Verräterische Küsse

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Verrückt, diese erotische Spannung, die zwischen ihnen herrscht! Eigentlich müssten Valeri und Nathan alle Energie darauf verwenden, den Häschern des Scheichs zu entkommen. Aber in den Nächten im Motelzimmer, in das sie sich geflüchtet haben, können sie beide nur an das Eine denken …


  • Erscheinungstag 28.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756178
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Nathan Thorne lächelte, als der blaue Honda vor ihm auf den verkehrsreichen Interstate 5 einbog, der aus Sacramento hinaus führte. Ausnahmsweise war das Glück auf seiner Seite. Meistens waren seine Aufträge nicht so einfach.

Er reihte sich einige Wagen hinter seinem Zielobjekt ein und entspannte sich. Bestimmt bemerkte die Frau seinen alten Volvo in der Dunkelheit nicht. Er brauchte ihr nur zu folgen und bei passender Gelegenheit ein Gespräch zu beginnen. Nach allem, was er über sie gehört hatte, würde sie anbeißen.

Wohin sie wohl fuhr? Wahrscheinlich zu irgendeinem anrüchigen Lokal außerhalb der Stadt. Er kannte Frauen wie Valeri Richmond, die ihren Körper einsetzten, um ans Ziel zu kommen. Sie fielen ihren besten Freunden in den Rücken, wenn sie sich bedroht fühlten, und lebten nur für ihr Vergnügen.

Beim Anblick ihrer Fotos hatte er zuerst nicht geglaubt, dass sie so war. Attraktiv, Anfang dreißig, dunkelhaarig und mit dunklen Augen. Jeder Mann sah sich nach ihr um, doch sie besaß genug Klasse, dass sich keiner einfach an sie heranmachte.

Das galt besonders für Nathan Thorne. Nat verlor normalerweise keine Zeit. Er wusste, was er wollte, und zeigte das einer Frau. War sie interessiert, machte er weiter. Wenn nicht, ließ er es sein. Keine Versprechungen, keine Reue. Auf diese Weise wurde niemand verletzt.

Valeri Richmond stellte ein Rätsel dar. Der Mann, der sie angeblich am besten kannte, zeichnete sie als selbstsüchtige, hartherzige Opportunistin, die auf Abenteuer aus war. Die Frau auf dem Foto hätte Nat täuschen können, und das gelang nur wenigen. Doch nun war er vorbereitet.

Für gewöhnlich lehnte er solche Aufträge ab. Es gefiel ihm nicht, eine Frau zu etwas zu zwingen, das sie nicht wollte. Dieser Fall bildete jedoch eine Ausnahme.

Mit oder ohne ihr Einverständnis wollte er sie dorthin zurückbringen, wo sie hingehörte. Es kam nur darauf an, wie entgegenkommend sich Valeri Richmond zeigte. Und er verstand sich darauf, Frauen wie sie zu überreden, entgegenkommend zu sein. Also gab es keine Probleme.

Zu seiner Überraschung bog sie auf den Highway 50 ab. Was sollte das? Die Straße führte nach Nevada, und dort hatte sie doch nichts zu suchen. Für alle Fälle fuhr er näher heran, weil sie ihn auf dem Highway viel leichter abhängen konnte.

Je länger er dem blauen Honda folgte, desto unwohler fühlte er sich. Es war fast Mitternacht, und wegen des spärlichen Verkehrs war er einfacher zu entdecken. Vorsichtshalber überholte er mehrmals auf dem zweispurigen Highway und ließ sich wieder zurückfallen, und die ganze Zeit wartete er auf ein unerwartetes Manöver. Valeri Richmond fuhr schnell, aber er war ziemlich sicher, dass sie ihn nicht bemerkt hatte.

Es passierte blitzartig. Sie war vier Wagen vor ihm, als er ihre Bremslichter aufleuchten sah. Automatisch trat er auch auf die Bremse und fluchte, als sie von der Straße in der Dunkelheit verschwand.

Nat kämpfte mit dem Lenkrad, während er ihr auf dem trockenen Boden folgte. Sein Wagen holperte über Unebenheiten und durch Schlaglöcher, dass seine Zähne klapperten. Also hatte sie ihn doch entdeckt und versuchte, ihn abzuhängen. Im schwachen Mondschein war sie kaum zu sehen.

Manchmal traf das Licht seiner Scheinwerfer ihren Wagen, während sie ohne Licht durch das trockene Buschland jagte. Mut hatte sie, das musste er ihr lassen.

Sie fuhr wieder Richtung Straße. Nat wollte ihr auf den Fersen bleiben. Früher oder später musste sie anhalten. Dann konnte er entscheiden, ob er die Karten auf den Tisch legte oder weiter abwartete.

Kurz vor der Straße passierte es dann. Offenbar verlief quer zur Fahrtrichtung ein Graben. Ihr Wagen flog wie ein Pfannkuchen durch die Luft und landete auf der Beifahrerseite.

Nat sprang ins Freie und rannte los. In der Dunkelheit hatte er Funken gesehen, und er wusste, was das bedeutete.

Die erste Explosion erwischte ihn um ein Haar. Er duckte sie, kämpfte sich zu dem Wagen vor und riss die Tür auf. Wie durch ein Wunder ließ sie sich öffnen. Wäre sie von innen verschlossen gewesen, hätte die Fahrerin keine Chance gehabt.

Er beugte sich weit hinein, um den Sicherheitsgurt zu öffnen. Der Kopf der Frau lag auf dem Lenkrad, die Arme hingen schlaff herunter. Flammen leckten bereits an der Unterseite des Honda hoch. Nat blieben nur wenige Sekunden. Er packte die Frau unter den Armen. Schweiß lief ihm übers Gesicht, als er sie herauszerrte. Rauch brannte in seinen Augen.

Die Frau war bewusstlos und fühlte sich leicht an, als er sie hochhob und wankend mit ihr zu den nächsten Felsen lief.

Ein heißer Luftstrom fauchte über ihn hinweg, als der Wagen explodierte. Er lag auf dem Bauch und schützte die Frau mit seinem Körper. Erst als die Flammen etwas in sich zusammensanken, stemmte er sich hoch.

Valeri Richmond lebte. Ihr Puls war stark. Er hätte es nicht verkraftet, wäre sie gestorben. Erfahren tastete er sie ab, fand jedoch keine Brüche. Im Flammenschein wirkte sie hilflos, wie sie da vor ihm lag.

Nat betrachtete ihr Gesicht. Sie war schön, und es war lange her, dass er sich für eine Frau interessiert hatte. Allerdings konnte er es sich nicht leisten, diese hier allzu interessant zu finden.

Sie brauchte nicht nur ärztliche Hilfe, sondern war für ihn auch absolut unerreichbar. Von Anfang an hatte er geahnt, dass er den Auftrag ablehnen sollte. Jetzt war er sich seiner Sache sicher.

Nat blickte zu den Sternen hinauf, fluchte ausgiebig und erinnerte sich an den Anruf, der einer wehrlosen Frau Schaden zugefügt und ihn hierher geführt hatte.

Sie wurde schlagartig wie nach einem Albtraum wach – mit Herzklopfen, trockenem Mund und völlig verwirrt. Zuerst fiel ihr auf, dass sich an ihrer Schlafzimmerdecke kein hölzerner Ventilator mehr drehte. An seiner Stelle strahlten zwei grelle Leuchtstoffröhren.

Rechts von ihr ertönte ein monotones Piepen. Als sie den Kopf hob, zuckte sie unter einem heftigen Scherz zusammen und musste warten, bis sie wieder klar sehen konnte.

Von einer über ihrem Kopf hängenden Flasche mit einer klaren Flüssigkeit verlief ein Plastikschlauch zu einer Nadel, die oberhalb des Handgelenks in ihrem Arm steckte. Sie starrte auf das andere Handgelenk. Dort trug sie ein Namensschild aus Kunststoff und eine fremde Uhr.

Sonnenlicht fiel durch die Jalousie an einem kleinen, rechteckigen Fenster in der hellgrünen Wand. Auf einem hoch angebrachten Regal am Fußende des Bettes stand ein kleiner Fernseher.

Sie war in einem Krankenhaus!

Panik ergriff sie. Was war mit ihr passiert? Wie kam sie hierher? Wieso erinnerte sie sich an nichts?

Sie sah auf die goldene Uhr, die ihr völlig fremd war. Zehn nach drei. Sie hatte einen großen Teil des Tages verschlafen.

Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Sie streckte die Hand danach aus, obwohl sie keine Ahnung hatte, welche Nummer sie anrufen wollte.

Die Tür öffnete sich. Ein ernst wirkender Mann in einem weißen Kittel trat ein, gefolgt von einer mütterlichen Krankenschwester. Als er seine Patientin erblickte, lächelte er.

„Valeri, schön, dass Sie endlich aufgewacht sind. Wie fühlen Sie sich?“ Er blieb am Fußende des Bettes stehen und hakte ein Klemmbrett los. „Ich bin Dr. Harrison. Ich habe Sie letzte Nacht nach Ihrer Einlieferung versorgt.“

Valeri. Richtig, sie hieß Valeri Richmond. „Was ist mit mir passiert? Wo bin ich?“, flüsterte sie ängstlich.

Dr. Harrison betrachtete kurz das Patientenblatt und blickte lächelnd hoch. „Sie hatten einen Autounfall und waren bis jetzt bewusstlos.“

Es dauerte eine Weile, ehe sie die schlimme Nachricht verarbeitete. „Bin ich schwer verletzt?“

„Nein“, erwiderte der Arzt. „Zum Glück holte Ihr Freund Sie aus dem Wagen, bevor Schlimmeres passiert ist. Sie sind mit Prellungen und einer leichten Gehirnerschütterung davongekommen. Sie hatten Glück. Ohne Nathan Thorne wären Sie wahrscheinlich im Leichenschauhaus gelandet.“

Es fiel ihr schwer, seinen Worten zu folgen. Offenbar hatte der Schock die Erinnerung an den Unfall ausgelöscht. Aber da war noch mehr, das nicht stimmte. „Wer ist Nathan Thorne?“

Der Arzt betrachtete sie prüfend. „Woran erinnern Sie sich?“

Sie überlegte, doch sofort verstärkten sich die Kopfschmerzen. „Nicht an den Unfall.“

„Nun, machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Das kommt manchmal vor. Wahrscheinlich fällt es Ihnen irgendwann wieder ein. Kopfschmerzen?“

Sie nickte. Sofort wurden die Schmerzen unerträglich.

„Dagegen gebe ich Ihnen etwas.“ Der Arzt machte eine Eintragung auf dem Blatt. „Alle vier Stunden, Schwester.“

„Ja, Herr Doktor.“ Die Krankenschwester lächelte Valeri aufmunternd zu.

„Bleiben Sie still liegen, und entspannen Sie sich.“ Dr. Harrison reichte der Schwester das Klemmbrett. „In einigen Stunden sollten die Schmerzen verschwinden. Jetzt muss ich Ihnen einige Fragen stellen. Einverstanden?“

„Ja.“ Sofern sie antworten konnte. Bisher fand sie nicht einmal auf ihre eigenen Fragen die richtigen Antworten.

„Können Sie sich aufsetzen?“

„Ich glaube schon.“

Er nickte der Schwester zu, die daraufhin einen Knopf an der Seite des Bettes drückte.

Leise summend hob sich das Kopfteil an. Nun konnte Valeri aus dem Fenster sehen, doch der Anblick war ihr völlig fremd. Sofern sie sich nichts einbildete, waren das in der Ferne Berge, die in der Hitze flimmerten.

„Wo bin ich?“, fragte sie.

„Im St. Sebastian’s General Hospital.“ Dr. Harrison wandte sich an die Schwester. „Mrs. Richmond ist in der Lage, mit Mr. Thorne zu sprechen. Bis er hier oben ist, sollten wir fertig sein.“

„Ja, Herr Doktor.“

Valeri wurde erneut von Panik gepackt. „Warten Sie! Ich will niemanden sehen.“

„Aber er möchte unbedingt mit Ihnen sprechen, Valeri“, entgegnete der Arzt beschwichtigend.

Hier stimmte etwas nicht, und sie musste es ihm begreiflich machen. „Ich kenne keinen Nathan Thorne!“ Sie versuchte, sich aufzurichten, sank jedoch stöhnend zurück.

„Holen Sie mir schnell das Mittel.“

„Ja, Herr Doktor.“ Die Schwester eilte hinaus.

„Ich habe noch nie vom St. Sebastian’s Hospital gehört.“ Valeri blickte zum Fenster. „In welchem Stadtteil steht es?“

„Im Westen von Carson City.“

„Carson City?“, rief sie betroffen. „In Nevada?“

Er nickte.

„Das ist unmöglich. Ich kann nicht in Carson City sein. Ich wohne in Sacramento. Was mache ich hier? Wie komme ich hierher?“

„Sie wurden mit einem Krankenwagen hergebracht.“ Der Arzt kam näher und legte ihr die Hand unter das Kinn. „Sehen Sie mich bitte an.“

Sie öffnete die Augen. Es war ihr peinlich, dass sie die Tränen nicht zurückhalten konnte.

„Was ist das Letzte, an das Sie sich erinnern?“

Sie kämpfte gegen den Nebel in ihrem Gehirn an. „Ich … ich weiß nicht recht. Ich erinnere mich, dass ich gestern Abend das Büro verließ … Aber es war kalt und feucht.“

„Können Sie mir sagen, welcher Tag heute ist?“

Nach kurzem Zögern nannte sie das genaue Datum. „Was ist?“, fragte sie, nach einem Blick in sein Gesicht alarmiert. „Stimmt etwas nicht?“

Anstatt zu antworten, griff er nach einer Zeitung auf dem Tisch und zeigte sie Valeri.

Aufgeregt las sie die Schlagzeile und rechnete damit, womöglich ihren Namen zu finden. Es ging jedoch um einen Prozess gegen die Tabakindustrie.

„Was soll das?“, fragte sie verwirrt.

„Sehen Sie sich das Datum an“, bat Dr. Harrison.

Valeri hielt den Atem an. Nein, das war unmöglich! „Das stimmt nicht“, wehrte sie heftig ab. „Das kann nicht die heutige Zeitung sein!“

„Doch, Valeri, das ist sie.“

„Ich glaube Ihnen nicht!“

„Offenbar leiden Sie unter einer Gedächtnislücke, die wahrscheinlich von dem Schlag auf den Kopf stammt. Nach Mr. Thornes Angaben sind Sie ziemlich hart gegen das Lenkrad geprallt.“

„Ich kann doch nicht sechs Jahre meines Lebens vergessen“, flüsterte sie geschockt.

„Bestimmt ist das nur vorübergehend.“ Er faltete die Zeitung zusammen. „Entspannen Sie sich. Was wissen Sie über sich selbst?“

Sie musste sich ganz einfach erinnern. „Mein Name ist Valeri Richmond. Ich bin neunundzwanzig Jahre alt und …“

„Wann wurden Sie geboren?“

In diesem Moment ahnte sie, dass sie sich mit dem Unfassbaren abfinden musste. „Ich bin wohl fünfunddreißig“, sagte sie leise.

„Was sonst noch? Sie tragen keinen Ehering. Ich nehme also an, dass Sie nicht verheiratet sind.“

„Geschieden, keine Kinder.“ Unter diesen Umständen war das ein Glücksfall. Wenigstens brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, dass jemand daheim auf sie wartete.

„Wo arbeiten Sie?“

„Ich bin selbstständige PR-Beraterin und wohne in einem Vorort von Sacramento in Kalifornien. Ich begreife einfach nicht, was ich in Nevada mache.“

„Lassen wir das für den Moment. Eltern?“

„Meine Mutter hieß Sylvia Forrester. Sie starb vor ungefähr einem Jahr … nein, vor sieben Jahren.“ Unglaublich, dass ihr so viel von ihrem Leben fehlte!

„Das tut mir leid. Ihr Vater?“

Ihr Vater lebte noch – zumindest, so weit sie sich erinnerte. Schon wollte sie seinen Namen nennen, als etwas Seltsames geschah. Es war, als würde sie für einen flüchtigen Moment einen Film auf einer Leinwand ablaufen sehen. In diesem Augenblick war sie sicher, dass Alex nicht wollte, dass sie über ihn sprach.

Verwirrt blickte sie den Arzt an. „Ich sehe meinen Vater selten“, erwiderte sie leise.

„Verstehe.“ Dr. Harrison sah auf die Uhr. „Mr. Thorne kann Ihnen wahrscheinlich sagen, wen Sie verständigen sollten. Meiner Meinung nach besteht kein Grund zur Sorge.“

„Wird es zurückkommen?“, fragte Valeri ängstlich.

„Ihr Gedächtnis? Höchstwahrscheinlich. Bei einer Teilamnesie kann man nur schwer etwas vorhersagen. Manchmal kehren die Erinnerungen stückweise zurück. In anderen Fällen löst ein weiteres Trauma, vielleicht noch ein Schlag gegen den Kopf, die Sperre vollständig. Diese Methode würde ich Ihnen allerdings nicht empfehlen.“

Sie versuchte, zu dem schwachen Scherz zu lächeln. „Und wenn die Erinnerung nicht zurückkehrt? Wirkt sich das auch auf andere Bereiche aus?“

„Wegen körperlicher Schäden haben Sie nichts zu befürchten. Oft erinnern sich Unfallopfer nicht an den eigentlichen Unfall. In seltenen Fällen, zu denen Sie gehören, fehlt ein längerer Zeitraum. Wahrscheinlich müssen Ihnen Menschen, die Sie kennen, helfen, die fehlenden Einzelheiten zu ersetzen.“

„Was ist mit Menschen, die ich nicht kenne?“

Dr. Harrison lächelte. „Ich kann Sie beruhigen, Valeri, falls Sie Nathan Thorne meinen. Er hat mir versichert, dass er mit Ihnen gut befreundet ist. Er macht sich große Sorgen um Sie und war die ganze Nacht im Warteraum. Vielleicht fällt Ihnen alles wieder ein, wenn Sie ihn sehen. Ich spreche kurz mit ihm und schicke ihn dann zu Ihnen herein, einverstanden?“

Sie wollte niemanden sehen, schon gar nicht einen Mann, von dem sie nie gehört hatte. Andererseits konnte er ihr helfen, wenn er sie gut kannte.

Nachdem der Arzt gegangen war, fragte sie sich, ob sie so schlimm aussah, wie sie sich fühlte. Als sie sich an den Kopf fasste, erlitt sie den nächsten Schock. Ihr Haar war fast zwanzig Zentimeter kürzer. Es war höchstens kinnlang. Offenbar hatte sie es abgeschnitten. Dass sie sich daran nicht erinnerte!

Sie döste schon wieder, als sich die Tür wieder öffnete.

„Valeri!“, sagte eine tiefe Männerstimme. „Wie schön, dass es dir gut geht! Ich habe mir schreckliche Sorgen um dich gemacht.“

Sie öffnete die Augen. Der Mann war groß, hatte breite Schultern und eine beeindruckende Gestalt. Enge Jeans spannten sich über den Oberschenkeln, und dazu trug er ein Jeanshemd.

Er war kein schöner Mann, lenkte aber die Aufmerksamkeit auf sich. Das Gesicht hätte eine liebende Mutter als „ausdrucksstark“ bezeichnet. Ein Mundwinkel war hochgezogen, eine schwarze Augenbraue saß höher als die andere, und die Hakennase war leicht schief.

Die Augen faszinierten sie. Von dichten dunklen Wimpern umgeben, schimmerten sie wie Gold. Solche Augen hätte sie niemals vergessen. Ihrer Meinung nach kannte sie diesen Mann überhaupt nicht.

Valeri bemühte sich, so viel Würde aufzubringen, wie in einem dünnen Krankenhausnachthemd überhaupt möglich war, und betrachtete den Fremden kühl. „Ich glaube nicht, dass wir uns kennen“, erklärte sie entschieden.

Er kam um das Bett herum und setzte sich auf die Kante. „Du siehst blass aus. Der Arzt sagt, dass du einige Tage Kopfschmerzen haben könntest, aber er gibt dir ein Mittel, das …“

Der vertrauliche Ton ärgerte sie. „Wer sind Sie?“

„Nat, wer sonst?“, fragte er lächelnd. „Nathan Thorne, dein nächster Nachbar und sehr guter Freund. Erinnerst du dich nicht? Der Arzt hat zwar erwähnt, dass du Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis hast, aber ich hätte nicht geglaubt, dass du mich vergessen kannst.“

„Meines Wissens nach habe ich Sie noch nie in meinem Leben gesehen.“ Davon war sie absolut überzeugt. Nathan Thorne war ein Mann, den keine Frau vergaß. Diesem Typ war sie stets ausgewichen, diesem erdverbundenen, ursprünglichen und sinnlichen Mann, der Gefahr signalisierte.

Hoffentlich hatte ihr Ton klargemacht, dass sie ihn auf keinen Fall in ihrer Nähe haben wollte. Der Arzt hatte zwar erwähnt, dass dieser Fremde letzte Nacht nicht geschlafen hatte. Das war jedoch keine Entschuldigung für die dunklen Bartstoppeln oder den unordentlichen Haarschnitt. Mit einem solchen Mann wollte sie niemals befreundet sein.

Nathan Thorne seufzte. „Der Arzt hat mich schon gewarnt, dass das passieren könnte.“

Sie zog die Hand weg, als er danach griff. Bestimmt kam gleich die Schwester mit dem Medikament. Also hatte sie nichts zu fürchten.

„Es tut mir leid. Ich weiß, dass das für dich ein schlimmer Schock ist.“

Jetzt wirkte er so besorgt, dass Valeri sich etwas beruhigte. „Waren Sie bei dem Unfall bei mir?“

„Zum Glück ja. Ich habe dich aus dem Wagen gezogen, bevor er in Flammen aufging.“

Sie schauderte. In ihrer Verwirrung hatte sie völlig vergessen, dass ihr dieser Mann das Leben gerettet hatte. „Danke“, sagte sie verlegen, auch wenn sie noch nicht ganz überzeugt war. „Ich stehe in deiner Schuld.“

Er lächelte sie so hinreißend an, dass sie ungewollt darauf reagierte. Hastig unterdrückte sie alle Gefühle für ihn. Was in den letzten sechs Jahren auch geschehen sein mochte, sie durfte nichts für ihn empfinden.

„Ist schon gut“, meinte Nat lässig. „Ich bin einfach froh, dass ich dich begleitet habe. Wärst du allein gewesen …“ Er vollendete den Satz nicht.

„Wo ist es passiert?“

„Ungefähr fünfzig Kilometer vor der Stadt. Wir waren auf der Heimfahrt, als du in einer Kurve die Herrschaft über den Wagen verloren hast. Vielleicht war ein Ölfleck auf der Fahrbahn.“

„Heimfahrt?“ Doch nicht mit ihm. Bestimmt lebte sie nicht mit diesem Mann zusammen, oder?

„Nach Windridge, zu deinem Haus in den Bergen.“

„In welchen Bergen?“

„Valeri, versuche, dich zu erinnern. Du wohnst auf einem ziemlich großen Besitz in der Sierra, nicht weit von der Kleinstadt Sylvan Springs entfernt.“

Sie zuckte zusammen. Der Name sagte ihr etwas. Den hatte sie schon einmal gehört. Obwohl sie ihn in Gedanken mehrmals wiederholte, verband sie nichts damit.

„Ich wohne drei Kilometer nördlich von dir“, fuhr Nat fort. „Du bist zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Ich hatte hier etwas zu erledigen, und du hast mich mitgenommen.“

Was für eine Erleichterung! Er war wirklich nur ein Nachbar. Sie hatten keine Beziehung. Das hätte sie auch wissen müssen. Der Mann war nicht ihr Typ, und Männer wie er interessierten sich nicht für Frauen wie sie. Valeri konnte sich lebhaft vorstellen, auf welche Art von Frauen es Nathan Thorne abgesehen hatte.

Woher hatte sie bloß das Geld, um ein Haus mit großem Grundstück zu kaufen? Ihre Firma lief offenbar sagenhaft. Allerdings konnte sie alles verlieren, was sie in den vergangenen sechs Jahren erreicht hatte, wenn das Gedächtnis nicht zurückkehrte. Es sei denn, sie hatte tüchtige Mitarbeiter.

Schon wollte sie Nat fragen, was er über ihre Arbeit wusste, als er sagte: „Sabhad wird froh sein, dass dir nichts passiert ist. Er hat sich wirklich große Sorgen um dich gemacht. Wären die Zwillinge nicht so verstört gewesen, wäre er sofort ins Krankenhaus gekommen.“

Valeri schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

„Ach ja, du erinnerst dich nicht an die letzten sechs Jahre“, meinte Nat. „Nun, das ist für dich bestimmt ein Schock, aber Achmed Sabhad ist dein Ehemann und der Vater deiner vier Jahre alten Zwillinge.“

Das war ein Albtraum. Es musste einer sein. Doch weshalb schmerzte ihr Kopf dermaßen, wenn es nur ein Traum war? Und wo blieb die verdammte Schwester mit dem Mittel?

„Tut mir leid“, sagte Nat leise. „Ich konnte es dir nicht schonender beibringen.“

„Das stimmt einfach nicht. Du verwechselst mich.“ Valeri zog die Decke höher. „Ich wurde erst vor Kurzem geschieden. Ich hätte nie wieder geheiratet. Und wenn ich Kinder hätte, wüsste ich das bestimmt!“

„Du wurdest vor mehr als sechs Jahren geschieden, und du hast Sabhad vor fünf Jahren geheiratet.“

„Und wieso nennt der Arzt mich Mrs. Richmond?“

„Weil du deinen Namen bei der Heirat beibehalten hast. Das machen viele Frauen.“

„Unsinn!“ Sie zeigte ihm die linke Hand. „Wo ist mein Ring?“

Er verzog keine Miene. „Keine Ahnung. Vielleicht hast du ihn vor der Fahrt abgenommen. Ich versichere dir, dass du mit Achmed Sabhad verheiratet bist.“

„Du lügst!“

„Es stimmt.“ Er holte die Brieftasche aus der Jacke. „Hier, ich habe Fotos von dir und deiner Familie.“

Ihre Hand zitterte, als sie die Bilder entgegennahm. Auf einem Foto hielt sie zwei gleich aussehende kleine Mädchen an den Händen. Die Kinder hatten wie sie dunkles Haar und dunkle Augen. Ihr eigenes Haar war kürzer, als sie in Erinnerung hatte, und sie wirkte schlanker, aber sie lächelte in die Kamera.

Valeri betrachtete das zweite Foto. Der dunkelhaarige und dunkelhäutige untersetzte Mann an ihrer Seite hatte besitzergreifend den Arm um sie gelegt. Lieber Himmel, war sie wirklich mit ihm verheiratet? Wieso erkannte sie ihn nicht?

„Das ist Achmed Sabhad.“ Nat deutete auf das Foto. „Er stammt aus Saudi-Arabien und hat geschäftliche Kontakte mit seinem Heimatland, soviel ich weiß. Er ist ein sehr reicher Industrieller.“

Damit war für Valeri alles klar. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich in einen reichen Araber verliebte und ihm Kinder gebar. So etwas passierte nur mutigen, abenteuerlustigen Frauen und nicht der konservativen und schlichten Valeri Richmond.

„Also, der Arzt meint, dass er dich morgen entlassen kann“, fuhr Nat fort und steckte die Fotos wieder ein. „Ich habe einen Wagen gemietet, hole dich am Vormittag ab und bringe dich heim.“

„Du bringst mich nirgendwohin“, wehrte sie entsetzt ab. „Bevor ich mich nicht an alles erinnere und genau weiß, was ich mache, bleibe ich hier.“

„Das könnte Tage oder sogar Monate dauern. Was ist mit deinen Kindern? Sie warten auf ihre Mutter. Du lässt sie doch nicht leiden?“

Was war, wenn er die Wahrheit sagte und diese beiden reizenden Mädchen sich tatsächlich nach ihr sehnten? Sie sah sich um. „Ich brauche meine Tasche. Wahrscheinlich liegt sie dort im Schrank. Falls ich wirklich Kinder habe, dann müssen Fotos … mein Ausweis … irgendein Beweis …“

Er betrachtete sie mit ausdrucksloser Miene. Sie hätte gern gewusst, was er jetzt dachte.

„Es ist alles im Wagen verbrannt“, erklärte er leise. „Ich hatte keine Zeit, etwas herauszuholen, weil ich mich um dich kümmern musste. Tut mir leid.“

Valeri nahm sich fest vor, nicht zu weinen. Auf keinen Fall!

„Deine Töchter brauchen dich“, drängte Nat leise.

Was sollte sie bloß machen? Während sie noch überlegte, kam die Schwester mit einem kleinen Pappbecher herein. „Hier ist Ihre Medizin, Mrs. Richmond. Sie werden sich gleich besser fühlen, wenn Sie sie nehmen.“

Es gibt keine Medizin, durch die ich mich jetzt besser fühle, dachte Valeri, nahm die Tabletten jedoch dankbar entgegen und schluckte sie mit Wasser.

„Sie sind blass“, stellte die Schwester fest. „Sie sollten sich ausruhen.“ Valeri war erleichtert, als Nat den Wink verstand und sich erhob.

Er wartete, bis die Schwester wieder hinausgegangen war. „Ich lasse dich jetzt allein und hole dich dann morgen ab.“

Valeri sah ihm nach. Bildete sie sich nur etwas ein, oder enthielten seine Worte eine versteckte Drohung?

Im Zimmer wurde es still, sobald er fort war. Valeri fühlte sich benommen. Nichts ergab einen Sinn.

Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie in Sacramento vor sechs Jahren ihr Büro an einem dunklen, feuchten Winternachmittag verlassen hatte.

Ein knappes halbes Jahr davor war sie geschieden worden. Sie wollte zu ihrer Wohnung fahren, die sie mit einer übel launigen Katze namens Claws und einigen Spinnen teilte. Was wohl aus der Katze geworden ist, dachte sie betrübt.

Falls Nathan Thorne die Wahrheit sagte, war sie jetzt in einem völlig anderen Leben erwacht – als Frau eines reichen Arabers und Mutter von Zwillingen.

Ausgeschlossen. Sie hatte keine Kinder. Die körperlichen und psychischen Veränderungen einer Frau bei einer Geburt konnten nicht von einem Schlag auf den Kopf ausgelöscht werden.

Autor

Doreen Roberts
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