Wenn in Florenz die Weihnachtsglocken läuten

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Obwohl Alysa ihn kaum kennt, folgt sie dem attraktiven Drago di Luca in seine prächtige Villa nach Florenz. Und bereut ihre Entscheidung keine Sekunde lang. Schon freut sich Alysa auf das nahende Weihnachtsfest an seiner Seite, da tauchen dunkle Wolken am Glückshimmel auf …


  • Erscheinungstag 26.11.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501514
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Fröhlich funkelten die Lichter am über und über mit Lametta geschmückten, winzigen Plastikweihnachtsbaum – ein größerer hätte nicht in das moderne kleine Apartment gepasst.

Alysa liebte die elegante, teure Wohnung, die sie sich dank einer steilen Karriere hatte leisten können. Doch heute spürte sie zum ersten Mal, dass etwas fehlte. Und ich weiß auch was, dachte sie und legte sich die Hand auf den Bauch: ein Kinderzimmer. Zum Glück war James’ Wohnung größer. Wenn er von dem Baby erfuhr, würde er die bisher nur vagen Heiratspläne bestimmt vorantreiben. Noch am selben Abend wollte sie ihm von der Schwangerschaft berichten.

Alle Vorbereitungen dafür waren getroffen, nur eine Kleinigkeit hatte gefehlt: eine Figurengruppe, die Alysa heute auf dem Heimweg im Überschwang der Gefühle spontan gekauft hatte – Maria, über die Krippe gebeugt, liebevoll ihr Neugeborenes betrachtend.

Vorsichtig stellte Alysa sie neben das Bäumchen, damit der Schein der Lichter auf das Gesicht des Kindes fiel. Es blickte lächelnd zu seiner Mutter auf – sicher ein gutes Omen!

Wo blieb James nur? Jetzt war er schon eine Stunde überfällig. Jede Sekunde mit ihm war ihr teuer, so sehr liebte sie ihn. Er kam bestimmt gleich!

Zum hundertsten Mal vergewisserte sie sich, dass alles perfekt aussah, sie selbst eingeschlossen. Das lange Haar trug sie heute offen und nicht wie sonst zu einem strengen Knoten zusammengefasst. Schon lange spielte sie mit dem Gedanken, es abschneiden zu lassen, weil sie dann in ihrem Job als Anlageberaterin seriöser wirken würde, doch sie hatte sich bisher nicht dazu durchringen können, denn ihr dichtes braunes Haar mit den tizianroten Strähnen, das ihr bis zur Taille reichte, war das Schönste an ihr. Für eine Frau hatte sie, wie sie fand, zu herbe Gesichtszüge, außerdem meinte sie, zu groß und zu dünn zu sein, auch wenn ihre Freundinnen sie um ihre angebliche Modelfigur beneideten.

Am Tag ihrer ersten Begegnung mit James hatte sie es ungebändigt gelassen.

„Dein Haar hat mich von Anfang an so fasziniert, dass ich den Blick einfach nicht mehr davon abwenden konnte“, hatte er ihr später gestanden.

Und jedes Mal, wenn sie sich für die Arbeit ein schlichtes Kostüm anzog und für die strenge Frisur entschied, runzelte er die Stirn.

„Im Job muss ich geschäftsmäßig aussehen“, erinnerte sie ihn dann liebevoll. „Nur für dich trage ich es anders!“

Einmal hatte sie, ohne ihn vorher zu fragen, ein paar Zentimeter abschneiden lassen. Daraufhin war er richtig böse geworden, und sie hatten am Ende gestritten, wie sie sich jetzt lächelnd erinnerte.

Heute hatte sie sich zurechtgemacht, wie er es liebte. Zu einem figurbetonten, sexy Kleid trug sie das Haar offen, sodass er mit den Fingern darin spielen und das Gesicht in die duftende Fülle schmiegen konnte. Sicher würden sie bald zusammen ins Bett gehen, und wenn sie endlich in seinen Armen lag, wollte sie ihm ihr wunderbares Geheimnis verraten.

Wo blieb er nur?

1. KAPITEL

Die kalte Februarsonne tauchte den Schauplatz des schrecklichen Unfalls in den italienischen Apenninen in strahlend helles Licht. Vor einem Jahr hatten hier fünfzehn Menschen bei einem Seilbahnunglück ihr Leben verloren.

Heute hatten sich die Angehörigen an dieser Stelle versammelt, um ihrer Lieben zu gedenken. Einige blickten zu dem neu errichteten Sessellift über dem Wasserfall, der über schroffe Felsen in die Tiefe stürzte. Die Andacht wurde mit Rücksicht auf die ausländischen Gäste sowohl auf Englisch als auch auf Italienisch abgehalten.

„Lasst uns ihrer mit Stolz und Freude erinnern, dankbar, dass wir sie kennen durften …“

Dann war alles vorbei. Einige Leute gingen, andere verweilten in stillem Gebet.

Alysa blieb länger als die meisten, denn sie wusste nicht, was sie sonst anfangen und wohin sie gehen sollte. Etwas tief in ihrem Innern hielt sie hier fest.

Da trat ein junger Journalist mit einem Mikrofon in der Hand zu ihr und sprach sie auf Italienisch an. Als er ihre verständnislose Miene bemerkte, wechselte er schnell ins Englische.

„Darf ich fragen, warum Sie hier sind? Haben Sie auch jemanden bei dem Unglück verloren?“

Einen verrückten Moment lang wollte sie ihr Leid herausschreien: „Ich trauere um einen geliebten Mann, der mich betrogen und verlassen hat, und um unser ungeborenes Baby, von dem er noch nichts wusste. Er ist hier gemeinsam mit seiner Geliebten gestorben. Sie hatte Mann und Kind, aber sie hat diese ebenso hintergangen wie er mich. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum ich hierhergekommen bin. Ich weiß nur, dass ich es tun musste.“

Ein Jahr lang hatte sie ihre Trauer mit niemandem geteilt und ihr Elend und ihre Einsamkeit vor aller Welt verborgen, aus Angst, sich sonst in ihrem abgrundtiefen Kummer und Zorn völlig zu verlieren und sich nicht mehr kontrollieren zu können.

„Nein. Ich war nur neugierig.“

Der sympathische Reporter seufzte enttäuscht. „Dann können Sie mir also nichts berichten? Keiner will mit mir sprechen, und der Einzige, den ich kenne, ist Drago di Luca.“

Bei der Erwähnung dieses Namens zuckte sie zusammen. „Ist er hier?“

„Das ist der finster dreinblickende Herr da drüben.“

Sie sah in die angegebene Richtung. Der Mann strahlte etwas Düsteres aus. Doch es lag nicht an seinem Äußeren, nicht an seinem Haar, das ebenso dunkel war wie seine durchdringend blickenden Augen. Es schien von Innen herauszukommen. Alysa schauderte.

Er hatte ein kantiges Gesicht mit einer markanten Nase und einer ausgeprägten Kinn- und Wangenpartie, und sein Blick hatte, selbst auf diese Entfernung erkennbar, etwas Wildes an sich, das sich jede Annährung verbat.

„Dem möchte man lieber nicht in die Quere kommen, oder?“, murmelte der Journalist. „Aber er hat auch allen Grund zu seinem Groll. Seine Frau starb hier, und es heißt, sie habe ihn kurz vorher verlassen.“

Einen Moment lang suchte Alysa nach Worten. „Ist das nur ein Gerücht, oder gibt es dafür Anhaltspunkte?“

„Sie war Rechtsanwältin und – offiziell – unterwegs zu Mandanten. Di Luca zerreißt jeden in der Luft, der etwas anderes zu behaupten wagt.“

Sie sah noch einmal zu dem stattlichen, kräftigen Mann hinüber. Er hatte breite Schultern und große Hände. „Er wirkt tatsächlich Furcht einflößend.“

„Er gehört zu den einflussreichsten Männern von Florenz und ist ein renommierter Bauunternehmer, der schon viele Großprojekte abgewickelt hat, Neubauten genauso wie die Restaurierung alter Gebäude. Als jemand vorschlug, er solle für den Stadtrat kandidieren, hat er nur gelacht. Er besitzt so viel Einfluss auf das Gremium, dass er es nicht nötig hat, seine Zeit in den Sitzungen zu verschwenden. Alle wichtigen Persönlichkeiten in der Umgebung hören auf ihn, und er kann seine Beziehungen spielen lassen, wie es ihm gefällt.“

Sie warf einen letzten Blick auf Drago und bemerkte überrascht, dass er sie ebenfalls ansah. Das konnte nicht sein! Einen Moment lang schienen alle Geräusche um sie her verstummt, und sie hatte das Gefühl, dass er ihr etwas sagen wollte.

„Ich muss jetzt los“, verabschiedete sie sich nervös von dem Reporter.

Während sie zum Ausgang ging, ließ sie Drago di Luca nicht aus den Augen. Sein Gesicht war ihr von ihren Recherchen her vertraut.

Beim letzten Gespräch mit James war ihm der Name seiner Geliebten ungewollt entschlüpft: Carlotta. Drei Wochen später hatte die Tragödie Schlagzeilen gemacht, und Alysa hatte aus der Zeitung von seinem Tod erfahren. Auf der Liste der Opfer war auch eine Signora Carlotta di Luca aufgeführt, eine vielversprechende junge Anwältin. Im Internet hatte Alysa dann etliche reich bebilderte Artikel über sie gefunden.

Die dunkelhaarige und offenbar lebhafte Frau war nicht wirklich schön gewesen, hatte aber das gewisse Etwas gehabt. Ein Familienfoto zeigte ein etwa vier Jahre altes Mädchen, Carlottas Tochter, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, und den Mann der Verunglückten. Er musste etwa Ende dreißig sein und blickte mit undurchdringlicher Miene in die Kamera.

War er vielleicht brutal gewesen und hatte seine Frau mit seiner Härte in die Arme eines anderen und damit in den Tod getrieben? Jetzt, da Alysa ihn persönlich sah, erschien ihr der Gedanke nicht abwegig.

Im Internet hatte es auch detaillierte Berichte über den Unfall gegeben, die in keiner Zeitung erschienen gewesen waren, mit schockierenden Bildern, von skrupellosen Sensationsjägern aufgenommen. Auf einem davon hatte sie James erkannt – an seiner Jacke. Er befand sich noch in dem Sessel, Arm in Arm mit der Geliebten!

Doch das war Vergangenheit und vorbei. Denk nicht mehr daran! ermahnte sie sich selbst.

Eines Nachts, bei einer ihrer nächtlichen Nachforschungen, hatte Alysa stechende Bauchschmerzen bekommen. Dann war alles zu schnell passiert, um noch Hilfe zu holen. Sie hatte sich ins Bad geschleppt und war dort ohnmächtig zusammengebrochen. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie ihr Baby bereits verloren.

Im Nachhinein war sie froh, sich niemandem anvertraut zu haben. So hatte sie ganz still trauern können – doch sie hatte keine Träne vergossen. Nacht für Nacht hatte sie allein im Dunkeln gelegen, ins Nichts gestarrt, und ihr Herz war wie versteinert.

Vielleicht ist das gut so, hatte sie gedacht. Wenn sie jetzt nicht weinte, würde sie es nie wieder tun. Wer nichts liebte, nichts fürchtete, sich für nichts interessierte, der musste sich auch um nichts sorgen!

Dann hatte sie begonnen, ihr Leben umzukrempeln. Sie hatte einige hochmodische, teure Hosenanzüge erworben und ihr herrliches Haar abschneiden lassen. Der jungenhafte Look verlieh ihr eine elegante Note, doch das war nicht der Grund für ihre Entscheidung. Sie wollte alles hinter sich lassen und neu durchstarten.

Auch ihre Gesichtszüge hatten sich, von ihr unbemerkt, verändert. Sie waren nun meist streng und angespannt. Lediglich die großen Augen, jetzt ihr schönstes Attribut, verliehen ihr etwas Sanftes.

Sie verfolgte ihre Karriere von diesem Zeitpunkt an so verbissen, dass in ihrer Firma schon bald von einer „Partnerschaft“ gemunkelt wurde. Schon ein Jahr nach James’ Tod war sie einen großen Schritt vorangekommen. Und doch …

Langsam ging sie am Wasser entlang und überlegte. Warum war sie eigentlich hier? Warum hatte sie ihn immer noch nicht vergessen?

Weil sein Geist sie ständig verfolgte. Sie hatte vorgehabt, ihn an diesem Ort zu vertreiben – vergeblich.

„Lass mich endlich in Ruhe“, wisperte sie verzweifelt und schloss die Augen.

Doch alles blieb still. Er war nicht hier, und sogar seine Abwesenheit quälte sie.

Unter einem großen Baum war eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer aufgestellt worden. James’ Name stand ganz unten. Sie kniete sich hin und berührte den kalten Stein mit den Fingerspitzen. Näher würde sie ihm nie mehr sein.

Jemand sprach sie auf Italienisch an.

Erschrocken drehte sie sich um. Drago di Luca ragte vor ihr auf. Aus dieser Perspektive wirkte er riesig und bedrohlich.

„Ich bin Engländerin – Inglese!

„Ich habe gefragt, ob Sie den Mann kannten.“

„Ja“, gestand sie zögernd.

„Gut?“

„Ja, sehr gut sogar. Warum wollen Sie das wissen?“

„Alles, was ihn betrifft, interessiert mich!“

Sie erhob sich, um ihn besser ansehen zu können. „Weil er mit Ihrer Frau durchgebrannt ist?“

Erschrocken rang er nach Luft und sah sie wütend an.

„Wenn Sie das wissen …“

„James Franklin war mein Verlobter. Er hat mich wegen Carlotta verlassen.“

„Was hat er Ihnen sonst noch erzählt?“

„Nichts. Ihr Name ist ihm versehentlich entschlüpft. Aber nach dem Unglück …“

„Ja.“ Er atmete schwer. „Danach kamen alle Details ans Licht.“

Andere Trauernde wollten zu der Gedenktafel, also trat Alysa zur Seite. Sofort nahm er einfach ihren Arm und dirigierte sie von der Stelle weg.

„Lieben Sie ihn noch immer?“ Seine Stimme klang schneidend.

Seltsamerweise ärgerte sie sich nicht über die Frage. Schließlich saßen sie beide im selben Boot.

„Ich weiß nicht. Inzwischen sollte ich darüber hinweg sein – doch irgendwie …“

Er nickte nur.

Dass dieser Fremde sie so vollkommen verstand, war ihr ein bisschen unheimlich.

„Sind Sie auch deswegen hier?“

„Zum Teil. Aber auch wegen meiner Tochter.“ Er wies auf ein Kind, das in einiger Entfernung mit einer älteren Dame sprach. Es war dasselbe Mädchen wie auf dem Foto, allerdings inzwischen etwas älter.

Die beiden gingen nun zu der Gedenktafel, und die Kleine legte dort einen Blumenstrauß nieder. Dann sah sie auf, bemerkte ihren Vater und lief lächelnd zu ihm. „Papà!“ Sofort bückte er sich und hob sie auf den Arm.

Alysa schloss gequält die Augen und drehte sich rasch zur Seite, sodass sie das Kind nicht mehr sehen würde, wenn sie sie wieder öffnete. Der Anblick erinnerte sie zu sehr an ihr Baby. Doch im Lauf der Monate hatte sie eine Technik entwickelt, mit schmerzlichen Gefühlsaufwallungen umzugehen. Und so war sie schon bald wieder in der Lage, sich umzudrehen und beinahe natürlich zu lächeln. Allerdings nur solange sie das Kind nicht ansah.

Drago betrachtete das kleine Mädchen in seinen Armen liebevoll, und Alysa bemerkte, wie weich seine Gesichtszüge dabei wirkten.

Dann stellte sich die ältere Frau vor: „Ich bin Signora Fantoni, und das ist meine Enkelin Tina.“

„Ich heiße Alysa Dennis.“

Tina hatte die Engländerin neugierig gemustert. Nachdem ihr Vater sie abgesetzt hatte, ging sie sofort zu Alysa, reichte ihr die Hand und begrüßte sie langsam und sorgfältig auf ihre Worte bedacht auf Englisch: „Guten Tag, Madam.“

„Guten Tag!“

„Wir sind wegen meiner Mutter hier. Hast du auch jemanden gekannt, der hier gestorben ist?“, fragte sie altklug.

Drago schnappte erschrocken nach Luft, und auf einmal wusste Alysa, wovor er Angst hatte.

„Ja, das habe ich.“

Eine kleine Hand schob sich in Alysas.

„Hast du diesen Menschen sehr geliebt?“ Das Mädchen sprach sanft und voller Mitgefühl.

„Ja. Bitte verzeih mir, aber ich kann jetzt nicht darüber reden.“

Drago entspannte sich sichtlich, da sie seiner Tochter nichts enthüllt hatte, was sie nicht wissen sollte.

Tina nickte verständnisvoll und drückte Alysas Hand.

„Wir sollten jetzt fahren“, sagte Drago in diesem Moment.

„Ich muss auch los.“

„Nein!“ Das kam so bestimmt, dass alle ihn überrascht ansahen. Erklärend fügte er hinzu: „Ich wollte Sie bitten, mit uns zu Abend zu essen.“

Seine Schwiegermutter runzelte die Stirn. „Aber das ist doch eine Familienangelegenheit …“

„Wir sind alle eine Familie von Trauernden“, widersprach Drago. „Signorina, bitte leisten Sie uns Gesellschaft. Eine Absage lasse ich nicht gelten.“ Er strich seiner Tochter über das Haar. „Geh schon einmal mit nonna zum Auto vor.“

Signora Fantonis Blick sprach Bände, aber Drago ließ sich nicht umstimmen, und so nahm sie ihre Enkelin an der Hand und wollte mit ihr davongehen.

Papà, du kommst doch auch?“, fragte Tina ängstlich.

„Natürlich“, beruhigte er sie.

Erleichtert ließ sie sich daraufhin von ihrer Großmutter wegführen.

„Seit dem Tod ihrer Mutter hat sie manchmal Angst, dass auch ich plötzlich verschwinde“, erklärte er.

„Die arme Kleine. Wie wird sie damit fertig?“

„Nur schwer. Sie hing sehr an ihrer Mutter. Vielen Dank, dass Sie ihr nichts erzählt haben. Ich hätte Sie warnen sollen.“

„Das war doch selbstverständlich. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie ihr nicht alles gesagt haben.“

„Gar nichts. Sie weiß nicht, dass Carlotta uns verlassen hatte. Sie glaubt, ihre Mutter hätte Mandanten besucht und auf dem Heimweg beim Wasserfall einen Zwischenstopp eingelegt. Ich möchte nicht, dass sie etwas anderes erfährt, bevor sie älter ist.“

„Die meisten Mütter hätten ihr Kind mitgenommen.“

„Nicht Carlotta, und das darf Tina nie erfahren. Selbst meine Schwiegermutter hat keine Ahnung. Warum sollte ich sie verletzen, indem ich ihr die Wahrheit sage?“

„Dann ist es aber auch besser, wenn ich nicht mit Ihnen komme.“

„Keineswegs, ich vertraue Ihnen. Sie verstehen die Situation. Gehen wir?“

Plötzlich war Alysa alarmiert. Dieser Mann war eine Gefahr für ihren Seelenfrieden. Sie sollte besser davonlaufen und das nächste Flugzeug nach England nehmen.

„Es tut mir leid, ich kann Ihre Einladung nicht annehmen. Ich muss nach Hause.“

„Erst wenn wir uns ausführlich unterhalten haben!“

Allmählich wurde sie wütend.

„So nicht! Obwohl wir uns gerade erst kennengelernt haben, wollen Sie mich herumkommandieren! Ich gehe jetzt.“

Sie drehte sich um, aber er packte ihren Arm.

„Wagen Sie es nicht!“, fuhr sie ihn an. „Lassen Sie mich sofort los!“

Er ignorierte jedoch ihre Aufforderung.

„Gerade erst kennengelernt! Das sollten Sie doch besser wissen.“

In der Tat. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag in den Magen. Das schmerzliche Geheimnis, das sie beide teilten, hatte vom ersten Moment an eine enge Verbindung zwischen ihnen hergestellt und sie wie durch eine gläserne Wand vom Rest der Welt getrennt.

„Sie wussten genau, wer ich bin, als Sie mich vorhin beobachtet haben“, fuhr er fort.

„Ja.“

„Woher?“

„Ich musste etwas über die Frau erfahren, deretwegen James mich verlassen hat. Also habe ich im Internet nach ihr gesucht und bin dabei auch auf Sie gestoßen.“

„Das verstehe ich. Mir ging es genauso, nur hatte ich keinerlei Anhaltspunkt. Ich wusste nur seinen Namen, aber der brachte mich nicht weiter. Können Sie sich vorstellen, wie das für mich ist? Sie haben Antworten auf einige Ihrer Fragen erhalten, ich kenne keine einzige. Hier drinnen“, er deutete auf seine Stirn, „ist ein schwarzes Loch, mit dem ich seit einem Jahr lebe.“

„Glauben Sie mir, das Gefühl ist mir vertraut!“

„Das kann nicht sein! Ursache meiner Qualen ist die Ungewissheit. Sie wissen bereits eine ganze Menge – ich dagegen weiß nichts, und das macht mich noch verrückt.“ Er schauderte, dann fasste er sich wieder. „Sie sind der einzige Mensch, der mir weiterhelfen kann. Wenn Sie also glauben, ich ließe Sie ziehen, ohne … ohne …“

Seine harsche Art war einschüchternd, aber Alysa spürte die Verzweiflung und Angst unter seiner harten Schale, und ihr Ärger verflog schlagartig. Dass er sich schlecht benahm, war jetzt nicht wichtig. Er sah seine letzte Hoffnung schwinden und setzte alles daran, das zu verhindern.

Er lockerte den Griff um ihren Arm. „Bitte! Wir müssen miteinander reden. Das wissen Sie doch auch!“

Sie wollte widersprechen, aber seinem Flehen konnte sie nichts entgegensetzen.

„Ja, das müssen wir“, gab sie zögernd nach.

Warum sollte sie auch fliehen? Sicherheit gab es nirgends, und tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie hierhergekommen war, um diesen Mann zu treffen und von ihm all das zu erfahren, was sie nicht wirklich wissen wollte.

„Dann lassen Sie uns gehen.“

„Erst wenn Sie mich loslassen. Ich komme nur mit, wenn Sie mich nicht wieder bedrängen.“

Langsam gab er sie frei, behielt sie aber fest im Auge. Seine Nervosität rührte sie sehr, denn er schien ebenso verzweifelt wie sie selbst.

Als Drago und Alysa wenig später auf seine Limousine zusteuerten, wurden sie dort von Tina und ihrer Großmutter erwartet.

Drago bot seiner Schwiegermutter den Beifahrersitz an, er selbst stieg mit Alysa und dem Kind hinten ein.

„Wir brauchen circa eine Stunde“, erklärte er. „Wir leben etwas außerhalb von Florenz. Wo wohnen Sie?“

Sie nannte ihm ihr Hotel in der Innenstadt, und er nickte. „Das kenne ich. Ich werde Sie später hinbringen.“

Den größten Teil der Fahrt sah sie schweigend aus dem Fenster. Die Strecke führte zwischen sanften Hügeln hindurch, vorbei an vielen bekannten malerischen Weinorten, die wie an einer Perlenkette aufgereiht zu beiden Seiten der Straße lagen. Dann wurde die Gegend flacher, und Florenz kam in Sicht.

Einmal sah sie zu Drago hinüber, doch er hatte nur Augen für seine Tochter, die sich zufrieden an ihn schmiegte. Bereitet ihm Tinas große Ähnlichkeit mit der Mutter Probleme? fragte sie sich.

Dann durchquerten sie Florenz. Über idyllische Landstraßen ging es weiter, bis sie kurz vor einem Dorf in eine von Pappeln gesäumte Allee bogen. Nach etwa fünfhundert Metern tauchte vor ihnen eine große dreistöckige Villa in einem gepflegten Park auf.

Ohne viel von italienischer Architektur zu verstehen, erkannte Alysa doch den ausgezeichneten Zustand, in dem sich das einige Jahrhunderte alte Gebäude befand – der Bauherr und Restaurator kümmerte sich demzufolge gründlich um sein Heim.

Der Chauffeur setzte sie vor dem großen Eingangsportal ab. Dann gingen sie in eine große Halle mit Gewölbedecke, Deckenmalereien und bunten Mosaiken an den Wänden – alles war sehr beeindruckend, aber auch kalt. Die daran anschließenden Räume wirkten umso freundlicher, und als sie schließlich den Salon betraten, staunte Alysa.

Wohin ihr Blick fiel, begegnete ihr Carlottas Gesicht. Auf einem Tisch stand ein großes Bild von ihr allein, ein anderes zeigte sie mit Tina auf dem Arm, ein weiteres mit der ganzen Familie. Überall im ganzen Raum waren Fotos von ihr verteilt, dazu Erinnerungsstücke, die das Kind sofort ausführlich erläuterte.

Die Kleine verhielt sich wie eine perfekte Gastgeberin, war freundlich und erwies sich als ausgesprochen intelligent. Unter anderen Umständen wäre Alysa entzückt von ihr gewesen. Als schließlich das Essen serviert wurde, forderte das Mädchen Alysa auf, sich neben sie zu setzen.

„Woher sprichst du so gut Englisch?“, erkundigte Alysa sich.

„Meine Mutter hat es mir beigebracht. Sie war zwei…“

„Zweisprachig“, vollendete Drago den Satz für sie. „Sie hatte viele englische Kunden, genau wie ich. Daher beherrschen wir beide Sprachen, und Tina lernt sie gleichzeitig.“

„Kannst du Italienisch?“, wollte das Mädchen jetzt wissen.

„Kaum.“ Alysa hielt den Blick fest auf ihren Teller gerichtet, um sie nicht ansehen zu müssen. „Ich habe bei meinen Nachforschungen über eine Person im Internet ein paar Worte gelernt.“

„Eine italienische?“

„Ja.“

„Ging es dabei um eine von heute?“

„Tina“, unterbrach Drago sie freundlich, „sei nicht so neugierig. Das ist unhöflich.“

Die Kleine entschuldigte sich zwar, aber Alysa erkannte, dass sie noch nicht zufrieden war. Nur zu gut verstand sie jetzt, warum Drago so fest entschlossen war, sie unbedingt zu beschützen.

So würde ich auch für mein Kind kämpfen, dachte sie. Dann konzentrierte sie sich auf den Nachtisch, der gerade serviert wurde.

2. KAPITEL

Im Verlauf des Dinners waren Alysa die enormen Spannungen aufgefallen, die zwischen Drago und seiner Schwiegermutter herrschten. Elena beachtete ihn so wenig wie möglich und erzählte die ganze Zeit von Carlotta, die anscheinend eine perfekte Tochter, Mutter und Ehefrau gewesen war. Offenbar hatte sie keine Ahnung von der Wahrheit, oder sie verdrängte sie zugunsten einer erträglicheren Version.

„Die Mandanten meiner Tochter waren so rücksichtslos, Signorina Dennis. Wenn sie nicht auf ihren Besuch gedrängt hätten, wäre sie heute noch am Leben.“

„Könnten wir bitte das Thema wechseln“, unterbrach Drago sie unvermittelt. „Mir wäre es lieber, wenn Tina jetzt nicht mehr daran denkt.“

„Das wirst du kaum verhindern können. Schließlich waren wir heute am Unglücksort. Und morgen findet der Gedenkgottesdienst auf dem Friedhof statt …“

Alysa bemerkte, wie Tina die Lippen fest zusammenpresste, um nicht zu weinen. Schnell streckte sie die Hand aus. Das Mädchen griff danach und schenkte ihr ein zittriges Lächeln, das Alysa erwiderte – ebenso zittrig, wie sie fürchtete. Das Ganze wurde schwerer, als sie gedacht hatte, und der schlimmste Teil des Abends stand ihr noch bevor.

Nach dem Kaffee, der im Salon serviert wurde, wandte Elena sich an das Kind. „Du siehst müde aus, und morgen wird ein anstrengender Tag. Zeit fürs Bett.“

Sie reichte ihr die Hand, und Tina ergriff sie gehorsam, fragte aber gleichzeitig ihren Vater: „Kommst du mir Gute Nacht sagen, papà?“ Sie sah ihn bittend an.

„Heute nicht, dein papà ist beschäftigt“, wies ihre Großmutter sie zurecht.

Doch Drago widersprach. „Ich komme jetzt gleich mit nach oben.“

„Das ist nicht nötig, ich habe alles im Griff. Du solltest dich um deinen Gast kümmern.“

„Ich kann mich gut eine Weile selbst beschäftigen“, erklärte Alysa. „Gehen Sie nur mit Tina.“

Drago warf ihr einen dankbaren Blick zu und verließ den Salon mit den anderen.

Als er verschwunden war, betrachtete sie die vielen Fotos im Salon eingehend. Auf einem Bild lächelte Carlotta strahlend, und Alysa fragte sich, ob James sich in dieses Lächeln verliebt hatte.

Dann hörte sie Schritte, und einen Moment später war Drago wieder bei ihr.

„Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Dort muss ich nicht ständig Carlottas Konterfei ansehen.“

Sein Büro war streng, ordentlich und funktionell eingerichtet. Auf einem modernen Schreibtisch standen verschiedene Geräte, eins davon ein Computer, andere kannte Alysa nicht, aber alle entsprachen offensichtlich dem letzten Stand der Technik.

Autor

Lucy Gordon
<p>Die populäre Schriftstellerin Lucy Gordon stammt aus Großbritannien, bekannt ist sie für ihre romantischen Liebesromane, von denen bisher über 75 veröffentlicht wurden. In den letzten Jahren gewann die Schriftstellerin zwei RITA Awards unter anderem für ihren Roman „Das Kind des Bruders“, der in Rom spielt. Mit dem Schreiben erfüllte sich...
Mehr erfahren