Wie zähmt man eine Widerspenstige?

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Sie war einem gewissenlosen Verführer zu Willen - jetzt ist Beatrice eine gefallene Frau! Verzweifelt flieht sie nach Schottland, wo unerwartet ihr Jugendfreund Preston Worth auftaucht. Er macht ihr einen gewagten Vorschlag, der zwar ihre verlorene Ehre wieder herstellen, aber ihr Herz für immer brechen könnte …


  • Erscheinungstag 21.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719708
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Schottland, April 1822

Der Jüngste Tag war angebrochen und hatte Preston Worth gleich mitgebracht. Es konnte nur einen Grund für Prestons Hiersein geben. Er war gekommen, um sie zu holen. Endlich. Beatrice, von allen Bea genannt, wusste es in dem Moment, als sie ihn auf den Maddox-Hof reiten sah. Nach monatelangem Warten stand ihr schließlich doch die Abrechnung bevor, die sie so fürchtete.

Bea schloss die Augen und versuchte, das Entsetzen zu unterdrücken, das sie zu überwältigen drohte, aber ohne großen Erfolg. Die Monate, in denen sie sich für das Unvermeidliche gewappnet hatte, halfen jetzt überhaupt nicht. Hilflos ballte sie die plötzlich ganz kalten Hände zu Fäusten, in einem verzweifelten Versuch, ihre Angst in Bann zu halten. Doch Übelkeit packte sie, ihr Herz schlug schneller, und ihr wurde schwindlig. Vom Fenster aus sah sie Preston vom Pferd steigen und mit langen entschlossenen Schritten auf das Haus zugehen.

In diesen letzten Momenten, die ihr noch von ihrer Freiheit geblieben waren, konnte sie nur zwei klare Gedanken fassen. Der erste: Sie musste jetzt sofort handeln! Eine innere Stimme schrie ihr regelrecht zu, dass sie das Baby nehmen und davonlaufen sollte. Ihrer Freiheit wäre ein Ende gesetzt, sobald Preston das Haus betreten haben würde. Der zweite Gedanke war, dass ihre Eltern sich dieses Mal wirklich selbst übertroffen hatten. Sie hatten ausgerechnet einen ihrer Freunde als apokalyptischen Reiter geschickt. Und genau das war das Problem. Sie brauchte sich nicht vor ihrem Freund zu fürchten, dem Helden ihrer Jugend, dem Retter ihrer Saisons in London, der immer einen Tanz mit ihr antrat, wenn sich sonst niemand auf ihrer Tanzkarte eingetragen hatte. Aber Bea fürchtete die Botschaft, die er brachte. Wie kämpfte man gegen jemanden an, der nicht der Feind war? Dennoch musste sie Preston bekämpfen. Das hier war der Weltuntergang für sie, das Ende der Welt, die sie sich wünschte – falls sie den Kampf verlor, der bevorstand.

Sie würde ihn nicht verlieren. Sie war Beatrice Penrose und wusste gar nicht, wie man verlor. Allen Widrigkeiten zum Trotz würde sie triumphieren. Sie hatte als unverheiratete Frau ein Kind zur Welt gebracht und es überstanden. Konnte es für eine junge Frau größere Widrigkeiten geben? Unten an der Tür waren Stimmen zu hören. Mrs. Maddox und Preston machten sich miteinander bekannt. Mühsam riss Bea sich zusammen. Sie lockerte ihre Fäuste und strich den Rock glatt, wo sie ihn zwischen ihren Fingern zusammengedrückt hatte. Tief durchatmend, ermahnte sie sich, Haltung zu bewahren. Innerlich konnte sie so viel zittern, wie sie nur wollte. Aber sie durfte es nicht zeigen. Preston sollte auf keinen Fall erkennen, wie sehr sein Besuch sie in Schrecken versetzte.

Schritte waren vor der Tür zum Salon zu hören. Bea straffte die Schultern und hob das Kinn. Sie war Beatrice Penrose. Sie würde auch das jetzt überstehen. Ein letzter tiefer Atemzug, bevor die Axt herniedersausen und ihre Freiheit beschneiden würde.

„Hallo, Bea. Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen.“

Sie wandte sich vom Fenster ab, um ihrem Schicksal zu begegnen – nein, nicht ihrem Schicksal, sondern ihrer Zukunft. Das Schicksal war etwas, das man hinnahm, während man seine Zukunft selbst gestaltete. Und das bedeutete, dass sie die Richtung dieses Gesprächs bestimmen würde. Die Zukunft stand vor ihr – hochgewachsen und dunkelhaarig mit klugen braunen Augen. Preston, der Freund ihrer Kindheit. Doch heute kam er ihr verändert vor, und das nicht nur wegen der staubigen Stiefel und des windzerzausten Haars. Bea konnte nur nicht genau sagen, woran das lag. Sie war noch zu zerstreut und wünschte verzweifelt, sie könnte ihre Aufgeregtheit zügeln.

Höflich wies sie auf die Sessel vor dem kalten Kamin. „Bitte setz dich doch. Du hättest uns benachrichtigen können.“ Wenigstens hatte sie ihre Sprache wiedergefunden, wenn ihre Stimme auch ein wenig schwach klang.

„Und damit die Überraschung verderben?“ Preston nahm Platz, und Bea setzte sich neben die Wiege, in der ihr Sohn nichtsahnend schlief. Sie begann, ihn mit dem Fuß zu schaukeln, gar nicht so sehr, damit er nicht aufwachte, sondern um sich selbst zu beruhigen. „Du musst mir erzählen, was es Neues gibt aus Little Westbury. Wie geht es Evie und ihrem Mann? Nach allem, was sie mir in ihren Briefen schreibt, muss er ein wahres Muster an Vollkommenheit sein. Es ist kaum zu glauben, dass ich ihre Hochzeit verpasst habe.“ Sie redete zu schnell und konnte sich trotzdem nicht bremsen. „Ich möchte jede Einzelheit erfahren, und von May und Liam musst du mir auch erzählen. Inzwischen müssen sie bereits geheiratet haben.“ Besonders gut gelang es ihr nicht, zu verbergen, wie sehr seine Gegenwart sie aufwühlte, aber vielleicht konnte sie ein wenig Zeit gewinnen, bis sie sich wieder gefasst hatte.

Ob Preston irgendetwas auffiel oder nicht, in jedem Fall tat er ihr den Gefallen, es sie nicht spüren zu lassen. Denn er war ein Gentleman und außerdem ihr Freund. Sie waren zusammen aufgewachsen. Oft hatte er, als sie jünger waren, die Rolle des großen Bruders übernommen für alle Freundinnen seiner Schwester, die nur Schwestern hatten oder, wie Bea, keine Geschwister. Freundlich unterhielt er sie nun mit Geschichten über Evies Hochzeit und dem neuen Haus, das ihr Prinz im Tal gekauft hatte. Er erzählte ihr von Liams bevorstehender Zeremonie, in der ihm die Ritterwürde verliehen werden sollte, und von Mays eleganter Hochzeit im Mai in St. Martin-in-the-Field. Und so verging eine Stunde, und Bea begann schon zu hoffen, dass er es vergessen hatte. „Und Mays Kleid? Du hast mir noch nicht gesagt, was sie getragen hat“, drängte sie ihn, als das Gespräch langsam versiegte.

Doch Preston war fertig, und er hatte nichts vergessen. „Ich sage kein Wort mehr. Sonst bleibt gar nichts mehr für Evie und May übrig, wenn du nach Hause kommst. Sie werden so froh sein, dich wiederzusehen.“

Seine Antwort brachte sie zum eigentlichen Grund seiner Anwesenheit zurück, trotz Beas Versuch, ihn von dem einzigen Thema abzulenken, das sie nicht besprechen wollte.

Preston lehnte sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt, die braunen Augen, denen seiner Schwester so ähnlich, unverwandt auf sie gerichtet. Die Anspannung, die für kurze Zeit in den Hintergrund gerückt war, stand wieder im Mittelpunkt. „Bea, glaubst du denn, ich weiß nicht, was du vorhast? Du willst mich ablenken, um Zeit zu schinden.“ Ihr gefiel der Anflug von Mitleid nicht, den sie in seinem Blick zu sehen glaubte. „Wozu, Bea? Ich komme ganz einfach morgen wieder und übermorgen ebenfalls, wenn ich muss.“

Seine Worte waren unverblümt, und jetzt erkannte Bea auch, was es war, das ihn so anders erscheinen ließ: Widerwille. Wenn er musste, hatte er gesagt. Also fand er die Aufgabe, die ihre Eltern ihm aufgedrückt hatten, mehr als unangenehm. Preston wollte ebenso ungern hier sein, wie sie ihn hier haben wollte. Das konnte sie zu ihrem Vorteil nutzen. Wenn sie ihn zu ihrem Verbündeten machen, wenn sie ihn mit ihren Argumenten überzeugen könnte, würde er sich vielleicht davon abbringen lassen, den Wunsch ihrer Eltern zu erfüllen. Dann könnte sie ihn nach England zurückschicken und ihn ihre Entscheidung überbringen lassen, dass sie es vorzog zu bleiben. Bea beugte sich vor, endlich ruhig, jetzt, da sie ein Ziel vor Augen hatte. „Ich komme nicht mit zurück.“

Ihre Ankündigung zog lediglich tiefes Schweigen nach sich.

Bea hatte den Grad seines Widerwillens falsch eingeschätzt. Obwohl er nicht begeistert war von seinem Auftrag, war Preston doch entschlossen, ihn zu Ende zu führen. Ein schwaches Lächeln erschien um seine Lippen, als wollte er sich entschuldigen, aber gleichzeitig waren sie entschlossen zusammengepresst. Nun, Bea konnte auch entschlossen sein. Sie würde ihm schon klarmachen, dass sie nicht mehr nach England gehörte. Sie gehörte hierher.

Matthew William wählte diesen Moment, um aus seinem Schlummer zu erwachen. Er streckte seine kleinen Ärmchen, ballte die Händchen und schürzte die Lippen. Während Bea ihn aus der Wiege hob, spürte sie schon, wie ihr Körper auf die Bedürfnisse ihres Sohnes reagierte. Am besten nutzte sie die Gelegenheit, um Preston zu zeigen, dass sie hierher gehörte, dass sie nicht mehr dieselbe Bea war – nicht mehr die verwöhnte Tochter eines wohlhabenden Angehörigen des Landadels, sondern eine vernünftige, realistische Mutter. Das Baby stieß einen Schrei aus, und Bea schenkte Preston ein entschuldigendes, aber stolzes Lächeln. „Er ist hungrig. Immer wenn er aufwacht, ist er hungrig.“

Und hungrige Babys mussten gestillt werden. Sofort und ohne Bedenken. Bea löste das Mieder ihres Kleides und legte das Baby an ihre nackte Brust, ohne auch nur den Anflug von Scham zu empfinden. Wie oft hatte sie ihr Kind nicht schon in den vergangenen Monaten gestillt, unabhängig davon, wer gerade in der Nähe gewesen war? Sie griff nach einer Decke, um sie über sich zu drapieren, aber ihre Handlung hatte bereits die gewünschte Wirkung erzielt. Preston Worth, so weltgewandt er auch war, rutschte unbehaglich auf seinem Sessel hin und her, zweifellos verlegen wegen der Demonstration ihrer Mütterlichkeit. So verhielt sich keine Frau von Stand. Vornehme Mütter stillten ihre Babys nicht selbst. „Habe ich dich in Verlegenheit gebracht? Möchtest du hinausgehen, bis ich fertig bin?“, schlug Bea vor, aber ihr süßer Ton täuschte ihn nicht.

Preston erwiderte ihr Lächeln ganz einfach lässig. „Wirfst du den Fehdehandschuh? Wenn ja, wird es dich enttäuschen, dass ich eher beeindruckt bin als bestürzt. Du stillst den Kleinen, als wäre es das Natürlichste von der Welt.“

„Weil es das auch ist“, erwiderte Bea sofort. Es hatte keinen Zweck, höflich zu sein, wenn er es ihr sowieso nicht abkaufte. „Ich stille ihn schon seit fünf Monaten und habe nicht die Absicht, damit aufzuhören.“

„Was die Teegesellschaften in Little Westbury gewiss beleben wird. Vielleicht schaffst du ja damit eine neue Mode.“ Preston war härter geworden, als sie ihn in Erinnerung hatte. Ein Hinweis darauf, dass sie keine Kinder mehr waren. Von May hatte sie natürlich viel über Prestons Leben erfahren. Sie wusste, dass er einen wichtigen Posten im Innenministerium angenommen hatte. Seine Aufgabe war es, die Küste vor Schmugglern und illegalen Waffenhändlern zu schützen. Aber abgesehen von einigen Tänzen in London, die er aus reiner Bruderpflicht für alle Freudinnen von May absolviert hatte, war Bea nicht mehr mit ihm in Berührung gekommen. Und beim Tanzen lernte man einen Mann leider nicht sehr gut kennen, wie Bea aus bitterer Erfahrung wusste. Der Vater ihres Sohnes war ein hervorragender Tänzer gewesen, was sich nicht als Garantie für seine Ehrenhaftigkeit herausgestellt hatte. Deswegen überlegte sie jetzt, wie gut oder weniger gut sie Preston eigentlich kannte. Er hatte jedenfalls bemerkenswerte Unerschrockenheit bewiesen beim Durchbrechen ihrer Verteidigungslinie. Nun, er würde feststellen, dass sie ebenfalls unerschrocken war.

Sie legte das Baby an die andere Brust. „Ich muss mich wirklich bei dir entschuldigen. Meine Eltern haben deine Freundlichkeit schamlos ausgenutzt, indem sie dich herschickten. Ich gehe davon aus, dass sie es waren?“

Preston brauchte nur zu nicken. Selbstverständlich hatten ihre Eltern ihn geschickt. Es gab schließlich niemand anderen, den sie hätten schicken können. Ihre Familien waren seit Jahren, ja Generationen, befreundet, und die Penroses waren leider nur mit einer einzigen Tochter gesegnet worden. Preston war der Einzige, den die Penroses wie einen Sohn liebten.

„Ich werde nicht mit dir zurückreisen. Du kannst meinen Eltern die Nachricht von mir übermitteln, dass ich zu bleiben wünsche.“

Das war ihre nächste Verteidigungslinie – Weigerung.

„Am besten schreibe ich den Brief sofort, um deine Abreise nicht zu verzögern. Du kannst dich schon morgen wieder auf den Weg machen.“ Bea legte sich das Baby an die Schulter und rieb ihm sanft den Rücken, bis der Kleine leise aufstieß.

„Nicht ohne dich“, entgegnete Preston fest. Mrs. Maddox kam herein, und er warf ihr einen Blick zu. „Gib das Baby der guten Frau und komme kurz mit mir nach draußen.“ Der unbeugsame Ton seiner Stimme überrumpelte Bea. Sie hatte gehofft, Preston wäre ihr Freund, und hatte Mut gefasst, als sie sah, dass er sich nur ungern hatte schicken lassen. Mit seinem harten Befehl hatte sie nicht gerechnet. Dieser Mann war es gewohnt, Befehle auszusprechen, die sofort ausgeführt wurden, und erwartete absoluten Gehorsam. Wenn er ihn nicht bekam, war er offenbar bereit, ihn zu erzwingen.

Nun gut. Bea erhob sich, reichte Mrs. Maddox das Baby und folgte Preston hinaus in die milde Frühlingssonne. Und sie überließ es ihm, das Schweigen zu brechen, während sie gingen. Er wollte ein Gespräch führen, also sollte er es, verflixt noch mal, auch beginnen.

„Du kommst mit mir, Bea. Mach dir nichts vor.“ Wieder die strenge Befehlsstimme. Er war nicht mehr ihr Freund, sondern lediglich ein Botengänger, aber dennoch ein Mann, der es gewohnt war, die Zügel fest in der Hand zu halten.

„Selbst wenn du mich über die Schulter werfen und mich davonschleifen müsstest wie eine Kriegsbeute?“, fragte sie kühl. Die Samthandschuhe hatten sie endgültig ausgezogen, Freundschaft hin oder her.

„Selbst dann. Ich hoffe allerdings nicht, dass es so weit kommen wird. Vielmehr hoffe ich, dass du vorher Vernunft annehmen wirst.“

Sie hielten vor einer Steinmauer, die das Gut der Maddoxes umgab. Preston stützte die Ellbogen darauf. Der Wind spielte mit seinem dunklen Haar. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft fiel Bea auf, wie erschöpft er aussah. Sie erkannte es an den feinen Linien um die Augen und den Mund und erinnerte sich daran, dass er im Oktober ernsthaft verwundet worden war. Und jetzt hatte er auch noch eine lange Reise unternommen, um sie nach Hause zu holen. Seine Erschöpfung war im Grunde ihre Schuld. Und noch dazu alles vergeblich. Bea fühlte sich schuldig, aber nicht schuldig genug, um nachzugeben. Sie würde nicht mit ihm gehen, nur um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.

„Sag schon, Bea.“ Jetzt klang er wieder eher wie ihr alter Freund. „Keine Ausflüchte mehr. Warum willst du nicht zurückkommen?“

„Zurück wohin? Die Leute werden mich an den Pranger stellen. Ich gehöre nicht mehr dorthin. Warum sollte ich an einen Ort zurückkehren, an dem mich nichts als Schande erwartet? Ich kann dort nicht mehr leben.“

„Und hier kannst du leben?“, fragte Preston.

„Ja! Hier sieht mich niemand verächtlich an, und mein Sohn wird akzeptiert. Niemand nennt ihn einen Bastard.“

„Weil du ihnen etwas vorgelogen hast. May hat mir alles erzählt. Wie lange, glaubst du denn, kann dein ‚Mann‘ noch auf See bleiben?“

„Bis er stirbt. So mancher Händler, der wegen seiner Geschäfte auf See sein muss, kommt dabei um. Eine geheimnisvolle Krankheit, plötzliches Fieber. Es gibt Hunderte von Gefahren, in die er geraten kann.“

Preston lachte trocken. „Du bist ein blutdürstiges Geschöpf, Bea. Dein armer Mann ist also überflüssig, was?“

„Ja“, antwortete Bea ungerührt. Sie würde einfach die trauernde Witwe spielen. Niemand würde ihren Sohn schneiden, und keiner würde von ihr erwarten, sich wiederzuverheiraten, nachdem sie einen so guten Gatten verloren hatte. Auf diese Weise würde sie sich und ihr Kind schützen.

„Und dann?“ Preston ließ nicht nach. „Du kannst selbst dann nicht bleiben, wenn deine Geschichte standhält. Deine Eltern werden dich einfach enterben.“ Er seufzte. „Verzeih mir, Bea. Es tut mir weh, dir so etwas sagen zu müssen, aber es ist die Wahrheit, und es ist die Botschaft, die ich dir überbringen soll. Ich bin lediglich die höfliche Variante. Du kannst mit mir und sozusagen aus freiem Willen zurückkommen oder dich von deinen Eltern aushungern lassen. In jedem Fall wird es kein Geld mehr für dich geben. Wie lange kannst du dich dann noch den Maddoxes aufdrängen?“

Bea sah auf die Felder hinaus und versuchte einen Moment, ihre Gedanken zu ordnen und sich von seinem letzten Angriff zu erholen. Aber hatte sie nicht schon mit einem solchen Manöver gerechnet? „Ich bin auf diesen Fall vorbereitet.“ Was der Wahrheit entsprach. Sie und May hatten vorgeplant. Im Herbst hatten sie sich geschworen, nie wieder nach England zurückzukehren, selbst wenn ihre Eltern ihnen die Gelder streichen sollten. Doch so viel hatte sich seitdem geändert. Ihre Pläne waren nichts mehr wert, denn ihr kleines Häuschen war abgebrannt, und May hatte mit Liam fliehen müssen, sodass sie, Bea, allein zurückgeblieben war. Konnte sie denn ihren ursprünglichen Plan allein ausführen?

„Ich habe ein wenig Geld beiseitegelegt, weil ich jeden Monat einen Teil der Zuwendung meiner Eltern sparte“, fuhr sie tapfer fort. „Inzwischen habe ich ein kleines Häuschen gefunden, das ich mieten könnte. Ich könnte Kräuter anpflanzen und Brot backen und beides auf dem Markt verkaufen. Hier gibt es auch keine Lehrerin. Ich könnte also die Kinder hier in der Gegend unterrichten im Austausch für alles, was ich brauche.“ Der Plan klang sehr kümmerlich, wenn er laut ausgesprochen wurde, fantasievoll, aber verzweifelt.

Preston spottete nicht, so viel musste sie ihm lassen. Er nickte nur knapp. „Deine Bemühungen sind löblich.“ Aber sie wusste, was er dachte. Eigentlich war sie sogar seiner Meinung. War sie wirklich bereit, ihr Leben von den Launen eines Tauschhandels abhängig zu machen? Und nicht nur ihrs, sondern auch das ihres Kindes. Wenn sie nun nicht in der Lage sein würde, ihren Sohn zu ernähren? Aber sie musste. Das Risiko, das sie mit ihrer Rückkehr eingehen würde, war einfach zu groß. Es war nicht nur die Schande, die sie hier hielt, damit würde sie fertigwerden können. Nein, es gab ganz andere, sehr viel größere Ängste.

„Ich lasse nicht zu, dass sie mir meinen Sohn wegnehmen“, sagte sie mit leiser Eindringlichkeit. Das war ihre größte Angst, die sie quälte, seit sie wusste, dass sie ein Kind erwartete. Ihre Eltern würden ihr das Kind nehmen und einer Familie irgendwo in England zur Pflege geben, und sie würde ihren Sohn niemals wiedersehen. War Preston womöglich nicht nur gekommen, um sie zu holen? „Ich werde ihn dir nicht geben.“

Preston mochte ja ein alter Freund sein, aber sie würde ihn bekämpfen, ihn zu ihrem Feind machen, falls er glaubte, ihr das Baby nehmen zu können.

„Niemals, Bea. Wie kannst du so etwas denken?“ Die Vorstellung schien ihn tatsächlich zu entsetzen und riss ihn aus seiner Reserviertheit. Er war wieder ihr Freund. Dennoch wussten beide, wie sie auf so einen Gedanken kommen konnte. Schließlich wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass eine vornehme Familie auf diese Weise versuchte, den Makel eines Skandals auszumerzen, und vorgab, die Sünde sei niemals geschehen. Preston ergriff ihre Hand und drückte sie fest und beschwichtigend. „Ich gebe dir mein Wort, Bea, dass ich nicht erlauben werde, dass euch irgendjemand trennt. Zwar bin ich der Bote deiner Eltern, wenn es mich auch nicht erfreut, aber ich bin dein Freund. May und ich haben dafür gesorgt, dass deine Wünsche berücksichtigt werden. Wir haben deutlich gemacht, dass du davon ausgehst, deinen Sohn auf Maidenstone aufzuziehen.“ Er sprach, als wäre ihre Einwilligung unvermeidlich. Und vielleicht war es auch so.

Maidenstone. Ihr Zuhause, das Haus ihrer Ahnen. Oh, er kämpfte wirklich nicht fair! Generationen von Penroses waren dort herumgetollt und aufgewachsen. Im Frühling und Sommer gab es keinen so schönen Ort wie Maidenstones Gärten mit ihren Wildblumen und Rosen. Der Gedanke an Maidenstone erfüllte Bea mit schmerzlicher Sehnsucht. Die Vorstellung, ihr Sohn könnte dort aufwachsen, brachte sie wirklich in Versuchung. Ihm die Wege zu zeigen, auf denen sie gegangen war, den See, das gesamte Anwesen, würde eine so große Freude sein. Die Sehnsucht musste ihr anzusehen sein.

„Maidenstone ist sein Erbe, Bea. Würdest du deinem Sohn verweigern, was ihm gehört, und ihn lieber in Armut aufwachsen lassen? Ohne die Hilfe deiner Eltern wird das Leben hier nicht leicht sein.“ Preston wies sie unbarmherzig auf die Realität hin, die sie erwartete, sollte sie ihm nicht Folge leisten. „Vor allem im Winter wird es schwierig sein, und bis dahin hast du deine Mittel aufgebraucht.“ Bea wusste das sehr gut. Schließlich hatte sie bereits einen Winter fern von Zuhause hinter sich. Aber sie musste hartnäckig bleiben. May und Preston meinten es gut, aber ein Versprechen konnte leicht gebrochen werden.

„Er ist ein männlicher Penrose, Bea. Du musst doch sehen, dass das alles ändert“, sprach Preston unerbittlich weiter, und sein Argument ließ sich leider nicht einfach so abtun. „Das ist sein Schutz. Du hast deinen Eltern einen Enkelsohn geschenkt. Er kann das Land und das Vermögen der Penroses erben. Maidenstone könnte sein Zuhause werden. Sein Eigentum.“

„Glaubst du, daran habe ich nicht gedacht? Aber es kann nicht sein, und deswegen ist es viel besser, er erfährt es nie, um nicht bitter enttäuscht zu werden“, entgegnete Bea aufrichtig. „Die vornehme Gesellschaft wird ihn einen Bastard nennen, und das möchte ich ihm nicht antun. Besser ist es, er wächst hier auf, lernt ein Handwerk und findet allein seinen ganz persönlichen Weg in der Welt, statt sich immer am Rand einer Welt aufzuhalten, die ihn nicht akzeptiert.“

Preston antwortete schnell und ungeduldig. „Nicht, wenn er anerkannt wird. Dein Vater könnte ihn anerkennen. Noch besser, wenn der Vater deines Sohnes es tun würde. Du könntest deinen Eltern seinen Namen verraten, dann würde man ihn finden und zur Rechenschaft ziehen können.“

Sobald der Vater des Kleinen erwähnt wurde, spannte Bea sich an. Malvern Alton. Der Mann, der Frauen im Stich ließ und sich nur um sein eigenes Wohl und Vergnügen kümmerte. Er hatte ebenso wenig einen Gedanken an sie verschwendet wie an die Folgen, die ihre Handlung nach sich ziehen könnte. Zwar hatte es eine ganze Weile gedauert, bis Bea den Schurken als das erkannt hatte, was er war – ein Wüstling übelster Sorte. Monatelang hatte sie sich an die Illusion geklammert, dass er sie liebte und zu ihr zurückkehren würde. Aber jetzt machte sie sich nichts mehr vor und wollte diesen Mann nicht in ihrem Leben haben. Er wusste nichts von ihrem Sohn, und das sollte auch so bleiben, denn als Vater würde er sogar noch unmöglicher sein. Nicht, dass das Gesetz Englands ihr zustimmen würde. Einflussreiche Männer aus vornehmen Kreisen konnten sich jedes Recht erkaufen. Falls Alton ihren Sohn haben wollte, würde er Bea zwingen, ihn aufzugeben. Schon der Gedanke genügte, um sie erschaudern zu lassen. Sie gab sich jedoch Mühe, ruhig zu antworten. „Nein. Ich will einen Mann, der mich nicht liebt, nicht dazu nötigen, mich zu heiraten, ebenso wenig wie ich mich zu einer unglücklichen Ehe verdammen will, nur um den Vorstellungen der Gesellschaft zu genügen.“

Furcht drohte sie zu ersticken. „Siehst du denn nicht, dass das noch ein Grund ist, weswegen ich nicht zurückkommen kann? Ich will nicht, dass meine Eltern einen Ehemann für mich finden, um den Skandal zu verhindern.“ Eine Vernunftehe, noch eine Methode, wie vornehme Familien den Schandfleck in ihrer Mitte zu entfernen versuchten. Bea würde es ihren Eltern zutrauen. Sie würden sie an den erstbesten Mann verschachern, der bereit wäre, über ihre Schande hinwegzusehen – und Bea würde ein Leben lang dafür zahlen müssen. Ein solcher Mann würde sich ihr und ihrem Sohn gegenüber als Herr aufspielen und selbst für die kleinste Rücksichtnahme Dankbarkeit von ihnen verlangen. Bea betrachtete prüfend Prestons Gesicht. „Gibt es irgendwelche Pläne, mich zu verheiraten? Bist du deswegen jetzt gekommen? Um mich für die Saison nach London zu holen?“ Sie konnte sich nichts Fürchterlicheres vorstellen. Selbst Dantes Hölle wäre nichts dagegen. Nein, das stimmte nicht ganz. Eins wäre noch fürchterlicher: Malvern Alton gegenübertreten zu müssen. In Schottland bestand nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit für ein Aufeinandertreffen. Alton liebte seine Annehmlichkeiten, und hier gab es keine.

Preston senkte die Stimme und neigte ihr vertraulich den Kopf zu. Aus der Nähe konnte Bea Pferdegeruch und Schweiß wahrnehmen sowie einen Hauch von Sandelholz. „Es gibt zurzeit keine derartigen Pläne.“ Die Schatten wurden langsam länger. Bea und Preston hatten den ganzen Nachmittag über geredet. Widerstand, Zurückweisung und Aufbegehren – sie hatten alles vorgebracht und dennoch keine Lösung gefunden.

„Komm nach Little Westbury und zu deinen Eltern auf Maidenstone. Ich will nicht vorgeben, dass es leicht sein wird, aber du solltest es versuchen. Deinem Sohn zuliebe. Er sollte unter Freunden aufwachsen, und wir werden alle da sein und auf euch warten“, drängte Preston sie ein letztes Mal. Es war das dritte Mal, dass er das tat, und Bea ahnte, dass er sie nicht wieder bitten würde.

„Ich entscheide mich dafür zu bleiben“, gab sie fest zurück. Hier war sie in Sicherheit, nicht nur vor Alton, sondern vor jeder Gefahr, vor allen Männern.

Preston nickte knapp. „Dann lässt du mir keine andere Wahl.“ Es war eindeutig ein Ultimatum.

„Ebenso wenig wie du mir eine lässt“, konterte sie mit größerer Tapferkeit, als sie wirklich empfand. Was konnte sie schon tun? Wohin sollte sie fliehen?

„Ich komme morgen früh mit der Kutsche und hoffe, dass du bis dahin deine Lage noch einmal überdacht hast.“

Seine Worte ließen sie bis ins Innerste erbeben. Ihre Lage war so viel unangenehmer als Prestons. Er musste lediglich sofort handeln. Während ihr selbst nichts anderes übrig blieb, als genau das Gegenteil zu tun – tatenlos zu bleiben, sich zu fügen, zu kapitulieren. Fürs Erste jedenfalls. Vielleicht war es nicht so sehr eine Kapitulation als vielmehr ein taktischer Rückzug. Sie war Beatrice Penrose. Sie würde auch diese Notlage überleben.

2. KAPITEL

Es hätte schlimmer sein können, überlegte Preston, eine Stunde nachdem sie das kleine Dorf am Firth endlich hinter sich gelassen hatten. Er hätte auch gezwungen sein können, Bea mit Gewalt aus dem Bauernhaus zu tragen. Nach ihrer Unterhaltung am Tag zuvor hatte er schon halb damit gerechnet. Aber er war sehr froh, dass es nicht dazu gekommen war. Seine Schultern hätten die Last zwar ertragen, aber sein Ehrgefühl nicht.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sie in Schottland gelassen. Schließlich wusste er nur allzu gut, wie es war, einen ungewollten Weg einzuschlagen. Wartete auf ihn nicht ein ähnliches Schicksal, sobald er wieder daheim war? War es vor Jahren nicht bereits dasselbe gewesen, als ihm nicht erlaubt wurde, für sein Land in den Krieg zu ziehen, lediglich weil er der Erbe war? Er kam sich wie der übelste Heuchler vor, weil er Bea zwang, zurückzukommen und ein Leben zu führen, das sie nicht mehr wollte, während er selbst gegen genau dieselben Einschränkungen aufbegehrte. Würde Beas Rebellion sich als ebenso nutzlos erweisen wie seine bisher?

Preston musterte sie verstohlen. Sie hatte den dunkelhaarigen Kopf über ihr Buch gebeugt. Das Baby schlief tief und fest in seinem Körbchen auf dem Boden der Kutsche. Es war dieselbe Bea, die er seit ihrer Kindheit kannte. In ihr steckte noch immer das Mädchen, mit dem er aufgewachsen, das mit langen Schritten über die Hügel und Täler von Little Westbury gegangen war und ihren Korb mit Kräutern und Pflanzen gefüllt hatte. Doch etwas war anders an ihr.

Dass sie jetzt Mutter war, hatte sie verändert. Die kurze Zeit der Freiheit hatte sie verändert. Sie schien gelassener zu sein, sanfter, und doch gleichzeitig auch wilder denn je. Bea hatte schon immer eine starke Persönlichkeit gehabt. Immer war sie es gewesen, die sich gegen Ungerechtigkeit aufgelehnt hatte, manchmal etwas zu übereilt. Er erinnerte sich noch gut an den Schlachter im Dorf, den Bea eines Tages dabei ertappt hatte, wie er eine arme Frau um ein frisches Stück Fleisch betrügen wollte. Diese innere Kraft war seitdem noch intensiver geworden. Aber Bea hatte ja jetzt auch ein Kind, das sie beschützen musste.

Dieselbe Kraft hatte sie gestern gezeigt. Sie war eindrucksvoll gewesen in ihrer Verzweiflung, und Preston konnte sie ja auch verstehen. Das Leben in Little Westbury würde finanziell abgesichert sein, aber sehr schwierig. Sie irrte sich nicht, wenn sie glaubte, dass ihre Eltern begierig darauf waren, das vergangene Jahr hinter sich zu lassen – und zwar nicht, indem sie es akzeptierten, sondern indem sie es, wenn möglich, aus dem Gedächtnis aller auslöschten.

In diesem Moment sah Bea von ihrer Lektüre auf und lächelte dünn, um gleich darauf den Blick wieder zu senken. Sie hatte kein Wort mit ihm gewechselt, seit sie in die Kutsche gestiegen war. Offenbar war sie noch immer wütend auf ihn. Was er nachvollziehen konnte. Sie gab ihm die Schuld daran, dass sie das Leben ihrer Wahl aufgeben musste. Aber es gab da etwas anderes, woran ihn wirklich eine gewisse Schuld traf.

Niemand konnte ihm anlasten, dass Bea wieder nach Hause zurück musste. Dafür waren ausschließlich ihre Eltern verantwortlich. Aber er hatte ihr nicht die ganze Wahrheit verraten. Es stimmte, dass er und May sich dafür eingesetzt hatten, dass das Baby in Maidenstone aufgezogen werden konnte, und es existierten wirklich keine Pläne, Bea an jemanden Bestimmten zu verheiraten. Selbstverständlich musste sie daraus schließen, dass ihr erlaubt sein würde, zurückgezogen in Little Westbury zu leben. Dass man ihr nicht aufzwingen würde, nach London zu fahren und eine Saison über sich ergehen zu lassen. Preston hatte sich nicht die Mühe gemacht, diese Schlussfolgerung zu korrigieren.

Immerhin könnte es ja sein, dass sie gar nichts gegen London haben würde. Zumindest hatte er versucht, sein schlechtes Gewissen damit zu beruhigen. Evie und Dimitri würden in London sein, und May und Liam auch. Gemeinsam konnten sie sich auf die Zeremonie freuen, während derer der König Liam die Ritterwürde verleihen würde. Selbst Bea würde gewiss nicht fähig sein, den Verlockungen Londons zu widerstehen. Das Baby bewegte sich ein wenig, und Preston bemerkte, wie Bea den Kleinen ansah und ihre Miene weich wurde.

Nein. Preston wusste in diesem Moment, dass jede Hoffnung vergeblich war. Es gab keine Verlockung, die sich für Bea mit dem kleinen Bündel zu ihren Füßen vergleichen ließe. Und es kam nicht infrage, den Kleinen mit nach London zu nehmen. Wie sollte sie sich einen Ehemann angeln, während ihr Baby sich an ihre Röcke klammerte? Ihr Kind würde in Little Westbury bleiben müssen. Und das würde Bea ihm niemals verzeihen. Preston seufzte unhörbar.

Die Vorstellung, sich Beas Feindschaft zuzuziehen, gefiel ihm ganz und gar nicht. Von Anfang an hatte es ihm widerstrebt, diese Mission zu übernehmen. Es hatte ihm nicht gefallen, die schmutzige Arbeit für die Penroses zu erledigen. Aber ebenso wenig hatte ihm der Gedanke gefallen, es jemand anderen an seiner Stelle erledigen zu lassen. Und das war es auch gewesen, was ihn am Ende überzeugt hatte. Es war arg genug für sie, von jemandem abgeholt zu werden wie ein Gepäckstück, da sollte es wenigstens ein Freund sein, der zu ihr kam. Darüber hinaus hatte er seine eigene Reise etwas verschieben können. Ohne diesen Auftrag wäre er bereits auf dem Gut seiner Großmutter in Shoreham-by-the-Sea und im Begriff, sein Erbe anzutreten – viel zu früh auf dem Weg, ein langweiliger Landadliger zu werden. Eine Lebensaufgabe, die sich in nichts mit seiner jetzigen Arbeit als Leiter der Küstenwache vergleichen ließ. Ein eigenes Gut würde diese Arbeit beenden, ebenso wie jeden Ehrgeiz, den er außerdem noch haben mochte. Aber Preston war nicht bereit für ein ländliches Leben und alles, was damit zusammenhing. Bedrückt verdrängte er seine Gedanken und konzentrierte sich lieber auf Bea.

„Hast du wirklich vor, eine ganze Woche lang nicht mit mir zu sprechen?“ Er versuchte in der beengten Kutsche so gut wie möglich die langen Beine von sich zu strecken, ohne gegen den Korb mit dem Baby zu geraten.

Bea bedachte ihn mit einem eisigen Blick. „Eine Woche? Sehr optimistisch von dir. Ich habe die Absicht, sehr viel länger nicht mit dir zu sprechen.“

Neckend stieß er mit der Stiefelspitze gegen ihren Fuß. „Gerade eben hast du es doch getan. Sieht so aus, als müsstest du wieder von vorn anfangen.“

Bea stieß verärgert den Atem aus. „Du benimmst dich wie ein Dreizehnjähriger.“

„Du musst es ja wissen“, sagte er lachend. „Dein eisiges Schwiegen hatte eine passende Antwort verdient.“ Er schaffte es, ihr ein Lächeln zu entlocken. „Wir wissen doch beide, dass du mich nicht für immer hassen wirst.“ Wenigstens hoffte er das. „Warum verzeihst du mir nicht gleich? Dann haben wir es hinter uns. Diese Reise wird viel interessanter, wenn ich mit jemandem reden könnte, ganz besonders mit dir.“

Er schenkte ihr ein jungenhaftes Lächeln, wurde aber gleich danach ernst. „Falls es dich tröstet, will ich dir sagen, dass ich nicht kommen wollte, Bea. May hat mir gesagt, wie glücklich ihr hier wart. Aber wäre ich nicht gekommen, dann jemand anders.“ Preston schüttelte den Kopf. „Das konnte ich als dein Freund nicht zulassen. Obwohl das bedeutete, dass ich dir würde schlechte Nachrichten überbringen müssen.“ Würde sie verstehen, dass es das Schwierigste war, was er je getan hatte? Und in seinem Fall, der bereits Waffenhändlern und Schmugglern die Stirn geboten hatte, wollte das schon was heißen.

Bea gab nach. Er sah es zuerst in ihren Augen, dass sie zum ersten Mal versuchte, sich in seine Lage zu versetzen. Schließlich beugte sie sich vor und drückte seine Hand. „Danke, dass du es bist. Ich glaube nicht, dass ich es sonst hätte ertragen können.“ Damit war es ihm also gelungen. Sie konnten wieder Freunde sein – zumindest für die wenigen Wochen, bis er sie wieder um Verzeihung würde bitten müssen.

„Gut.“ Preston lehnte sich zufrieden in die Polster zurück. „Jetzt, da wir das aus dem Weg geschafft haben, kann ich dir von dem letzten Brief von Jonathon und Claire erzählen.“

Bea warf ihm einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu. „Das hättest du schon gestern tun sollen.“ Sie versetzte seinem Knie einen scherzhaften Schlag.

„Au! Ein kluger Unterhändler gibt nicht sofort alles preis“, meinte er lachend. „Willst du es hören oder nicht?“

„Selbstverständlich.“ Bea bückte sich, um ihren Sohn hochzuheben, der von ihrem Geplänkel aufgewacht war. Sie legte ihn sich völlig ungezwungen an die Brust, ohne verlegen zu werden, obwohl sie hier in der engen Kutsche so dicht beieinandersaßen, dass das Stillen ihres Kindes Preston sehr viel intimer erschien als gestern.

Und schon gestern hatte er es für seinen Geschmack ein wenig zu intim gefunden. Bisher hatte er sich für einen welterfahrenen Mann gehalten, und nach männlichen Maßstäben war er das vielleicht auch – weit gereist und gebildet. Aber mit dieser Welt der Frauen hatte er keine Erfahrung. Gab es für eine Situation wie diese überhaupt eine Etikette, nach der man sich richten konnte? Bestimmt sollte er den Blick abwenden, aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Bea so mit ihrem Kind zu sehen war ganz neu für ihn und faszinierend, und es erweckte ganz erstaunliche Gefühle in ihm. Und es erinnerte ihn daran, dass sie zwar noch immer dieselben zwei Menschen waren, die gemeinsam aufgewachsen waren, aber die Jahre hatten sie verändert und jeden seinen eigenen Weg gehen lassen. Bea war zur Frau geworden. Das linkische, dünne Mädchen hatte sich in eine wohlgeformte junge Frau verwandelt. Die Mutterschaft stand ihr. Sie war hübsch geworden. Und seitdem hatte sie den männlichen Körper kennengelernt. Er selbst war jetzt ein Mann, der seinerseits mit dem weiblichen Körper sehr gut vertraut war. Eine alte Freundin in diesem ganz neuen, sinnlichen Licht zu sehen, war recht beunruhigend.

Ihre Blicke trafen sich über den Kopf des Babys hinweg. Einen Moment lang glaubte Preston, Bea würde ihn wegen seiner lasziven Neugier tadeln. Aber obwohl es ihn bewegte, sie so zu betrachten, war sein Interesse nicht wollüstiger Natur. Es war eher, als würde er ein Gemälde von Raffael bewundern, das die Madonna mit dem Jesuskind zeigte.

Sie hob die Augenbrauen. „Nun? Wirst du es mir sagen oder muss ich raten?“

„Du bist mit den Jahren nicht geduldiger geworden, Bea“, zog er sie auf. „Jonathon schreibt, dass er und Claire im Herbst ein Kind erwarten.“ Er räusperte sich. Seltsamerweise brach seine Stimme beim letzten Wort. Als er die Neuigkeit erfahren hatte, hatte er sich so sehr für seinen Freund gefreut, denn er wusste, wie wichtig eine Familie für Jonathon war. Es war eine Einstellung, die Preston teilte.

„Oh!“ Bea strahlte. „Sie müssen überglücklich sein. Beide werden wunderbare Eltern sein. Sie lieben sich so sehr, und jetzt werden sie auch noch ein Kind bekommen, das sie mit ihrer Liebe überschütten können.“ Preston entging der wehmütige Ton ihrer Stimme nicht. Er selbst hatte genau die gleiche Wehmut empfunden. Jonathon würde bald eine Familie haben, während er selbst immer noch auf der Stelle verharrte. Arbeit für die Regierung, Geschäfte für seine Familie und deren Freunde.

Prestons Blick heftete sich auf das Baby. Würde er jemals bekommen, was Jonathon erreicht hatte? Und Liam ebenfalls. Beim Gedanken an seine beiden besten Freunde, beide glücklich verheiratet und mit einer Aufgabe betraut, die sie erfüllte, konnte er einen gewissen Neid nicht leugnen. Jonathon war Diplomat in Wien, Liam stand im Begriff, sich als Politiker einen Namen zu machen. Beide bewiesen, dass es nicht unmöglich war, ein Familienleben mit einer erfolgreichen Karriere zu verbinden. Preston jedoch war es nicht gelungen, und noch nie war ihm der Mangel an Liebe in seinem Leben so sehr aufgefallen wie jetzt.

„Möchtest du ihn ein bisschen halten?“, bot Bea ihm an und reichte ihm das Baby, bevor er ablehnen konnte.

Preston nahm es vorsichtig entgegen. „Er ist so leicht. Ich muss wohl geglaubt habe, dass Babys, nur weil sie wie ein Sack Kartoffeln aussehen, auch so schwer sein müssen.“

„Er ist robust genug und wird schon nicht zerbrechen“, versicherte Bea ihm. „Du brauchst ihn nicht zu behandeln, als wäre er aus Glas.“

Allmählich beruhigte Preston sich und fasste den Kleinen mit größerem Selbstvertrauen an. Er blickte auf das kleine Gesicht herab und lächelte breit. „Ich glaube, er hat mich angelächelt. Ich glaube, er hat mich gern.“ Es war eine so geringe Sache, und doch erfreute sie ihn viel mehr, als vernünftig gewesen wäre.

„Mrs. Maddox sagte mir einmal, Babys lächeln oft, wenn sie einen fahren lassen“, sagte Bea lachend und fügte tröstend hinzu: „Aber ich bin sicher, dass er dich gern hat.“ Sie zögerte kurz, bevor sie leise fragte: „Bist du neidisch? Auf Jonathon, meine ich.“

Autor

Bronwyn Scott
Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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