Wetten, dass!

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Völlig verblüfft über dieses Chaos kann Owen Rancourt erst gar nichts sagen. Nur eins ist ihm sonnenklar: Olivia Ashfield muss noch viel lernen, um eine tüchtige Arbeitskraft zu werden. Eigentlich hat er gar nicht die Zeit, sich mit solchen Problemen herumzuschlagen - trotzdem wird er sie nicht entlassen. Olivia ist die schönste Frau, die er jemals gesehen hat! Er ahnt nicht, dass seine Traumfrau anfangs nur aus einem Grund nach Danby gekommen ist: Die Millionenerbin will eine Wette gewinnen! Ihr Bruder Brad glaubt nicht, dass sie, die noch nie einen Handschlag getan hat, sich acht Wochen lang ohne fremde Hilfe über Wasser halten kann. Dass Olivia mittlerweile aus einem ganz anderen Grund bei Owen bleibt, wagt sie sich noch nicht einmal selbst einzugestehen …


  • Erscheinungstag 13.01.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733754990
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Olivia war eine schlechte Verliererin. Sie konnte einfach nicht verlieren, egal unter welchen Umständen. Aber am schlimmsten war es bei Wetten gegen einen ihrer vier älteren Brüder, die sie regelmäßig fast in den Wahnsinn trieben.

Immerhin hatte sie dadurch schon früh gelernt, sich zu behaupten. Jetzt war sie vierundzwanzig und musste keinen Wasserbomben mehr ausweichen oder vor dem Schlafengehen Kriechtiere aus dem Bett entfernen. Doch die Lust ihrer Brüder an Witzen und Streichen hielt unvermindert an, und oft machte es Olivia sogar Spaß, denn schließlich liebte sie ihre Brüder. Sie konnte es eben nur nicht ertragen, eine Wette zu verlieren … besonders nicht die Wette, auf die sie sich dummerweise diesmal eingelassen hatte.

Allein bei dem Gedanken daran stöhnte sie auf. Wenn Brad nicht in aller Öffentlichkeit damit angefangen hätte, hätte sie bestimmt abgelehnt. Aber nein, ihr Bruder hatte ihr den Fehdehandschuh mitten auf dem Jahresball der Historical Association vor Dutzenden von Leuten hingeworfen. Jetzt wusste es die ganze Society von Baltimore, und sie hatte keine andere Wahl, als zu akzeptieren, denn das war sie ihrem Stolz und ihrem Starrsinn schuldig. Und Brad wusste das ganz genau.

Stolz und Starrsinn. Damit war sie schon so oft angeeckt, dass sie sich kaum mehr erinnern konnte. Aber diesmal hatte sie sich selbst übertroffen und neue Höhen auf der Absurditätsskala erreicht. Sonst gäbe es keine Erklärung dafür, warum sie an diesem kühlen Oktobertag im Morgengrauen aus dem Bett geklettert war, um in irgendeine gottverlassene Kleinstadt in den Wäldern des Staates New York zu fahren.

Sie trat gegen den Koffer, der neben dem Bett stand.

„Autsch!“

Er war gut gepackt. So gut, dass sie sich gestern Abend darauf hatte setzen müssen, damit er zuging. Brads Regeln ließen nur einen einzigen Koffer zu, und das verlangte einer Frau Einiges ab, die allein für einen Wochenendausflug mindestens zwei große Reisetaschen benötigte. Schließlich hatte sie ihn ausgetrickst, indem sie so viele Sachen wie möglich am Leib trug.

In ihrem Rollkragenpullover, über dem sie ein Jeanshemd und drei weite Sweatshirts trug, war es bereits recht heiß. Außerdem wollte sie lieber nicht wissen, wie sie darin aussah.

Sie brachte gerade den Koffer in die Halle von Twin Brooks, dem alten Herrenhaus, das die Ashfields seit fast einem Jahrhundert bewohnten, als ihre Mutter hereinkam.

„Wann wollte Brad hier sein?“, fragte Helen Ashford ihr jüngstes Kind.

„Ich habe ihm gesagt, dass ich Punkt zehn hier wegfahre. Wenn er mich noch einmal sehen will, hat er noch genau …“ Olivia sah auf ihre Uhr, „… fünf Minuten. Mist, warum habe ich nicht mit ihm ausgemacht, dass die Wette hinfällig wird, wenn er nicht pünktlich ist?“

„Vielleicht, weil du so damit beschäftigt warst, Dartpfeile auf eine Landkarte im Ballsaal der Historical Society zu werfen …“

Olivia zuckte die Schultern. „Das war unter den Umständen das Logischste.“

„Logisch? An deiner neuesten Eskapade ist kein Funken Logik!“ Sie seufzte. „Ich dachte, wenigstens Bradford hätte mehr Verstand.“

„Hat er aber nicht.“

„Musst du denn jeden Unsinn mitmachen, den er sich ausdenkt? Dein Vater und ich machen uns Sorgen um dich.“

„Mom, ich war schon öfter allein unterwegs.“

„Ja, auf Reisen. Aber nicht, um irgendwo zu arbeiten und zu leben, wo du niemanden kennst. Ich verstehe einfach nicht, wie du … sag nichts.“ Sie hob die Hand, um Olivias Einwände zu stoppen. „Ich weiß genau, dir geht es ums Prinzip. Aber ich halte das für dumm, um nicht zu sagen gefährlich.“

„Mom, ich fahre doch nicht in die Bronx, sondern nach Danby, eine Kleinstadt mit vierzehntausend Einwohnern.“

„Aber du bleibst nicht nur ein Wochenende, sondern Monate lang …“

„Acht Wochen.“

„Allein, ohne Familie, ohne Freunde, ohne Job. Niemand dort weiß überhaupt, wer du bist.“

„Genau darum geht es ja“, konterte Olivia ironisch. Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Sie war blond, hatte blaue Augen und war gertenschlank. Selbst in den viel zu großen Sweatshirts sah sie gut aus.

Olivia holte tief Luft, um die Sache ihrer Mutter noch einmal zu erklären. „Mom, ich gehe ja gerade deshalb nach Danby, weil ich dort niemanden kenne, denn ich will beweisen, dass ich auch allein zurechtkomme. Ohne … wie hat es mein lieber Bruder so schön formuliert? Ohne Vorschusslorbeeren.“

„Und ohne Kreditkarten. Ohne Daddy, ohne Handy“, ergänzte Brad, der im selben Moment hereinkam.

„Ach, wenn man vom Teufel spricht“, bemerkte Olivia und drehte sich um.

Brad Ashfield grinste und gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange. „Guten Morgen zusammen!“ Er rieb sich voller Vorfreude die Hände. „Schöner Tag für einen Ausflug, nicht wahr? Ein Koffer. Du hast dich ja sogar an die Bedingungen gehalten. Liv, wenn du so weitermachst, behältst du deinen Job vielleicht sogar länger als zwei Tage. Falls du einen findest.“

„Keine Sorge. Ich habe vor, nicht nur zwei Tage, sondern die ganzen acht Wochen durchzuhalten. Ich könnte mir nichts Schöneres denken als die Vorstellung, wie du dir in aller Öffentlichkeit eine Glatze scheren lässt.“

„Nun, es wird sicher nicht minder interessant, wenn es dein Kopf ist, den wir scheren“, bemerkte Brad siegessicher.

Helen Ashfield drehte sich entsetzt zu ihrer Tochter um. „Olivia, du wirst doch nicht …“

„Ich werde mir den Kopf überhaupt nicht scheren, Mom, weder in aller Öffentlichkeit noch irgendwo sonst. Ich werde diese Wette nämlich gewinnen, die mir dieser Lauscher da angehängt hat.“

„Ich habe nicht gelauscht“, verteidigte sich Brad. „Ich habe nur gehört, wie du auf der Tanzfläche zu diesem Taylor gesagt hast, wie gern du deinem unerträglichen Luxusleben entfliehen und dich beweisen würdest.“

„Meine privaten Unterhaltungen gehen dich überhaupt nichts an!“

„Tja, ich wollte dir nur helfen, deine Träume zu verwirklichen, Schwesterchen. Du solltest mir eher danken, dass ich alle auf deinen Wunschtraum aufmerksam gemacht habe.“

„Dir danken?“, fauchte sie und warf ihr dichtes langes Haar über die Schultern zurück. „Sei froh, dass ich dich nicht …“

„Schluss damit!“ Mit einem strengen Blick brachte Helen Ashfield die beiden Streithähne zum Schweigen. „Ihr scheint euch ja nicht von dieser Wette abbringen zu lassen. Also, Olivia, willst du das wirklich durchziehen?“

„Ganz bestimmt.“

„Dann mal los!“ Mühsam hob Brad den Koffer hoch. „Was ist denn da drin? Ziegelsteine?“

„Darüber haben wir keine Absprachen getroffen. Es geht dich gar nichts an.“

„Na gut. Ich sage auch nichts dazu, dass du aussiehst, als hättest du die Ausrüstung einer ganzen Eishockeymannschaft am Leib.“

Olivia lächelte ihn an. „Hab ich dir schon gesagt, wie sehr ich dich vermissen werde?“

„Nein.“

„So sehr.“ Sie presste Daumen und Zeigefinger aufeinander.

Ihr Bruder lachte auf und ging voraus. Olivia hakte ihre Mutter unter und folgte ihm.

„Ruf mich an“, sagte ihre Mutter. „Und versprich mir, dass du kein Risiko eingehst.“

„Ich verspreche es dir. Glaub mir, wenn ich auf Abenteuer aus wäre, würde ich nicht gerade nach Danby fahren. Ich muss nur einen Job finden und mich acht Wochen über Wasser halten, das ist alles.“

Ihre Mutter verlor etwas Farbe. „Oh je.“

„Mach dir keine Sorgen“, tröstete Olivia sie und versuchte, ihren Ärger darüber zu verbergen, wie wenig ihre Mutter ihr zutraute. „Das mach ich mit links.“

Vielleicht tut Brad mir mit dieser Wette sogar einen Gefallen, dachte sie, als sie die Stufen hinunter zu der runden Auffahrt ging. Sie hatte es satt, das Familienküken zu sein. Schön, aber eigentlich nutzlos. Nun, sie hatten Unrecht. Dass sie noch nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, hieß noch lange nicht, dass sie zu nichts fähig war. Sie würde es ihrer Familie beweisen.

Draußen stutzte sie. „He, das ist aber nicht mein Auto“, beschwerte sie sich, als ihr Bruder den Koffer in den Kofferraum eines weißen verbeulten Sedan wuchtete.

„Natürlich nicht“, sagte er fröhlich und warf den Deckel zu. „Für die acht Wochen bekommst du einen anderen Wagen. Schließlich haben wir ausgemacht, dass es keine Hinweise auf deine wahre Herkunft geben darf. Und damit“, er deutete auf ihren silbernen Jaguar etwas weiter weg, „würdest du dich sofort verraten.“

„Du bist unerträglich!“, knurrte Olivia und riss ihm die Schlüssel aus der Hand, die er vor ihr baumeln ließ. Sie schlüpfte hinter das verkratzte Steuerrad. Dieses Auto war viel zu groß für sie. Im Vergleich zu ihrem Jaguar hatte sie das Gefühl, in einem Bus zu sitzen. Beim Anlassen stotterte der Motor.

„Und vergiss nicht, jede Woche Bericht zu erstatten, Sweetheart!“, rief Brad ihr hinterher, als sie davonbrauste.

2. KAPITEL

„Wie schön, dass du anrufst, Olivia! Ich bin ja so erleichtert.“

Olivia freute sich, die vertraute Stimme ihrer Mutter zu hören. War sie wirklich schon eine Woche lang von zu Hause weg?

„Ich kann nicht lang reden“, erklärte sie ihrer Mutter. „Auf der Telefonkarte ist nicht mehr viel drauf.“

Helen Ashfield seufzte. „Aber ich kann dir doch welche schicken. Am besten gleich einen Scheck …“

„Mom, wage es nicht! Das ist gegen die Regeln, außerdem schaffe ich das allein. Ich rufe gerade von der Arbeit aus an. Du sprichst mit der Sprechstundenhilfe der erfolgreichsten Ärztin in Danby.“

„Ärztin?“ Pause. „Wie hast du das denn gemacht?“

„Ich bin bei Dr. Allison Black, oder Doc Allison, wie sie von allen genannt wird. Sie ist Tierärztin. Ich arbeite im Danby Animal Hospital. Bis jetzt geht alles sehr gut.“

„Ist das heute dein erster Tag?“

Olivia packte den Hörer fester. „Eigentlich arbeite ich, seit ich hier bin.“ Das war fast die Wahrheit. Nur nicht im gleichen Job. „Aber sag Brad nichts davon, ich will es ihm selbst erzählen. Ich mache hier Telefondienst und nehme die Patienten auf, solche Sachen. Aber es ist ein bisschen langweilig. Vielleicht brenne ich mit dem Arzneimittelvertreter durch, das hat jedenfalls die letzte Sprechstundenhilfe getan“, witzelte sie.

„Aha.“ Ihre Mutter schwieg einige Sekunden. „Spaß beiseite, Olivia, wie geht es dir wirklich?“

„Du hast ein gutes Gespür, weißt du das?“ Olivia seufzte. „Mir geht es nicht so gut. Erst habe ich keinen Job gefunden, und als ich dann einen hatte, als Bedienung in einem Diner, musste ich eine grässliche Uniform tragen. Und bin am ersten Tag schon wieder rausgeflogen, weil ich einem Typen Kaffee über die Hose geschüttet habe.“

„Wieso das denn?“

„Weil er mir an den Po gefasst hat, deshalb. Und als die anderen Typen am Tisch das Johlen anfingen, habe ich rot gesehen, und bevor ich mich’s versah, war die Kaffeekanne leer.“

„Und deswegen haben sie dich gefeuert? Ist ja allerhand. Olivia, ich hätte dir sagen können, dass du nicht fürs Kellnern geschaffen bist.“

„Nun, ich wollte nicht gerade Karriere in der Branche machen, aber wenn man nicht weiß, wofür man geschaffen ist, muss man eben einiges ausprobieren.“

„Mhm. So erklärt sich vielleicht auch, warum du jetzt für eine Tierärztin arbeitest, obwohl du nie besonders scharf auf Haustiere warst.“

„Aber das spielt doch keine Rolle! Die nächsten sechseinhalb Wochen werde ich schon überstehen.“

„Und wie läuft es so?“

„Na ja. Abgesehen davon, dass ich es versäumt habe, Doc Allison über einen Notfall zu informieren, ganz gut. Da war ein Dobermann, er hieß Bozo, mit einer Augenentzündung, der sofort zu einem Spezialisten gemusst hätte. Es ging gerade noch einmal gut, aber Doc Allison sagte, wenn so etwas noch einmal vorkommt, müsste sie mich entlassen.“

„Ist das nicht ein bisschen übertrieben?“, fragte Helen Ashfield. „Schließlich hast du gerade erst angefangen.“

„Stimmt, aber sie war immer noch etwas wütend wegen des Igels.“

„Igels?“, wiederholte ihre Mutter argwöhnisch.

„Ja. Ich habe mich draufgesetzt. Aber nicht absichtlich. Er saß auf meinem Stuhl, aber zum Glück bin ich gerade noch rechtzeitig wieder hoch gekommen. Aber mach dir keine Sorgen, Mom“, tröstete sie ihre Mutter und drehte sich auf dem Drehstuhl zum Fenster, mit dem Rücken zur Eingangstür. „Das war gestern. Heute habe ich mir noch nichts zu Schulden kommen lassen.“

„Olivia, findest du nicht, dass du lieber nach Hause kommen solltest? Ich bin sicher, dein Bruder versteht …“

„Nein, auf keinen Fall!“

„Sei doch vernünftig, Olivia.“

„Nein. Ich habe mein Wort gegeben und ich werde es auch halten.“ Ihre Stimme wurde vor Empörung lauter. „Und lieber laufe ich nackt über die Planke, als dass ich meinem Bruder die Genugtuung gönne, mir eine Glatze zu scheren.“

Ein belustigtes Räuspern hinter ihr verriet Olivia, dass jemand unbemerkt hereingekommen war und ihre letzten Worte mit angehört hatte.

Sie flüsterte: „Ich muss jetzt Schluss machen. Ich liebe dich.“ Sie wirbelte herum und hängte den Hörer ein, bevor sie geschäftig nach dem Terminkalender griff.

„Tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen“, sagte sie mit ihrem zauberhaftesten Sprechstundenhilfelächeln, bevor sie dem Besucher in die Augen sah – dunkle, tief liegende graue Augen, die sie schon einmal gesehen hatte und so bald nicht vergessen würde.

„Weil er mir an den Po gefasst hat“, hatte sie ihrer Mutter erzählt. Was sie nicht erwähnt hatte, war, dass der Mann nicht mit der Wimper gezuckt hatte, als sie den Kaffee über ihn kippte, sondern dass sein ernster Blick ihren getroffen hatte und ihr eine Ewigkeit standgehalten hatte. Und genauso wenig, dass er, über und über voller Kaffee, einen Fünfdollarschein als Trinkgeld hingelegt hatte und ohne ein Wort gegangen war.

Diese Reaktion hatte sie erst recht aus der Bahn geworfen. Normalerweise wusste sie, wie sie mit Männern umgehen musste, aber so jemand war ihr noch nicht begegnet. Es gefiel ihr nicht. Und die Tatsache, dass er nur ein Hinterwäldler aus Danby war, machte das Ganze noch schlimmer. Seit ihrer Kündigung hatte sie den Mann aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Oder es zumindest versucht.

„So, so“, murmelte er schließlich, einen spöttischen Zug um den Mund, der sie nicht im Zweifel darüber ließ, dass er sich genauso lebhaft wie sie an den Vorfall erinnerte.

Seit wann stand er schon da und hörte mit? Olivia wartete, dass er etwas sagte, aber er betrachtete sie nur mit einem unergründlichen Blick.

Er war groß und schlank. Das gebräunte Gesicht und die rauen Hände ließen einen Job im Freien vermuten, und die lockigen kurzen Haare sahen so aus, als würde er nicht viel Zeit beim Friseur verschwenden.

Sein Mund war groß und faszinierend, die Wangenknochen hoch, der Kiefer wirkte entschlossen. Wahrscheinlich gilt er hier als gut aussehend, dachte Olivia, der Typ „harte Schale, weicher Kern“, den manche Frauen für unwiderstehlich hielten.

Aber etwas an ihm war anders. Wie er sich bewegte und wie er schwieg. Hier handelte es sich um einen Mann, der eine ungezwungene Natürlichkeit ausstrahlte. Solche Männer waren sehr selten.

Während sie ihn in Augenschein nahm, ließ er gleichfalls nicht den Blick von ihr. Da kannst du lange gucken, dachte Olivia. Männerblicke waren eine alltägliche Tatsache für sie. Wie ihr Talent, mit diesen hormongesteuerten Reaktionen umzugehen.

Olivia wusste sehr genau, wie sie auf Männer wirkte. Dazu musste sie nur in den Spiegel sehen. Sie hatte früh gemerkt, welche Macht ihr ihre Schönheit verlieh, und hatte bald gelernt, diese Waffe klug einzusetzen.

Wenn dieser Kleinstadt-Don-Juan also dachte, er könnte sie ein zweites Mal aus der Fassung bringen, hatte er sich geschnitten.

„Was ist mit Ihnen los, Lady?“, fragte er, nachdem er sich offensichtlich satt gesehen hatte. Sein Ton war verbindlich, fast freundlich, aber seine Stimme war tief und klang so aufregend, dass sie fast eine Gänsehaut bekam. „Sind Sie total durchgedreht?“

„Wie kommen Sie darauf?“, konterte sie mit ihrem extra-unterkühlten Tonfall und einem abschätzigen Blick, womit sie schon so manchen aufdringlichen Schürzenjäger in die Flucht geschlagen hatte.

Bis jetzt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben passierte gar nichts. Kein Gestotter oder Verwirrung, nicht einmal ein Hauch von Verlegenheit.

Konzentrier dich, befahl sie sich und setzte ein spöttisches Lächeln auf. „Und jetzt stelle ich Ihnen eine Frage“, sagte sie. „Betatschen Sie jede Bedienung, die Ihnen das Essen hinstellt? Oder können Sie Ihre Finger nur nicht von den Durchgedrehten lassen?“

Zuerst lachte er. Dann ging er um die brusthohe Rezeptionstheke herum und stemmte die Hände auf ihren Schreibplatz. Über dem schwarzen T-Shirt und den Jeans trug er eine offene lederne Bomberjacke. Seine Wangen schmückte ein Dreitagebart, und sie wettete, dass er verknautschte Stiefel trug. Das ganze „Bad Boy“-Ensemble also. Wahrscheinlich bildete er sich ein, in dieser Aufmachung sexy zu wirken.

Und aus gutem Grund, musste Olivia zugeben. Als er sich langsam vorbeugte, unterdrückte sie den Wunsch, auf ihren Stuhl ein Stück zurückzurollen.

„Ich glaube, mein Geschmack bei Frauen tut hier nichts zur Sache“, sagte er mit seiner tiefen Stimme, jetzt ganz nahe. „Ich sage Ihnen nur so viel: Wenn ich Sie jemals wieder anfassen sollte, versichere ich mich vorher, dass Sie wissen, dass ich da bin. Ich habe eine Heidenangst davor, dass sie mich vor Schreck das nächste Mal töten könnten.“

Seltsamerweise wirkte er nicht im Geringsten verängstigt. Sondern eher verdammt belustigt, stellte Olivia verärgert fest. „Da wollen wir doch mal etwas klarstellen. Ich habe Ihnen den Kaffee nicht vor Schreck übergekippt. Es war eine Frage des Prinzips.“

„Ach?“ Seine Mundwinkel hoben sich. „Was denn für ein Prinzip?“

„Das Prinzip, das besagt, dass ein Mann seine Hände bei sich zu behalten hat, außer ich lade ihn dazu ein.“

Sein Grinsen breitete sich übers ganze Gesicht. „Außer? Oder bis? Aber wie Sie möchten, Lady, wenn Ihnen daran liegt.“

Leider hatte sie keine Gelegenheit, etwas zu erwidern, denn in diesem Moment kam Doc Allison hereingeschossen. Sie war Mitte dreißig, brünett und ständig auf Trab. Bevor sie sich an Olivia wandte, kritzelte sie etwas auf einen Block und schob ihn ihr hin.

„Können Sie diese Medikamente aus dem Lager holen? Und treiben Sie bitte auch ein paar Vitaminpräparate für Honey Bunch auf und geben Sie Ihrer Besitzerin einen neuen Termin.“

„Sofort.“ Nicht ohne eine gewisse Schadenfreude warf Olivia dem Mann vor ihr einen wichtigtuerischen Blick zu. „Ich fürchte, Sie müssen noch etwas warten, bevor ich Ihre Daten aufnehmen kann.“

„Keine Sorge.“ Er ignorierte die Gelegenheit, Olivia näher in Augenschein zu nehmen, als sie aufstand, sondern wandte sich zu Doc Allison, die ihn erst jetzt bemerkte und lächelte.

„Hey, Fremder, schon da?“

„Du hast mich doch gebeten zu kommen, weißt du nicht mehr?“

„Natürlich. Aber du bist früh dran.“

Olivia tat so, als suchte sie noch etwas in ihren Unterlagen, bevor sie ins Lager ging. Immerhin konnte sie feststellen, dass er auch lächeln konnte und nicht nur unverschämt grinsen.

„Ich bin früher fertig geworden“, sagte er. „Aber wenn es gerade nicht passt, Doc …“

„Nein, kein Problem“, versicherte ihm Doc Allison, fasste ihn am Arm und ging mit ihm in den Personalraum mit der Aufschrift „Kein Zutritt“. Es entging Olivia nicht, dass die beiden sich offensichtlich recht vertraut waren. „Es wäre mir lieb, wenn du mal einen Blick auf …“

Das war das Letzte, was sie hörte, bevor die Schwingtür zuschlug.

Was? Einen Blick worauf? Sie unterdrückte den Wunsch, mit dem Fuß aufzustampfen. Es war ihr doch völlig egal, so egal wie alles andere, was diesen Mann betraf. Stattdessen holte sie die gewünschten Medikamente und packte sie der Besitzerin von Honey Bunch ein, bevor sie in den Waschraum ging.

Beim Blick in den Spiegel kam sie zu dem Ergebnis, dass sie gut aussah. Mehr als gut. So wie immer eben. Wenn es also ein Problem gab, dann war es bestimmt nicht ihres.

Nicht dass sie verunsichert gewesen wäre. Nur neugierig. Ein bisschen jedenfalls. Wahrscheinlich aus Langeweile. Dennoch nahm sie sich die Zeit, die Lippen nachzuschminken. Dann kämmte sie sich die Haare und sprühte sich zuletzt einen Hauch ihres sündhaft teuren Lieblingsparfüms aus Frankreich auf die Handgelenke.

Olivia atmete den Duft tief ein. Das war schon besser.

Falls sie sich wegen Doc Allisons Besuch frisch gemacht hatte, war es verschwendete Mühe gewesen. Anscheinend hatte er den Hinterausgang genommen. Die Vorstellung, dass er sich vor einer zweiten Begegnung mit ihr drücken wollte, gefiel Olivia zwar, aber sie hatte nicht den Eindruck, als wäre er der Typ, der sich vor etwas drückte.

Hm. Doc Allison war verheiratet, allem Anschein nach auch glücklich, aber wer weiß, vielleicht war es ja er, der seine Grenzen überschritt. Wundern würde sie das nicht.

„Typisch Kater“, murmelte Olivia.

Ein Zischen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Tragekorb, den sie als Fußstütze benutzte. Ein Paar gelbe Augen starrte sie daraus anklagend an. Sie hatte ganz vergessen, dass Izzy, die schwarze Katze mit der bandagierten Pfote, eigentlich schon vor einer Stunde abgeholt werden sollte.

„Tut mir leid, Kumpel“, sagte sie. „Ich kann verstehen, dass du nicht mit diesem Typ verglichen werden willst.“

Izzys unheimlich starrender Blick ließ nicht von ihr ab. Vorsichtig schob Olivia den Tragekorb mit dem Fuß etwas zurück. „Braves Kätzchen. Mommy kommt bestimmt gleich.“

Der Kater antwortete mit einer Mischung aus Zischen und Grollen und tappte mit der bandagierten Pfote ans Gitter.

„Lass das, Izzy“, befahl sie. „Ich glaube kaum, dass du diese Tür allein aufbekommst. Du wirst dir nur wehtun. Und das würde ich gerne vermeiden, zumindest solange ich hier Dienst habe.“

Der Kater schlug härter an die Stäbe.

Olivia schubste den Korb leicht mit dem Fuß. „He, hast du mich nicht verstanden? Sei brav.“

„Was um Himmels willen machen Sie denn nun schon wieder?“ Gretchen, die Assistentin von Doc Allison, blieb in der Tür stehen.

„Izzy versucht die Tür mit seiner verbundenen Pfote zu öffnen. Ich will nicht, dass er sich wehtut“, erklärte Olivia verbindlich.

„Vielleicht will er raus.“

Olivia konnte sich ein mitleidiges Lächeln nicht verkneifen. „Genau das wird es sein. Aber leider hat seine Besitzerin nicht den Deluxe-Aufenthalt mit Privatbetreuung gebucht.“

„Und wenn er mal muss?“ Gretchen betonte jedes Wort, als wäre Olivia schwer von Begriff. „Ist Ihnen das schon in den Sinn gekommen?“

„Nicht direkt“, musste sie gestehen. Sie sah sich um. „Wo ist denn das Katzen…“

Bevor sie die Frage beenden konnte, deutete Gretchen auf die Tür, hinter der sich die Operationsräume befanden. „Sie können es nicht verfehlen.“

„Und was mache ich, wenn er danach nicht mehr in seinen Korb will?“, rief Olivia und ignorierte den abschätzigen Blick der Assistentin. „Wenn er wegrennt?“

„Er ist ein Hauskater.“ Gretchen verschwand in einem angrenzenden Untersuchungsraum.

Ein Hauskater. Was auch immer das bedeuten mochte. Aber es schien nichts Negatives zu sein, also trug sie den Korb in den Raum, den Gretchen ihr angewiesen hatte, und öffnete das Türchen.

„Los, Izzy, raus. Tu, was du nicht lassen kannst.“

Izzy ließ sich nicht lange bitten und sprang aus dem Korb. Ohne Olivia eines Blickes zu würdigen, setzte er sich davor und begann sich zu putzen.

„Auf, Izzy, mach schon. Für ein Vollbad haben wir jetzt keine Zeit“, drängte sie.

Autor

Patricia Coughlin
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