Was geschah an jenem Abend?

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Für Lucinda wird ein Traum wahr: Endlich küsst ihr attraktiver Kollege Sebastian Carlisle sie stürmisch und sie erlebt in seinen Armen das pure Glück! Verliebt wie noch nie, stellt Lucinda ihn ihren Eltern vor. Danach behandelt Sebastian sie plötzlich äußerst kühl…


  • Erscheinungstag 21.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753702
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die Blicke aller richteten sich auf Lucinda Chambers, als sie die kardiologische Kinderstation des „Central Women’s and Children’s Hospital“ in Melbourne betrat. Lucinda wusste das und versuchte, möglichst selbstsicher aufzutreten. Gleichmäßiges Durchatmen half ihr dabei, und so erreichte sie einigermaßen gefasst die Gruppe in den weißen Kitteln, die sich vor dem Schwesternzimmer versammelt hatte.

„Ah, Miss Chambers!“ Professor Hays begrüßte Lucinda mit einem herzlichen Händedruck. „Hoffentlich hatten Sie einen angenehmen Flug.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an seine Getreuen: „Wie Sie wissen, kommt Miss Chambers aus Brisbane zu uns und bringt eine Fülle von Talent und Wissen mit, wovon wir alle profitieren können. Solange sich Dr. Felix im Ausland befindet, wird Miss Chambers die einzige Fachärztin in meinem Team sein, und ich erwarte, dass Sie sie in jeder Beziehung unterstützen.“

Allgemeines zustimmendes Gemurmel erhob sich und gab Lucinda Zeit, die neuen Gesichter zu studieren. Einige wirkten neugierig, andere gleichgültig und zwei oder drei ausgesprochen feindselig. Lucindas Berufung hatte nicht nur hier Verwunderung und Misstrauen erregt. Mit vierunddreißig Jahren hielt man sie allgemein für zu jung, um als Chirurgin eine so verantwortungsvolle Stellung einzunehmen, umso mehr, als sie eine Frau war. Herzoperationen galten immer noch als männliche Domäne. Wer da als Frau mithalten wollte, musste nicht nur mit dem Skalpell umgehen können.

Bei Lucinda traf das ausnahmsweise zu. Außerdem sah sie ausgesprochen gut aus. Ihr langes, volles kastanienbraunes Haar verlieh ihr etwas Besonderes, ihr blasser Teint war makellos, und ihre schlanke Figur verriet nicht, dass sie sich überwiegend von Kantinenessen und Fast Food ernährte.

Darüber hinaus war sie so glücklich, zwei Schönheitschirurgen als Eltern zu haben, die zu den berühmtesten von ganz Queensland zählten und bezüglich der Karriere ihrer Tochter einen überdurchschnittlichen Ehrgeiz entwickelt hatten. Abigail Chambers, die sich nie hatte vorstellen können, überhaupt Mutter zu werden, hatte Lucindas berufliche Karriere schon bei der Geburt geplant und deren Förderung zu einer wahren Leidenschaft entwickelt.

Obwohl Lucinda ihre jetzige Ernennung ausschließlich ihren persönlichen Fähigkeiten zuschrieb, konnte sie nicht abstreiten, dass ihre Herkunft nicht gerade hinderlich gewesen war. Es wunderte sie daher nicht, dass sie nicht von allen neuen Kollegen mit derselben Begeisterung begrüßt wurde.

„Und damit Ende der Vorstellung“, fuhr Professor Hays fort. „Wir beginnen jetzt mit der Visite, aber anschließend wird es im Konferenzzimmer einen kleinen Empfang für Miss Chambers geben. Ich hoffe, Sie dort alle wiederzusehen.“

Damit begann der Rundgang. Die Oberschwester schob einen Rollwagen vor sich her, auf dem die Krankenberichte und Röntgenaufnahmen der Patienten lagen. Professor Hays ging neben ihr, während die anderen Ärzte folgten. Lucinda hielt sich dicht hinter dem Professor, worauf er ausdrücklich bestanden hatte. Es entsprach nicht ganz den modernen Gepflogenheiten, so streng auf die Rangordnung zu achten, aber Professor Hays hielt auf Tradition und lehnte überflüssige Neuerungen auf seiner Station ab.

„Vielleicht sollten Sie zu Beginn des Empfangs eine kurze Rede halten“, raunte er Lucinda zu. „Nur, um sich persönlich vorzustellen. Einige nette, unverbindliche Worte … nichts Weltbewegendes …“

„Mit Vergnügen“, antwortete Lucinda, obwohl sich ihr bei der Aussicht der Magen umdrehte. Sich der Kritik ihrer neuen Kollegen auszusetzen war wenig verlockend.

Die Oberschwester musste die leise Unterhaltung verstanden haben, denn sie zwinkerte Lucinda fast unmerklich zu, und Lucinda zwinkerte zurück. Dabei hatte sie Gelegenheit, das Namensschild auf dem Kittel der Oberschwester zu lesen. Sie hieß Ann Benton und hatte bei der Vorstellung durch den Professor am freundlichsten gelächelt. Mit ihr besaß Lucinda die erste Verbündete.

„Dies ist unser Billy Carlisle“, sagte der Professor, als sie am ersten Bett haltmachten. Es gehörte einem Jungen, der einen grimmig aussehenden Roboter an die Brust drückte. „Dr. Hughes, wären Sie vielleicht so freundlich, Miss Chambers kurz mit dem Fall vertraut zu machen?“

Pete Hughes räusperte sich und begann so leise, dass der Patient ihn nicht verstehen konnte: „Billy Carlisle, fünf Jahre alt. Im achten Monat wegen vorzeitiger Wehen mit Kaiserschnitt geholt. Querlage und akute Lebensgefahr. Bei der Geburt wurden Herzgeräusche festgestellt. Die nachfolgende Untersuchung ergab einen Defekt der Herzscheidewand.“

Lucinda betrachtete den Jungen, der sich vergeblich um die Aufmerksamkeit seiner Mutter bemühte. Sie saß neben dem Bett und feilte ihre Fingernägel, ohne von ihrem Sohn oder den Ärzten Notiz zu nehmen. Ihre Gleichgültigkeit empörte Lucinda, denn ein süßerer Junge ließ sich kaum denken. Dichte schwarze Locken umrahmten sein blasses Gesicht. Die vollen Lippen hatten eine ungesunde bläuliche Färbung, aber Lucinda wusste, dass sie nach einer Korrektur des angeborenen Herzfehlers wieder eine normale Farbe annehmen würden. Seine Augen waren leuchtend grün, und als er aufsah und Lucindas Blick bemerkte, lächelte er spitzbübisch.

Normalerweise hätte Lucinda über dieses Lächeln hinweggesehen, aber aus einem Grund, den sie sich selbst nicht erklären konnte, erwiderte sie es. Erst als Pete Hughes in seinem Bericht fortfuhr, wandte sie den Blick ab und konzentrierte sich auf das, was er sagte.

„Anfangs hofften wir, auf einen operativen Eingriff verzichten zu können, aber durch die zusätzliche Herausbildung eines Herzklappenfehlers hat sich Billys Zustand laufend verschlechtert. Wie Sie sehen, ist seine Haut bläulich verfärbt, und auch seine Leistungsfähigkeit lässt immer mehr nach. Hinzu kommt chronisches Asthma, das immer schlechter zu kontrollieren ist und die Herzprobleme erhöht. Billy soll am Mittwoch operiert werden.“

Die Ärzte scharten sich um das Bett, und der Professor begrüßte Billys Mutter. „Guten Morgen, Gemma“, sagte er überraschend freundlich.

„Ist es denn ein guter Morgen?“, fragte Gemma mürrisch. „Sebastian wollte schon vor einer Stunde hier sein. Um zehn Uhr bin ich in der Stadt verabredet.“

„Sebastian ist noch im OP. Wir hatten heute Morgen mehrere Notfälle, aber lange dürfte es jetzt nicht mehr dauern.“

Aha, dachte Lucinda. Deshalb schlägt der Professor einen so vertraulichen Ton an. Billys Vater ist ebenfalls Arzt in diesem Krankenhaus.

„Sebastian Carlisle ist Billys Vater“, fuhr der Professor fort, als wollte er Lucindas Vermutung bestätigen. „Er ist Anästhesist, und Sie haben Glück, ihn zu Ihren Kollegen zu rechnen.“ Etwas leiser setzte er hinzu: „Er spricht mit den Patienten, während sie unter Narkose stehen. Ich bin nie ganz schlau aus ihm geworden.“

„Ich habe wichtige Formulare mitgebracht, die Sebastian unterschreiben muss“, mischte sich Gemma wieder ein. „Kann man ihn nicht ausrufen lassen?“

„Einen Moment lang dachte ich, sie sei Billys wegen gekommen“, flüsterte die Oberschwester Lucinda zu, ehe sie sich mit berufsmäßigem Lächeln an die aufsässige Mutter wandte: „Keine unnötige Aufregung, Gemma. Genau das habe ich vor.“ Sie gab der diensttuenden Schwester einen heimlichen Wink. „Hatten Sie sonst noch irgendwelche Fragen an Professor Hays?“

Gemma schien nachzudenken. „Sebastian beschäftigt sich mit dem ganzen medizinischen Kram“, meinte sie dann unschlüssig.

Ann Benton strich Billy über den dunklen Lockenkopf. „Ich bin nachher für dich da, Sportsmann. Bis dahin darfst du dir einen Videofilm wünschen.“

Billys Augen leuchteten auf. „Wirklich? Dann wünsche ich mir …“

„‚Im Schutz der Roboter‘!“, sagten Ann, Professor Hays, Dr. Hughes und noch einige andere Ärzte wie aus einem Mund. Nur Billys Mutter verzog keine Miene, sondern sah vielsagend auf ihre Uhr.

Lucinda hatte keine Ahnung, wovon die Rede war, aber sie musste zum zweiten Mal lächeln. Der kleine Patient schien hier jeden um den Finger zu wickeln. Jeden, bis auf seine Mutter.

Die Tür zum Krankenzimmer wurde aufgestoßen, und ein Mann im grünen OP-Kittel kam herein. Lucindas Herz klopfte schneller. Das konnte nur Billys Vater sein. Er hatte dieselben lebhaften grünen Augen und dieselben tiefschwarzen Locken, in die sich nur hie und da etwas Grau mischte, was ihm einen Anflug von Würde verlieh. Seine Größe und sein kräftiger Körperbau verstärkten diesen Eindruck. Er musste weit über ein Meter achtzig sein und machte trotz des bauschigen Kittels einen durchtrainierten Eindruck.

Genau mein Typ, dachte Lucinda, aber natürlich verheiratet. War es bisher nicht immer so? Alle Männer, die mir gefallen, sind bereits vergeben.

„Endlich“, sagte Gemma spitz und stand auf. „Es wurde wirklich Zeit.“

Sebastian Carlisle ging zum Bett seines Sohnes und küsste ihn, ohne den Kommentar seiner Frau zu beachten. „Ich war schon unterwegs, als der Ausruf kam“, sagte er entschuldigend zu dem Professor. „Ist alles in Ordnung?“

„Nichts ist in Ordnung“, erklärte Gemma, als Professor Hays beruhigend nickte. „Ich bin um zehn Uhr verabredet und muss vorher mit dir sprechen. Das wusstest du doch.“

„Und du weißt, dass ich Arzt bin“, erwiderte Sebastian. Er schien an den feindseligen Ton seiner Frau gewöhnt zu sein. „Ich kann während einer Operation nicht einfach verschwinden. Außerdem bin ich jetzt hier.“

Die Gruppe um Professor Hays hatte sich inzwischen weiterbewegt, aber Lucinda zögerte noch. Sie hatte bemerkt, dass Billy schneller atmete und sich dabei immer mehr verkrampfte.

„Wann hat Billy die letzte Beatmung bekommen?“, fragte sie.

„Vor einer Stunde“, antwortete Ann.

Lucinda richtete den Jungen vorsichtig auf und horchte seine Brust ab. „Er atmet etwas mühsam“, stellte sie fest und warf einen Blick auf das Krankenblatt. „Erhöhen Sie das erste Mittel um zweieinhalb Milligramm.“ Sie wandte sich an Dr. Wells, den jüngeren Assistenzarzt, der ebenfalls zurückgeblieben war. „Horchen Sie später noch einmal Billys Brust ab. Vielleicht müssen wir die Medikation umstellen.“

Jack Wells nickte. Er war vor Verlegenheit rot geworden und machte sich eifrig Notizen, während er Lucinda zum nächsten Bett folgte.

„Guten Morgen, Bianca“, begrüßte der Professor die kleine Patientin. „Wie geht es dir heute?“

Sein fröhlicher Ton stand im Widerspruch zu der ausgezehrten Gestalt, die halb aufgerichtet in den Kissen lag. Trotzdem brachte Bianca es fertig, die Sauerstoffmaske abzunehmen und dem Professor die Hand hinzuhalten.

„Gut“, keuchte sie dabei. „Und Ihnen, Professor?“

Professor Hays lachte gutmütig. „Du kennst mich ja. Immer in Eile …“

Bianca wollte antworten, aber ein Hustenanfall hinderte sie daran. Während Ann ihr half, wieder zu Atem zu kommen, gab der Professor Lucinda die notwendigen Erklärungen.

„Bianca Moore“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Dreizehn Jahre alt, im Endstadium einer entzündlichen Fibrose. Herz und Lunge sind von den Wucherungen betroffen.“ Etwas Ähnliches hatte Lucinda bei dem Anblick des Mädchens vermutet. „Bianca steht auf der Warteliste für eine doppelte Transplantation. Bisher hat sie sich tapfer gehalten, aber ihr Zustand verschlechtert sich rapide.“

Ann legte die letzten Röntgenaufnahmen vor, anhand derer der Professor Biancas Zustand nun weiter erläuterte. Lucinda hörte aufmerksam zu und überprüfte gleichzeitig Biancas Bluttests.

„Zu viel Kalium“, stellte sie fest.

„Wir sind dabei, das zu korrigieren.“ Dr. Hughes nannte ein entsprechendes Medikament. Er tat es wie beiläufig, aber der feindselige Blick, der seine Worte begleitete, entging Lucinda nicht. Professor Hays sagte nichts. Er überließ es ihr, wie sie mit ihrer neuen Rolle zurechtkam.

„Dagegen ist nichts einzuwenden“, antwortete Lucinda ruhig, „aber der Kaliumanteil in Biancas Blut ist nicht nur erhöht, sondern gefährlich hoch. Sollte man sie nicht an einen Herzmonitor anschließen?“

Pete Hughes warf ihr einen vernichtenden Blick zu, aber sein Ton blieb freundlich. „Finden Sie nicht, dass sie bereits an genug Monitore angeschlossen ist? Ich habe mit Bianca gesprochen, und die Aussicht auf einen weiteren Monitor entmutigte sie sichtlich. Sie duscht gern und fürchtet um dieses kleine Vorrecht. Wir geben ihr, was sie braucht. Spätestens heute Abend müsste sich die Wirkung zeigen.“

Lucinda verstand ihn besser, als er vermuten konnte. Das Mädchen hatte genug durchgemacht. Ein Herzmonitor würde ihre geringe Bewegungsfreiheit, zu der auch das Duschen gehörte, weiter einschränken, aber ein guter Arzt durfte sich dadurch nicht beeinflussen lassen. Seine Aufgabe war es zu helfen – nicht, sich beim Patienten beliebt zu machen. Wenn Bianca sich über den Herzmonitor ärgerte, musste das in Kauf genommen werden.

Lucinda wandte sich an die Oberschwester: „Bitte schließen Sie Bianca an einen Herzmonitor an.“

„Selbstverständlich.“ Ann lächelte und machte sich eine entsprechende Notiz. Dann gab sie den Auftrag an eine jüngere Kollegin weiter, und innerhalb von Minuten wurde das Gerät neben Biancas Bett gerollt.

„Nur bis heute Abend“, tröstete Lucinda das enttäuschte Mädchen. Sie wusste, dass ein Tag in dem Alter ein ganzes Leben bedeutete.

Ann richtete Bianca auf und befestigte geschickt die roten Saugnäpfchen auf ihrer Brust. Die veränderte Haltung erlaubte ihr ein tieferes Durchatmen und gab ihr vorübergehend die Kraft zu sprechen.

„Wie heißen Sie?“, fragte sie Lucinda.

Lucinda richtete sich zu voller Größe auf. „Lucinda Chambers“, antwortete sie kühl.

Alle hielten vor Überraschung den Atem an. Lucindas Verhalten befremdete sie offensichtlich, nur Bianca schien nicht gekränkt zu sein.

„Sie sind nicht sehr nett“, stellte sie nüchtern fest.

Lucinda trat näher an das Bett heran und beugte sich zu Bianca hinunter, als wollte sie ihr ein Geheimnis mitteilen. „Ich mag nicht sehr nett sein“, flüsterte sie so laut, dass die Umstehenden es gerade noch verstehen konnten, „aber ich will einen guten Job machen.“

Zu ihrer Freude erzielte sie die gewünschte Wirkung. Bianca nickte und machte mit erhobenem Daumen das Siegeszeichen. Lucinda ahnte nicht, wie lieb ihr diese Geste noch werden würde.

Die Visite nahm kein Ende. Als sie die Herzstation absolviert hatten, ging es weiter durch die Korridore, allerdings ohne Jack Wells und Steve Hughes, die dringend zu Patienten gerufen wurden.

Die Intensivstation für Säuglinge war das nächste Ziel. Hier lagen vor allem zu früh Geborene, die gerade operiert worden waren oder es werden sollten. Lucinda sah aufmerksam in die Brutapparate, in denen die winzigen Wesen lagen. Die komplizierte Technik war ihr inzwischen vertraut, aber sie stellte sich immer wieder vor, wie sie auf die Eltern der Neugeborenen wirken musste.

Sue Washington begrüßte sie und stellte sich als diensthabende Schwester vor. „Dr. Doran ist leider verhindert“, meinte sie entschuldigend. „Daher müssen Sie mit mir vorlieb nehmen.“

Professor Hays erhob keine Einwände, und die Visite begann von Neuem.

„Andrew Doran ist Stationsarzt“, erläuterte Sue, die sich an Lucindas Seite hielt. „Sie werden ihn später kennenlernen. Er beschäftigt sich gerade mit einem kritischen Fall. Eine extreme Frühgeburt …“

„In welchem Monat?“, fragte Lucinda.

„Anfang des sechsten.“

Lucinda verzog vielsagend das Gesicht. „Und auf unserer Station. Das sieht wohl nicht gut aus?“

„Nein“, gab Sue Washington zu. „Kimberley Stewart ist fast mit jedem Problem auf die Welt gekommen, das man sich denken kann, und was noch fehlte, hat sie sich hier geholt. Sie ist gestern Abend wieder operiert worden, und ich kann sagen, dass uns ihr Herz momentan die geringsten Sorgen macht. Daraus können Sie ersehen, wie es um sie steht.“

„Entschuldigung, Sir.“ Jack Wells kam hinter ihnen hergelaufen. Sein Gesicht war gerötet, und er atmete schwer. „Ich wurde von Billy Carlisle aufgehalten.“

Der Professor runzelte die Stirn. „Wie geht es ihm?“

„Inzwischen wieder besser. Sein Asthma verschlimmert sich jedes Mal, wenn seine Mutter geht. Deshalb verlangt Gemma, dass man ihn in ein Einzelzimmer verlegt. Nichts könnte Billy mehr schaden, aber machen Sie das diesem Frauenzimmer mal klar!“

„Das genügt, Dr. Wells!“, erwiderte der Professor scharf. „Sie haben keinen Einblick in die Verhältnisse.“

Jacks Gesicht verfärbte sich noch mehr, und Lucinda ahnte, wie wütend er war.

„Mein Einblick reicht aus, um zu wissen, dass Mrs. Carlisle ihren Sohn schon jetzt zu viel allein lässt“, beharrte er. „Billy in ein Einzelzimmer zu verlegen würde seine Isolation verschlimmern. Jemand muss endlich mal ein Machtwort sprechen.“

Lucinda kannte Jack Wells erst seit wenigen Stunden, aber ihr war klar, dass er sonst nicht zu so temperamentvollen Auftritten neigte. Professor Hays schien genauso zu denken, denn er überhörte den ungebührlichen Ton.

„Ich weiß, dass Sie sich um Billy sorgen … wie wir alle“, erklärte er freundlicher. „Oberschwester Ann hat bereits versucht, mit Gemma zu sprechen, aber Sebastian ist unser Kollege … das macht die Situation schwierig.“ Er wandte sich an Lucinda. „Die Krankenhausatmosphäre schlägt Gemma aufs Gemüt. Sie glaubt, dass wir alle zu Sebastian halten, und regt sich entsprechend schnell auf. Das spürt Billy, und dann verschlimmert sich sein Asthma.“

Lucinda überlegte. Die Ehestreitigkeiten der Carlisles kümmerten sie wenig, aber da ihr Patient darunter litt, fühlte sie sich verantwortlich.

„Vielleicht sollte ich mit den Eltern sprechen“, schlug sie vor. „Ich verstehe, dass die persönliche Bekanntschaft mit Dr. Carlisle Ihnen allen Rücksichten auferlegt, aber ich bin neu hier und denke nur an meine Patienten. Wenn Billy unter den Streitigkeiten seiner Eltern leidet, muss das zur Sprache gebracht werden.“

„Wie Sie meinen.“ Der Professor wandte sich an Jack Wells. „Sind Mr. und Mrs. Carlisle noch bei Billy, Jack?“

Jack Wells nickte. „Gemma hat festgestellt, dass ein Einzelzimmer frei ist, und verlangt, dass Billy dort untergebracht wird.“

Professor Hays strich sich über den kahlen Kopf. „Vielleicht wäre es besser, wenn Sie gleich mit den Eltern sprechen, Lucinda. Wir setzen die Visite ohne Sie fort.“

Vor der Tür zu Billys Zimmer begegnete Lucinda einer empörten Ann Benton. „Ich soll Billy auf der Stelle verlegen“, schimpfte sie. „Ich habe versucht, Gemma davon zu überzeugen, dass Billy die anderen Kinder braucht, aber sie hört einfach nicht auf mich.“

Lucinda bemühte sich, objektiv zu bleiben. „Sie ist vermutlich erschöpft, und die Verspätung ihres Mannes hat ihr den Rest gegeben.“

Ann lachte höhnisch. „Ihres geschiedenen Mannes, und was heißt erschöpft? Sie kam erst fünf Minuten vor Beginn der Visite, und gestern war sie im Ganzen eine halbe Stunde da. Der arme Sebastian muss sich ständig zwischen seinen Patienten und seinem Sohn zerreißen.“

„Das ist sein Problem“, erklärte Lucinda, „aber Billys Reaktion darauf ist meins. Keine Sorge, Ann. Ich bin gekommen, um mit den beiden zu sprechen.“

Lucinda bediente sich keiner unnötigen Ausflüchte. „Ich würde gern mit Ihnen sprechen“, sagte sie zu Gemma und Sebastian, die ihr gespannt entgegensahen. „Im Büro der Oberschwester.“ Sie nickte Billy zu. „Es wird nicht lange dauern, das verspreche ich.“

Sie ging voran und setzte sich an Anns Schreibtisch. „Ich höre, dass Sie für Billy ein Einzelzimmer haben möchten“, begann sie, sobald Gemma und Sebastian sich ebenfalls hingesetzt hatten. „Darf ich fragen, warum?“

„Von mir aus kann er gern im großen Zimmer bleiben“, erwiderte Sebastian ruhig. „Gemma wünscht, dass er verlegt wird.“

„Natürlich gefällt es dir, wenn er im großen Zimmer bleibt“, fuhr Gemma auf ihren Exmann los. „Du bist ja so beliebt. Alle freuen sich, sobald du nur auftauchst.“ Sie wandte sich mit blitzenden Augen an Lucinda. „Ich dagegen stoße überall auf Feindschaft und Ablehnung. Ich weiß, wie heimlich über mich gesprochen wird. Schließlich ist Sebastian das Sorgerecht zugesprochen worden. Ich bin nur die Frau, die ihren Mann und ihr krankes Kind verlassen hat. Alle hassen mich.“

„Das tut bestimmt niemand“, widersprach Lucinda, aber Gemma blieb hartnäckig.

„Haben Sie eine Ahnung! Würde es Ihnen vielleicht gefallen, tagein und tagaus hier herumzuhocken und sich all die bösartigen Kommentare anzuhören? Sie wissen nicht, was es heißt, ein Kind zu haben … mit einem Loch im Herzen …“

Gemma hatte immer lauter gesprochen, und Lucinda schnitt ihr kurzerhand das Wort ab. „Sie haben recht. Ich weiß nicht, was es bedeutet, ein krankes Kind zu haben. Um ehrlich zu sein … ich weiß nicht einmal, wie ich damit zurechtkäme. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich Billys Asthma verschlechtert, wenn nicht einer von Ihnen bei ihm ist.“

„Er versucht, dadurch Aufmerksamkeit zu erregen“, sagte Gemma verächtlich. Sebastian schwieg und verdrehte nur die Augen.

Lucinda ließ sich nicht provozieren, obwohl Gemmas dumme Antwort sie insgeheim empörte. „Mrs. Carlisle“, begann sie von Neuem, „ich versichere Ihnen, dass Billy seine Asthmaanfälle nicht benutzt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie nehmen zwar zu, wenn Sie gehen, aber das hängt mit seiner Angst zusammen. Angst ist ein schlechter Begleiter bei so lebensgefährlichen Erkrankungen. Um auf Ihren Wunsch zurückzukommen … Ich persönlich bin dagegen, dass Billy in ein Einzelzimmer verlegt wird. Er ist ein aufgeweckter Junge und weiß, dass die Einzelzimmer für ganz schwere Fälle bestimmt sind. Jede Form von Isolation würde ihn zusätzlich belasten. Kinder brauchen Gesellschaft, auch wenn sie nur darin besteht, dass sich der Patient im Nachbarbett mittags über den Eintopf beschwert.“

Gemma wollte widersprechen, aber Lucinda gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt. „Wenn eine Verlegung allerdings bedeuten würde, dass Sie Billy mehr Zeit widmen, könnte man über Ihren Wunsch nachdenken.“

Gemma wollte sofort antworten, aber Lucinda war noch nicht fertig. „Stimmt es, dass Sie in dieser Woche Bereitschaftsdienst haben?“, wandte sie sich an Sebastian Carlisle.

Dieser nickte.

„Sie können sich also nicht immer um Billy kümmern?“

„Ich habe dienstfrei, wenn er operiert wird. Dann kann ich bei ihm bleiben.“

Lucinda nickte und versuchte zu überhören, wie tief und voll Sebastians Stimme klang.

„Also, Mrs. Carlisle … denken Sie darüber nach. Im Übrigen verspreche ich Ihnen, dass ich mich bei den Mitarbeitern umhören werde. Ich hoffe, dass Sie sich irren, aber wenn Ihre Vermutung zutrifft und Sie wirklich feindselig behandelt werden, muss etwas geschehen. Sie haben genug zu tragen und können auf unnötige Schikane verzichten.“

Gemma sah Lucinda überrascht an. Dass jemand ihre Partei ergreifen würde, schien sie am wenigsten erwartet zu haben. „Ich irre mich nicht“, beteuerte sie noch einmal.

„Dann werde ich mit den Mitarbeitern sprechen.“

„Danke.“ Gemma war einigermaßen besänftigt.

„Trotzdem bitte ich Sie, noch einmal über meine Worte nachzudenken. Ich bin fest überzeugt, dass Billy in einem Mehrbettzimmer besser aufgehoben ist, aber die Entscheidung liegt bei Ihnen.“

„Ich werde darüber nachdenken“, versprach Gemma und stand mit einem Blick auf Sebastian auf. „Ich trinke jetzt in der Kantine eine Tasse von dem schlechten Kaffee und teile dir anschließend meine Entscheidung mit.“

Sebastian lächelte gequält. „Wie du meinst, Gemma.“

„Ich muss mich bei Ihnen bedanken, Miss Chambers“, sagte Sebastian, sobald Gemma das Zimmer verlassen hatte. Dabei sah er Lucinda mit seinen leuchtend grünen Augen an. „Vor zehn Minuten war Gemma noch drauf und dran, Billys Bett eigenhändig ins Nebenzimmer zu rollen. So weit würde sie jetzt nicht mehr gehen.“

Lucinda lächelte. „Ich wusste nicht, dass Sie das alleinige Sorgerecht für Billy haben. Das muss eine große Belastung sein.“

Sebastian erwiderte das Lächeln, ohne dadurch etwas von seinen Gefühlen zu verraten. „Es kann eine Belastung sein, aber die glücklichen Augenblicke überwiegen bei Weitem.“ Dann wechselte er unvermittelt das Thema. „Gemma ist nicht ganz im Unrecht. So gut unser Pflegepersonal auch geschult ist … die meisten der Leute begegnen ihr mit Reserviertheit. Unsere Scheidung spricht hier allgemein gegen sie, zumal man sie für allein schuldig hält. Das Krankenhaus ist meine Welt. Gemma hat das Pech, sich darin zurechtfinden zu müssen. Natürlich spürt sie, dass man zu mir hält und sie zur Rabenmutter abstempelt.“

Lucinda dachte über Sebastians Worte nach und bewunderte seine Fairness gegenüber seiner Exfrau, zumal man Gemma beim besten Willen nicht als sympathisch bezeichnen konnte.

„Falls Sie recht haben, müssen die Leute lernen, ihre Meinung für sich zu behalten“, sagte sie nachdrücklich. „Sie sind nicht nur für Billy, sondern für alle Carlisles verantwortlich. Gemma verdient dieselbe Rücksichtnahme wie Sie.“

„Ich bin ganz Ihrer Meinung.“

Lucinda entspannte sich etwas. Sebastian gab sich offensichtlich Mühe, diese schwierige Situation irgendwie zu meistern.

„Könnten Sie nicht Ihren Jahresurlaub nehmen, um mehr Zeit für Billy zu haben?“, fragte sie.

Sebastian schüttelte den Kopf. „Ich habe sogar schon mehr Tage in Anspruch genommen als mir zustehen. Ich wollte sogar schon unbezahlten Urlaub einreichen – aus familiären Gründen, wie es so schön heißt –, aber die meisten meiner Kollegen sind Opfer der Grippewelle geworden, sodass ich erst nach Billys Operation zwei Wochen freinehmen kann. Bei allem darf ich die Notfälle nicht vergessen. Gestern Abend wurden zum Beispiel zwei Patienten mit Blinddarmdurchbruch und akuter Dickdarmentzündung eingeliefert, und heute Morgen war es ähnlich. Wie soll ich mich in solchen Fällen verhalten? Es ist kein Wunder, dass Gemma sich allein gelassen fühlt.“

Autor

Carol Marinelli
<p>Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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