassen. Dann wurde man geheilt.

Doch er fühlte sich nicht geheilt, sondern empfand Todesangst. Und er hatte Angst vor dem Tod. Das hatte er im Golfkrieg erkannt. Diese Zeit war für ihn die reinste Hölle gewesen.

Die Medizinfrau hörte zu singen auf. Dan öffnete die Augen. Jetzt war es in der Hütte so dunkel, dass er die Frau nicht sehen konnte. Nur noch die Umrisse der dunkelrot glühenden Steine waren zu erkennen. Er konzentrierte sich darauf, um nicht zu schreien.

„Du hast Angst, Dan Black“, erklang die Stimme der Medizinfrau über ihm, als würde Ai Gvhdi Waya über ihm schweben. Hastig griff er nach ihr, fasste jedoch ins Leere. „Schildere mir deine Angst.“

Seine Kehle war wie zugeschnürt. Die Hitze brannte auf Schultern und Nacken.

„Angst umgibt dich. Ich sehe dich ganz in Schwarz gehüllt. Schwarz wie dein Name – Black.“

Black war ein geehrter Name im Navajo-Reservat, und es gab viele Zweige der Familie. Doch Dans Mutter hatte etwas Unglaubliches getan und einen weißen Lehrer geheiratet. Dan war ein Halbblut. Deshalb war er gnadenlos gehänselt worden, als er im Reservat zur Schule ging. Innerhalb seiner Familie hatte er seine Ehre gerettet, indem er Pferdezähmer wurde. Bis heute waren Pferde im Reservat ein wichtiges Fortbewegungsmittel.

„Manchmal nehmen wir einen Namen an, um durch ihn hindurchzugehen. Wie weit bist du damit gekommen?“

Autor

Lindsay McKenna
Lindsay McKenna führt ein unglaublich buntes, interessantes Leben und hat so viele Dinge gemacht und gesehen, dass es kein Wunder ist, dass ihre Romances zu den beliebtesten, meist gelesenen überhaupt gehören! Sie ist von indianischer Herkunft und glaubt fest daran, dass man sein...
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