Verliebt in Frankreich

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Verliebt wie noch nie, kann Sabine anfangs gar nicht fassen, dass der smarte Rohan Saint Yves für sie seine Hochzeitspläne mit Antoinette vergisst. Doch dann erfährt sie, wer ihr wirklicher Vater ist, und dass Rohan es bereits wusste. Sind seine Gefühle für sie echt, oder geht es ihm nur um ihr Erbe?


  • Erscheinungstag 28.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758325
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Sabine Russell schloss die Eingangstür auf und betrat das Foyer. Sie blieb eine Weile stehen und schaute sich um, in der Erwartung, irgendetwas zu empfinden, Heimweh vielleicht, oder Trauer. Doch sie fühlte nur eine seltsame Leere. Das Haus war wie ein hohler Raum, der darauf wartete, von neuen Besitzern mit Leben erfüllt zu werden.

Sie fühlte sich hier nicht heimisch. Aber nach dem Tod der Mutter war ihr hier alles fremd geworden. Am liebsten wäre sie gar nicht hergekommen. Mr. Braybrooke hatte jedoch darauf bestanden.

„Sie und Miss Russell müssen sich treffen, um die Aufteilung des Nachlasses zu besprechen. Soweit ich weiß, sind noch immer Kleidungsstücke dort und persönliche Gegenstände, die entfernt werden müssen.“

Irgendwie war Sabine vor dem Gedanken zurückgeschreckt. „Man könnte sie einem Wohltätigkeitsverein überlassen“, hatte sie vorgeschlagen.

„Gewiss. Aber es gibt doch sicher bestimmte Dinge, die Sie gerne behalten möchten, Gegenstände, an denen Sie besonders hängen und die sie sich als Andenken aufheben möchten.“

Sabine hatte mit den Schultern gezuckt. „Nur Mamans Juwelen. Sie hat in ihrem Testament verfügt, dass ich nach Vaters Tod den Schmuck erhalten soll.“ Nach kurzer Pause hatte sie hinzugefügt: „Ich bin mir nicht sicher, ob Vater gewollt hätte, dass ich irgendetwas anderes bekomme. In den vergangenen Jahren gab es Zeiten, in denen ich das Gefühl hatte, dass er mich hasste. Deshalb bin ich schließlich auch nicht mehr zu ihm gefahren.“

Der Anwalt hatte betroffen gewirkt. „Aber Sie sind Mr. Marshalls einziges Kind, meine Liebe. Sie dürfen nicht daran zweifeln, dass er Sie geliebt hat, selbst wenn er es nicht immer deutlich zeigte.“

Sabine hatte geseufzt. „Seien Sie ehrlich, Mr. Braybrooke. Er hat das Haus, den einzigen materiellen Vermögenswert, meiner Tante und mir zu gleichen Teilen hinterlassen. Ich nehme an, Sie mussten wie ein Tiger darum kämpfen, mir wenigstens diese Hälfte des Besitzes zu sichern.“ Mit hochgezogenen Brauen hatte Sabine Mr. Braybrooke angesehen. „So war es doch, nicht wahr?“

Seine Betroffenheit war in Verlegenheit umgeschlagen. „Ich kann mich wirklich nicht über die vertraulichen Gespräche mit einem Klienten äußern.“

Sabine hatte genickt. „Ich wusste, dass ich recht hatte. Schon gut, Mr. Braybrooke. Es ist mir gelungen, mich mit allem abzufinden. Ich glaube, Dad war jemand, der nur einen einzigen Menschen lieben konnte. Er liebte Maman. Als sie starb, war ihm alles genommen. Ich muss ihn ständig an sie erinnert haben. Wahrscheinlich konnte er das nicht ertragen.“

Der Anwalt hatte Sabine eine Weile angesehen. „Ich glaube nicht, meine Liebe, dass Ihr Vater immer ein sehr weiser Mann war“, hatte er dann leise gesagt.

Als sie jetzt in der stillen Halle stand, empfand Sabine erneut Schmerz über die Zurückweisung durch den Vater. Langsam krümmte sie die Finger, bis die Nägel sich ihr in die Haut gruben. Sie zuckte zusammen und öffnete die Hände.

Dann straffte sie entschlossen die Schultern, ging zum Salon und machte die Tür auf.

„Du bist also gekommen.“ Tante Ruth saß im Sessel neben dem Kamin, mit dem unvermeidlichen Strickzeug beschäftigt.

Sabine spürte die Feindseligkeit, die ihr entgegenschlug, und fragte sich, wie groß in den letzten Jahren der Einfluss ihrer Tante auf den Bruder gewesen sein mochte.

„Nicht aus eigenem Antrieb“, erwiderte sie. „Das Haus muss leergeräumt werden. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Wann wird es verkauft?“

„Am Freitag.“ Flüchtig presste Ruth Russell die Lippen zusammen. „Ich habe eine Aufstellung des Mobiliars gemacht und die Stücke angekreuzt, die mir besonders am Herzen liegen.“

„Das war gut so“, bemerkte Sabine ruhig. „Den Rest können wir zum Verkauf geben.“

Die Tante starrte sie an. „Gibt es denn nichts, das du behalten möchtest?“

Sabine schaute sich in dem vertrauten Raum um. Sie lebte jetzt in einer eigenen Wohnung, die hell und freundlich und mit den Dingen ausgestattet war, die sie sich ausgesucht hatte. Sie lebte ihr eigenes Leben. Sie wollte keine Überbleibsel der Vergangenheit, die ihr die Zukunft überschatteten. Und dennoch …

„Nur Mamans Schmuck“, antwortete sie.

„Lächerlich, dieser französische Ausdruck für deine Mutter!“ Jäh stieg Ruth Russell eine hässliche Röte ins Gesicht. „Dann nimm dir ihren Plunder. Ich will ihn nicht.“

„Nein! Du hast sie nie gemocht, nicht wahr?“

„Hugh hätte jede Frau haben können!“, erwiderte Ruth verbittert. „Aber nein, er hat eine Ausländerin geheiratet, eine Person ohne Hintergrund und Klasse.“

„In Frankreich hat es einmal eine Revolution gegeben“, entgegnete Sabine gleichmütig. „Dadurch wollte man diese Denkungsart ausräumen und den Menschen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geben.“ Sie warf einen vielsagenden Blick auf die geschäftigen Hände der Tante. „Auch damals wurde viel gestrickt“, fügte sie ironisch hinzu.

„Du bist unverschämt.“

„Ja“, gab Sabine müde zu. „Aber ich habe lange versucht, höflich zu sein, Tante Ruth. Es hat mir nichts genutzt. Du hast deine Abneigung gegen Maman auf mich übertragen, nicht wahr? Ich habe mich oft gefragt, warum. Schließlich bin ich die Tochter deines Bruders.“

„Oh, nein! Das bist du nicht.“

Die Worte waren mit solcher Gehässigkeit ausgesprochen worden, dass Sabine entsetzt zurückzuckte. Sie war so maßlos erschrocken, als sei die alte Frau plötzlich aufgesprungen und habe ihr einen heftigen Schlag ins Gesicht gegeben.

„Was hast du gesagt?“, fragte sie betroffen.

„Ich sagte, du bist nicht das Kind meines Bruders“, antwortete Ruth Russell hämisch. „Deine Mutter, die heiß geliebte Maman, über die du mit solcher Verehrung sprichst, war nichts anderes als eine ganz gewöhnliche Schlampe.“

„Tante Ruth!“, sagte Sabine zornig. „Ich verbitte mir, dass du so über meine Mutter sprichst!“

Ruth Russell verzog verächtlich die Lippen. „Sie war bereits schwanger, als Hugh sie kennenlernte“, erwiderte sie ungerührt. „Sie lebte als Au-Pair-Mädchen bei den Drummonds, einer wirklich netten Familie, bei denen er zum Abendessen eingeladen war. Mrs. Drummond war schockiert, als sie Isabelles Zustand bemerkte. Sie warf sie aus dem Haus, und vollkommen zu recht, weil sie Angst hatte, dass Isabelle einen schlechten Einfluss auf die Kinder haben könne. Sechs Monate später hat Hugh deine Mutter dann geheiratet. Ich habe ihn auf den Knien angefleht, das nicht zu tun, doch er war vollkommen in diese Frau vernarrt. Für andere, anständige Frauen hat er nie Interesse gezeigt. Ausgerechnet diese Person musste er heiraten! Und jeder wusste, was mit ihr los war. Jeder hat sich über ihn lustig gemacht.“

An der Heftigkeit der Reaktion merkte Sabine, dass die Tante einem jahrelang aufgestauten Groll Luft gemacht hatte.

„Du lügst!“, entgegnete sie ruhig. „Ich weiß, dass du lügst. Ich habe meine Geburtsurkunde gesehen. Mein Vater ist Hugh Oliver Russell, auch wenn du diese Tatsache am liebsten leugnen würdest.“

„Natürlich ist sein Name eingetragen. Er hat deine Geburt ja angemeldet. Er gab vor, dein Vater sein. Es gab ja auch keinen anderen, der das hätte tun können. Er hatte Isabelle geheiratet. Also übernahm er die Verantwortung für dich. Deine Mutter hatte ihn dazu gezwungen.“

Es hatte keinen Sinn, mit der Tante zu streiten und ihrer Behauptung zu widersprechen. Das hatte Sabine inzwischen begriffen. Ruth hatte die Wahrheit gesagt, mit einer so wütenden Überzeugungskraft, die keinen Raum für Zweifel ließ. Obgleich Sabine das Gefühl hatte, innerlich zerrissen zu werden, sträubte sie sich doch nicht gegen die brutale Offenheit der Tante. Dadurch wurden endlich viele Fragen beantwortet, die sie seit langer Zeit belastet hatten.

Sie hatte geglaubt, dass sie den Vater irgendwie enttäuscht habe oder gänzlich unliebenswert sei. Nun wusste sie, dass es nicht so war. Sie selbst hatte er nicht abgelehnt, nur das, an was sie ihn erinnerte. Vielleicht war es ihm im Stillen immer zuwider gewesen, dass er seinen Namen dem Kind eines anderen Mannes gegeben hatte. Möglicherweise hatte es ihn auch vergrämt, dass ihm kein eigenes Kind geboren worden war.

„Ich wünschte, Vater hätte mir das erzählt“, sagte Sabine.

„Das hätte er nie getan. Er war deiner Mutter viel zu treu ergeben.“

Sabine reckte das Kinn. „Wusste er, wer mein leiblicher Vater war?“

Ruth schüttelte nachdenklich den Kopf „Das hat sie nie verraten. In all den Jahren hat sie sich geweigert, über ihn zu sprechen. Nicht einmal die kleinste Andeutung hat sie gemacht.“

„Ich zweifle nicht, dass du alles versucht hast, den Namen herauszufinden“, erwiderte Sabine trocken.

„Wir hatten ein Recht zu wissen, wessen Bastard wir aufzogen“, sagte die Tante mit kalter Stimme.

„So kann man es natürlich auch sehen“, stimmte Sabine ihr zu und holte tief Luft. „Ich nehme an, unter diesen Umständen möchtest du, dass ich Mamans Sachen aus dem Haus entferne.“

„Ich wollte, dass Hugh das tat, nachdem Isabelle gestorben war. Alles hätte verschwinden sollen, damit jede Spur von ihr ausgelöscht war. Aber er hat sich geweigert. Ungeachtet dessen, was sie ihm angetan hatte, liebte er sie, der verblendete, uneinsichtige Narr!“ Tränen rannen Ruth Russell über die Wangen.

„Ich weiß“, sagte Sabine leise. „Und deshalb werde ich die Erinnerung an ihn stets in Ehren halten.“ Sie stand auf. „Ich fange oben an. Adieu, Tante Ruth. Es gibt keinen Grund, warum wir uns wieder sehen sollten.“

„Nein, nicht den Geringsten“, erwiderte Ruth scharf. Ihr Ton zerschnitt auch die letzten Bande, die noch zwischen ihr und der Nichte bestanden haben mochten.

Sabine konnte sich nicht überwinden, der Tante die Hand zu geben, und verließ den Salon.

Als sie zur ersten Etage ging, war Sabine noch immer über die in der vergangenen halben Stunde gehörten Enthüllungen betroffen. Sie war hergekommen, um eine unerfreuliche, aber unerlässliche Aufgabe zu erledigen, doch plötzlich sah sie ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt und alles gefährdet, was ihr bis jetzt Sicherheit gegeben hatte.

Wenn keine Blutsbande sie mit Hugh Russell verbanden, dann hatte sie eigentlich kein moralisches Recht, irgendeinen Teil des Erbes für sich zu beanspruchen. Sie würde mit Mr. Braybrooke darüber sprechen müssen.

Doch jetzt wollte sie nicht darüber nachdenken. Sie wollte sich auf die anstehende Aufgabe konzentrieren und sie so schnell und umfassend wie möglich erledigen.

Als die Mutter noch lebte, hatte sie mit ihrem Mann das nach vorn gelegene Schlafzimmer benutzt. Nach ihrem Tod war Hugh in einen der hinteren Räume umgezogen, und Ruth Russell, die Sabine jetzt wohl kaum noch als Tante bezeichnen konnte, hatte das Schlafzimmer übernommen.

Sabine, die damals vierzehn Jahre alt war, hatte auch weiterhin die geräumige Dachkammer bewohnt, in der sie seit frühester Kindheit lebte. Das war ihr geliebtes eigenes Reich gewesen, das ihr zu einem Zufluchtsort wurde, nachdem Ruth Russell begonnen hatte, den Haushalt nach ihren strengen Maßstäben zu führen.

Schließlich war Sabine froh gewesen, als sie der bedrückenden Stimmung im Haus entfliehen und auf die Universität gehen konnte, wo sie Sprachen studierte. Die zunächst noch daheim verbrachten Ferien wurden von Mal zu Mal unerfreulicher, sodass sie die Besuche einstellte und jeden Ferienjob annahm, bei dem auch die Unterkunft gewährleistet war. Nach dem Studienabschluss entschloss sie sich gegen eine Laufbahn als Lehrerin und entschied sich, freiberufliche Übersetzerin zu werden. Bis jetzt hatte sie den Beschluss nicht bereut.

Es erleichterte sie, dass sie mit den ihr zur Verfügung gestellten Stipendien und dem, was sie in den Ferien verdiente, ausgekommen war und keine zusätzliche Unterstützung von Hugh hatte erbitten müssen. Sie war sich sehr bewusst gewesen, dass Ruth Russell ihr jeden Penny geneidet hatte. Denn für Ruth war sie immer eine Außenseiterin, ein Eindringling, gewesen. Nun kannte sie den Grund.

Sabine öffnete die Tür zum früheren Elternschlafzimmer. Offensichtlich hatte Miss Russell Angst davor, dass die Teppiche und Tapeten ausbleichen könnten. Sabine zog die geschlossenen Vorhänge auf, um die strahlende Junisonne in den Raum zu lassen, und öffnete die Fenster. Dann schaute sie sich um.

Es war, als mache sie einen Schritt in die Vergangenheit, und ein Frösteln rann ihr über den Rücken. Fast alles sah noch so wie früher aus. Sie konnte sich gut vorstellen, dass plötzlich die Tür aufging, die Mutter hereinkam und sich leise summend, wie es ihre Gewohnheit gewesen war, an den Frisiertisch setzte, auf dem die hübsche, silbergefasste antike Toilettengarnitur aus Perlmutt lag.

Auprès de ma blonde, il fait bon, fait bon; Auprès de ma blonde, il fait bon dormir“, sang Sabine leise das Lied, das die Mutter ihr beigebracht und das sie als Kind so gern gemocht hatte.

Ruth Russell hatte es stets missbilligt, dass sie solche Lieder lernte. Aber die Mutter hatte darauf bestanden, weil es ihr wichtig gewesen war, Sabine zweisprachig zu erziehen.

„Du hast französisches Blut. Du sollst stolz darauf sein, unsere schöne Sprache zu beherrschen“, hatte sie dem Kind mehr als einmal erklärt. Und Lieder, selbst leicht anzügliche über blonde Mädchen, waren Teil der sprachlichen Erziehung gewesen.

Auch Isabelle war blond gewesen. Sie hatte braune Augen gehabt, deren samtene Farbe einen starken Kontrast zum Haar und dem hellen Teint bildete.

Sabine war blond wie die Mutter und trug das Haar fast schulterlang. Auch sie war mittelgroß und hatte die gleiche schlanke Figur wie Isabelle. Ihre Augen waren jedoch graugrün, und das ovale Gesicht strahlte Charme aus, nicht die überwältigende Schönheit, die der Mutter zu eigen gewesen war.

Sie hatte auch stets versucht, Isabelles Eleganz nachzuahmen, und sich die besten Sachen gekauft, die sie sich leisten konnte.

Ruth Russell hatte behauptet, die Schwägerin habe keine Klasse. Isabelle war es jedoch immer gelungen, auf eine lässige Art chic auszusehen, sodass neben ihr jede andere Frau schäbig gewirkt hatte. Wahrscheinlich war das etwas gewesen, das Ruth, die wenig Geschmack besaß und sich nicht vorteilhaft zu kleiden verstand, so gestört hatte.

Geistesabwesend strich Sabine über die Porzellantiegel und Bürsten auf dem Frisiertisch. Ihr war nie der Gedanke gekommen, Hugh könne nicht ihr Vater sein, auch dann nicht, als sein Verhalten sich ihr gegenüber verändert hatte. Sie hatte stets geglaubt, dass die Eltern glücklich verheiratet waren und sich liebten. Nun musste sie sich mit der Möglichkeit abfinden, dass diese Ehe vielleicht nur eine Farce gewesen war.

Die Mutter hatte einen anderen Mann geliebt und sich ihm hingegeben. Die Folgen waren schrecklich gewesen.

Sabine fragte sich, ob Hugh seiner Gattin je vorgeschlagen haben mochte, ihre Tochter adoptieren zu lassen. Ruths Worten zufolge hatte Isabelle ihn gezwungen, Sabine wie sein eigenes Kind zu behandeln, und das sogar zu einer Voraussetzung für die Ehe gemacht. Er hatte Isabelle geliebt. Doch welche Gefühle hatte sie für ihn aufgebracht? Liebe oder nur Dankbarkeit, weil er ihr die Geborgenheit eines Heimes gegeben hatte? Die Antwort würde Sabine nie erfahren.

Sie biss sich auf die Unterlippe, ging zum Schrank und machte die Tür auf. Noch immer hingen die Sachen der Mutter, denen ein zarter Lavendelduft anhaftete, auf der Kleiderstange, die klassisch geschnittenen Kostüme, die zeitlos gearbeiteten, eleganten Kleider. Darunter standen säuberlich aufgereiht die Schuhe.

Sabine hob den großen Koffer vom Schrank, legte ihn auf das Bett und begann zu packen. Sie faltete die Sachen so ordentlich, wie die Mutter es getan hätte.

Sie benötigte fast eine Stunde, um den Schrank und den Frisiertisch auszuräumen. Sie beeilte sich nicht und nutzte die Zeit, um über die Vergangenheit nachzudenken. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass es in ihrem Leben einige seltsame Unstimmigkeiten gegeben hatte.

Durch den Französischunterricht hatte Isabelle ihr zwar die Liebe zu fremden Sprachen vermittelt, doch gleichzeitig war sie eigenartig zurückhaltend gewesen, was das eigene Leben betraf. Wenn Sabine sie über Frankreich und die französische Lebensart ausfragte, hatte sie nur ausgiebig über Paris gesprochen, wo sie zur Werbegrafikerin ausgebildet worden war. Deshalb hatte Sabine stets angenommen, dass die Mutter gebürtige Pariserin war. Isabelle hatte jedoch nie geäußert, wo sie zur Welt kommen war. Sie hatte nie über ihre Familie gesprochen. Sabine hatte sich danach erkundigt, ob sie Verwandte in Frankreich habe. Die Mutter hatte jedoch geantwortet, es gebe niemanden, und seufzend „Hélas“ hinzugefügt.

Eigenartig war, dass man nie in Frankreich Ferien gemacht hatte. Sabine entsann sich auch nicht, dass je dieser Vorschlag zur Sprache gekommen wäre. Es schien, als sei dieses Thema tabu gewesen. Sie waren jedoch immer wieder nach Spanien, Italien und Griechenland gereist. Eigentlich hätte Isabelle den Wunsch verspüren müssen, der Tochter das Heimatland zu zeigen.

Sabine hatte sich die oberste Schublade des Frisiertisches bis zum Schluss aufgehoben. Darin lagen einige Kosmetikartikel, und ganz hinten war die lederne Schmuckschatulle der Mutter. Behutsam nahm Sabine das Kästchen heraus.

Die Mutter hatte sehr bestimmt über diesen Nachlass verfügt. „Meine Schmuckschatulle und der gesamte Inhalt sollen an meine Tochter Sabine fallen“, hatte sie im Testament angeordnet und den Zusatz gemacht, dass die Tochter das Erbe nach Hugh Russells Tod ausgehändigt bekommen solle. Vermutlich war diese Anordnung getroffen worden, weil Isabelle wusste, dass es ihrem Mann unmöglich sein würde, sich zu seinen Lebzeiten von etwas zu trennen, das ihr gehört hatte.

Es lagen nur wenige Dinge in dem Kästchen – eine Uhr, ein Paar Ohrringe und ein Perlenkollier. Die Unterlage saß etwas schief. Als Sabine sie herausnahm, erkannte sie den Grund. Unter der Samtablage war ein kleines, flaches, in vergilbtes Seidenpapier eingewickeltes Päckchen.

Vorsichtig entfernte Sabine die Umhüllung. Ein ovales Silbermedaillon und eine Kette kamen zum Vorschein. Stirnrunzelnd betrachtete Sabine die Gegenstände. Sie kannte Isabelles Schmuck, doch diesen hatte sie noch nie gesehen. Er sah sehr alt aus, und dem Gewicht nach zu urteilen konnte er wertvoll sein. Auf dem Medaillon war eine Gravur.

Sabine ging zum Fenster, um besser sehen zu können. Sie erkannte ein turmartiges Gebäude und darunter eine Blume, die wie eine Rose geformt war. Eine Weile schaute sie die Gravur an und hatte das schwache Gefühl, an irgendetwas erinnert zu werden. Es fiel ihr jedoch nicht ein, in welchem Zusammenhang sie die Zeichnung schon einmal gesehen hatte. Wieder musste eine Frage unbeantwortet bleiben.

Behutsam wickelte Sabine die Schmuckstücke ein und wollte sie in die Schatulle zurücklegen, als ihr auffiel, dass der Satinbezug an einer Ecke eingerissen gewesen und dann mit unbeholfenen Stichen festgenäht worden war. Sie krauste die Stirn. So ungeschickt hätte die Mutter den Schaden nie behoben. Welche Bewandtnis mochte es damit haben? Sabine strich über den Boden des Kästchens und spürte eine Unebenheit. Irgendetwas war unter dem Bezug verborgen. Sie nahm eine kleine Schere und trennte die Naht auf.

Ein alter Umschlag kam zum Vorschein. Sabine machte ihn auf und schüttete den Inhalt auf den Frisiertisch. Als Erstes fiel ein Schlüssel heraus, der an einem emaillierten Anhänger in Form einer Eule hing. Es folgten einige Fotografien, eine Postkarte, das Etikett einer Weinflasche und schließlich ein offiziell wirkendes Dokument.

Sie nahm es auf und entfaltete es. Es war in Französisch abgefasst. Ihr Herz klopfte lauter und schneller, als sie es las. Sorgsam studierte sie es ein zweites Mal, kam jedoch jedes Mal zu der Erkenntnis, dass es die Übereignungsurkunde für ein Haus in Frankreich war. Das Anwesen hieß Les Hiboux und lag in der Dordogne, im Südwesten des Landes, in der Nähe eines Orts namens Issigeac, von dem Sabine noch nie gehört hatte.

Plötzlich war ihr kalt, und rasch schob sie alles wieder in den Umschlag. Die übrigen Sachen würde sie sich später ansehen. Im Moment hatte sie genügend andere Überraschungen zu verkraften. Sie steckte die Schatulle in die Handtasche, warf einen letzten Blick durch das Zimmer und verließ mit dem Gepäck das Haus.

Sabine legte den Umschlag auf den Esstisch und ging in die Küche, um das Abendessen zu machen. Doch wohin sie in ihrer Wohnung auch ging, von überall sah sie aus dem Augenwinkel das Couvert, das irgendwie den Blick anzuziehen schien.

Auf dem Heimweg war sie in der Bücherei gewesen und hatte sich einige Werke über die Dordogne ausgeliehen. Beim Essen blätterte sie die Bücher nach und nach durch.

Der Teil der Dordogne, in dem das Haus stand, hieß „Périgord“. Der aus dem Keltischen stammende Name bezog sich auf das Gebiet zwischen den Flüssen Dronne und Dordogne. Nach der unterschiedlichen Art der Bäume, die in den einzelnen Gegenden wuchsen, wurde es in das sogenannte Weiße oder Grüne Périgord um die Hauptstadt Périgueux im Nordwesten und das Schwarze Périgord im Südosten unterteilt.

Les Hiboux befand sich im Périgord Noir, dem Schwarzen Périgord, das die Bezeichnung durch den reichen, vor allem von vielen Eichen geprägten Baumbestand erhalten hatte. Die Gegend war außerdem ein beliebtes Touristenzentrum. Issigeac, ein wunderbar erhaltenes Beispiel mittelalterlicher Baukunst, das eine prächtige Kirche und einen schönen Bischofspalast hatte, lag südlich von Bergerac und am Rande eines ausgedehnten Weinanbaugebietes.

Ein Teil des Ruhmes, den das Périgord genoss, beruhte auf seiner vorzüglichen Küche, deren Spezialität Pilzgerichte, Pâté de foie gras und Trüffeln waren. Walnüsse waren eine weitere Besonderheit des Landstriches und wurden zur Gewinnung von Salatölen und zur Herstellung eines kräftigen einheimischen Schnapses verwendet.

Sabine machte sich eine Kanne starken Kaffee, griff nach dem Umschlag und nahm den eulenförmigen Schlüsselring in die Hand. ,Hibou‘ war das französische Wort für Eule. Sie legte den Anhänger zur Seite und zog die Fotografien aus dem Couvert. Sie waren schwarzweiß, und stirnrunzelnd betrachtete sie eine nach der anderen.

Es handelte sich um ziemlich amateurhafte Schnappschüsse, auf denen zum Teil zwei Kinder abgebildet waren – ein kleines Mädchen, das einen Sonnenhut und ein Rüschenkleid trug, und ein sehr viel älterer, schlaksiger Junge, der mit finsterer Miene in die Kamera gestarrt hatte. Die Mutter hatte den Eindruck erweckt, ein Einzelkind zu sein, doch nun fragte sich Sabine, ob das wirklich stimmte. Gab es Verwandte? Hatte sie im Südwesten Frankreichs Angehörige?

Andere Bilder zeigten einen Mann, der allein vor einem hohen Bauwerk stand. Die Aufnahmen waren verwackelt. Das Gesicht war nicht gut zu erkennen. Sabine merkte jedoch, dass er nicht sehr jung war. Sie schaute auf die Rückseiten der Fotos, in der Annahme, dort einen Namen oder irgendeinen Hinweis zu finden, doch es war nichts verzeichnet. Der Mann und die Kinder blieben ihr Fremde.

Als Nächstes schaute sie die Postkarte an, auf der ein Schloss abgebildet war, das wie aus einem Märchen aussah. Es war aus gelbem Sandstein errichtet, und dicke, zinnenbewehrte Festungsmauern umschlossen die Anlage. Zwei Rundtürme flankierten den von hohen, schindelgedeckten Spitzdächern überragten Bau, dessen Zufahrt von einem schmalen Torhaus bewacht wurde.

Sabine drehte die Karte um. Auf der Rückseite stand nur „Le Château La Tour Monchauzet“.

Auf dem Weinflaschenetikett standen in verschnörkelter Schrift dieselben Worte über einer Zeichnung, die Sabine sofort erkannte. Es war der eckige Turm, den sie auf dem Medaillon gesehen hatte. Wie ein anklagend erhobener Finger ragte er zum Himmel, und am Fundament lag, wie aus einem der Fenster geworfen, eine stilisierte Rose.

Ein Turm und eine Rose. Beides kam Sabine vertraut vor. Vermutlich kannte sie den Turm und die Rose aus einer der Geschichten, die ihr von der Mutter in der Kindheit erzählt worden waren. Sie bedauerte, dass sie sich nicht besser erinnerte. Es schien ihr sehr wichtig, den Zusammenhang zu kennen.

Langsam schob sie die Gegenstände in den Umschlag zurück. Was die Urkunde und der Schlüssel zu bedeuten hatten, war klar. Es gab nur einen Weg, um herauszufinden, welche Bewandtnis es mit den anderen Sachen hatte. Sabine hatte schon längst einen Urlaub verdient. Sie konnte nach Frankreich fahren und Erkundigungen einholen.

Doch sie fragte sich, ob sie das wirklich tun sollte. Die Mutter hatte ihr zwar die Schatulle vermacht, sie jedoch gut verborgen, um sicher sein zu können, dass zu Lebzeiten ihres Mannes niemand den versteckten Inhalt entdeckte. Offensichtlich hatte sie nicht gewollt, dass Hugh von dem Haus in Frankreich erfuhr. Aber warum hatte sie das verheimlichen wollen? Sabine sah keinen Sinn in diesem Verhalten. Vielleicht hatte die Mutter sogar beabsichtigt, dass die Dokumente gar nicht gefunden wurden und das Geheimnis für immer gewahrt blieb.

Nein, das konnte nicht stimmen. Denn dann hätte Isabelle die Sachen gewiss verbrannt und den Schlüssel fortgeworfen. Sie hatte offenbar doch Wert darauf gelegt, dass die Tochter die Gegenstände entdeckte.

Und nun war Sabine genötigt, eine Entscheidung zu treffen.

Les Hiboux, die Eulen, die angeblich Unheil brachten.

Plötzlich fröstelte Sabine und stieß versehentlich an den Stapel Fotografien. Sie fielen vom Tisch und verstreuten sich über den Teppich. Sabine bückte sich, um die Bilder aufzuheben, und hatte unversehens das Gefühl, das Gesicht des Jungen würde sie drohend, einschüchternd und böse anschauen. Sie schnitt eine Grimasse und sagte: „Ich weiß nicht, wer du bist, aber ich hoffe, du hast dich inzwischen verändert. Sonst wäre es besser, dass wir uns nie begegnen. Denn du könntest ein gefährlicher Feind sein.“

2. KAPITEL

Am Straßenrand hielt Sabine an und schaute aus dem Auto über das Tal zu den dichten Wäldern, die den Hügel auf der anderen Seite überzogen. Unter dem Wald erstreckten sich ausgedehnte Weinberge, und zwischen den Bäumen ragten im Sonnenschein die spitzen Giebel und Festungsmauern eines Schlosses auf.

Das war das Château La Tour Monchauzet. Sabine war am Ziel der Reise.

Eigentlich musste sie nicht tun, was sie vorhatte. Sie hätte sich damit begnügen können, den Anblick zu bewundern und vielleicht ein Foto zu machen, um danach weiterzufahren. Sie hätte die Vergangenheit ruhen lassen und den Aufenthalt in Frankreich für Ferien auf die übliche Art nutzen können. Aber sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Mit der Hilfe des erstaunten Mr. Braybrooke hatte sie sichergestellt, dass sie, Isabelle Riquards einziges Kind, als rechtmäßige Erbin von Les Hiboux anerkannt worden war.

Autor

Sara Craven

Sara Craven war bis zu ihrem Tod im November 2017 als Autorin für Harlequin / Mills & Boon tätig. In über 40 Jahren hat sie knapp hundert Romane verfasst. Mit mehr als 30 Millionen verkauften Büchern rund um den Globus hinterlässt sie ein fantastisches Vermächtnis.

In ihren Romanen entführt sie...

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