Unter Einsatz meiner Liebe

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Nach einem schweren Schicksalsschlag hat Krankenschwester Andrea Caputo jeden Lebensmut verloren. Erst durch die Begegnung mit dem umwerfend charmanten Physiotherapeuten Ryan Bradshaw bebt ihr Herz wieder vor Glück. Aber warum kann sie ihm trotzdem nicht vertrauen?


  • Erscheinungstag 02.09.2019
  • Bandnummer 6
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727444
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Chaos. Panik. Angstschreie.

Keuchend schleppte sich Andrea Caputo über den harten kalten Fußboden aus der Schusslinie. Wie viele Menschen außer ihr waren noch getroffen? Sie wusste es nicht, da sie vor Schmerzen kaum noch aus den Augen sehen, geschweige denn klar denken konnte. Ihr rechtes Bein schien geradezu zu explodieren, eine Kugel steckte vermutlich im Oberschenkelknochen und eine im Schienbein. Die Knochen waren höchstwahrscheinlich zerschmettert, und so heftig, wie sie blutete, war eine Arterie verletzt. Das bedeutete nichts Gutes.

Sollte sie diese Hölle hier überstehen, würde sie mehrere Operationen, eine lange Reha und Monate, wenn nicht gar Jahre Physiotherapie über sich ergehen lassen müssen. Vorausgesetzt, sie verblutete nicht vorher.

Bitte, bitte lass mich das hier überleben!

Okay, okay … Sie musste raus aus diesem verdammten Flur, in den nächsten Schockraum und die Polizei rufen. Es war zwar gut möglich, dass das schon jemand getan hatte, aber was, wenn alle davon ausgingen und letztlich niemand etwas unternahm? Dann würde sich dieser Irre durch die ganze Unfallchirurgie schießen, bis sämtliche Ärzte, Schwestern und Patienten tot waren.

Ein weiterer Schuss prallte von den Wänden. Ein Schrei zerriss die Luft.

Das hier war vollkommen surreal. Das Juliana Memorial Hospital war im besten Fall ein Ort der Heilung und im schlimmsten ein Ort des Abschieds. Als OP-Schwester hatte Andi hektische und langweilige Schichten, herzzerreißend traurige und schöne Augenblicke erlebt. Nach fünf Jahren hatte sie geglaubt, alles gesehen zu haben. Aber das hier … das hier war Krieg.

Warum kam sie nur so langsam voran? Ihre Aufmerksamkeit auf den nächstgelegenen Schockraum gerichtet, kämpfte sie gegen ihre Schwäche und ihre Angst an. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um sich in Sicherheit zu bringen.

Bitte, bitte lass es aufhören!

In dem leeren Raum angekommen, griff Andi mit letzter Kraft nach dem Vorhang vor dem Bett und zog ihn mit einem Ruck vor, um sich dahinter zu verstecken. Das reichte. Es musste reichen. Sie konnte einfach nicht mehr.

Ungeschickt tastete sie nach ihrem Handy, drückte 911 und versuchte, nicht an all die verletzten oder toten Menschen um sich herum zu denken. Und den entsetzten Gesichtsausdruck des diensthabenden Arztes, Sekunden bevor eine Kugel ihn in den Bauch getroffen hatte.

Andi hatte ihm nicht mehr helfen können, obwohl sie das weiß Gott versucht hatte.

Ihr Instinkt zu helfen war stärker als ihr Schock und ihre Angst gewesen. Sie war sofort zu dem am Boden liegenden Arzt – ihrem Freund – geeilt, doch dann hatten zwei Schüsse sie niedergestreckt. Andi wusste nicht, ob der Amokläufer absichtlich auf ihre Beine gezielt oder sie eigentlich in die Brust oder den Bauch hatte treffen wollen. Es spielte auch keine Rolle. Entscheidend war nur, dass es ihr nicht gelungen war, zu Hugh zu gelangen. Dass sie nicht die Chance bekommen hatte, ihn zu retten.

Sie konnte sich kaum noch an die ersten Minuten nach ihrem Sturz erinnern, so heftig waren ihre Schmerzen gewesen. Sie hatte die nicht enden wollenden Schreie und Schüsse nur wie durch einen Nebel wahrgenommen. So höllische Schmerzen hatte sie noch nie gehabt, eine segensreiche Minute lang hatte sie sogar das Bewusstsein verloren. Und genau das hatte sie dazu gebracht, sich wieder aufzuraffen, so unglaublich das auch war.

Bewusstlosigkeit war ein schlechtes Zeichen. Sie bedeutete, dass sie zu viel Blut verlor.

Nach einem Blick auf Hughs leblosen Körper hatte sie die Entscheidung getroffen, sich in Sicherheit zu bringen. Aber was war, wenn sie seinen Zustand falsch eingeschätzt hatte? Was, wenn …? Nein, das konnte nicht sein! Sämtliche Anzeichen hatten darauf hingewiesen, dass Hugh verblutet war. Er war tot gewesen. Sie hätte nie einen Sterbenden allein zurückgelassen … oder?

Nein, das war undenkbar!

So undenkbar wie die Tatsache, dass Hugh nicht mehr lebte. Dass so viel Gewalt in ihrem Krankenhaus überhaupt möglich war. Dass sie angeschossen war und andere um sie herum verletzt waren oder starben. Dass sie außerstande war, ihren Job zu machen und den Verletzten zu helfen. Doch das Schlimmste waren die Schüsse, die immer noch durch die Unfallchirurgie des Juliana Memorial Hospital hallten. Wann würde der Amokläufer endlich aufhören?

Wann würde ihn endlich jemand aufhalten?

„911, in welcher Notsituation befinden Sie sich?“, durchdrang eine weibliche Stimme Andis Panik.

„Mein Name ist Andrea Caputo“, antwortete sie so klar und deutlich wie möglich. „Ich bin Krankenschwester am Juliana Memorial Hospital. In der Unfallchirurgie befindet sich ein Amokläufer. Er ist …“, sie zuckte erschrocken zusammen, als sie einen weiteren ohrenbetäubenden Knall hörte, „… der Ehemann einer Patientin, die gestern gestorben ist, und … und … es gibt jede Menge Verletzte. Menschen sterben. Schicken Sie Hilfe.“

„Hilfe ist bereits vor Ort“, antwortete die Frau am anderen Ende der Leitung. „Sind Sie verletzt?“

„Ja. Ich glaube, eine Arterie wurde getroffen, aber wenn ich die Blutung stoppen kann, werde ich … ich … ich …“ Andi wurde wieder schwarz vor Augen. Blinzelnd versuchte sie, sich auf die Stimme der Frau zu konzentrieren, doch die Dunkelheit übte weiter eine verlockende Anziehungskraft auf sie aus.

„Andrea! Reden Sie mit mir!“, sagte die Frau scharf. „Womit können Sie Ihre Blutung stoppen? Sie sind doch Krankenschwester, oder? Erklären Sie es mir Schritt für Schritt.“

Der Befehlston riss Andi vorübergehend aus ihrer Benommenheit. „Ich brauche … eine Schlauchbinde“, murmelte sie. „Hier gibt es Material. Ich muss nur … rankommen. Bin so müde. Schließe nur kurz die Augen …“

„Ich habe gute Neuigkeiten“, sagte die Frau. „Die Polizei hat inzwischen alles unter Kontrolle. Ihnen kann nichts mehr passieren. Wo in der Unfallchirurgie befinden Sie sich, Andrea?“

„Ich bin … in der vier … Schockraum vier, hinter dem … Vorhang. Auf dem … Fußboden.“

„Versuchen Sie, noch etwas länger wach zu bleiben, Andrea. Können Sie mir den Gefallen tun?“

Andi versuchte ihr Bestes. Wirklich, sie gab sich große Mühe. Doch sie schaffte es einfach nicht, die Augen aufzuhalten. Eine angenehme Wärme breitete sich um sie herum aus. Seufzend schloss sie die Augen.

1. KAPITEL

Die Nachmittagssonne tauchte Steamboat Springs, Colorado, in goldenes Licht. Der Anblick der malerisch in einem Tal gelegenen Stadt mit den majestätischen Rocky Mountains im Hintergrund hätte Andi eigentlich ein Lächeln ins Gesicht zaubern müssen, aber in ihr war alles wie abgestorben. Oder war die Fahrt nur zu anstrengend gewesen?

Sie sehnte sich so danach, innerlich zur Ruhe zu kommen. Vielleicht würde sie ja hier etwas Frieden finden – weit von Warwick, Rhode Island, und dem Juliana Memorial Hospital entfernt. Hier, bei ihrer Tante Margaret und deren Mann Paul Foster würde sie vielleicht das wiederbekommen, was sie verloren hatte. Ein bewegliches Bein, ihren Seelenfrieden … und Schlaf ohne Albträume.

Sechs Monate waren seit der Tragödie vergangen, der vier Menschen zum Opfer gefallen waren – darunter Hugh und der amoklaufende Witwer. Zwölf Menschen waren verletzt worden. Mehr als hundertachtzig Tage waren vergangen, seitdem Andi in Schockraum vier in der Unfallchirurgie das Bewusstsein verloren hatte – nur wenige Minuten, bevor ihr jemand zu Hilfe kam. Laut Polizei hatte man sie schnell gefunden.

Sie hatte mehrfach operiert werden müssen, um die Knochen zusammenzuschrauben, doch eine Infektion hatte zusätzlich die Muskulatur beeinträchtigt. Um ein Haar hätte sie ihr rechtes Bein verloren. Noch dazu hatte sie Gespräche mit der Polizei und der Krankenhausverwaltung führen und Journalisten abwimmeln müssen. Belastend waren auch die vielen gut gemeinten, aber nie endenden Mitleidsbekundungen von Familienangehörigen, Freunden und Kollegen gewesen … Jeder Tag hatte sie fast übermenschliche Anstrengung gekostet. Ja, und jetzt war sie am Ende. Total erschöpft.

Sie sehnte sich nach einem Ort, an dem sie sich endlich erholen konnte – körperlich und seelisch.

Klar, ihre Eltern waren großartig. Ken und Colleen Caputo waren liebevoll und fürsorglich, und ihre jüngere Schwester Audrey war genauso wundervoll. Die Caputos hatten ein sehr enges Verhältnis, aber Andi brauchte etwas … Freiraum.

Als daher Tante Margaret – die Schwester von Andis Mutter – angerufen und ihr angeboten hatte, zu ihnen nach Steamboat Springs zu kommen, hatte Andi sofort zugesagt, und jetzt war sie hier. Leider ohne die Schönheit ihrer Umgebung genießen zu können. Am nächsten Tag vielleicht …

Ihre Tante hatte sie vom Flughafen abgeholt und ihr während der Fahrt, abgesehen von einer Frage nach ihrem Befinden und ihrer Reise, angenehmerweise geschwiegen, sodass Andi die Augen hatte schließen können.

„Wir sind da“, sagte Margaret, als sie schließlich in die lange, von Bäumen gesäumte Zufahrt zum großen Blockhaus bog, mit dem Andi wundervolle Kindheitserinnerungen verband. „Ich sage Paul kurz Bescheid, damit er dein Gepäck hineinbringt. Hast du Hunger?“

„Ich … bin eher müde als hungrig.“ Andi massierte sich die Schläfen. „Aber ich kriege Kopfschmerzen, also …“

„Du brauchst etwas zu essen, ein großes Glas Limonade und ein Zimmer für dich allein. Und vielleicht ein Nickerchen. Keine Sorge …“, Margaret tätschelte Andi ein Knie, „… ich habe den Rest der Familie gebeten, dir bis Samstag Zeit zu lassen, dich einzuleben. Dann wollen wir für dich eine Willkommens-Grillparty feiern.“

Andi war erleichtert über die viertätige Schonfrist. „Danke. Ich freue mich natürlich sehr darauf, die anderen wiederzusehen und ihre Partner kennenzulernen, aber … Ja, Samstag wäre mir lieber als heute.“ Ihr fiel die Mail ein, die sie gestern bekommen hatte. „Ach ja, der Physiotherapeut, der mich hier behandelt, will mich morgen sehen. Ryan Bradshaw. Könntest du mich eventuell hinbringen, oder …?“

Bevor Margaret antworten konnte, kam Onkel Paul aus dem Haus und eilte strahlend auf sie zu. Andi holte tief Luft, griff nach ihrem Stock, öffnete die Beifahrertür und stieg aus dem Wagen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ist das schön, dich wiederzusehen!“ Paul nahm sie in die Arme. „Das letzte Mal ist eine Ewigkeit her.“

Andi nickte. „Stimmt. Wie alt war ich, als ihr uns das letzte Mal in Rhode Island besucht habt? Sechzehn?“

„So ungefähr.“ Paul ließ sie los und musterte sie eindringlich. „Lass uns reingehen. Wir haben das Gästezimmer im Erdgeschoss für dich vorbereitet, dritte Tür rechts. Ich hol schon mal dein Gepäck und stell es dir vor die Tür. Einverstanden?“

„Klingt gut.“ Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte Andi. „Ich brauche vielleicht ein paar Stunden, bis ich wieder …“

„Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst, und ruh dich erst mal aus“, sagte Paul. „Wir haben noch den ganzen Sommer Zeit, uns zu unterhalten.“

Ja, das hatten sie. Vor Andi lagen drei herrliche Monate, in denen sie über das hinwegkommen konnte, was ihr an jenem kalten Winternachmittag widerfahren war. Drei Monate, um die Natur zu genießen, in die Sonne zu blinzeln und den Wind im Gesicht zu spüren. Drei Monate, um … zu leben. Sich endlich wieder zu spüren.

Heißer Kaffee, ein getoasteter Bagel mit Butter und Frischkäse und die atemberaubende Aussicht auf die Rocky Mountains waren für Ryan Bradshaw immer der perfekte Start in den Tag. Genüsslich kauend streckte er die Beine aus und beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung, drei Jahre zuvor dieses Haus gekauft zu haben.

Oder überhaupt von Denver nach Steamboat Springs gezogen zu sein. Bei einem seiner Besuche bei seinen Eltern, die schon länger hier wohnten, war ihm bewusst geworden, wie sehr er sich nach einem etwas beschaulicheren Leben sehnte. Damals hatte er noch gemeinsam mit Leah hierherziehen wollen, aber ihre Verlobung war kurz darauf geplatzt.

Die Trennung war für sie beide die richtige Entscheidung gewesen, doch ohne Leah hatte ihn in Denver erst recht nichts mehr gehalten. Er war reif für einen Neuanfang gewesen. Gut, dass er nach Steamboat Springs gekommen war, denn nirgendwo sonst war er bisher so glücklich gewesen. Alles hier gefiel ihm – die Landschaft, die Menschen, der Lebensstil, das Skifahren.

Sogar sein beruflicher Ehrgeiz war wieder neu aufgeflammt. In Denver hatte er sich in einem Krankenhaus halb totgeschuftet und nur nebenbei ein paar Privatpatienten gehabt. Hier hatte er im Untergeschoss seines schönen neuen Hauses eine moderne Praxis eröffnet – dank einiger guter Investitionen hatte er die nötigen Mittel dafür gehabt. Im Stockwerk darüber hatte er seine Wohnung eingerichtet – und dazu gehörte die Terrasse, auf der er gerade saß. Bisher war es ihm ganz gut gelungen, den beruflichen und privaten Bereich voneinander getrennt zu halten.

Er arbeitete zwar immer noch mehr, als er sollte, aber er hatte kein Burnout mehr zu befürchten, seitdem er sein eigener Chef war und in dieser schönen Umgebung lebte. Zehn bis fünfzehn Stunden die Woche arbeitete er noch im Krankenhaus, aber das war wichtig für die Kontaktpflege.

Sein Patientenstamm war hier ähnlich zusammengesetzt wie in Denver, auch wenn sich prozentual mehr Patienten mit Sportunfällen darunter befanden. In Denver hingegen hatte er mehr Traumapatienten gehabt – Menschen, die eine schlimme Erfahrung überstanden hatten. Sie brauchten eine spezielle Behandlung, da sie oft ihr Urvertrauen verloren hatten.

Heute erwartete er seine erste Traumapatientin in Steamboat Springs – Andrea Caputo aus Warwick, Rhode Island. Sie hatte bei einem Amoklauf an ihrem Arbeitsplatz mit ansehen müssen, wie einer ihrer Kollegen erschossen wurde, und selbst zwei Kugeln ins rechte Bein abbekommen.

Ryan hatte sich ihre Akte gründlich durchgelesen und wusste daher, was ihr körperlich fehlte. Über ihren psychischen Zustand wusste er jedoch nicht viel – nur dass die Frau eine Menge Kraft, Mut und eine positive Lebenseinstellung brauchen würde, um wieder auf die Beine zu kommen.

Ryans Ehrgeiz war, all seine Patienten voll oder zumindest annähernd wiederherzustellen. Und das würde ihm auch bei Andrea Caputo gelingen.

Er war nämlich verdammt gut in seinem Job!

Andi schaute auf ihre Füße, um dem Blick ihres neuen Physiotherapeuten auszuweichen. Ryan Bradshaws dunkelbraune Augen schienen sie geradezu zu durchbohren. Das war ihr sehr unangenehm, so lächerlich das auch war. Schließlich konnte kein Mensch Gedanken lesen. Niemand wusste, wie es in ihr aussah.

Noch nicht mal dieser Mann hier mit dem durchdringenden Blick.

„Sorry“, murmelte sie. „Ich bin anscheinend erschöpfter von der Anreise als gedacht. Würden Sie Ihre Frage bitte wiederholen?“

„Klar. Ich habe gefragt, wie Sie schlafen. Oder vielmehr, wie viele Stunden am Stück.“

„Ach so.“ Andrea zuckte die Achseln und sah an dem Mann vorbei aus dem Fenster. „Keine Ahnung. Fünf vielleicht? Oder sechs?“ Die Wahrheit lag eher bei drei, aber ihre Notlüge ersparte ihr vielleicht, weitere Fragen zu ihrem Schlaf beantworten zu müssen. Ihre Albträume gingen nur sie etwas an. Außerdem hatten sie nichts mit ihrem Bein zu tun.

„Fünf bis sechs, hm?“ Wieder dieser durchdringende Blick. Der Physiotherapeut kritzelte etwas in seine Unterlagen. Vermutlich, dass sie eine miserable Lügnerin war. Er stellte ihr ein paar Fragen zu ihrer Ernährung, die sie wahrheitsgemäß beantwortete, und wollte dann wissen, wie stark ihre Schmerzen waren, wie weit sie mit ihren täglichen Übungen vorangekommen war und wie es ihr mit beidem ging.

„Was glauben Sie, wie es einem geht, wenn man ständig Schmerzen hat und bis zum Umfallen Übungen macht?“, fragte Andi gereizt zurück. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, so unwirsch zu reagieren, aber sie hatte es satt, dass alle sie ständig nach ihren Gefühlen fragten!

Welche Rolle spielte es schon, wie sie sich fühlte? Was passiert war, war passiert. Ihr blieben nur zwei Optionen: durchhalten und darauf hoffen, sich irgendwann wieder halbwegs normal zu fühlen, oder … was? Aufgeben, kapitulieren und diese neue, furchterregende Version von sich selbst akzeptieren? Nein. Niemals!

„Keine Ahnung“, erwiderte er sanft. „Deshalb frage ich ja.“

Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie wusste, dass sie nicht fließen würden. Seit Dezember hatte sie nicht einmal geweint, auch wenn sie ständig den Tränen nahe war. „Es geht mir gut“, antwortete Andi steif. „Ich tue alles, was nötig ist. Und ich finde, darauf sollten Sie sich konzentrieren, nicht auf meinen emotionalen Zustand.“

Ryan stand auf und klappte ihre Akte zu. „Ich will ein Gefühl dafür entwickeln, wie ich Ihnen helfen kann, wieder zu Kräften zu kommen und mobil zu werden. Dazu gehört auch Ihre emotionale Verfassung. Es wäre hilfreich zu wissen, wie Sie sich fühlen und was Sie denken. Und wie Sie schlafen.“

Andi wusste, wie wichtig die innere Einstellung für eine Genesung war, aber … Wie es in ihr aussah, ging Ryan Bradshaw nichts an. Auch nicht ihre Familie oder ihre Freunde oder … auch nur irgendjemanden außer ihr selbst. Außerdem wollte sie niemanden mit ihren Problemen belasten.

„Sorry“, wiederholte sie. Mühsam stützte sie sich auf ihren Stock. „Ich werde gerne mit Ihnen über meine Reha sprechen, werde pünktlich zu den Terminen erscheinen und mich halb tot- trainieren – alles, was Sie wollen.“ Sie holte tief Luft, straffte die Schultern und erwiderte seinen Blick trotzig. „Aber meine Gedanken oder Gefühle gehen Sie nichts an.“

Genauso wenig wollte sie über ihre Albträume reden. Oder dass sie bei jedem lauten Geräusch einen Panikanfall bekam. Oder sich die Schuld an Hughs Tod gab. Warum hatte sie ihn nicht in Sicherheit gebracht?

„Die Entscheidung liegt natürlich ganz bei Ihnen, aber ich werde Sie immer wieder fragen.“

Dieser Mann war offensichtlich ganz schön stur. „Das können Sie sich sparen. Ich werde nämlich nicht antworten.“

„Hm … Es ist nicht meine Absicht, Sie unter Druck zu setzen, aber Sie müssen wissen, dass ich einen sehr langen Atem habe, wenn es um das Wohlergehen meiner Patienten geht.“

Zig Antworten lagen Andi auf der Zunge, aber sie schluckte sie runter. Einen langen Atem hatte sie selbst, danke schön! Und zurzeit hielt sie nur eines aufrecht: ihre Dämonen für sich zu behalten. Alles andere war zu riskant. „Dann wissen wir ja, woran wir miteinander sind“, entgegnete sie schnippisch und folgte ihm zur Tür. „Wann soll ich morgen hier sein?“

„Zur gleichen Zeit, aber wir sind noch nicht fertig. Sie müssen noch ein paar Übungen machen, um Ihre Muskeln daran zu erinnern, wofür sie da sind.“ Seine Mundwinkel zuckten belustigt, was ihn gleich viel weniger unnachgiebig aussehen ließ. „Sie haben schon gestern und vorgestern nicht trainiert, und wie Sie wissen, ist regelmäßige Bewegung sehr wichtig.“

„Ja, aber ich war davon ausgegangen, dass wir heute nur reden und die Termine besprechen würden. Ich habe keine … passende Kleidung dabei, und … morgen reicht völlig. Ein Tag mehr oder weniger macht keinen Unterschied. Ich bin müde und … Ich kann heute einfach nicht länger bleiben.“

Andi könnte schon. Sie wollte nur nicht. Nicht, wenn ihr Herzschlag sich in der Nähe dieses Mannes – eines Fremden, verflucht noch mal! – so beschleunigte und ihr so unangenehm heiß wurde. Diese Reaktion war völlig überflüssig. Aber bis zum nächsten Morgen würde sie sie bestimmt unter Kontrolle haben.

„Ich habe Kleidung hier, und ehrlich gesagt macht ein Tag mehr einen Riesenunterschied.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann Sie natürlich nicht zwingen. Sie müssen schon von sich aus gesund werden wollen.“

Verdammt, das wollte sie doch auch! Nur erst ab morgen. Nach einem entspannten, ruhigen Tag. Sie sehnte sich danach, bei Paul und Margaret auf der Veranda zu sitzen, die Sonne zu genießen und sich mit einem Buch von ihren Gedanken abzulenken. Wenigstens heute wollte sie ihr Bein oder den langen Weg vergessen, den sie noch vor sich hatte. Sie wollte einfach mal … normal sein. Und wenn sie nur so tat als ob.

Sie schüttelte den Kopf und hob trotzig das Kinn. „Ich habe durchaus die Absicht, gesund zu werden, Mr. Bradshaw. Der Wille ist da, keine Sorge. Trotzdem kann ich heute nicht länger bleiben, so leid mir das auch tut.“

Er starrte sie an, und sie starrte zurück, bis er schließlich nickte. Sein enttäuschter Gesichtsausdruck irritierte sie. Sie kannte diesen Mann doch gar nicht! „Okay, Andrea“, sagte er. „Heute lasse ich Sie noch mal vom Haken, aber das ist das erste und das letzte Mal.“

„Nennen Sie mich Andi, bitte. Es wird nicht wieder vorkommen. Bis morgen also.“

Er gab keine Antwort. Umso besser. Mühsam ging sie zur Tür und trat ins Freie hinaus. Die Vormittagssonne schien ihr auf den Kopf und die Schultern. Sie atmete die kühle Luft ein und versuchte, ihre verkrampften Muskeln zu lockern und ihren Schwindel zu bekämpfen.

Seufzend setzte sie sich auf eine der Holzbänke vor dem Haus und rief ihre Tante an, die sie vor einer guten Stunde hier abgesetzt hatte und in der Zwischenzeit Besorgungen machte. Margaret hatte Andi angeboten, ihr den Wagen zu überlassen, doch Andi traute sich das Fahren noch nicht zu.

Autofahren war ein weiteres Ziel, das sie sich gesetzt hatte. Etwas, das sie früher für selbstverständlich gehalten hatte … genauso wie ein funktionierendes rechtes Bein oder ungestörten Schlaf.

Nochmals seufzend schloss sie die Augen. Nie wieder würde sie etwas für selbstverständlich halten, das stand fest!

„Gut gemacht“, lobte Ryan sie am nächsten Morgen.

Autor

Tracy Madison
<p>Die preisgekrönte Schriftstellerin Tracy Madison ist in Ohio zu Hause, und ihre Tage sind gut gefüllt mit Liebe, Lachen und zahlreichen Tassen Kaffee ... Die Nächte verbringt sie oft schreibend am Computer, um ihren Figuren Leben einzuhauchen und ihnen ihr wohlverdientes Happy End zu bescheren. Übrigens bekommt Tracy Madison sehr...
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