Unser kleines, süßes Wunder

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Die hübsche Sex-Therapeutin Ava hat schon vielen Patienten des Sydney Harbour Hospitals zu Nachwuchs verholfen. Nur ans eigene Babywunder mit ihrem Mann James glaubt sie im verflixten siebten Ehejahr nicht mehr. Da verführt er sie zu einer heißen Abschiedsnacht …


  • Erscheinungstag 20.03.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746087
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Ich rufe ihn an.

Ava Carmichael saß in ihrem Sprechzimmer im Sydney Harbour Hospital und starrte auf ihr Telefon, als könnte es ihr helfen, die Hand auszustrecken, den Hörer aufzunehmen und ihren Mann anzurufen.

Gerade erst hatte sie ein Paar aus der letzten Beratungsstunde entlassen und ihm das mit auf den Weg gegeben, was sie zum Ende einer Therapie am liebsten sagte: Gute Kommunikation ist der Schlüssel. Wenn ihr miteinander redet, wenn ihr euch öffnet, dann wird alles besser.

Als Spezialistin für sexuelle Funktionsstörungen – oder Sex­therapeutin, wie jeder sie nannte – gab Ava solche Ratschläge oft.

Es wird Zeit, dass Frau Doktor ihre eigene Medizin schluckt, dachte sie, griff zum Hörer und wählte James’ Handynummer. Kurz vor der letzten Ziffer überlegte sie es sich anders und legte auf. Gedankenverloren drehte sie sich eine ihrer langen dunklen Haarsträhnen um den Finger. Was soll ich ihm überhaupt sagen?

Dass sie ihn vermisste?

Dass es ihr leidtäte?

Ava wusste nicht, wo sie anfangen sollte.

Ihr Mann wohnte seit drei Monaten in Brisbane, wo er einen befristeten Lehrauftrag an einer Medizinischen Hochschule angenommen hatte. Lächerlich eigentlich, weil James mit Leib und Seele Onkologe war, ein Arzt, bei dem die Patienten an erster Stelle kamen. Und er las Forschungsergebnisse lieber, als dass er sie selbst produzierte. James, ihr James, liebte die Arbeit mit seinen Patienten. Er war kein Lehrer.

Bei dem Gedanken musste sie lächeln.

Die Medizinstudenten gingen ihm auf die Nerven. Er erklärte seine Entscheidungen nicht gern.

James war ein echter Kerl, ein Schrank von Mann, groß und gut aussehend, aufrichtig. Manchmal war er vom Dienst nach Hause gekommen, hatte sich aufs Sofa geworfen und sich beklagt, dass er seinen Patienten die Diagnose nicht unter vier Augen mitteilen konnte. Vor allem bei schlechten Neuigkeiten.

„Das Sydney Harbour ist ein Lehrkrankenhaus“, sagte sie dann, während sie auf dem Fußboden ihre Pilatesübungen machte. „Die Studenten müssen es doch lernen.“

„Ja, klar. Aber wie würdest du es denn finden, wenn zwei Studenten daneben sitzen, während du mit jemandem darüber reden willst, dass sein Ding nicht mehr funktioniert?“

Natürlich bestand ihre Arbeit nicht nur aus solchen Gesprächen, aber James hatte recht, und er brachte sie zum Lachen, als er danach zu ihr auf den Boden kam, um zu beweisen, dass seins funktionierte …

Unbeschwerte Abende wie diese hatte es gegeben, auch die unbefangenen Gespräche über die Arbeit. Nur leider schienen solche Momente unendlich lange her zu sein.

Ja, er liebte seine Patienten, und sie liebten ihn. Der wahre Grund, warum er diesen Posten angenommen hatte, war ihnen beiden bewusst, obwohl sie es nie ausgesprochen hatten: Sie brauchten Abstand voneinander, drei Monate, um sich darüber klar zu werden, wie es weitergehen sollte.

James und Ava waren seit sieben Jahren verheiratet, aber schon seit einer halben Ewigkeit zusammen. Sie hatten sich auf der Universität kennengelernt. Ava erinnerte sich noch genau, wie schüchtern sie damals mit achtzehn gewesen war, als sie zum ersten Mal die Liebe entdeckte. James, drei Jahre älter als sie, sah blendend aus und eroberte mit seinem humorvollen Charme ihr Herz im Sturm. Was bestimmt auch daran lag, dass er der erste Mensch war, der wirklich Zeit mit ihr verbringen wollte.

Wie James war auch sie ein Einzelkind, doch sie hätten nicht unterschiedlicher aufwachsen können. James wurde von seinen Eltern vergöttert, während Avas nie einen Hehl daraus machten, dass sie ein Versehen war, ein Unfall, der nicht hätte passieren dürfen. Ihr Kind war ihnen nur eine Last, sodass sie es wechselnden Kindermädchen überließen und ihr Leben weiterlebten, wie sie es gewohnt waren – für ihre Karriere und mit unzähligen Seitensprüngen, die, so versicherten sie beide, ihre Beziehung lebendig erhielt.

Nach einer trostlosen Kindheit und Jugend entdeckte sie eine völlig neue Welt, als sie James begegnete. Und sie war überglücklich, dass er die gleichen starken Gefühle für sie hegte. Beide hatten sie den Menschen gefunden, der ihr Leben vollkommen machte. In ihren Freundeskreisen galten sie als das ideale Paar, und lange Zeit war ihre Beziehung ein wahr gewordener Traum.

Inzwischen war James sechsunddreißig, aber sie brauchte ihn nur anzublicken und spürte sofort das sinnliche Prickeln wie damals mit achtzehn. Und er hatte sie immer zum Lachen gebracht. Zwar hätte sie ihn nicht gerade als romantisch bezeichnet, aber ihre Liebe zueinander ging so tief, dass Ava sie für unbesiegbar gehalten hatte.

Doch seit zwei Jahren kriselte es in ihrer Ehe. Mit jeder Fehlgeburt hatten sie sich weiter auseinandergelebt, und mittlerweile redeten sie kaum noch miteinander. Sie schrieben sich E-Mails, aber das war auch alles. Ziemlich wenig an Kommunikation, dachte Ava traurig.

Nachdenklich blickte sie auf ihren Computer und rief dann die letzte Mail von James auf. Er gab ihr nur seine Flugdaten durch und das so unpersönlich, dass es wie eine Benachrichtigung von der Verwaltung wirkte.

Sofort war es wieder da, das nagende Misstrauen, das sie schon einmal dazu gebracht hatte, ihr gemeinsames Konto zu überprüfen. Und sie fühlte sich bestätigt, als sie die Abbuchungen sah. Ava traute ihren Augen nicht – ausgerechnet James kaufte in Herrenboutiquen ein!

Ihr James, der jedes Jahr zu Weihnachten und seinem Geburtstag seinen Kleiderschrank aufstockte, aber nur, weil Ava die Sachen für ihn besorgte. In den letzten Wochen jedoch war er ein paar Mal in schicken Läden gewesen und hatte, den Beträgen nach zu urteilen, viel Spaß beim Shopping gehabt.

Und dann die Barabhebungen, hundert Dollar hier, zweihundert Dollar da. Seltsam bei einem Mann, der so gut wie nie einkaufen ging. Und wofür waren die wöchentlichen Zahlungen, die regelmäßig abgebucht wurden?

Zwei Minuten später, nach einer kurzen Recherche im Internet, hatte sie die Antwort.

Ihr Mann, der am liebsten auf dem Sofa lag und sich darüber lustig machte, dass sie bei ihren Pilatesübungen schwitzte, war vor zwei Monaten einem mit allen Schikanen ausgestatteten Fitnessstudio beigetreten.

Noch nie in ihrem Leben war Ava auf die Idee gekommen, dass James sie betrügen könnte. Jetzt hatte sie erste Zweifel. War sie zu naiv gewesen? Sie fühlte sich nicht besser, als sie merkte, dass sie mit dem Gedanken spielte, ihre Mutter um Rat zu fragen.

Ruf ihn an, sagte sie sich. Sofort, von deinem Büro aus. Denn wenn sie erst zu Hause war, würde sie so lange mit sich hadern, bis sie es gar nicht mehr wagte, und dann in Tränen ausbrechen. Es verging kein Abend, an dem sie nicht heulend im Bett lag. Vielleicht konnte sie sich besser beherrschen, wenn sie hinter ihrem Schreibtisch saß.

Und direkter sein.

„Hi!“, sagte sie betont munter, als er abnahm.

„Ava?“ Er klang überrascht. Kein Wunder, es war halb sieben abends, und sie rief selten an. „Ist alles in Ordnung?“

„Natürlich. Muss es ein Problem geben, damit ich mit dir reden kann?“

„Äh … nein.“

Er war auf der Hut, das spürte sie so deutlich, als würde sie ihm persönlich gegenüberstehen. „James, ich weiß, es war in letzter Zeit …“

„Ava, kann ich dich zurückrufen?“ Kam es ihr nur so vor, oder wirkte er verlegen? James war nie verlegen.

„Hast du Besuch?“, entfuhr es ihr.

Schweigen am anderen Ende. Dann: „Ich rufe dich in zehn Minuten zurück.“

Ein ungutes Gefühl, das sie seit Tagen nicht mehr losließ, verstärkte den Druck in ihrem Magen. Vielleicht hat er einen Kollegen bei sich, versuchte Ava sich zu beruhigen. Allerdings hatte ihn das noch nie davon abgehalten, mit seiner Frau zu sprechen.

Fünf Minuten später klingelte das Telefon. „Entschuldige bitte, da bin ich wieder.“

„Warum konntest du nicht reden?“

„Ist nicht wichtig …“ Sie sah ihn förmlich vor sich, wie er mit den breiten Schultern zuckte, ein untrügliches Zeichen, wenn er sich abschottete. „Also, was gibt’s?“

„Ist nicht so wichtig …“ Was du kannst, kann ich auch, dachte sie trotzig.

„Ava.“ Sie hörte ihm an, dass er irritiert war. „Es tut mir leid, dass ich gerade nicht reden konnte, aber jetzt geht es – du hattest nur einen schlechten Zeitpunkt erwischt.“

„Wann ist denn der richtige?“, fauchte sie. „Als ich dich neulich angerufen habe, konntest du auch nicht sprechen …“ Weil er außer Atem gewesen war! Ava hatte morgens um sieben versucht, ihn zu erreichen, aber er nahm nicht ab. Beim zweiten Versuch, ungefähr fünf Minuten später, war er rangegangen. Hatte verschlafen getan, aber immer noch atemlos geklungen.

Er hat eine Affäre, ich weiß es! Aber eigentlich wollte sie nichts davon wissen. Ava hatte immer gedacht, dass ihre Ehe scheiterte, weil sie Probleme hatten. Nicht, weil eine andere Frau dahintersteckte …

Andererseits war sie nicht blöd. Wie lange hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen? Seit mindestens einem Jahr bestimmt. Paradiesische Zustände für James in Brisbane, er konnte tun und lassen, was er wollte. Verrückt, dass sie nicht längst darauf gekommen war!

„Soll ich für den Geburtstag deiner Mutter eine Torte bestellen?“, fragte sie, als ob nichts wäre.

„Ja, bitte.“

„Und das Geschenk?“

„Ich weiß nicht … such du etwas aus.“

Ihr Kummer schlug in Ärger um. Mit ihrer Schwiegermutter war Ava nie besonders gut ausgekommen. Veronica Carmichael war ein schwieriger Mensch, anspruchsvoll und seit sie verwitwet war, noch mehr auf ihr einziges Kind fixiert. Ava war für sie nur die Frau, die ihr den Sohn weggenommen hatte und ihr noch nicht einmal Enkelkinder schenken konnte.

Ava hatte zu Veronicas sechzigstem Geburtstag ein kleines Familientreffen arrangiert, das am nächsten Wochenende stattfinden sollte. Am Samstag würde sie ihr ein besonders hübsches Geschenk kaufen, es schön einpacken, und Veronica würde es auswickeln und James überschwänglich dafür danken. Immer wieder würde sie davon schwärmen, was für einen aufmerksamen Sohn sie hätte, während Ava sicher war, dass James auf dem Weg von der Arbeit höchstens eine Glückwunschkarte gekauft und ganz bestimmt keine Party organisiert hätte. Nicht, um seine Mutter zu missachten, sondern einfach, weil er für solche Sachen keinen Kopf hatte. Typisch Mann eben.

Kurz sprachen sie über seinen Rückflug am Montag, und keine dreißig Sekunden später war das Telefonat beendet.

Langsam legte Ava den Hörer auf und sah aus dem Fenster. Sie liebte den Blick auf das idyllische Panorama. Das Sydney Harbour Hospital lag direkt am Hafen, und das Zentrum für sexuelle Funktionsstörungen befand sich in einem der oberen Stockwerke, zusammen mit der Psychologie und der Familienberatung. Sonst würde sich hier niemand aus dem Fahrstuhl trauen, scherzte James manchmal, wenn er sie in der Mittagspause besuchte. Allerdings konnte sie sich kaum erinnern, wann er zuletzt hier gewesen war.

Nichtsdestotrotz hatte sie jeden Morgen, wenn sie ihr Sprechzimmer betrat, das Gefühl, sich kneifen zu müssen. Die Aussicht war atemberaubend. Ava betrachtete das Opernhaus und die mächtige Stahlbrücke, den blauen Ozean, gespickt mit den strahlend weißen Segeln der Boote, und wartete darauf, dass sich die gewohnte Entspannung einstellte.

Es gelang, sie wurde ruhiger, der schale Geschmack, der nach ihrem Gespräch mit James geblieben war, verflüchtigte sich.

Ja, dieser unbeschreiblich schöne Blick auf den Hafen war bei ihrem Job die Sahne auf dem Kuchen.

Der Abend zerfloss jedoch wieder in Tränen. Übernächtigt kam Ava am nächsten Morgen ins Büro.

Während sie versuchte, das friedliche Hafenbild auf sich wirken zu lassen, klopfte es kurz, dann ging die Tür auf, und ihre Sekretärin Ginny betrat das Zimmer, in der Hand einen riesigen Blumenstrauß.

„Oh, dein James ist ja so romantisch“, schwärmte sie.

Das war der endgültige Beweis. James hat eine Affäre.

Kein einziges Mal in den sieben Jahren ihrer Ehe hatte er ihr Blumen geschickt, nein, nicht einmal, als er damals um sie warb. Es passte einfach nicht zu ihm. Warum soll ich Blumen schicken? würde er achselzuckend denken. Ich habe doch nichts verbrochen.

Sie las die blütenweiße Karte.

Du fehlst mir. Wir sehen uns Montag.

James

Eine Erinnerung tauchte in ihr auf, wurde mit jedem Moment klarer.

Es war vor zwei, drei Jahren gewesen.

Ja, vor drei Jahren, an ihrem Hochzeitstag. Sie hatten über Kinder gesprochen und fanden beide, dass jetzt ein guter Zeitpunkt für ein Baby wäre. Ava stand beruflich auf festen Füßen und war zuversichtlich, dass sie Mutterschaft und Karriere unter einen Hut bringen konnte. Besser als ihre Mutter jedenfalls.

James hatte Ava einen Ring geschenkt mit einem großen, goldbraun schimmernden Bernstein, den sie heute noch täglich trug. Er erinnert mich an deine Augen, hatte James gesagt. Danach waren sie essen gegangen, in ein elegantes Restaurant, wo er einen Tisch bestellt hatte, und es wurde ein wundervoller Abend.

Zu Hause angekommen, beschwerte sie sich gutmütig darüber, dass sie keine Blumen bekommen hätte, aber dann waren sie zusammen ins Bett gefallen und hatten sich leidenschaftlich geliebt.

Die Erinnerung tat weh, als sie James vor sich sah, sein großer Körper auf ihrem, das Kinn von dunklem Bartschatten bedeckt, seine wundervollen grünen Augen – und sein sinnliches Lächeln. „Männer schicken nur Blumen, wenn sie ein schlechtes Gewissen haben“, hatte er gesagt.

„Genau, James“, murmelte Ava vor sich hin und hätte den Blumenstrauß am liebsten aus dem Fenster geworfen. Aber hier oben ließen sich die Fenster nicht öffnen, und da kam Ginny auch schon mit einer Vase.

„Stell sie bitte draußen ins Wartezimmer. Die Patienten freuen sich bestimmt.“

„Kommt nicht infrage.“ Ginny stellte Vase und Blumen auf Avas Schreibtisch. „Er hat sie für dich geschickt.“

Und da prangten sie in herrlichen Farben, und ihr süßer Rosen­duft stieg Ava in die Nase. Sie wünschte, sie würden verwelken und vergehen.

Wie ihre Ehe.

1. KAPITEL

„Sie haben die OP abgesagt.“

Ava antwortete nicht gleich, sondern betrachtete ihre Kollegin Evie Lockheart mitfühlend. Die Unfallärztin lehnte an der Wand, hatte die Augen geschlossen und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Ava hatte sie gerade getroffen, als sie wie benommen den Krankenhausflur entlangging. Und auch wenn sie Evie nicht besonders gut kannte, so mochte sie sie. Sie hatten sich gelegentlich unterhalten, und jeder im Sydney Harbour wusste, dass Finn Kennedy heute operiert werden sollte.

Es war ein komplizierter, hochriskanter Eingriff. Ava wusste bereits, dass er gestrichen worden war. In diesem Krankenhaus verbreiteten sich Neuigkeiten wie ein Lauffeuer, und sie wagte kaum, sich vorzustellen, wie Finn reagiert hatte.

„Nicht abgesagt“, antwortete sie schließlich und berührte ihren Arm. „Nur verschoben.“

„Kann sein, dass es aufs Gleiche rauskommt“, meinte Evie matt. „Er hat nur geknurrt, sie bräuchten ihn gar nicht erst wieder auf die Liste zu setzen, und mir dann gesagt, ich sollte verdammt noch mal verschwinden.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte dich damit nicht behelligen.“

„Komm mit in mein Zimmer“, schlug Ava vor, während zwei Krankenschwestern vorbeigingen und Evie neugierige Blicke zuwarfen. Finn und Evie gehörten zu den heißesten Gesprächsthemen hier am Harbour. Finn war leitender Chefarzt der Chirurgie und ein eindrucksvoller Mann, aber auch bekannt für sein grantiges Auftreten und ein seltenes Talent, so ziemlich jeden gegen sich aufzubringen. Seine fachlichen Qualitäten waren jedoch unbestritten, seine Operationen legendär.

In letzter Zeit hatte er allerdings nicht mehr operieren können, was seine ohnehin miserable Laune noch verschlechterte. Die arme Evie hatte einiges auszuhalten. „Wir können auch dort einen Kaffee trinken. Du möchtest jetzt wahrscheinlich lieber nicht in der Cafeteria sitzen, oder?“

Evie schüttelte stumm den Kopf und begleitete Ava den Flur entlang, dann nach links zu den Fahrstühlen. Oben angekommen verließen die beiden Frauen schweigend den Aufzug, nickten Donald, einem der Therapeuten, grüßend zu, bevor sie Avas Räume betraten.

Ginny hatte von einer anderen Abteilung eine Nachricht für sie.

„Ich rufe später zurück“, sagte Ava. „Die nächste halbe Stunde möchte ich nicht gestört werden, danke, Ginny.“

Sie betraten ihr Sprechzimmer, das weniger an ein Büro als eher an ein Wohnzimmer erinnerte. Zwar stand hier ein Schreibtisch, der mit Papieren und Akten übersät war, aber durch die beiden Sofas und den niedrigen Couchtisch wirkte der Raum gemütlich. In eine Wandnische war eine kleine Küchenzeile eingebaut, wo Ava Tee oder Kaffee kochen konnte. Oft nutzte sie die Gelegenheit auch, um eine Gesprächspause zu entschärfen und ihren Patienten einen Moment für sich zu gönnen.

„Finn würde mir nie verzeihen, wenn er wüsste, dass ich ins Büro einer Sextherapeutin gehe, um über ihn zu reden …“ Ein schwaches Lächeln huschte über Evies Gesicht, während sie sich auf eins der bequemen Sofas sinken ließ.

Ava wandte sich um. „Was meinst du, wie oft ich so etwas tagtäglich höre.“ Sie ahmte eine mürrische Männerstimme nach: „Also, ich hätte nie gedacht, dass ich mich hier wiederfinde …“ Ava schenkte Kaffee in zwei Tassen, ließ sich dabei aber Zeit, um Evie die Möglichkeit zu geben, sich zu fassen.

„Tja …“ Evie lachte ironisch auf. „Zumindest wissen wir, dass Finn auf dem Gebiet keine Therapie nötig hat.“

Ava widersprach nicht, dachte sich jedoch ihren Teil. Was Frauen betraf, so hatte Finn am Sydney Harbour einen besonderen Ruf weg. Es wäre interessant, der Ursache dafür auf den Grund zu gehen. Aber natürlich konnte sie nicht mit Evie darüber sprechen, warum Finn ständig neue Frauenbekanntschaften suchte.

„Was für eine Aussicht!“ Evie hatte zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte, Augen für ihre Umgebung. „Vielleicht sollte ich vorschlagen, die Notaufnahme hierher zu verlegen.“

„Die Sanitäter würden dir nie verzeihen“, sagte Ava. „Soll ich dich allein lassen?“ Sie reichte ihr die dampfende Tasse. „Die Reinigungskräfte waren schon da.“ Unwillkürlich blickte sie zum Schreibtisch, fühlte sich wieder verspottet von den prachtvollen Rosen. „Mein nächster Patient kommt erst in einer Stunde, du wärst also ungestört.“

„Nein, bleib ruhig. Es ist schön, ein bisschen zu reden, ohne dass mich alle Leute beobachten.“

„Für Finn muss es besonders schwierig sein, sich hier operieren zu lassen – als Chef der Chirurgie. Allerdings gibt es kein besseres Krankenhaus.“ Ein anderes als das hochmoderne Sydney Harbour Hospital kam nicht infrage. Aber selbst die beste Ausstattung und die renommiertesten Operateure konnten nicht garantieren, dass der Eingriff problemlos verlief. Auch wenn Finn sich erhoffte, dass er danach wieder selbst operieren konnte, so war eine Lähmung nicht ausgeschlossen. Vielleicht würde er für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen.

Ava wusste so genau Bescheid, weil Finn vor der Operation zu einem Beratungsgespräch verpflichtet gewesen war. Im Team wurde diskutiert, wer das übernehmen sollte, und Ava hatte von vornherein abgelehnt. Zwar kannte sie Finn nicht besonders gut, aber sie waren Nachbarn im Kirribilli Views, einem Apartmenthaus, in dem viele Kollegen aus dem Harbour wohnten. Ava wollte Finn nicht in Verlegenheit bringen, wenn sie sich begegneten.

Schließlich hatte ihr Kollege Donald das Gespräch geführt.

Donald war ein sehr erfahrener Therapeut, der sowohl Familien- als auch Sexualberatungen übernahm, und seine Patienten hielten große Stücke auf ihn. Aber er war sehr direkt, und Ava fragte sich, wie Finn darauf reagiert hatte.

Sie selbst behandelte viele Patienten mit Wirbelsäulenproblemen, und sie liebte es, Beziehungen zu retten und Menschen aufzuzeigen, dass es ein Leben nach der Krankheit gab. Ja, sogar ein befriedigendes Sexualleben, selbst nach schweren Unfällen oder Erkrankungen. Ihre Arbeit konzentrierte sich mehr und mehr auf Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen, ein Grund dafür, dass sie mit Evie ins Gespräch gekommen war.

Evie arbeitete in der Notaufnahme und war eines Tages hier oben aufgetaucht, um über „einen Patienten“ zu sprechen. Ava ahnte, dass es um Finn ging. Finns Bruder war wie er Soldat gewesen. Bei einem Bombenangriff wurde er so schwer verletzt, dass er in Finns Armen starb. Ein Splitter derselben Granate, die den Bruder getötet hatte, steckte noch immer in Finns Nacken und verursachte ihm starke Gesundheitsprobleme.

Manchmal fragte sich Ava, ob Finn jemals ihre Auseinandersetzungen mit James mitbekommen hatte. Finn war immer sehr zurückhaltend, nicht der Typ, der stehen blieb, um zu plaudern, wenn sie sich mal auf der Treppe begegneten. Ein gelegentliches knappes „Guten Morgen“ war alles, was sie von ihm hörte.

Und wenn er sich morgens im Fahrstuhl über ihre verquollenen roten Augen wunderte, sagte er nichts. Er klingelte auch nicht wie ein mitfühlender Nachbar an ihrer Wohnungstür, als sie das letzte Baby verloren hatte. Bei der Erinnerung daran zuckte Ava insgeheim zusammen.

Finn stand im Lift, als bei ihr die Krämpfe anfingen, und sie wollte nur noch in ihr Apartment, ihre Ärztin anrufen und sich hinlegen. Aber dann packte sie ein messerscharfer Schmerz, und sie krümmte sich zusammen. Ohne die Miene zu verziehen, half Finn ihr zu ihrer Wohnungstür und rief James an. Danach verlor er kein Wort darüber, nickte ihr nur kurz zu, wenn sie sich im Flur trafen. Ava war ihm dankbar, dass er nie fragte, wann James zurückkäme oder wie es ihr ginge.

Es war, als respektiere er ihren Kummer als etwas, das man nicht unnötig breittrat. Wer wollte den Schmerz noch verschlimmern, indem er darüber redete? So ging Finn damit um, bei anderen – und bei sich auch.

„Ich mag gar nicht daran denken, dass wir jetzt alles noch mal durchmachen müssen“, unterbrach Evie sie in ihren Gedanken. „Bei Finn kann man nicht sicher sein, ob er der Operation wieder zustimmt.“

„Warum wurde sie verschoben? Ich dachte, das Team wäre bereit, der Eingriff seit Wochen geplant.“

„Bei einem der Instrumente gibt es Probleme“, erklärte Evie. „Sie können es nicht kalibrieren. Aus den USA kommt extra ein Techniker her, um es einzurichten. Der nächste Termin wäre frühestens in einer Woche. Aber natürlich wollen sie nicht den geringsten Fehler riskieren.“

„Was hat Finn gesagt, als er es erfuhr?“

„Nicht viel – ein paar knappe Worte, dann nahm er die Infusion ab, zog seinen Anzug an, sagte mir ziemlich unfreundlich, ich solle mich verziehen, und jetzt arbeitet er wieder. Er machte gerade Visite, und ich möchte nicht in der Haut derjenigen stecken, die in seiner Nähe sein müssen. Ava …“ Evie sah sie bedrückt an. „Finn und ich … wir sind nicht richtig zusammen, und ich weiß, wie gemein er manchmal sein kann, aber … in den letzten Tagen waren wir uns sehr nahe. Gestern Abend …“ Sie lachte verlegen auf. „Ich fasse es nicht, dass ich darüber rede!“

„Keine Sorge, ich werde nicht so schnell rot.“

„Es war eine wundervolle Nacht, nicht nur Sex, sondern so zärtlich und vertraut, wie ich mir … Liebe vorstelle.“ Evie schwieg einen Moment. „Und vorhin, einfach so, hat er mich praktisch aus dem Zimmer geworfen.“

„Lass ihm ein bisschen Zeit“, riet Ava. „Er hatte sich auf diese Operation eingestellt, und als sie in letzter Minute abgesagt wurde …“

„Aber das passiert immer wieder“, unterbrach Evie sie. „Andere Beziehungen brechen deswegen auch nicht gleich auseinander. Er meinte noch, dass er jetzt nachvollziehen kann, wie sich Patienten fühlen, deren OP wir absagen.“

„Oh, bekommen wir etwa einen neuen, mitfühlenden Finn?“

„Finn und mitfühlend?“, spottete Evie, lächelte aber, und Ava freute sich darüber. Im Grunde ihres Wesens war sie ein fröhlicher Mensch und fand, dass Humor immer half.

Nun ja, nicht immer.

Evie trank ihren Kaffee, und auch Ava sagte nichts mehr. Vielleicht brauchte Evie das angenehme Schweigen, diese friedliche Ruhe, bevor sie sich wieder in die hektische Betriebsamkeit der Notaufnahme stürzte.

Schließlich leerte sie die Tasse und stand auf. „Vielen Dank, Ava.“

„Komm gern jederzeit wieder, wenn du ein Paar offene Ohren brauchst.“

„Ach …“ Evie fiel etwas ein. „Dein toller Mann kommt heute zurück, oder?“

„Ja, heute Vormittag. Wahrscheinlich fährt er direkt zur Arbeit. So ist James nun mal.“

„Na, ihr seht euch doch heute Abend. Er ist bestimmt der glücklichste Mann der Welt, verheiratet mit einer Sextherapeutin …?“

Autor

Carol Marinelli
<p>Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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