Verhängnisvolle Sehnsucht in Cornwall

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Deidres Herz klopft wie verrückt: Am liebsten würde sie Ethan auf der Stelle küssen! Ihre einstige große Liebe zufällig in ihrem idyllischen Heimatstädtchen am Helford River wiederzusehen, weckt eine längst vergessene Sehnsucht in ihrem Herzen. Dabei ist die junge Maklerin nur hierhergekommen, um das Familienanwesen zu verkaufen! Dass sich in Ethans sommerhimmelblauen Augen ihre sinnlichen Gefühle spiegeln, macht alles noch schlimmer. Denn Deirdre ist nicht allein ins malerische Cornwall gereist: Ihr Verlobter begleitet sie …



  • Erscheinungstag 25.07.2023
  • Bandnummer 152023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751518697
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Deirdre stand am Ufer des Helford River und blinzelte in die Sonne. Nach so langer Zeit wieder hier zu stehen, ließ Erinnerungen in ihr lebendig werden, die sie schon lange vergessen zu haben glaubte.

Sie hatte die anderen schon nach Falmouth vorausgeschickt, wo in einer Stunde die Testamentseröffnung stattfinden sollte. Denn als sie sich vorhin für den Besuch beim Anwalt umgezogen hatte, war ihr plötzlich buchstäblich die Luft weggeblieben. Sie war ans Fenster gestürmt und hatte es aufgerissen. Ihr Blick war über die Wiesen hinunter zum Helford River gewandert, der in der Sonne glitzerte. Und mit einem Mal musste sie dorthin, ans Wasser, an den Ort, an dem die Pinien Schatten spendeten und die Wellen sanft ans Ufer schlugen. Also hatte sie ihrem Verlobten Timothy gesagt, er solle mit seinem eigenen Wagen vorausfahren, und hatte sich auf den Weg zum Fluss gemacht. Ihr Bruder war ebenfalls schon unterwegs.

Jetzt stand sie hier unten, auf dem mit kleinen Kieseln durchmischten Sand, und die Sonne wärmte ihr die Haut. Die Luft war geschwängert vom süßen Aroma der Pinien und dem Duft der Rosen und Hortensien, die in voller Blüte standen. Der Wind strich ihr über die Haut und wehte ihr immer wieder eine Strähne ihrer langen braunen Haare ins Gesicht. Als sie vor vier Tagen vom Tod ihrer Mutter erfahren hatte, war ihre Welt zusammengebrochen. Es war nicht nur die Mischung aus Trauer und Erleichterung gewesen, die sie vollkommen erschüttert hatte, und für die sie sich schämte, sondern auch die Konfrontation mit ihrem alten Leben, das sie so sorgfältig hinter sich gelassen hatte. Doch jetzt, mit Tims Anwesenheit am Helford River, begannen sich beide Leben zu vermischen, und das ließ Deirdre schlagartig wieder zu dem jungen Mädchen werden, das einst von hier nach London geflohen war. Plötzlich fühlte sie sich wieder machtlos und schwach, obwohl sie das nie wieder sein wollte.

„Du bist eine erfolgreiche Immobilienmaklerin“, sagte sie leise zu sich selbst. „Das alles ist lange vorbei, denke einfach nicht mehr daran.“ Sie atmete noch einmal tief die salzige Luft des Meeresarms ein und machte sich auf den Rückweg.

Sie ging den South West Coast Path in Richtung Helford Passage zurück, dem winzigen Fischerdorf, das heute hauptsächlich vom Tourismus lebte. Die Ginstersträucher am Wegesrand streiften ihre nackten Beine. Nach wenigen Minuten tauchten die ersten Gebäude des kleinen Ortes vor ihr auf.

Nichts hat sich hier verändert, dachte Deirdre, und doch war alles anders. Mit entschlossenen Schritten ging sie die asphaltierte Straße entlang, die zwischen den wenigen Häusern von Helford Passage ins Landesinnere führte. Das Haus ihrer Familie lag etwas oberhalb und verfügte über einen gigantischen Blick über den Ort und den Helford River. Nun wieder etwas ruhiger, stieg sie in ihr neues Mercedes Cabriolet der C-Klasse, das vor dem Haus geparkt war, und lenkte den Wagen vorsichtig die enge Auffahrt hinunter.

Während der knapp zwanzigminütigen Fahrt nach Falmouth stiegen die unterschiedlichsten Erinnerungen in ihr auf, die sie in den letzten Jahren erfolgreich unterdrückt hatte. Deirdre seufzte. Sie musste die Sache schnell hinter sich bringen und dann wieder nach London zurückkehren. Dort gelang es ihr ganz gut, die Vergangenheit zu verdrängen, hier unten in Cornwall kostete es sie hingegen unendlich viel Kraft, nicht an früher zu denken.

In den letzten Jahren war sie kaum hier gewesen, und im letzten Jahr kein einziges Mal. Sie hatte geglaubt, alles längst hinter sich gelassen zu haben.

In drei Tagen war die Beerdigung ihrer Mutter, danach würde sie von hier verschwinden.

Mum.

Auch dieser Gedanke war zu kompliziert, um daran festzuhalten. Ja, sie war unendlich traurig, dass sie nicht mehr da war, doch ihre Mutter hatte Deirdre nicht erst vor vier Tagen verloren, sondern bereits vor neunzehn Jahren. Und so traurig sie über den Tod ihrer Mutter war, mindestens genauso erleichtert war sie. In den letzten Jahren war es für Deirdre immer unerträglicher geworden, ihre Mutter zu besuchen, die so sehr in der Vergangenheit gelebt hatte, dass es schon einer Manie gleichkam. Dass sie Deirdres Wunden dadurch auch immer wieder aufriss, hatte ihre Mutter nicht gesehen. Überhaupt war sie so sehr auf sich selbst konzentriert gewesen, dass Deirdre irgendwann nur noch so selten wie möglich hergekommen war. Jetzt wunderte sie sich, dass das schlechte Gewissen aufgrund dieser wenigen Besuche, mit dem sie eigentlich gerechnet hatte, bislang ausblieb.

Die anderen warteten bereits vor dem Eingang der Anwaltskanzlei, die sich inmitten der Stadt in einem schlichten, zweistöckigen Klinkerbau befand.

Glücklicherweise fand sie einen Parkplatz ganz in der Nähe. Wenige Minuten später befand sie sich gemeinsam mit den anderen in dem stickigen Büro von Mr. Woolton, dem Anwalt der Familie Pritchard. Timothy saß neben Deirdre auf einem abgenutzten Ledersofa. Es war das erste Mal, dass ihr Verlobter sie nach Cornwall begleitet hatte. Sein teurer Duft nach Sandelholz und Zitrusfrüchten stieg ihr in die Nase. Ihr Bruder Paul und seine Frau Evelyn hatten jeweils mit einer ihrer Zwillingstöchter in zwei Sesseln Platz genommen. Etwas weiter entfernt thronte Mr. Woolton hinter seinem Schreibtisch. Der mächtige Schnurrbart zitterte, als er sich nach vorne lehnte und die vier Anwesenden einen Moment lang musterte.

Schließlich räusperte er sich: „Ihre Mutter hat das Testament nach der Scheidung gemacht und es seitdem nie verändert.“

Deirdre runzelte die Stirn. Die Scheidung war neunzehn Jahre her, das war zwar einerseits lang, aber andererseits hatte ihre Mutter seitdem auch kaum das Haus verlassen. „Wieso hätte sie etwas ändern sollen?“

Der Anwalt strich sich über seinen Schnurrbart. „Nun, es ist eher ungewöhnlich, dass es in einem so langen Zeitraum keine Änderungen mehr gegeben hat. Aber kommen wir nun zur Eröffnung.“ Er griff nach einer Akte, die auf seinem Schreibtisch lag, und schlug sie auf. „Eigentlich ist alles recht einfach. Der gesamte Besitz, der aus Riverview House besteht und den viertausend Pfund auf der Bank, wird zwischen beiden Kindern zu gleichen Teilen aufgeteilt.“ Er sah von dem Dokument auf und betrachtete Paul und dann Deirdre über den Rand seiner Lesebrille hinweg. „Somit gehört Ihnen jeweils eine Hälfte des Hauses.“

Einen Moment schwiegen alle. Deirdre atmete tief ein. Im Grunde hatte sie damit gerechnet. Aber in den letzten Jahren hatten Paul und Evelyn mit ihrer Mutter zusammen in Riverview House gelebt, während Deirdre in London gewesen und kaum noch an den Helford River gekommen war. Sie wäre also nicht allzu überrascht gewesen, wenn ihre Mutter ihr Testament doch zu Pauls Gunsten geändert hätte. Aber dafür hätte sie Energie aufbringen müssen, sie hätte das Haus verlassen und etwas unternehmen müssen, und genau das hatte ihre Mutter seit neunzehn Jahren konsequent vermieden.

„Was passiert im Falle eines Verkaufs?“, hörte sie ihren Verlobten das Schweigen durchbrechen. „Wenn wir unseren Anteil verkaufen wollen?“ Timothy sah den Anwalt fragend an.

Deirdre erstarrte. In diesem Moment hasste sie Tims Macher-Art. Das Erbe war nicht Tims, sondern ihres. Natürlich war es nur vernünftig, das riesige Anwesen zu verkaufen, aber es störte sie, dass Tim das Thema so selbstverständlich angesprochen hatte. Zumal das Gebäude seit einhundertfünfzig Jahren im Besitz der Familie Pritchard war. Wenn entschieden wurde, Riverview House zu verkaufen, dann sollte diese Entscheidung von einem Mitglied der Familie getroffen werden und nicht von einem Fremden. Ihr Blick wanderte automatisch zu ihrem Bruder hinüber, der ihren Verlobten anstarrte. Er war ganz weiß im Gesicht.

„Das ist kein Problem“, ließ sich Mr. Woolton vernehmen. „Der Erlös, der durch den Verkauf des Anwesens erzielt würde, wird zu gleichen Teilen unter den Erben aufgeteilt. Wenn Sie wünschen, kümmere ich mich gern um den Verkauf.“

„Das wird nicht nötig sein.“ Tim zog seine Visitenkarte aus der Tasche seines, wie immer, perfekt sitzenden Jacketts. „Ich bin selbst Immobilienmakler und habe eine große Agentur in London.“

„Sie gehört uns beiden“, konnte Deirdre sich nicht zurückhalten anzumerken.

„Selbstverständlich“, sagte Tim. „Wir leiten das Geschäft zusammen.“

„Es wird nicht verkauft“, meldete sich jetzt ihr Bruder mit seltsam hoher Stimme zu Wort. „Riverview House ist unser Zuhause. Ihr wohnt in London, aber Evelyn, die Kinder und ich, wir lieben Riverview. Es ist unser Heim, alles, was wir haben. Wir werden es nicht verkaufen.“

Einen Moment lang war es still im Raum. Dann ergriff wieder Timothy das Wort. „Gar kein Problem, das verstehen wir natürlich.“ Er sah den Anwalt an. Seine dunklen Augen wirkten kalt. „Ich nehme an, es besteht auch die Möglichkeit, dass ein Erbe den anderen auszahlt, nicht wahr, Mr. Woolton?“ Er strich sich ein imaginäres Staubkorn von seinem teuren Maßanzug.

„Selbstverständlich.“ Der Jurist nickte.

Paul nahm seine Tochter vom Schoß und setzte das Mädchen vorsichtig auf den Teppichboden. Er stand auf und wandte sich an seine Schwester. „Deirdre, du weißt genau, dass ich kein Geld habe. Ich kann dich nicht auszahlen.“

Deirdre sah ihren Bruder hilflos an. Er hatte recht. Als Werftarbeiter verdiente er gerade zweitausend Pfund brutto, davon konnte er mehr schlecht als recht die Familie ernähren.

„Eben“, antwortete Timothy an ihrer Stelle. Er schenkte Paul ein strahlendes Lächeln. „Das ging alles gut, solange eure Mutter noch gelebt hat. Aber jetzt müsst ihr euch wohl nach einem Haus umsehen, das eurem Budget entspricht. Das Objekt, in dem ihr zurzeit wohnt, ist vier bis fünf Millionen wert. Vielleicht auch mehr, wenn wir Glück haben. Von der Hälfte des Geldes könnt ihr euch ein schickes anderes Häuschen kaufen.“

„Das wollen wir aber nicht!“, rief Paul aufgebracht. „Riverview House ist unser Heim. Es ist das Zuhause unserer Familie seit vielen Generationen.“

„Und jetzt endet diese Geschichte eben, meine Güte.“ Timothy schlug lässig ein Bein über das andere und zupfte die Bügelfalte zurecht. „Ihr lebt über eure Verhältnisse, wenn ihr in dem Haus wohnen bleibt. Wenn ihr es jedoch verkauft, werdet ihr mit einem Schlag reich sein.“

„Geld ist nicht alles!“ Paul spie die Worte förmlich aus. „Wir haben uns erst gestern kennengelernt, aber ich weiß bereits jetzt, dass wir grundverschieden sind. Komm, Evelyn, ich muss hier raus.“ Er nahm die kleine Leah auf den Arm und stürmte aus der Anwaltskanzlei. Evelyn eilte mit Diana hinterher.

Deirdre und Timothy fuhren getrennt voneinander zurück, da sie auch mit zwei Autos nach Falmouth gekommen waren. Das war Deirdre ganz recht, denn sie brauchte Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen. Seltsamerweise schien Timothy der unschöne Ausgang ihres Anwaltsbesuchs nicht zu belasten. Er fuhr vor ihr, hatte das Verdeck seines Porsche Cabrios zurückgefahren und hörte laute Popmusik, zu der er fröhlich, schief und leidenschaftlich pfiff.

Deirdre schüttelte den Kopf. Er hatte sich gerade unmöglich benommen. Tim schien vergessen zu haben, dass das Haus nicht ihm, sondern ihr vererbt worden war. Und Deirdre brauchte keinen Mann, der für sie und über ihren Kopf hinweg Entscheidungen traf. Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass Tim recht hatte. Das Haus war riesig. Hinzu kam das Grundstück von etwas mehr als einem Hektar. Ja, das Anwesen war wertvoll. Damals, als es erbaut worden war, war das noch anders gewesen. Cornwall war eine der ärmsten Grafschaften Englands gewesen, der Tourismus hatte das Land noch nicht entdeckt. Zu dieser Zeit hatten Deirdres Vorfahren nicht ahnen können, dass das Grundstück mitsamt dem großen Haus einmal mehrere Millionen Pfund wert sein würde.

Natürlich würden sie schnell einen Käufer finden, und mit dem Geld würde Pauls Familie auf einen Schlag reich sein. Sie konnten sich ein anderes, kleineres Haus kaufen und von dem restlichen Geld eine ganze Weile gut leben. Wenn sie sparsam wären, vielleicht sogar ein Leben lang. Und Paul wäre nicht mehr auf den Job auf der Werft angewiesen.

Sie mussten beide plötzlich abbremsen, weil ein paar ausgerissene Schafe mitten auf der Straße standen. Timothy hupte ungeduldig, was die Tiere jedoch nur in Panik versetzte. Und panische Schafe handelten nicht unbedingt klug, das wusste Deirdre nur zu gut. Viel besser war es, ganz ruhig an ihnen vorbeizufahren. Doch jetzt liefen sie aufgeschreckt um Timothys Cabrio herum, sodass er sie auf der schmalen Straße nicht überholen konnte. Erst als wenig später Tim das Hupen endlich eingestellt hatte, verlangsamten die Tiere ihr Tempo und schafften es, in der nächsten Feldeinfahrt Schutz zu suchen.

Deirdres Gedanken kehrten zu Paul und Evelyn zurück. Natürlich hatte Timothy recht, dass sie ein so großes Haus kaum unterhalten konnten. Und das Geld, das sie mit dem Verkauf des Hauses erzielen könnten, würde auch ihr guttun. Sie hatte zwar ein hübsches Sümmchen auf ihren verschiedenen Konten und zusätzlich zwei Apartments in London zur Geldanlage erworben, doch sie brauchte das Gefühl der Unabhängigkeit. Und nichts vermittelte ihr das besser als ein wachsendes Bankkonto. Zwei bis drei Millionen mehr würden ihr auch persönlich einen gehörigen Schub an Sicherheit geben. Denn egal was geschah, sie würde immer Wert darauf legen, über ihr eigenes Geld zu verfügen.

Als sie Tim vor drei Jahren kennengelernt hatte, war sie bereits als Immobilienmaklerin erfolgreich gewesen. Tim war einer ihrer größten Konkurrenten gewesen. Bis sie sich bei einer Kundin getroffen hatten, die sowohl Tims als auch Deirdres Firma mit dem Verkauf ihres Stadthauses beauftragt hatte, und damals hatten sie sich ineinander verliebt. Und weil ihre Zusammenarbeit bei dem Verkauf des Hauses erfolgreich gewesen war, hatten sie beschlossen, die Firmen zusammenzulegen. Damals hatte Deirdre Tim bereits gesagt, dass sie immer auf eine gewisse Eigenständigkeit achten würde, sowohl beruflich als auch privat.

Vor einem halben Jahr hatte Tim ihr dann den Heiratsantrag gemacht, im nächsten Frühjahr sollte die Hochzeit stattfinden. Tim war verletzt gewesen, als sie ihm bei der Verlobung gesagt hatte, auf jeden Fall einen Ehevertrag mit strikter Gütertrennung abschließen zu wollen, andernfalls würde sie ihn nicht heiraten wollen. Tim hatte ihr mangelndes Vertrauen vorgeworfen, und sie hatte ihn in dem Glauben gelassen. Denn über den wahren Grund für dieses Bedürfnis nach Unabhängigkeit hatte sie nicht mit ihm sprechen wollen.

Als sie jetzt Riverview House erreicht hatten, fuhr Timothy seinen Porsche direkt in das ehemalige Stallgebäude, das Deirdres Vater vor zwanzig Jahren zu einer Garage umgebaut hatte. Deirdre presste die Lippen zusammen und stellte ihren eigenen Wagen auf dem Hof ab. Timothy hatte in Hausherrenmanier den einzigen freien Platz in dem alten Gebäude mit Beschlag belegt. Sie hatten beschlossen, mit zwei Wagen von London hierherzufahren, falls Tim aus beruflichen Gründen vorzeitig in die Stadt zurückkehren musste. Jetzt kam er lächelnd auf sie zu, den Autoschlüssel warf er lässig in die Luft und fing ihn wieder auf.

„Warte, ich mache gleich mal ein paar Bilder für die Maklerseite.“ Er zog sein Smartphone aus der Tasche und wischte über den Bildschirm.

„Halt!“ Deirdre hob eine Hand. „Paul will nicht verkaufen. Wozu also die Bilder?“

„Überlass die Angelegenheit ruhig mir. Ich habe schon oft mit ähnlichen Fällen zu tun gehabt“, Timothy kniff die Augen zusammen, während er das Haus aus verschiedenen Blickwinkeln ablichtete. „Es wird ihm gar nichts anderes übrig bleiben. Wir haben hier einen Marktpreis von einigen Millionen. Natürlich gibt es einen Renovierungsstau, das wird aber die Lage mehr als ausgleichen. Ich stelle es für vier, vielleicht auch fünf Millionen rein, runtergehen kann ich immer noch, falls sich rausstellt, dass es zu hoch angesetzt ist. Das glaube ich aber nicht. Lass mir ein paar Minuten, dann kann ich dir Genaueres sagen. Ich rechne es mal schnell durch.“ Er verschwand um die Hausecke.

Deirdre sah ihm einen Moment lang nach. Timothy war innerhalb weniger Minuten von ihrem Verlobten, der als Unterstützung aufgrund des Todes ihrer Mutter mit nach Cornwall gereist war, zum knallharten Immobilienmakler geworden. Erneut stieg das Gefühl in ihr auf, von Timothy überrannt zu werden.

Sie bewunderte ihn, er sah blendend aus mit seinem braunen Haar, den dunklen Augen und der sportlichen Figur, er konnte charmant sein und hatte jeden innerhalb weniger Sekunden für sich eingenommen, aber er akzeptierte nicht, dass Deirdre ihre Angelegenheiten selbst regeln wollte. Ihr Blick glitt an der Fassade hinauf. Zum ersten Mal sah sie das Haus als Objekt, nicht mehr als das Gebäude, in dem sie viele Jahre lang das Leiden ihrer Mutter zu ihrem eigenen gemacht hatte. Das viktorianische Haus reckte seine vielen Giebel in den Himmel. Efeu wucherte an der Backsteinfassade empor, und die weiße Farbe der Fensterrahmen blätterte an vielen Stellen ab.

Deirdre ging an der Mauer entlang und warf einen Blick um die Hausecke in den Garten. Timothy stand auf der riesigen Sonnenterrasse, die von Olivenbäumen rechts und links begrenzt wurde und von der man direkt auf den Fluss blickte. Auf den weißen Gartenmöbeln lagen fröhliche gelbe Kissen. Ein Sandkasten stand auf der Wiese davor, die sich leicht abschüssig in Richtung des Helford River erstreckte. Ein Bobbycar und ein paar Sandförmchen flogen auf der Terrasse herum. Deirdres Verlobter bewunderte jedoch nicht die Schönheit der Landschaft, sondern fotografierte das Haus.

Plötzlich wurde es ihr zu viel. Er ignorierte vollkommen den Wunsch ihres Bruders, der das Haus nicht verkaufen wollte. Und auch wenn Deirdre ebenfalls davon überzeugt war, dass ein Verkauf die einzige Möglichkeit war, die Paul und Evelyn blieb, störte es sie, dass das Haus schon fotografiert und für den Verkauf vorbereitet wurde, obwohl Paul noch gar nicht zugestimmt hatte.

„Hör auf damit“, sagte sie mit ungewöhnlich lauter Stimme, die Timothy zusammenfahren ließ.

Er sah sie erstaunt an. „Aber wir haben nicht viel Zeit. Jeder Tag, den wir hier unten vertrödeln, kostet uns Geld. Wir haben eine Firma, die sich nicht von allein führt. Und auch wenn wir die besten Mitarbeiter haben, sollten wir sehen, dass wir den Verkauf hier schnell über die Bühne bringen.“

„Den Verkauf? Du bist hier, um ein Haus zu verkaufen? Und ich dachte, du wärest mitgekommen, um mich zu unterstützen.“ Deirdre starrte ihn fassungslos an. „Ich bin jedenfalls hier, weil meine Mutter gestorben ist. Alles andere ist im Moment zweitrangig.“ Sie drehte sich um und stürmte die Einfahrt hinunter, an Zitronen- und Orangenbäumen vorbei.

„Deirdre, warte!“

Sie beschleunigte ihre Schritte.

„Hey.“ Sie spürte Tims Hand an ihrem Arm. Er hielt sie fest. „Du bist doch sonst nicht so empfindlich.“

Deirdre schüttelte stumm den Kopf.

„Jetzt sei nicht so.“ Tim sah sie mit spöttisch gehobener Augenbraue an. „Seit wir uns kennen, warst du kaum hier unten. Ich habe nicht angenommen, dass dir der Tod deiner Mutter sonderlich nahegeht.“

Deirdre riss sich von ihm los und ging weiter. Sie bog auf die Landstraße ein, die nach Helford Passage führte.

„Du willst doch immer so selbstständig sein!“, rief er ihr hinterher. „Nicht mal ein Bankkonto kannst du dir mit mir teilen. Und jetzt auf einmal brauchst du meine Unterstützung, nur weil deine Mutter gestorben ist, die du sowieso nie besucht hast?“

Deirdre blieb stehen. Seine Worte trafen sie. Er hatte recht, sie war lange nicht hier gewesen, aber er hatte keine Ahnung, warum sie ihre Mutter nicht mehr hatte ertragen können: Sie hatte Riverview House meiden müssen, um ihr eigenes Leben leben zu können.

„Na also“, sagte er zufrieden und schien ihr Schweigen als Zustimmung zu deuten. „Hey, da vorne ist ja ein Pub. Jetzt ein kühles Ale. Komm schon, das wird dir guttun.“

Deirdre atmete tief durch. Am liebsten wäre sie jetzt allein gewesen. Aber die letzten drei Jahre mit Tim hatten sie gelehrt, dass er selten nachgab, und um einer weiteren Diskussion zu entkommen, nickte sie ergeben.

2. KAPITEL

Sie fanden noch einen freien Tisch direkt unten am Strand, nur durch die schmale Straße des Ortes vom Hafen getrennt. Timothy holte ihnen zwei Pints mit Ale.

„Also, was hast du vor?“, fragte er, nachdem er einen großen Schluck Bier getrunken hatte. „Wirst du einen Anwalt einschalten, um deinen Bruder aus dem Haus zu klagen? Ich denke, die Chancen stehen nicht schlecht. Schließlich hat er keinerlei finanzielle Mittel, um das Haus zu unterhalten, und da es denkmalgeschützt ist, sind wir gezwungen, regelmäßig die notwendigen Renovierungen vorzunehmen.“

„Natürlich nicht“, antwortete Deirdre erschrocken und strich über das feuchte Bierglas. Sie betrachtete nachdenklich die bernsteinfarbene Flüssigkeit darin. „Paul ist mein Bruder. Und in den letzten zweiundzwanzig Jahren wird meine Mutter bestimmt kein Geld für irgendwelche Renovierungen gehabt haben. Da hat sich auch niemand von der Denkmalbehörde beschwert.“

„Das ist was anderes. Vermutlich war das Haus kurz zuvor gerade umfassend renoviert worden“, entgegnete Timothy und traf damit ins Schwarze. Deirdre konnte sich noch gut an die Arbeiten im und am Haus erinnern, die ihr Vater hatte durchführen lassen. Doch nachdem er und sein Geld verschwunden waren, hatte nie wieder ein Handwerker Riverview House betreten.

„Auf jeden Fall werde ich meine Familie bestimmt nicht aus dem Haus klagen“, stellte Deirdre mit fester Stimme klar. „Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn du dich aus meinen Angelegenheiten heraushalten würdest.“

„Oh, okay“, sagte Tim gedehnt und lehnte sich zurück. „Ich habe nur helfen wollen.“

„Indem du an meiner Stelle Entscheidungen triffst und meine Familie verärgerst?“

„Jetzt mach doch nicht so ein Drama daraus. Du bist die tougheste Maklerin, die ich kenne. In London würdest du einem Kunden auch dazu raten, in so einem Fall einen Anwalt einzuschalten und den Fall gerichtlich klären zu lassen.“ Tim trank einen Schluck Bier und ließ den Blick über den Helford River schweifen. „Und du weißt ganz genau, dass es auf Dauer zu teuer sein würde, das Haus zu halten. Denn auch wenn deine Mutter in den letzten zwanzig Jahren nicht viel an dem Gebäude hat machen lassen, wirst du das gar nicht können. Du liebst Häuser, und du würdest niemals ein Gebäude verfallen lassen. Und wenn so lange Zeit nichts an dem Anwesen gemacht wurde, dann weißt du selbst, was da für Kosten auf dich zukommen werden, an denen sich dein Bruder wohl kaum beteiligen wird.“

Autor

Melody Summer
Melody Summer hat bereits als Zwölfjährige davon geträumt, Bücher zu schreiben. Vorher wurde sie jedoch erst noch Schauspielerin, eröffnete ein freies Theater, arbeitete dort als Dramaturgin und schrieb über zwanzig Theaterstücke. Inzwischen hat sie auch zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen es um Geheimnisse, Liebe, Schicksal und Intrigen geht. Sie liebt...
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