Wie entführt man einen Herzog

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Einen wagemutigen Plan im Sinn, flieht Miss Penny Winthorpe gen Schottland: Den erstbesten Mann will sie heiraten, damit sie endlich über ihr Erbe verfügen kann, das ihr Bruder verschleudert. Da kommt ihr ein attraktiver Fremder, der vor ihre Kutsche taumelt, gerade recht. Bevor er wieder bei Sinnen ist, hat Penny ihren Plan umgesetzt. Zu spät erfährt sie, dass sie den Duke of Bellston entführt hat - ein Skandal! Doch warum will er an der Ehe festhalten? Warum schenkt er ihr einen wunderschönen Mondsteinring und besteht darauf, dass sie fortan als verliebtes Paar auftreten?


  • Erscheinungstag 06.07.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733767297
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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In der Bibliothek war es so still, dass Penelope Winthorpe deutlich hören konnte, was im Haus vorging. Gerade läutete es an der Vordertür. Sie legte ihr Buch beiseite, schob ihre Brille zurecht und strich mit den Händen glättend über ihren dunklen, einfach geschnittenen Rock. Dann erhob sie sich und ging langsam in Richtung der Eingangshalle.

Sie wusste, dass es sinnlos, ja, unter Umständen sogar nachteilig gewesen wäre, sich zu beeilen. Ihr Bruder hatte ihr mehr als einmal vorgeworfen, zu impulsiv zu sein und allzu oft zu vergessen, sich wie eine Dame zu benehmen. Wenn er sie rasch zur Tür laufen sähe, würde ihn das nur in seiner Überzeugung bestärken, dass zu viel Bildung und zu viel Einsamkeit ihr geschadet hätten.

Allerdings fiel es ihr schwer, ihre Ungeduld zu bezähmen, denn das Paket, auf das sie so sehnsüchtig wartete, hätte schon vor zwei Tagen kommen sollen. In Gedanken hielt sie es bereits in den Händen; hörte, wie das braune Papier, in das es eingeschlagen war, knisterte; ließ die Finger über die Schnur gleiten, mit der es verschlossen war. Sie würde diese Schnur gleich in der Eingangshalle durchschneiden, wo auf einem Beistelltisch stets eine Schere lag. Dann würde sie das Buch auspacken, es endlich berühren können. Sie stellte sich vor, wie sie den Duft nach frisch bedrucktem Papier tief einatmen, wie sie den ledernen Einband betasten und schließlich den in goldenen Buchstaben gedruckten Titel lesen würde.

Dann erst würde der beste Teil des Ganzen beginnen: Sie würde das Buch in die Bibliothek tragen und die Seiten aufschneiden. Sie würde sie ein wenig glatt streichen und so rasch umblättern, dass sie nur hier und da ein Wort entziffern konnte. Nicht einen einzigen Abschnitt würde sie lesen, dann das hätte womöglich die Vorfreude auf das Studium des Werks gemindert. Zu guter Letzt würde sie nach Tee läuten, sich in ihren Lieblingssessel am Kamin setzen und mit dem Lesen beginnen. Himmlisch!

Als Penelope in die Eingangshalle trat, fand sie ihren Bruder dort vor. Er war damit beschäftigt, die Post zu sortieren. Ein Paket schien nicht dabei zu sein.

„Hector, ist nichts für mich abgegeben worden? Ich hatte eigentlich schon früher mit der Lieferung gerechnet, aber …“ Sie zuckte die Schultern. „Vielleicht ist das Päckchen ja mit der heutigen Post eingetroffen?“

„Du wartest auf ein Buch?“ Er seufzte.

„Ja, auf die ‚Odyssee‘.“

Hector Winthorpe warf seiner Schwester einen kurzen Blick zu. „Die ‚Odyssee‘? Ach ja, die ist gestern abgeliefert worden. Ich habe sie an den Buchhändler zurückgeschickt.“

Ungläubig starrte sie ihn an. „Was hast du gemacht?“

„Das Paket zurückgeschickt. Ich weiß, dass du bereits eine Ausgabe der ‚Odyssee‘ besitzt. Es gibt also keinen Grund, Geld für eine zweite auszugeben.“

„Du irrst“, gab Penelope zurück. „Ich besitze nur eine englische Übersetzung, nicht aber das griechische Original.“

„Ein Grund mehr, das Buch zurückzuschicken. Es dürfte bedeutend leichter für dich sein, das Werk in deiner Muttersprache zu lesen.“

Sie atmete ein paar Mal tief durch und bemühte sich, bis zehn zu zählen, ehe sie etwas Unüberlegtes von sich gab. Sie war bei fünf angekommen, als sie sich nicht länger beherrschen konnte, und hervorstieß: „Die griechische Sprache bereitet mir keine Probleme. Ich lese sie fast so flüssig wie Englisch. Tatsächlich habe ich vor, eine eigene Übersetzung der ‚Odyssee‘ anzufertigen und zu veröffentlichen. Dazu brauche ich natürlich das griechische Original. Das wirst du sicher einsehen.“

Hector starrte sie an, als seien ihr plötzlich Hörner aus der Stirn gewachsen. „Es gibt genug gute Homer-Übersetzungen zu kaufen.“

„Aber keine davon wurde von einer Frau verfasst. Das heißt, bisher wurden beim Übersetzen niemals irgendwelche weiblichen Einsichten und Erkenntnisse berücksichtigt. Daher nehme ich an, dass meine Version eine ganze Reihe neuer Facetten des Originals zum Vorschein bringen wird.“

„Unsinn!“, fuhr ihr Bruder auf. „Die Welt braucht deine Einsichten und Erkenntnisse nicht, Penny. Das solltest du eigentlich wissen.“

Einen Moment lang fühlte Penelope sich entmutigt, denn die Erfahrung hatte ihr gezeigt, dass wirklich niemand Wert auf ihre Meinung legte. Doch dann straffte sie die Schultern und erklärte: „Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu beweisen, wie gut ich übersetzen kann. Ich bin fest entschlossen, zumindest einen Versuch zu machen. Und dazu brauche ich das Buch, das ich bestellt habe. Es kostet ja nur ein paar Pfund.“

„Hast du dir jemals klargemacht, wie viel Zeit du mit Lesen verschwendest?“

Hector, der selbst nur das Allernötigste las, betrachtete das Studium von Büchern grundsätzlich als Zeitverschwendung. Penelope konnte sich noch gut daran erinnern, wie unbehaglich er sich im Schulzimmer gefühlt und wie sehr er sich stets bemüht hatte, dem Unterricht so schnell wie möglich zu entfliehen. Ungeduldig hatte er auf den Tag gewartet, an dem ihr Vater ihm die Führung des Geschäfts überlassen würde. Penelope hatte nie begriffen, warum ein Mensch, dem so wenig an Büchern lag wie Hector, überhaupt den Wunsch verspürte, eine Druckerei zu leiten.

„Einige Menschen betrachten Lesen nicht als Zeitverschwendung, Hector. Für mich jedenfalls ist es das größte Vergnügen, das ich mir vorstellen kann.“

„Sich zu vergnügen ist nicht der Sinn des Lebens, Penny. Ich bin sicher, du kannst eine sinnvollere Beschäftigung finden.“ Er musterte seine Schwester eingehend. „Ich bin ganz zufrieden damit, dass du nicht so oberflächlich bist wie einige der jungen Damen, die sich nur dafür interessieren, wie sie sich möglichst schnell einen reichen Gatten angeln können. Aber statt mit Büchern, könntest du dich mit wohltätigen Werken beschäftigen. Glaubst du nicht, dass es gut wäre, dich um die Armen und Kranken zu kümmern?“

Sie biss die Zähne zusammen und begann erneut, lautlos zu zählen. Wohltätigkeit war sicher etwas sehr Wichtiges. Allerdings überließ Penelope es gern anderen, den Bedürftigen zu helfen. Sie selbst verbrachte ihre Zeit lieber in der Gesellschaft von Büchern als von Menschen. Im Umgang mit Letzteren war sie nämlich nicht besonders geschickt. Auch wusste sie, dass Damen, die sich wohltätigen Werken widmeten, im Allgemeinen jede Hoffnung auf einen Ehemann und auf eigene Kinder aufgegeben hatten. Sie galten als alte Jungfern. Und zu diesem Kreis zählte Penelope sich noch nicht. Oder war es womöglich doch an der Zeit, sich damit abzufinden, dass sie niemals heiraten würde?

Nun, sagte sie sich, wenn ich mich wirklich damit abfinden muss, ledig zu bleiben, dann kann ich das auch daheim tun, vor dem flackernden Kaminfeuer und in Gesellschaft von Homer.

Diesmal war es ihr gelungen, bis acht zu zählen, ehe sie herausplatzte: „Es ist keineswegs so, dass ich mich davor drücken möchte, etwas für die Gesellschaft zu tun. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass mein Beitrag genauso wertvoll ist, wenn ich ihn für die Wissenschaft leiste und nicht für die Kranken und Unglücklichen. Im Übrigen spende ich schon seit Längerem regelmäßig für die Kirche. Mein Geld ist eine größere Hilfe, als meine Arbeitskraft es je sein könnte. Niemand hat also einen Grund, sich über mich zu beklagen.“

Ihr Bruder schaute sie missbilligend an. „Im Gegenteil! Ich habe allen Grund, unzufrieden mit dir zu sein. Und ich wünschte, du würdest meine Beschwerden ernster nehmen. Schließlich hat unser Vater mir die Verantwortung für dich und dein Erbe übertragen.“

Sie seufzte. „Diese Regelung gilt nur bis zu dem Tag, da ich heirate.“

„Wir wissen beide, wie unwahrscheinlich es ist, dass dieser Tag je kommen wird. Ich fürchte, Penny, damit müssen wir uns beide abfinden.“

Da er sie von jeher für einen unverbesserlichen Blaustrumpf ohne Heiratschancen gehalten hatte, sollte das wohl heißen, dass jetzt auch sie sich damit abfinden musste.

„Es mag ja angehen, dass man sich eine Zeit lang nur für Bücher interessiert“, fuhr Hector fort – gerade so, als wolle er ihre Überlegungen bestätigen –, „aber ich hatte gehofft, du würdest diese unglückliche Vorliebe nach einer Weile überwinden. Natürlich erwarte ich nicht, dass du ein Vermögen für Kleider ausgibst, Schnittmustertafeln studierst und mit Freundinnen stundenlang über die Vorteile verschiedener Stoffe diskutierst. Aber du legst überhaupt keinen Wert auf dein Äußeres! Stattdessen füllst du deinen Kopf mit gänzlich unweiblichen Gedanken. Du glaubst, du müsstest zu allem eine eigene Meinung haben. Das, meine Liebe, ist völlig absurd! Und nun willst du auch noch Griechisch lernen!“

Sie starrte ihn an.

„Irgendwer muss diesem Unsinn ein Ende setzen“, verkündete Hector würdevoll. „Da du offenbar nicht zur Vernunft kommst, sehe ich mich gezwungen, ein Machtwort zu sprechen: Keine Bücher mehr, Penny! Jedenfalls nicht, ehe du nicht bewiesen hast, dass du bereit bist, dich wie ein erwachsener Mensch zu benehmen.“

„Keine Bücher mehr?“, wiederholte sie fassungslos. Ihr war, als fehle ihr plötzlich die Luft zum Atmen. Wahrscheinlich gab es eine Reihe von jungen Damen, die ähnlich schockiert waren, wenn ihr strenger älterer Bruder ihnen damit drohte, dass sie eine Zeit lang auf Besuche bei ihren Freundinnen sowie auf neue Kleider und Bälle würden verzichten müssen. „Das kannst du nicht tun!“, rief sie aus. Ohne die Werke ihrer geliebten Dichter würde sie das Gefühl haben, allein und hilflos in einer feindlich gesinnten Welt zu leben.

„Oh, ich denke doch, dass ich das tun kann.“

„Vater hätte es nicht zugelassen!“

„Vater hat zweifellos angenommen, du würdest in deinem Alter längst eine eigene Familie haben. Jedenfalls hat er mich testamentarisch zum Verwalter deines Erbes bestellt. Das wird sich erst ändern, wenn du heiratest. Leider scheinst du nicht in der Lage zu sein, einen Gatten zu finden. Deshalb bin ich noch immer für dich und dein Geld verantwortlich. Ich werde nicht zulassen, dass du dein Vermögen aufzehrst, um dich mit bedrucktem Papier zu umgeben.“

„Die Anschaffung von ein paar Büchern dürfte kaum ausreichen, um mein Erbe aufzuzehren.“

„Ein paar Bücher?“ Er lachte spöttisch auf. „Das …“, mit dem Finger wies er auf einige ledergebundene Bände, die auf einem Tischchen lagen, „… sind ein paar Bücher. Aber dann gibt es noch viele andere: die, die du im Speisezimmer aufbewahrst, die, die du im Frühstücksraum herumliegen lässt, die, die du im Salon vergessen hast, und die, die du mit in dein Schlafzimmer genommen hast. Außerdem, das wirst du wohl nicht leugnen wollen, quellen die Regale in der Bibliothek über.“

„Das alles war schon so, als Vater noch lebte. Er hat Bücher geliebt. Die wenigen Bände, die ich seiner Sammlung hinzugefügt habe, sind …“

Hector unterbrach sie. „Es war völlig unnötig, seiner Sammlung überhaupt etwas hinzuzufügen! In diesem Haus gibt es mehr Bücher, als ein Mensch im Laufe seines Lebens lesen kann.“

Penelope runzelte ärgerlich die Stirn und dachte: Vielleicht, wenn man so langsam liest wie du, mein ungebildeter Bruder!

„Und jetzt beginnst du Bücher zu kaufen, die du bereits besitzt! Das ist nicht normal. Das muss aufhören, Penny. Verstehst du mich? Ich bin mit meiner Geduld am Ende!“

Diesmal vergaß sie zu zählen. Ihr Temperament ging mit ihr durch, und sie rief zornig: „Unter diesen Umständen bin ich nicht bereit, auch nur einen Tag länger mit dir unter einem Dach zu leben!“

„Nun, du hast wohl keine andere Wahl.“

„Ich könnte heiraten! Ja, ich werde jemanden zum Ehemann nehmen, der mehr Verständnis für mich hat als du. Mein Gatte wird einfühlsam, freundlich und großzügig sein! Er wird nichts dagegen einzuwenden haben, dass ich ein paar Pfund im Monat für Bücher ausgebe.“

Der Blick ihres Bruders drückte Mitleid aus, aber seine Stimme hatte einen sarkastischen Unterton, als er fragte: „Und wo, liebe Schwester, wirst du diesen idealen Gemahl finden? Hast du etwa vergessen, welche Katastrophen du als Debütantin heraufbeschworen hast? Trotz deiner beachtlichen Mitgift wollte dich niemand haben, der sich auch nur ein einziges Mal mit dir unterhalten hatte. Du bist viel zu eigensinnig. Ein Gentleman zieht eben eine Gattin vor, die sich bereitwillig seiner Führung anvertraut, seine Klugheit nicht infrage stellt und den Haushalt nicht vernachlässigt, weil sie ständig die Nase in ein Buch steckt.“

Vier Jahre war es her, dass sie in die Gesellschaft eingeführt worden war, aber die Erinnerung an jene Saison schmerzte Penelope noch immer. Es war beschämend, daran zurückzudenken, wie wenig Erfolg sie gehabt hatte. Trotzdem straffte sie jetzt kampflustig die Schultern. „Bestimmt gibt es irgendwo einen Gentleman, der nichts gegen eine intelligente Gemahlin einzuwenden hat. Jemanden, mit dem ich mich austauschen kann …“

„Ha!“ Hector schüttelte missbilligend den Kopf. „Solltest du jemals einen solchen Mann kennenlernen, werde ich nichts gegen eure Heirat einwenden. Allerdings habe ich den Eindruck, dass du nicht einmal nach einem Gatten suchst. Und wie sollte ein Gentleman, der sich verehelichen will, dich finden? Du versteckst dich doch ständig hinter deinen Büchern und verlässt nie das Haus. Glaubst du, jemand könne aus Versehen in das Zimmer stolpern, in dem du gerade am Schreibtisch sitzt? Ich halte das für äußerst unwahrscheinlich. Deshalb sehe ich mich gezwungen, gewisse Entscheidungen bezüglich deines Lebensstils und deiner Zukunft zu treffen.“

„Aber …“

Er ließ sie nicht ausreden. „Es ist nicht meine Absicht, dich dazu zu drängen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Schließlich wissen wir beide, wie hoffnungslos ein solcher Versuch wäre. Allerdings werde ich auch nicht zulassen, dass du dich weiter in deine Bücher vergräbst, denn das, was du dir bisher an Bildung angeeignet hast, hat dir nur geschadet. Eine Dame sollte sich mit anderen Dingen beschäftigen. Am besten suchst du dir gleich eine Handarbeit. Deinen Kopf jedenfalls solltest du jetzt nicht weiter anstrengen. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, Schwester.“ Damit wandte er seine ungeteilte Aufmerksamkeit der Post zu.

Penelope war vergessen.

Eins, zwei, drei …

Sie machte ein paar Schritte in Richtung der Treppe, wohl wissend, dass sie sich nur selbst schaden würde, wenn sie ihre Meinung zu dem äußerte, was Hector gesagt hatte. Entschlossen begann sie, die Stufen hinaufzusteigen.

Ihr Bruder war wirklich ein überheblicher Dummkopf! In einem allerdings hatte er recht: Bis zu ihrer Eheschließung war er durchaus befugt, ihre Finanzen zu verwalten. Dabei brauchte sie keineswegs jemanden, der sich um ihr Vermögen kümmerte. Sie war klug genug, ihre Geldgeschäfte selbst zu regeln. Wahrscheinlich konnte sie das sogar besser als Hector. Er hatte keine glückliche Hand bewiesen, seit er die Druckerei übernommen hatte, die ihr Vater so erfolgreich aufgebaut hatte.

Der verstorbene Mr. Winthorpe hatte jedes einzelne Buch geliebt, das in seinem Unternehmen gedruckt und gebunden wurde. Er hatte sich für die verschiedenen Papiersorten ebenso begeistern können wie für unterschiedliche Drucktypen und Einbände. Selbst eine einfache Einladungskarte hatte er in ein kleines Kunstwerk verwandelt.

… vier, fünf, sechs …

Für ihren Bruder war das Geschäft nichts weiter als eine Möglichkeit, Geld zu verdienen – oder zu verlieren. Soweit Penelope wusste, hatte es eine Reihe von Verlusten gegeben. Auf lange Sicht würde vermutlich auch ihr Erbteil irgendwo in dem nun keineswegs mehr besonders erfolgreichen Unternehmen verschwinden. Da Hector immer wieder falsche Entscheidungen traf, würde er ihr Geld Pfund für Pfund aufbrauchen, um die von ihm verschuldeten finanziellen Engpässe zu überbrücken.

Dass sie das tags zuvor beim Dinner erwähnt hatte, war zweifellos der Grund für seinen Ärger. Er wollte ihr zeigen, wer der Herr im Hause war.

… sieben, acht, neun …

Es war wirklich unerträglich! Sie konnte nicht den Rest ihres Lebens im Haushalt eines Menschen verbringen, der ständig bemüht war, sie zu unterdrücken und ihr alle Freude zu rauben. Sie stellte sich vor, wie sie Bücher ins Haus schmuggeln würde, stets voller Angst, dass Hector es bemerken könnte. Nein, es war undenkbar, nach seinen Regeln zu leben!

… zehn …

Und deshalb blieb ihr nur ein Ausweg: Sie musste heiraten! Wenn sie sich bloß ausmalte, welche Vorschriften ihr Bruder ihr zu machen gedachte, zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Ich muss ganz schnell einen Gatten finden!

Penelope hatte jetzt ihr Zimmer erreicht. Sie ging zur Klingelschnur und zog drei Mal daran. Dann wandte sie sich ihrem Kleiderschrank zu. Als Erstes nahm sie das Reisekostüm heraus, das sie einige Monate nach dem Tod ihres Vaters hatte anfertigen lassen und das demzufolge in verschiedenen Grautönen gehalten war. Auch der größte Teil ihrer sonstigen Kleidung stammte noch aus der Trauerzeit. Nachdenklich betrachtete sie die schlichten Teile.

In diesem Moment klopfte es.

„Herein!“

Es war Jem, der Älteste der Dienstboten. Wie immer, wenn er die Privatzimmer seiner Herrin betrat, schaute er voller Unbehagen zu Boden. Vor einiger Zeit hatte er tatsächlich gewagt, Miss Winthorpe zu bitten, eine Zofe einzustellen. Doch Penny hatte nur den Kopf geschüttelt und erwidert: „Dazu ist es noch früh genug, wenn ich mich für eine aufwendige Frisur entscheide oder Kleider tragen will, die besonders schwer zu bügeln sind. Sie jedoch, Jem, brauche ich immer dann, wenn ich einen Rat benötige.“

„Miss?“ Er spürte deutlich, dass etwas nicht in Ordnung war.

„Ich möchte, dass Sie mir eine Kutsche besorgen.“

„Sie beabsichtigen, eine Ausfahrt zu unternehmen, Miss?“

„Würde ich sonst nach einer Kutsche verlangen?“

„Dann wollen Sie wohl in den Buchladen?“

Vermutlich hat er das Gespräch in der Eingangshalle belauscht, dachte Penelope, und befürchtet nun, ich wolle mich über Hectors Befehle hinwegsetzen.

Laut sagte sie: „Es ist mir nicht gestattet, Bücher zu kaufen.“

Jem entspannte sich ein wenig.

„Deshalb werde ich etwas tun, wogegen mein Bruder nichts einwenden kann. Ja, er hat es sogar ausdrücklich von mir verlangt. Er sagte, ich solle mich mehr wie andere junge Damen benehmen.“

Der Bedienstete schaute sie erwartungsvoll an.

„Also werde ich mir einen Gatten suchen.“

„Alles verloren …“ Adam Felkirk, Duke of Bellston, starrte auf den Brief, den er in den Händen hielt. Er konnte die Buchstaben kaum entziffern, so sehr zitterten seine Finger und demzufolge auch das Blatt Papier.

Tief seufzte er auf. Es war in gewisser Weise beruhigend, dass er mehr Trauer über den Tod von beinahe hundert Seeleuten empfand, als über den Verlust der Ladung. Sein Mitgefühl galt auch den Frauen und Kindern der Verstorbenen. Waren sie sich darüber klar gewesen, wie gefährlich der Beruf ihrer Angehörigen war? Vermutlich ja …

Bellston hingegen hatte nie darüber nachgedacht, dass seine Investition große Risiken barg. Als er sich entschloss, Geld ins Tabakgeschäft zu stecken, war er sich klug und vernünftig vorgekommen.

Er verstand wenig von solchen Dingen, denn sein Hauptinteresse galt der Verwaltung des Familienbesitzes. Im Frühjahr waren ungewöhnlich viele Lämmer gestorben. Dann hatte die sommerliche Trockenheit eine schlechte Getreideernte zur Folge gehabt. Also hatte er sich nach einem gewinnbringenden Unternehmen umgeschaut, um die Verluste ausgleichen zu können. Als er erfuhr, wie groß die Gewinnspanne bei Tabak war, hatte er sich entschlossen, sein verbliebenes Geld zu investieren.

Jetzt aber war das Schiff gesunken. Seine Pläne waren gescheitert. Er war ruiniert.

Dafür konnte er nur sich selbst verantwortlich machen. Er trug die Schuld an allem. Gott bestrafte ihn für die Fehler, die er im Jahr zuvor begangen hatte. Er selbst würde sich niemals verzeihen, dass es zu dem Brand gekommen war. Aber warum wurden so viele andere mit ihm bestraft? Als er an die für immer von Brandwunden gekennzeichneten Arme seines Bruders dachte, spürte er, wie die Last der Verantwortung ihn niederdrückte.

Die schlechte Ernte hatte ihn vor die Wahl gestellt, entweder seinen Bauern die Pacht zu erlassen oder sie samt ihren Familien auf die Straße zu setzen, weil sie nicht zahlen konnten. Er hatte ihnen erlaubt zu bleiben, aber hungern würden sie im Winter trotzdem. Immerhin würden sie überleben, während die Seeleute auf dem Tabak-Frachter ertrunken waren.

Er würde seinem Bruder mitteilen müssen, dass von ihrem väterlichen Erbe nichts mehr übrig war. Der Besitz war hoch verschuldet, das Herrenhaus seit dem Brand teilweise zerstört. Und es gab nichts mehr, das er verkaufen konnte, denn seine Herden waren geschrumpft, seine Felder kahl, und sein Tabak lag auf dem Meeresgrund.

Ihm fiel nichts ein, was er noch hätte tun können. Ja, er fürchtete sich sogar davor, etwas zu unternehmen, weil womöglich wieder Unschuldige unter den Folgen leiden würden.

Er bestellte sich noch einen Whisky. Wenn er sich nicht verrechnet hatte, würde er mit seinem restlichen Geld genug Alkohol kaufen können, um sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Zu mehr allerdings würde es nicht reichen. Vielleicht würde der Wirt ihm ein Zimmer überlassen, ohne auf einer Vorauszahlung zu bestehen, weil sein Äußeres auf einen gewissen Wohlstand schließen ließ. Man sah ihm schließlich nicht an, dass zu Hause ein hoher Stapel unbezahlter Rechnungen auf ihn wartete.

Ihm blieben nur noch zwei Dinge von Wert: die Uhr seines Vaters und die Lebensversicherung, die er vor einiger Zeit abgeschlossen hatte.

Seine Hände hörten auf zu zittern, als ihm klar wurde, dass er eine Lösung für seine Probleme gefunden hatte. Als Verwalter des ererbten Besitzes und auch als Privatmann hatte er versagt. Er hatte die Ehre der Felkirks beschmutzt und das Familienvermögen verloren. Er hatte seinen besten Freund hintergangen und war dafür bestraft worden. Als Gentleman blieb ihm eigentlich nur ein ehrbarer Ausweg: Er musste einen Abschiedsbrief schreiben und sich erschießen. Dann würde der Titel an seinen Bruder William fallen, der den Pflichten eines Dukes vielleicht besser gerecht werden würde.

Das bedeutet allerdings, dass William auch die Schulden erben würde. Zudem würde er die Kosten für meine Beerdigung aufbringen müssen.

Aber da war noch die Lebensversicherung. Wenn er nicht freiwillig aus dem Leben schied, sondern bei einem Unfall umkam, würde man eine beachtliche Summe an seinen Bruder auszahlen. William würde den Titel und die Schulden erben, ja. Doch mit dem Geld aus der Versicherung würde er alle finanziellen Verpflichtungen begleichen und die Zeit bis zur nächsten Ernte überbrücken können.

Wieder einmal dachte Adam darüber nach, wie ungerecht es war, dass bei den Felkirks der jüngere Sohn der Klügere war. Er selbst kam sich oft schwerfällig vor, und er wusste nur zu gut, wie dickköpfig er sein konnte. Außerdem neigte er zu unüberlegten Handlungen und nahm nur ungern einen Rat an. Sein Bruder hingegen hatte von jeher über einen raschen Verstand und große Selbstbeherrschung verfügt.

William war ein wunderbarer Mensch. Er liebte ihn, kritisierte ihn nie, ganz gleich welche Fehlentscheidung er traf, und neidete ihm weder den Titel noch den damit verbundenen Besitz. Doch wenn er ihn erbte, würde er sich bestimmt als guter, verantwortungsbewusster Duke erweisen. Ja, in Zukunft sollte Will sich um alles kümmern! Eine bessere Lösung gab es nicht. Bellston leerte sein Glas und beschloss, den Weg für seinen Bruder frei zu machen.

Er legte den Brief auf den Tisch und straffte die Schultern. Sein Entschluss stand fest. Ein Unfall würde alle Probleme beseitigen. Wie aber ließ sich ein solcher Unfall am besten herbeiführen?

Adam Felkirk bestellte noch einen Whisky. Er trank und spürte, wie ihm der Alkohol zu Kopf stieg. Das war gut. Schmerz und Scham ließen langsam nach. Bestimmt würde er sich genug Mut antrinken können, um seinen Plan auszuführen. Außerdem würde niemand annehmen, dass er den Tod gesucht hatte, wenn er total betrunken war. Man würde glauben, dass er tatsächlich durch einen Unfall ums Leben gekommen war.

Er gab dem Wirt ein Zeichen. „Lassen Sie die Whiskyflasche hier“, sagte er mit schwerer Zunge.

Von draußen drang das Rattern von Rädern und das Klappern von Hufen an sein Ohr. Es herrschte viel Betrieb. Bellston stellte sich vor, wie schlüpfrig die Steine im Hof waren, wie leicht es sein würde, auszurutschen und zu stürzen. Dann die Pferdehufe und gleich darauf die Räder der Kutsche … Kein angenehmer Tod! Aber welcher Tod war schon angenehm?

Er füllte sein Glas und trank. Die Gelegenheit war günstig. Er musste sie nur ergreifen.

Er nahm einen letzten Schluck und erhob sich. Einen Moment lang schien sich alles zu drehen, und er musste sich an der Tischkante festhalten. Nun, die nötigen Schritte würde er wohl machen können. Mit bebenden Fingern nahm er ein paar Münzen aus der Tasche seines Rocks und legte sie neben das leere Glas. Dann wünschte er dem Wirt eine gute Nacht.

Seine Zunge wollte ihm kaum gehorchen. Nun gut. Aber seine Beine würden ihn noch ein Stück tragen müssen.

Schwankend ging er auf die Tür zu, stieß einen der Gäste an und entschuldigte sich, jetzt beinahe lallend. Endlich stolperte er in den Hof hinaus.

Er hörte, wie eine Kutsche sich näherte, und schaute bewusst nicht zu ihr hin. Er hob den Kopf, die Sonne blendete ihn. Nun war er nicht nur betrunken, sondern auch fast blind.

Umso besser, dachte er, denn wenn ich die Gefahr nicht sehe, kann ich ihr nicht ausweichen.

Das Rattern der Räder war jetzt so laut, dass die Kutsche ihn fast erreicht haben musste. Er spürte, wie die Steine unter seinen Füßen bebten. Dann machte er einen großen Schritt nach vorn.

„Vorsicht, Sir!“, schrie jemand.

„Passen Sie doch auf, verdammt!“

„O mein Gott!“

Seine Knie gaben unter ihm nach, und er stürzte nach vorn, direkt vor die sich nähernden Zugpferde.

2. KAPITEL
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Zu Beginn der Reise hatte Penelope Winthorpe das gleichmäßige Schaukeln der Kutsche als beruhigend empfunden. Doch inzwischen erfüllte sie ein ständig wachsendes Gefühl der Sorge. Sie waren nach Norden gefahren, in Richtung Schottland. Tagsüber hatten sie in Wirtshäusern Pause gemacht, um zu essen, die Nächte hatten sie in Gasthöfen verbracht. Sie waren vielen Menschen begegnet, aber Penelope war ihrem Ziel, einen Gatten zu finden, keinen Schritt näher gekommen.

Jem hatte zunächst einen äußerst unglücklichen Eindruck gemacht. Doch nachdem ihm klar geworden war, dass nicht er zum Bräutigam auserkoren war, hatte er sich ein wenig entspannt. Er hatte sich sogar die Freiheit genommen, zu seiner Herrin zu sagen: „Einen Gatten kann man nicht so einfach anmieten wie eine Kutsche, Miss.“

Penelope hatte eine optimistische Miene aufgesetzt und erwidert: „Die Enttäuschungen, die ich in der Vergangenheit erlebt habe, hingen zweifellos mit den unrealistischen Erwartungen zusammen, die sowohl ich als auch gewisse Gentlemen hegten. Ich suchte nach einem Seelenverwandten, sie wünschten sich eine fügsame Gattin. Nun, fügsam werde ich nie sein. Zudem sind die meisten jungen Damen hübscher als ich. Deshalb habe ich mich inzwischen damit abgefunden, dass ich wohl kaum einen Gemahl finden werde, der meine Interessen teilt und mich wirklich versteht. Aber irgendwer wird bereit sein, mich zu heiraten.“

Jem hatte seine Lippen fest zusammengekniffen und geschwiegen.

„Ich werde“, erklärte Penelope nun ungerührt, „meinem Zukünftigen eine Art Vertrag anbieten. Wir alle wissen, wie hart die Zeiten sind. Viele ehrbare Männer, gerade im nördlichen England, haben ihre Arbeit verloren. Warum sollte nicht einer von ihnen bereit sein, mich gegen eine angemessene Entschädigung zur Frau zu nehmen? Ein rein geschäftlicher Vorgang …“

Jetzt konnte der alte Diener sich nicht länger beherrschen. „Es ist nicht richtig, die Ehe wie ein Geschäft zu führen.“

„Mein Bruder hat mir oft genug versichert, dass sie in meinem Fall einerseits ein gutes Geschäft, andererseits eine unangenehme Aufgabe für den Ehemann sein würde. Warum also sollte ich versuchen, einem Gentleman, der als Bräutigam infrage käme, etwas anderes zu vermitteln? Ich werde ihm klarmachen, dass er nur ein paar Papiere unterzeichnen und eine Zeit lang mit mir im gleichen Haushalt leben muss, damit Hector zufrieden ist. Andere eheliche Pflichten braucht er nicht zu übernehmen. Ich erwarte weder Treue noch eine Änderung seines Lebensstils von ihm. Zudem werde ich ihn für seine Mühen gut entlohnen.“

„Aber Männer haben … Bedürfnisse“, murmelte Jem. „Keiner wird sich damit zufriedengeben, Ihnen …“

„Unsinn!“, unterbrach sie ihn. „Sehen Sie mich doch an! Man hat mir oft genug zu verstehen gegeben, dass es mir an weiblichen Reizen fehlt. Warum sollte ein Mann mir zu nahe treten wollen, wenn er durch die Eheschließung nicht in seinen Freiheiten beschnitten wird?“

Der Bedienstete schüttelte den Kopf.

„Außerdem habe ich Sie ja mitgenommen, damit Sie, wenn nötig, meine Ehre schützen können.“

„Wenn Sie erst verheiratet sind, kann niemand Sie vor Ihrem Gatten schützen. Sie müssen sich ihm unterordnen.“

Penelope zuckte die Schultern. „Jetzt muss ich mich Hectors Wünschen und Entscheidungen beugen. Natürlich werde ich mir einen Gemahl suchen, der nicht so unnachgiebig wie mein Bruder ist. Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich ein Risiko eingehe. Aber ich bin sicher, dass ich Mittel und Wege finde, meinen Willen durchzusetzen.“

„Sie könnten an den falschen Mann geraten.“

„Ich werde vorsichtig sein. Und über alles Weitere werde ich mir Gedanken machen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“ Sie wandte den Kopf ab und schaute aus dem Fenster. „Wir sind schon so nah an der Grenze. Eigentlich hatte ich gehofft, früher auf einen passenden Ehekandidaten zu treffen.“

„Wir sollten beim nächsten Gasthof noch einmal Pause machen.“

„Unbedingt! Es wäre gut, wenn ich endlich einen Gentleman kennenlernen würde, der nicht sehr klug, aber liebenswürdig ist. Ich fände es auch nicht schlimm, wenn er trinkt. Wenn immer genug geistige Getränke im Haus sind, wird er mir wahrscheinlich kaum Beachtung schenken.“

Jem sah entrüstet drein. „Der arme Kerl soll ständig betrunken sein, damit Sie tun und lassen können, was Sie wollen?“

„Ich beabsichtige lediglich, ihm die Gelegenheit zu geben, sich das eine oder andere Glas zu gönnen. Wenn er dem Angebot nicht widerstehen kann, dürfte das wohl kaum mein Fehler sein.“

Die Pferde verlangsamten ihren Schritt. Offenbar näherte man sich einem Wirtshaus. Penelope schickte ein stilles Gebet zum Himmel. Wenn sie doch nur endlich einen passenden Bräutigam finden würde! In den anderen Gasthöfen war sie nur zwei Sorten von Männern begegnet: Die einen waren viel zu arrogant und wohlhabend, um Interesse an einem Angebot wie dem ihren zu zeigen; die anderen waren zwar arm, aber offenbar sehr ungebildet und womöglich gewalttätig. Keiner von ihnen hätte ihr mehr Freiheiten gelassen als ihr Bruder. Aber irgendwo zwischen London und Gretna Green musste es doch einen Gentleman geben, der ihren Vorstellungen entsprach!

Die Kutsche kam so plötzlich zum Stehen, dass Miss Winthorpe sich an der ledernen Schlaufe über dem Fenster festhalten musste, um nicht vom Sitz zu rutschen. Eines der Pferde wieherte schrill auf. „Vorsicht, Sir!“, schrie jemand, und der Kutscher begann lauthals zu fluchen. Jem war blass geworden, bedeutete seiner Herrin aber, ruhig sitzen zu bleiben, während er den Schlag öffnete und ausstieg, um nachzuschauen, was geschehen war.

Penelope zögerte nicht, neugierig den Kopf aus der Kutschentür zu strecken.

Sie befanden sich im Hof des Wirtshauses, in dem sie Station machen wollten. Vor der Kutsche hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Und jetzt erkannte Penelope auch den Grund: Auf dem Kopfsteinpflaster lag mit dem Gesicht nach unten ein Mann. Die Hufe der Pferde, die noch immer nervös waren, berührten fast seinen reglosen Körper. Zweifellos war es nur der Erfahrung des Kutschers zu verdanken, dass die Tiere vor dem Bewusstlosen zum Stehen gekommen waren.

Es schien sich um einen Gentleman zu handeln. Er war gut gebaut, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Sein dunkler Rock, aus feinem Tuch gefertigt, saß perfekt, soweit Penelope das feststellen konnte. Dazu trug er Wildlederhosen, die sehr gepflegt wirkten, auch wenn sie unten mit Schlamm bespritzt waren.

Jem hatte sich neben den Fremden gekniet und fasste jetzt nach dessen Schulter. Nichts … Er schüttelte den Ohnmächtigen vorsichtig. Keine Reaktion … Schließlich drehte er ihn auf den Rücken.

Das blasse Gesicht des Mannes war glatt rasiert, sein dunkles Haar modisch geschnitten, auch wenn es jetzt unordentlich wirkte. Die Hände mit den langen schlanken Fingern zeigten keinerlei Spuren harter Arbeit.

Vielleicht, dachte Penelope, hat er sein Leben der Wissenschaft gewidmet. Aber nein, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Eher schon mochte es sich um einen Lebemann handeln. Dafür sprach auch sein Zustand. Er schien sehr betrunken zu sein.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie beschloss auszusteigen. Hatte sie endlich ihren perfekten Ehekandidaten gefunden?

„Bringen Sie ihn in die Kutsche“, befahl sie Jem.

Der warf ihr einen entsetzten Blick zu. Offenbar fürchtete er, sie habe den Verstand verloren.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu und sagte leise, sodass die Umstehenden ihre Worte nicht verstehen konnten: „Ich habe auf das Schicksal vertraut und fest daran geglaubt, dass ein passender Mann meinen Weg kreuzen würde. Nun ist genau das geschehen. Ich bin nicht bereit, mir diese Chance entgehen zu lassen.“

Der Bedienstete wandte den Blick von ihr ab und begann wieder, den Bewusstlosen zu schütteln. „Sir? Wachen Sie auf, Sir!“

Langsam schlug dieser die Augen auf. Sie waren tiefblau. Seine bleichen Wangen nahmen wieder etwas Farbe an. Er blinzelte in die Sonne, seufzte und murmelte mit schwerer Zunge: „Es hat gar nicht wehgetan. Ich dachte, es würde …“ In diesem Moment bemerkte er Penelope. „Sind Sie ein Engel?“, fragte er mit einem zaghaften Lächeln.

„Sie müssen betrunken sein!“

„Möglich“, stimmte er zu. „Das heißt: Wenn ich noch lebe, bin ich betrunken. Wenn ich aber tot bin, bin ich glücklich. Und Sie …“, er zeigte mit dem Finger auf Penelope, „… sind ein Engel.“

Sie zuckte die Schultern. „Wie dem auch sei, Sie sollten nicht hier auf der Erde liegen. Es wäre nett, wenn Sie zu mir in die Kutsche steigen würden. Ich befinde mich auf einer Reise …“

„… zum Himmel“, ergänzte er.

Ihre Gedanken wandten sich Gretna Green zu, dem Ziel ihrer Fahrt. Dort mochte es ja ganz nett sein, gewiss aber nicht paradiesisch. Überraschend diplomatisch meinte sie: „Befinden wir uns nicht alle auf dem Weg zum Himmel? Nur, dass manche ihm schon ein bisschen näher sind als andere …“

Er versuchte sich aufzurichten, war aber anscheinend aus eigener Kraft nicht dazu in der Lage. Mit Jems Hilfe kam er schließlich auf die Füße. Er schwankte, schloss kurz die Augen und sagte dann ziemlich deutlich: „Ich werde Ihnen folgen, denn gewiss hat Gott Sie gesandt, um mir den Weg zu weisen.“

Jem drückte ihm ein Taschentuch in die Hand, das er aber nur verständnislos anstarrte. Schließlich nahm der Bedienstete es wieder an sich, säuberte Gesicht und Hände des Mannes und umfasste dann seine Schultern. „Sir, Sie haben getrunken“, erklärte er langsam und jedes Wort betonend. „Sie sind gestürzt und wären fast überfahren worden. Sind Sie allein hier? Oder haben Sie Freunde, die Ihnen helfen können?“

„Freunde? Meine Freunde können mir nicht helfen, den Weg zum Himmel zu finden.“ Er sprach jetzt viel klarer. „Sie haben sich für einen anderen Weg entschieden. Außerdem ist keiner von ihnen hier. Ich bin vollkommen allein.“

„Das ist schlecht“, murmelte Jem. „Wir …“

„Wir“, fiel Penelope ihm ins Wort und schenkte dem Fremden ein strahlendes Lächeln, „können Sie, Sir, unter diesen Umständen natürlich nicht hier zurücklassen. Womöglich stürzen Sie noch einmal. Sie sollten wirklich mit uns fahren.“

Jem sah ein, dass er sich geschlagen geben musste. Glücklicherweise schien der Fremde harmlos zu sein. „Steigen Sie also ein“, meinte er. „Sie müssen aber versprechen, dass Sie die junge Dame nicht belästigen.“

„Niemals würde ich mir Freiheiten gegenüber einem so himmlischen Wesen herausnehmen! Das schwöre ich bei meiner unsterblichen Seele und bei meiner Ehre als Gentleman.“ Er machte ein paar unsichere Schritte in Richtung der Kutsche.

Die Menge begann sich zu zerstreuen. Die ganze Angelegenheit war zwar ein wenig undurchsichtig, aber nicht länger von Interesse.

„Wenn Sie ihn unbedingt haben wollen“, flüsterte Jem seiner Herrin zu, „dann werde ich Sie nicht daran hindern. Er ist ein Dummkopf und obendrein betrunken, aber gefährlich scheint er nicht zu sein. Wenn ich mich allerdings täusche …“ Er zuckte die Schultern. „Das würde Ihr Bruder mir nie verzeihen.“

„Mein Bruder wird vermutlich sowieso nie wieder ein Wort mit Ihnen reden. Sobald er erfährt, dass Sie mir geholfen haben, wird er sich weigern, Sie je wieder ins Haus zu lassen. Es ist also viel besser für Sie, wenn Sie mich unterstützen. Ich würde Sie niemals hinauswerfen. Im Gegenteil, wenn diese Geschichte ein gutes Ende nimmt, können Sie mit einer Belohnung rechnen.“

Er warf ihr einen Blick zu, der deutlich verriet, dass er keineswegs von einem guten Ausgang dieses Abenteuers überzeugt war. Aber dann half er zuerst ihr und anschließend dem Fremden in den Wagen. Als Letzter stieg er selbst ein und klopfte kurz gegen die Decke. Auf dieses Zeichen hin ließ der Kutscher die Pferde wenden, und gleich darauf waren sie wieder auf der Straße nach Norden.

Penelope musterte den Mann, den sie ihrer festen Überzeugung nach bald heiraten würde, eingehend. „Ich glaube, ich habe Sie noch gar nicht nach Ihrem Namen gefragt“, meinte sie schließlich.

„Adam Felkirk.“ Er deutete eine Verbeugung an und wäre dabei beinahe vom Sitz gefallen. „Und wie heißen Sie?“

„Penelope Winthorpe.“

„Das ist kein Name für einen Engel … Dann bin ich also nicht tot?“ Er schien darüber enttäuscht zu sein.

„Nein. Aber ich habe den Eindruck, dass Sie sich in Schwierigkeiten befinden.“

„Das tue ich allerdings. Zumindest werde ich Probleme haben, wenn ich morgen früh aus meinem Rausch erwache.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Jetzt geht es mir gut.“

„Würde es Ihnen gefallen, wenn ich Ihnen so viel Whisky gäbe, dass Sie nie wieder nüchtern werden?“

„Sogar sehr!“

„Jem!“ Sie wandte sich dem Bediensteten zu. „Ich weiß, dass Sie Whisky haben.“

Autor

Christine Merrill

Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...

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