Versuchung im Schneesturm

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Wilde, dunkle Locken, golden gesprenkelte Augen, der feurige Blick… Risikokapitalanleger Garrett ist sofort verzaubert, als er auf einer Wohltätigkeitsgala mit der umwerfenden Jules tanzt. Seine geheimsten Wünsche scheinen in Erfüllung zu gehen, denn wenig später werden Jules und er beim Besuch einer Ranch in Colorado eingeschneit. Doch auch nach der unvergesslich sinnlichen Nacht mit ihr wird Garrett das Gefühl nicht los, dass Jules etwas vor ihm verbirgt … Hat es damit zu tun, dass er die Ranch vor der Insolvenz retten soll?


  • Erscheinungstag 17.01.2023
  • Bandnummer 2272
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515436
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Garrett Kaye hätte nicht behaupten können, Spaß zu haben. Wusste er überhaupt, was Spaß war? Zumindest langweilte er sich weniger als sonst.

Immerhin etwas.

Er war Gast bei der Wohltätigkeitsgala von Ryder International am Valentinstag. Der Tisch, an dem man ihn platziert hatte, war geschmackvoll dekoriert. Alles war in Schwarz, Weiß und Silber gehalten. Die Decke des Saals war mit einem glänzenden silbrigen Stoff abgehängt, durchsetzt mit kleinen Lichtern. Die runden Tische verschwanden unter weißen Decken, die mit schwarzen Rosen bedruckt waren. In der Mitte standen riesige bauchige Glasvasen mit rosafarbenen, roten und weißen Tulpen, gebunden mit frischem Grün. Das weiße Geschirr war edel, das Besteck aus schwerem Silber, die Gläser aus Kristall.

Für das Essen sorgte ein mehrfach ausgezeichneter Gourmet-Koch, Champagner und Wein waren von erlesenster Qualität. Den lauten Ohhs! und Ahhs! nach zu urteilen kamen die Taschen mit Geschenken für die Gäste gut an. Die lächelnden Gesichter ringsum verrieten, dass alle den Abend genossen. So sollte es auch sein, denn immerhin hatten sie pro Person hunderttausend Dollar und mehr für den Abend bezahlt. Fairerweise musste man sagen, dass diese Summe für niemanden hier – Garrett eingeschlossen – ein Problem war.

Wäre er hier, wenn jemand anderes als die Ryder-Whites die Gala ausgerichtet hätte? Wahrscheinlich nicht. Für die Mitglieder dieser illustren Familie war er nichts weiter als der Sohn der Assistentin von Callum Ryder-White – ein Junge, der es international geschafft hatte.

Callum und sein Clan hatten keine Ahnung, dass es ihm ein Leichtes wäre, ihre Welt auf den Kopf zu stellen.

„Mein erster Job war in Panama-City. Ich habe am Strand eine Gin-Promotion gemacht …“

Der Klang der melodischen Stimme holte Garretts Aufmerksamkeit zurück an den Tisch, an dem Jules Carlson Hof hielt, eine Frau mit wilden Locken, einem warmen, braunen Hautton und einem fantastischen Körper. Ihre Augen faszinierten ihn. Wenn sie jemanden ansah, den sie mochte, dann sprühten förmlich goldene Fünkchen aus dem dunklen Braun. Wenn sie lachte, strahlten die Fünkchen kupferfarben. Gelegentlich changierten sie auch ins Grünliche, aber das nur, wenn sie mit ihm sprach. Er schien sie zu nerven. Der Gedanke amüsierte ihn.

Ihre Reaktion war ungewöhnlich. Sie weckte sein Interesse.

Garrett wusste, dass er nicht schlecht aussah. Das war eine Tatsache, keine Einbildung.

Er war groß – gut einen Meter achtzig – und hielt seinen muskulösen Körper fit. Allerdings war er realistisch genug, um zu wissen, dass er das ungeteilte Interesse der Frauen nicht zuletzt seinem gut gefüllten Bankkonto zu verdanken hatte.

Mit Geld ließ sich alles kaufen.

Aber Jules Carlson, international anerkannte Cocktail-Expertin und Barkeeperin, war definitiv nicht beeindruckt von ihm. Interessant …

Es gefiel ihm. Garrett lehnte sich zurück und öffnete die Jacke seines Smokings. Jules erzählte gerade sehr anschaulich von einer ihrer ersten Pop-up-Bars, bei der offenbar so gut wie alles schiefgegangen war. Eine Flasche Tequila war ihr auf den Fuß gefallen, aber sie hatte auch mit einem gebrochenen Zeh weitergearbeitet. Es kam zu einem Streit unter den Gästen, und sie hatte Pech mit ihrem Bikini – das Oberteil war seitlich verrutscht, sodass die Gäste mehr von ihren Brüsten zu sehen bekamen als beabsichtigt.

Garrett ließ seinen Blick über ihre Gestalt gleiten und befand, dass sie hübsche Brüste hatte. Sie war groß, schlank und hatte herrliche Kurven. Diese Kurven kamen in dem orangeroten Kleid mit dem geometrischen Muster in Weiß, Orange, Gold und Schwarz perfekt zur Geltung – zumal der mutige Schnitt viel von ihrer Haut sehen ließ. Es war ein Tribut an ihre afrikanische Herkunft und stach in dem Meer vorwiegend einfarbiger Kleider sofort ins Auge.

„Die Pop-up-Bar wurde von Crazy Kate’s gesponsert, oder?“, erkundigte sich Tinsley Ryder-White. Wie er selbst hatte Tinsley dunkelbraunes Haar, blaue Augen und ein kantiges Gesicht. Eine gewisse Ähnlichkeit war nicht überraschend, schließlich war er ihr Onkel. Oder ging zumindest davon aus, dass er es war.

Garrett starrte einen Moment lang versonnen in sein Whiskeyglas, bevor er den Blick durch den Saal gleiten ließ. Callum Ryder-White, der älter schien, als Garrett ihn in Erinnerung gehabt hatte, stand an der Bar. Das einstmals dunkle Haar war inzwischen von silbrigen Fäden durchzogen. Er musste Anfang achtzig sein. Garrett überschlug im Geiste einige Zahlen.

Er war fünfunddreißig. Callum musste Ende vierzig gewesen sein, als er seine Assistentin geschwängert hatte, Garretts Mutter Emma. Zu der Zeit war Callum verheiratet gewesen und hatte bereits einen erwachsenen Sohn, James.

Dort drüben stand er. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Halbbruder war unverkennbar. Garrett mochte ein paar Zentimeter größer sein und auch muskulöser, aber es konnte keinen Zweifel daran geben, dass sie verwandt waren.

Eigentlich erstaunlich, dass diese Ähnlichkeit nur ihm aufzufallen schien. Seine Mutter sah sie wahrscheinlich auch, aber da sie sich weigerte, die Vaterschaft überhaupt zu bestätigen, herrschte seit nunmehr gut zwei Jahrzehnten zwischen ihnen mehr oder weniger Funkstille, und er konnte sie nicht fragen.

Was war er, bei Lichte betrachtet? Das uneheliche Kind des harten, von Ehrgeiz getriebenen Callum Ryder-White und von Emma Kaye, einer emotional distanzierten Frau, die ganz in ihrem Job als persönliche Assistentin eines der mächtigsten Wirtschaftsbosse der Ostküste aufging. Garrett war nur ein unerwartetes Problem gewesen, das gelöst werden musste. Eine überflüssige Belastung.

Er hatte früh gelernt, dass er am besten allein zurechtkam. So war er am stärksten. Die Suche nach Liebe oder Anerkennung konnte ihn nur schwächen.

Er war dankbar für den Trustfonds, den Callum für ihn eingerichtet hatte und über den er an seinem einundzwanzigsten Geburtstag verfügen konnte. Natürlich war er sich nicht hundertprozentig sicher, dass das Geld von Callum kam, aber wer sonst hätte ihm fünf Millionen Dollar zukommen lassen sollen? Er hatte das ganze Geld in ein Internet-Start-up investiert. Als er zwei Jahre später sein Studium abschloss, hatte sich der Wert seiner Investition verfünffacht. Er verkaufte und steckte das Kapital in Kaye Capital.

Es überlief ihn kalt, wenn er bedachte, was er für ein Risiko eingegangen war. Mit einem Schlag hätte er alles verlieren können. Aber er hatte Glück gehabt. Viel Glück. Er war dankbar dafür, dass sich seine Intuition ausgezahlt hatte, aber am liebsten würde er sein jüngeres Ich für dieses enorme Risiko ohrfeigen, das er eingegangen war. Er hatte wirklich keinen Funken Verstand gehabt!

Wie sagte seine Mutter immer: Der Himmel schützt die Jungen und die Unbedarften.

Lautes Lachen holte ihn unvermittelt zurück in die Gegenwart. Er sah, wie Sutton Marchant und Cody Gallant sich die Augen wischten vor Lachen. Sutton war ein Bestseller-Autor, und Cody betrieb eine international renommierte Event-Agentur. Offenbar war Jules eine gute Erzählerin und konnte eine Runde mit ihrem Charme gut unterhalten.

Garrett hingegen war eher wortkarg.

„Ich freue mich schon darauf, Jurorin bei eurem Cocktail-Wettbewerb zu sein, Tins“, sagte Jules gerade. „Es ist wirklich eine super Idee.“

„Was ist das für ein Wettbewerb?“, erkundigte Sutton sich.

Tinsley erklärte, dass Ryder International als Betreiber von Nobel-Bars zur Hundertjahrfeier des Unternehmens einen internationalen Wettbewerb für den besten neuen Cocktail ausgeschrieben hatte. Die Teilnehmer sollten Cocktails vorstellen, die von historischen Ereignissen des letzten Jahrhunderts inspiriert waren. Jules gehörte zur Jury.

„Was würde dir zu dem Thema einfallen, Ju?“, fragte Tinsley ihre Freundin.

Jules stützte das Kinn auf die Hand und überlegte. „Mmmm, gute Frage. Es ist so viel passiert, seit George Ryder-White die erste Bar eröffnet hat. Da ist das Wettrennen ins All, die Entwicklung der Computer, das Internet und nicht zu vergessen: die Empfängnisverhütung.“ Sie zog das hübsche Näschen kraus. „Ich glaube, ich würde mir etwas überlegen, das feminin und fantastisch ist, voller Leidenschaft. Inspiriert von so wunderbaren Frauen wie Ruth Bader Ginsburg, Sojourner Truth, Frida Kahlo und Audre Lorde.“

Sutton runzelte die Stirn. „Ginsburg und Kahlo kenne ich, aber von Truth und Lorna habe ich noch nie etwas gehört.“

„Lorde“, verbesserte Garrett ihn. „Sojourner Truth wurde als Sklavin geboren, konnte fliehen und machte sich einen Namen im Kampf gegen die Sklaverei und für Frauenrechte. Sie ist eine der ganz großen Frauen des 19. Jahrhunderts.“

Jules’ Blick hätte Funken schlagen können.

„Audre Lorde war Schriftstellerin und Feministin. Obwohl sie fast blind war und eine Sprachstörung hatte, hat sie sich sehr aktiv in der Bewegung eingebracht“, fuhr er fort.

Jules zog die Brauen empor. „Ich bin beeindruckt, Kaye.“

Ihr Ton verriet, dass das Gefühl nicht von Dauer sein würde. Garrett lächelte amüsiert. „Ich lese.“

Er las sogar sehr viel. Schon in jungen Jahren hatte er in Büchern eine Möglichkeit gefunden, der Realität zu entfliehen, der Einsamkeit und dem Gefühl, aus dem Leben seiner Mutter ausgeschlossen zu sein. Beim Lesen entdeckte er neue Welten, die er nach Herzenslust erforschen konnte.

„Der Cocktail-Wettbewerb war die Idee meines Dads“, erklärte Tinsley. „Er ist echt gut darin, neue Konzepte zu entwickeln. Die Arbeit für Callum ist eine reine Verschwendung seines Talents.“

Niemand am Tisch brauchte eine Erklärung. Es war allgemein bekannt, dass Callum Ryder-White seinen Sohn an der kurzen Leine hielt. Callum kontrollierte alles, und sämtliche Entscheidungen lagen bei ihm.

Fasziniert beobachtete Garrett, wie Jules Tinsley einen mitfühlenden Blick zuwarf. Wirklich eine beeindruckende Frau. Sinnlich und sexy. Und wie es schien auch mitfühlend.

Er hätte sie gern nackt gesehen. In seinem Bett. Er konnte sich sie beide für eine Nacht oder zwei zusammen vorstellen. Er würde alles an ihr erkunden − ihren Mund und natürlich ihre Kurven. Würde seine Hand über ihre Haut gleiten lassen …

Er hatte ihr Interesse gesehen, als sie ihn ansah. Es war die Art, wie sie die Fingerspitzen an ihren Hals legte. Wie ihre Zunge die Oberlippe berührte. Es mochte ihr nicht gefallen – aus irgendeinem Grund mochte sie ihn ganz eindeutig nicht −, aber ihr gefiel, was sie sah und was er für Gefühle in ihr weckte.

Ja, sie würden zusammenkommen. Vielleicht an diesem Abend, vielleicht in zwei Monaten oder in zwei Jahren. Die Zeit spielte keine Rolle. Wenn man sich einer Sache sicher war, konnte man warten.

Jules nippte an ihrem Champagner. „Ich habe gesehen, dass du versuchen willst, Crazy Kate’s als Sponsor zu gewinnen. Ist das richtig, Tins?“

Tinsley nickte. „Ja, du weißt ja, dass sie im Laufe der Jahre immer zu unseren wichtigsten Lieferanten gehört haben. Und Kate hat uns mit dir bekannt gemacht. Dafür werden wir ihr immer dankbar sein.“ Ihr Lächeln verriet die Zuneigung zu ihrer Freundin.

Jules’ Antwortlächeln strahlte heller als die Sonne. Garrett atmete scharf ein, als er spürte, wie sehr sie ihn erregte. Himmel, dieses Lächeln sollte nur mit einer Vorwarnung erlaubt sein! Wie mochte es sich unter seinen Lippen anfühlen?

„Du solltest noch einmal darüber nachdenken, ob du Kate als Sponsorin ansprichst, Tinsley. Ich bezweifle, dass sie mitmachen können. Sie haben etliche Mitarbeiter entlassen und die Produktion reduziert“, erklärte Jules leichthin, aber die Intensität ihres Blicks verriet, dass sie die Situation herunterspielte. Warum?

„Was?“ Tinsley war erkennbar schockiert. „Aber wieso?“

Jules seufzte. „Das hat wohl viele Gründe, nicht zuletzt die Auswirkungen der Corona-Pandemie.“

Garrett bemerkte, dass sowohl Cody als auch Sutton dem Gespräch folgten. „Crazy Kate’s ist das Unternehmen aus North Carolina, richtig?“, fragte Cody.

Nein, sie kamen irgendwo aus dem Westen.

Garrett ging im Geiste die Daten durch, die er über Firmen im Gedächtnis hatte. Er hatte ein fotografisches Gedächtnis. Sobald er etwas gelesen hatte, hatte er es für immer im Kopf. Crazy Kate’s war ein kleiner Gin-Hersteller aus Denver mit einer modernen, attraktiven Note. Kurz vor der Pandemie hatten sie Kredite aufgenommen, um zu expandieren. Dann kam der Lockdown. Bars, Clubs und Restaurants mussten schließen. Die gesamte Gastronomie wurde stark in Mitleidenschaft gezogen. Da er selbst seine Investitionen auf alle Industriebereiche verteilt hatte, war er relativ unbeschadet aus der Zeit hervorgegangen. Das konnten nicht viele von sich behaupten.

Jules schüttelte den Kopf. „Nein, sie kommen aus Denver. Crazy Kate’s war die erste Firma, für die ich Promotion gemacht habe. Es war Kates Idee, Pop-up-Bars einzurichten. Sie hat mir überhaupt erst auf die Beine geholfen.“ Sie sah Cody an. „Ryders und Crazy Kate’s haben irgendwann eine gemeinsame Promotion gemacht, und dadurch habe ich Tinsley und Kinga kennengelernt.“

Garrett räusperte sich. „Sie haben erst kürzlich ihre Abfüllanlage erneuert, stimmt’s? Und ein neues Lager gebaut.“

Er sah die allgemeine Überraschung über sein Detailwissen, was dieses kleine Unternehmen anging. Als Risikokapitalist waren Firmen aller Größen für ihn von Interesse, aber das wollte er hier nicht erklären. Es kam nur selten vor – eigentlich nie −, dass er irgendjemandem irgendetwas aus seinem Berufsleben erklärte.

Jules deutete mit dem Löffel in Garretts Richtung. Ihr Blick sprühte Funken. „Rühr sie nicht an, Kaye“, warnte sie.

Er war hier also nicht der Einzige, der las. Ganz offensichtlich kannte sie seinen Ruf. Er war nicht nur einer der erfolgreichsten Risikokapitalisten der Welt, er hatte auch den Ruf, in Not geratene Firmen billig aufzukaufen, sie in Teilbereiche zu zerschlagen und zu Höchstpreisen wieder zu verkaufen. Nur trafen diese Gerüchte selten zu.

Garrett wandte den Blick nicht ab. Würde er ihn jetzt senken, sähe Jules es als Bestätigung ihres Verdachts an.

Zugegeben, er hatte einige Entscheidungen gefällt, die aus der Außenperspektive moralisch grenzwertig sein mochten. Er hatte den Ruf, zu den Haien zu gehören, aber in manchen Fällen gab es für ein Unternehmen keine andere Lösung, als an jemanden wie ihn zu verkaufen, um sich von der Schuldenlast zu befreien. An einen Investor zu verkaufen war immer noch besser als der Konkurs, aber das wollten seine Kritiker natürlich nicht wahrhaben.

Nur gut, dass ihre Meinung ihn kaltließ.

Garrett sah, dass Jules ihn immer noch stirnrunzelnd betrachtete. Sie wartete wohl auf eine Reaktion auf ihren Befehl, die Finger von Crazy Kate’s zu lassen. Er hob die Hände in einer Geste gespielter Ergebung. „Was ist? Ich habe nur ganz unschuldig gefragt.“

„Ich habe dich gerade erst kennengelernt, Kaye, aber ich vermute, du warst nicht einmal als Baby unschuldig“, erklärte Jules frostig.

In mancher Hinsicht hatte sie sicher recht. Emma hatte nie Zugeständnisse an sein Alter gemacht. Weihnachtsmann und Osterhase blieben ihm ebenso vorenthalten wie die Zahnfee oder das Mär, dass im Wald die Elfen lebten. Das war für Emma alles nur überflüssiger Unsinn. Sie machte ihn früh mit den harten Realitäten des Lebens bekannt. Schon in jungen Jahren ermutigte sie ihn, sich Dokumentarfilme und die Nachrichten anzusehen. Noch heute verfolgten ihn einige der Bilder, die er damals gesehen hatte.

Unwillkürlich fragte er sich, was wohl Jules für eine Mutter wäre. Würde sie ihren Kindern die Geschichte vom Weihnachtsmann erzählen und am Heiligabend die Glöckchen vom Rentierschlitten erklingen lassen? Würde sie für die Kinder Ostereier im Garten verstecken? Würde sie ihnen Münzen unter das Kissen schieben und ihre Milchzähne in einer kleinen Schachtel aufbewahren? Er hatte gehört, dass manche Mütter das taten.

Jules war eine leidenschaftliche, gefühlvolle Frau. Ja, sie würde ihren Kindern Märchen erzählen, daran hatte er keinen Zweifel – auch das von dem bärtigen alten Mann, der den Kindern Geschenke brachte.

„Ich fliege am kommenden Wochenende zu Kate, dann erfahre ich hoffentlich mehr.“ Jules klang besorgt. „Ich hoffe nur, dass sie die Krise noch auffangen können.“

Sutton, der früher einmal ein erfolgreicher Börsenmakler an der Wall Street gewesen war, warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. „Wahrscheinlich ist es nicht so schlimm, wie du glaubst“, sagte er tröstend. Garrett wusste es leider besser. Eher wurde er schwanger, als dass Crazy Kate’s sich finanziell wieder erholte.

Jules schien skeptisch. „Sie hatte Angebote von einigen Unternehmen, die ihr die Schulden bei der Bank abkaufen wollen.“

Sutton tauschte einen Blick mit Garrett. Der verstand die unausgesprochene Frage und schüttelte den Kopf. Nein, er gehörte nicht zu den Geiern, die über dem Unternehmen kreisten.

„Wenn sie so ein Angebot annimmt, verliert sie alles. Ihre Ranch, ihre Ersparnisse – alles steckt in dem Unternehmen.“ Jules’ Stimme bebte leicht. Es war offensichtlich, dass diese Kate ihr viel bedeutete. Wieso? Es hatte den Anschein, als ginge ihre Beziehung über das Geschäftliche hinaus. Garrett wusste, dass Gefühle und Geschäft ungute Bettgenossen waren.

„Irgendein Volker bombardiert sie mit Anrufen“, fuhr Jules fort. Sie bemerkte nicht, dass Tinsley sich abrupt erhob und davoneilte. Cody folgte ihr nach kurzem Zögern.

„Meinst du vielleicht Valder?“, erkundigte Sutton sich vorsichtig.

Beim Namen seines Erzfeindes und Rivalen beugte Garrett sich vor und stützte die Arme auf den Tisch. Er sah zu Sutton hinüber und bemerkte den Verdruss in dessen Blick. Er seufzte stumm. Ja, er selbst hatte nicht immer die beste Presse, aber Valder war die Krönung. Garrett begnügte sich damit, die Unter­nehmen auseinanderzunehmen und beim Verkauf Profit zu machen, aber Valder ging weiter: Er nahm den Unternehmern auch privat ihr letztes Hemd. Garrett hängte es nicht an die große Glocke, weil er nicht als Weichling erscheinen wollte, aber er ließ den verschuldeten Unternehmern immer noch etwas, wovon sie leben konnten, bis sie wieder auf die Beine kamen.

Valder – das waren schlechte Nachrichten.

„Sag deiner Freundin, sie soll sich von ihm fernhalten“, bemerkte Sutton, bevor er sich erhob. „Ich gehe zur Bar. Kann ich euch etwas mitbringen?“

Sie schüttelten beide den Kopf. Dann blieben sie allein zurück. Jules sah auf. „Stimmst du ihm zu?“

„Was Valder betrifft? Ja.“

„Gibt es irgendetwas, was man noch tun kann?“ Jules klang verzweifelt.

Er hätte ihr gern etwas Positives gesagt, aber die Wahrheit war besser als eine beschönigende Lüge. „Wenn Valder schon da ist, dann sieht es wirklich nicht gut aus. Er taucht dann auf, wenn es für alle anderen Maßnahmen zu spät ist.“

Jules fluchte leise. Garrett fragte sich, ob er sich die Tränen in ihren Augen nur einbildete. „Du hast eine persönliche Beziehung zu dieser Frau? Ich meine, zu Crazy Kate?“

Ihre Mundwinkel hoben sich leicht. „Ja, das stimmt.“ Sie schob sich eine Locke aus dem Gesicht. „Ich habe jeden Sommer auf ihrer Ranch in Colorado verbracht, seit ich zehn war. Sie ist meine zweite Mom.“

Garrett versuchte, sich diese Frau auf einer Ranch vorzustellen – beim Ausmisten der Ställe oder beim Melken der Kühe. Er war in der Stadt aufgewachsen und hatte nicht die leiseste Ahnung, was zu einem Leben auf einer Ranch alles dazugehörte. Auf jeden Fall konnte er sich Jules nicht in einem Stall vorstellen. Er grinste.

„Was ist daran witzig?“ Jules funkelte ihn empört an.

„Ich versuche gerade, mir dich auf einer Farm vorzustellen. Bei der Arbeit auf dem Feld.“

„Ja, und?“

Er machte eine hilflose Geste. „Kannst du reiten? Weißt du, wie man einen Stall ausmistet?“

Jules rollte die Augen. „Ich weiß auch, wie man einen Traktor repariert, wie man ein Pferd zähmt und wie man einen Acker pflügt.“ Sie riss dramatisch die Augen auf. „Ich weiß sogar, wie man einen Bullen kastriert.“

In ihm zog sich spontan alles zusammen. „Ich nehme dein Wort dafür“, versicherte er ihr heiser. Es ärgerte ihn, dass seine Stimme sich um eine Oktave gehoben hatte. „Im Ernst? Du weißt, wie man das macht?“

„Und mehr. Du solltest wissen, dass ich nie lüge, Kaye. Niemals.“

Garrett hatte Mühe, tief durchzuatmen. So hatte ihn noch keine Frau angeturnt, seit er sechzehn war und seine Unschuld verloren hatte. Sie war zwanzig und in seinen Augen erfahren. Sie war fast durchgedreht, als sie herausfand – glücklicherweise erst hinterher −, dass er vier Jahre jünger war als sie.

Es war nicht seine Schuld, dass er älter wirkte.

Aber so wie die Frau damals ließ Jules seinen Puls schneller gehen, und sein Mund war wie ausgedörrt. Er hatte das Gefühl, auf einer scharfen Rasierklinge zu tanzen. Sie konnte ihm wirklich gefährlich werden.

Aber verdammt, was war das Leben ohne ein gelegentliches Risiko?

Es war ja nicht so, dass er vorhatte, dieser Frau sein Herz zu schenken. Es hieß, er habe kein Herz, und in dem Punkt konnten seine Kritiker recht haben.

Das Tempo der Musik änderte sich. Ein alter Klassiker. Einer seiner Lieblingssongs. Nur wenige wussten, dass er Musik liebte und sogar flüchtig erwogen hatte, das Fach zu studieren. Die Aussicht, vielleicht als hungernder Künstler zu enden, hielt ihn letztlich davon ab. Nun entspannte er sich nur noch privat bei Musik. Er legte den Kopf zur Seite und erwartete, dass Griff O’Hare den Song verpatzte, aber Griff traf den Ton perfekt und sang mit viel Gefühl. Da er sich dabei selbst auf dem Flügel begleitete, zog Garrett den Schluss, dass er nicht nur ein ansehnliches Äußeres hatte, sondern auch ein ernst zu nehmender Musiker war. Sein Respekt vor dem Mann wuchs.

Garrett erhob sich und schloss den Knopf seiner Jacke, bevor er zu Jules herumging und neben ihr stehen blieb. Verblüfft hob sie den Blick von seiner ausgestreckten Hand zu seinen Augen.

„Bittest du mich um einen Tanz?“

„Richtig. Ich nehme an, eine Frau, die einen Bullen kastrieren kann, kann sich auch auf der Tanzfläche bewegen?“

Sie legte ihre kleine Hand in seine. „Ich kann mehr als mich nur bewegen, Garrett Kaye“, sagte sie dabei spitz. „Ich nehme schon mein Leben lang Tanzstunden.“

Das überraschte ihn nicht. Jede ihrer Bewegungen war mit Anmut erfüllt. „Gibt es irgendetwas, was du nicht kannst?“

„Nicht viel“, bekannte Jules, als sie sich erhob. „Es gibt allerdings einiges, was ich mich weigere zu tun.“

Er legte ihr leicht eine Hand auf den Rücken. Der zarte Duft ihres Parfums stieg ihm in die Nase. Erinnerte ihn an heiße Sommernächte unter dem Sternenhimmel und den Duft von Jasmin.

„Was würdest du dich denn weigern zu tun, Jules?“, erkundigte er sich, als sie die Tanzfläche erreichten. Er nahm ihre rechte Hand in seine linke und legte einen Arm um ihre Taille.

„Ich springe nicht von Klippen, esse keine Guaven und singe nicht in der Öffentlichkeit.“

Er lächelte. „Was sonst noch?“, fragte er und spürte deutlich, wie er ihrem Charme immer mehr erlag. Die Vorstellung war erschreckend.

„Ich esse keine Schnecken, mache kein Bungee-Springen und lasse mir nicht die Zunge piercen. Oh, und ich werde definitiv nie mit dir schlafen.“

Garrett Kaye war der irritierendste und arroganteste Mann, den sie je kennengelernt hatte.

Und doch lag sie hier in seinen muskulösen Armen – sie spürte den kräftigen Bizeps unter ihrer Hand – und genoss den sexy Duft seiner Haut. Es war eine Mischung aus teurer Seife, einem noch teureren Rasierwasser und Testosteron.

Testosteron. Davon hatte Garrett Kaye wirklich mehr als genug.

Jules löste den Blick von seiner perfekt geknoteten Fliege und betrachtete seinen kurzen Bart. Er hatte genau die richtige Länge – zwischen Stoppeln und Bart. Weich genug, um die Wange daran zu reiben, und kurz genug, um auf angenehme Art zu kitzeln. Jules atmete tief durch.

Sie sollte keine lüsternen Gedanken in Bezug auf Garrett hegen. Himmel, sie sollte überhaupt keinen Gedanken an ihn verschwenden. Er war die Verkörperung des Typs Mann, dem sie aus dem Weg ging.

Sie mochte schlanke, zierliche Männer. Sanfte Männer. Männer, die nicht vom Ehrgeiz getrieben wurden. Intelligente Männer. Gut, Garrett war ganz offensichtlich intelligent, sonst hätte er es nicht so weit gebracht. Außerdem war er belesen, aber er war zu direkt für ihren Geschmack. Zu männlich.

Zu sehr Alpha-Männchen …

Zu sehr wie ihr Dad.

Große, starke und zu selbstbewusste Männer interessierten sie nicht, und er verkörperte alles drei.

Bedauerlicherweise ignorierte ihr Körper die Warnsignale ihres Kopfes. Ihre linke Hand hätte nur zu gern seine breite Schulter erkundet, und ihre Brüste drängte es danach, sich an seine breite Brust zu schmiegen. In ihrem Bauch schien ein Schwarm von Schmetterlingen abgehoben zu haben, und ihr weibliches Zentrum stand in Flammen. Ihr Körper wollte ihn, aber ihr Verstand drängte zur Flucht.

Garretts Daumen glitt über die bloße Haut ihres Rückens. Jules erschauerte. Er spürte es. „Ich weiß nicht, ob das ein gutes Erschauern ist oder ein schlechtes.“ Seine tiefe Stimme ließ sie förmlich dahinschmelzen.

Jules legte den Kopf zurück, um ihm in die Augen zu sehen. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ Erleichtert registrierte sie, dass ihre Stimme halbwegs normal klang.

Noch einmal ließ er seinen Daumen über ihre Haut gleiten, noch einmal erschauerte sie. „Ich glaube, du fühlst dich zu mir hingezogen, aber dein Verstand rät dir zur Flucht.“

Jules blieb abrupt stehen. Dass er sie durchschaute, schockierte sie. Sie löste ihre Hand aus seiner und trat einen Schritt zurück. „Wieso denkst du das?“, fragte sie. Hatte der Mann einen Röntgenblick? Hatte er übersinnliche Fähigkeiten, die es ihm erlaubten, andere Menschen zu durchschauen?

Das gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht.

Garrett nahm ihre Hand erneut in seine und zog sie zurück in seine Arme.

Sie hielt sich vollkommen steif. Es musste so sein, wenn sie nicht in Gefahr laufen wollte, sich an ihn zu schmiegen und sich an diese breite Brust zu lehnen, die Sicherheit und Geborgenheit zu bieten schien.

Niemand sonst konnte sie beschützen. Sie war selbst für sich verantwortlich. Deswegen hatte sie inzwischen einen schwarzen Gürtel in Judo und wusste mit einem Messer umzugehen. Nur von Schusswaffen hielt sie sich fern. Wenn einem als Sechsjährige einmal eine Pistole an die Schläfe gehalten wurde, dann hasste man Schusswaffen ein Leben lang.

„Komm zurück, Jules“, befahl Garrett. „Wo auch immer du in Gedanken gerade bist – dort willst du nicht sein.“

Jules sah erschreckt zu ihm auf. Wie konnte er wissen, dass sie im Geiste gerade wieder in ihrer Küche in Detroit war und hörte, wie ihre Mom ihren Dad anflehte, sie gehen zu lassen. Sie würde alles – wirklich alles! − tun, wenn er nur ihrem kleinen Mädchen nicht wehtäte.

Autor

Joss Wood
Schon mit acht Jahren schrieb Joss Wood ihr erstes Buch und hat danach eigentlich nie mehr damit aufgehört. Der Leidenschaft, die sie verspürt, wenn sie ihre Geschichten schwarz auf weiß entstehen lässt, kommt nur ihre Liebe zum Lesen gleich. Und ihre Freude an Reisen, auf denen sie, mit dem Rucksack...
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