Wie zwei Inseln im Strom

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Dich hat der Himmel geschickt!" Dankbar sieht Sam, wie liebevoll Katie mit Libby und Henry umgeht - sie muss bei ihm in Stone Gap bleiben! Er ahnt nicht, dass seine Kinder Katie an ihren größten Verlust erinnern, jeder Tag für sie ein neuer Kampf zwischen Liebe und Trauer ist …"


  • Erscheinungstag 09.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746827
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Mit acht Jahren war Katie Williams von zu Hause weggelaufen.

Sie hatte ein sauberes T-Shirt, ein paar Müsliriegel und drei Stofftiere in ihren Barbie-Rucksack gepackt und war in die weite Welt hinausgezogen. Na ja, vielleicht nicht in die weite Welt, aber bis zum Ende der Seventh Street, wo der Park begann. Sie hatte sich in die dunkle Nische unter einer Kinderrutsche gesetzt und sich eingeredet, dass sie keine Angst hatte.

Ihr Bruder Colton hatte sie eine Stunde später gefunden – hungrig, verweint und frierend. „Ich mach morgen Pfannkuchen zum Frühstück, meine Kleine“, hatte er gesagt, als sei nichts Besonderes passiert. „Kein Mensch verzichtet freiwillig auf Pfannkuchen.“ Er hatte sie in seinen kuscheligen Fleece-Pullover gehüllt und sie huckepack nach Hause getragen, während er ihr eine Geschichte über eine tapfere Prinzessin erzählt hatte, die in einem Schloss hoch auf einem Hügel lebte und ein Ungeheuer zum Freund hatte.

Zurück zuhause trug er Katie direkt in ihr Zimmer, legte sie in ihr quietschendes Bett und deckte sie mit ihrer dünnen Decke zu. Seufzend richtete er sich auf. „Sie hat es schon wieder getan?“

Katie nickte nur stumm, zu verängstigt, um die Worte laut auszusprechen. Dass ihre Mutter sie mal wieder angeschrien hatte, und das nur, weil Katie sie gefragt hatte, ob es etwas zum Abendessen gab. Ihre Mutter trank oft mehr als sie aß und ließ ihre Wut aus irgendeinem Grund stärker an Katie aus als an Colton.

Colton nickte verständnisvoll. Er umarmte Katie und flüsterte ihr ins Ohr, was für ein tolles Mädchen sie sei. Das dürfe sie nie vergessen. Er sprach mit ihr, bis sie sich beruhigt hatte, dann machte er ihr in der Küche ein Sandwich.

Welche Ironie, dass sie jetzt, fast zwanzig Jahre später, wieder von zu Hause weglief.

Diesmal zu ihrem Bruder. Und wieder einmal stellte er ihr keine einzige Frage, obwohl sie völlig unerwartet bei ihm in Stone Gap, North Carolina, auftauchte.

„Hey“, sagte sie, als sie die Feuerwache betrat. „Da bin ich.“

Colton, der gerade einen Wagen polierte, warf grinsend seinen Lappen auf einen Tresen. „Selber hey, Kleine.“ Er gab ihr immer noch den Spitznamen von damals, doch das störte sie nicht. „Höchste Zeit, dass du dich endlich mal hier blicken lässt.“

Genervt stützte sie eine Hand in die Hüfte. Colton war fast zwanzig Zentimeter größer als sie und sah in seiner dunkelblauen Uniform zehnmal stärker aus, doch das hielt sie nicht davon ab, ihm Kontra zu geben. „Dass du mich hierhin einlädst, heißt noch lange nicht, dass ich sofort springen muss.“

„Warum nicht? Wo ich doch dein Lieblingsbruder bin?“ Er grinste breit, ging auf sie zu und nahm sie in die Arme, bevor sie protestieren konnte.

Katie machte sich von ihm los und straffte die Schultern. Sie hätte die Umarmung ihres Bruders gern viel länger genossen, aber wenn sie das tat, verlor sie womöglich die Beherrschung und brach in Tränen aus. Und wenn Katie eins nicht wollte, dann, sich von ihren Gefühlen leiten lassen. Sie war nicht grundlos Partnerin in einer der bedeutendsten Wirtschaftsprüfungsfirmen in Atlanta geworden. Irgendwie würde sie auch noch die nächsten zwei Wochen stark bleiben.

Und danach ging es ihr bestimmt wieder besser. Zumindest hatte sie sich das während der Fahrt hierher einzureden versucht. Das zwei Wochen ausreichen würden, um einen neuen Job zu finden und von vorn anzufangen. Und vielleicht … nur vielleicht … ihre Trauer zu überwinden.

„Jetzt bin ich ja da“, stellte sie fest. „Gibst du mir eine kleine Führung durch die Stadt, von der du immer so schwärmst?“

Streng genommen schwärmte Colton vor allem von Rachel Morris, seiner Verlobten. Er hatte sich vor ein paar Monaten Hals über Kopf in die Hochzeitsplanerin verliebt und bei der Feuerwehr von Stone Gap einen Job angenommen. Seinen begeisterten Mails und Anrufen nach zu urteilen, hatte er sich ausgesprochen gut in der Stadt eingelebt.

Katie überraschte das nicht. Colton war jemand, der sich überall gut einfügte und sich mit jedem verstand, sogar mit seinen Halbbrüdern, die bis vor Kurzem nichts von seiner Existenz gewusst hatten. Katie hingegen fühlte sich in der Gegenwart anderer Menschen oft befangen und unsicher. Vielleicht lag es daran, dass sie im Job nur mit Zahlen zu tun hatte. Oder Colton hatte einfach genug Charme für sie beide zusammen.

„Ich kann jetzt leider nicht weg, Schwesterherz. Meine Vierundzwanzig-Stunden-Schicht hat gerade erst angefangen. Nimm dir doch ein Zimmer im Stone Gap Inn, und wir gehen morgen Abend essen, okay? Richte Della aus, dass ich dich geschickt habe. Das Inn ist frisch restauriert, und wenn jemand eine perfekte Gastgeberin ist, dann Della. Sie ist die neue Frau meines Vaters und wird dir das Gefühl geben, ein lang verlorenes Familienmitglied zu sein.“

Katie konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Außerdem brauchte sie gerade nur eins: Zeit zum Alleinsein und Nachdenken. „Okay, mach ich. Dann sehen wir uns morgen Abend? Sagen wir um sechs?“

„Klingt nach einem Plan.“ Er zwinkerte ihr zu. „Plus minus. Du weißt, dass ich nicht der Pünktlichste bin.“

Sie verdrehte die Augen. „Das könntest du ändern.“

Colton legte ihr einen Arm um die Schultern und brachte sie nach draußen zu ihrem Wagen. „Du bist ein kleines bisschen verkrampft, Kleine. Lass mal fünfe gerade sein. Komm ab und zu selbst mal zu spät! Sei unordentlich. Dann macht das Leben gleich viel mehr Spaß.“

„Und dein Leben wäre viel einfacher, wenn du ab und zu mal etwas strukturierter wärst.“

Colton lachte. „Bis morgen, Schwesterherz.“

Katie stieg in ihren Wagen, winkte ihrem Bruder zum Abschied zu und startete den Motor. Nachdem sie Stone Gaps malerische Innenstadt durchquert hatte, bog sie in eine hübsche, von Bäumen gesäumte Wohnstraße.

Das hier ist genau das, was ich brauche, dachte sie. Eine ruhige, pittoreske Stadt an einem See, in der ich … vergessen kann. Von vorn anfangen. „Nehmen Sie sich etwas Zeit, den Verlust zu verarbeiten“, hatte ihre Ärztin ihr geraten. „Erwarten Sie nicht von sich, dass alles sofort so weiterläuft wie bisher.“

Aber wie „verarbeitete“ man eine Fehlgeburt? Unwillkürlich berührte Katie ihren leeren Bauch. Vor zwei Monaten waren ihre Hoffnungen mit einem Schlag zunichtegemacht worden. In der Zeit danach hatte sie alles getan, um ihre Trauer zu verdrängen und sich einzureden, dass es ihr gut ging. Bis sie bei der Arbeit einen Nervenzusammenbruch erlitten und zwei der größten Mandanten der Firma dadurch verloren hatte.

Am Tag danach hatte ihr Chef sie zu sich gebeten und ihr nahegelegt, sich im Interesse aller Beteiligten etwas Neues zu suchen – mit anderen Worten, er hatte ihr gekündigt. Danach hatte Katie buchstäblich vor dem Nichts gestanden.

Kurz vorher hatte Katie sich zum ersten Mal überhaupt getraut, sich auf die Zukunft zu freuen und von einem anderen Leben zu träumen. Sie hatte sich ausgemalt, ihren Job an den Nagel zu hängen, weil sich eine Achtzigstundenwoche nun mal nicht mit einem Kind vereinbaren ließ, und sich entweder selbstständig zu machen oder in einer kleineren Firma zu arbeiten. Sie hatte Babyzeitschriften durchgeblättert, sich Kinderzimmer im Internet angesehen und Listen gemacht.

Dann war sie eines Morgens mit Unterleibskrämpfen aufgewacht und hatte sofort Bescheid gewusst. Ihre Ärztin hatte ihre Befürchtung wenig später bestätigt.

Die Aussicht auf ein anderes Leben, ihr Traum waren geplatzt wie eine Seifenblase. Im Krankenhaus hätte sie sich am liebsten zusammengerollt und geweint, doch als die Operation vorbei war, hatte sie sich stattdessen angezogen und war zur Arbeit gefahren.

Sie hatte gehofft, dass ihr die Ablenkung helfen würde zu vergessen.

Sie hatte sich geirrt.

Und jetzt war sie hier, in einer winzigen Kleinstadt, und suchte nach … Frieden. Nach einem Hinweis, wie es nun weitergehen sollte.

Sie beschloss, dass sie das Unterfangen in kleinen Schritten angehen musste. Mit einem Zimmer im Stone Gap Inn.

Sie bog in die Einfahrt der Adresse, die Colton ihr genannt hatte, und betrachtete bewundernd das zweistöckige weiße Haus aus der Vorkriegsära. Eine von Säulen umrahmte Veranda mit einer Hollywoodschaukel auf der einen und zwei bequem aussehenden Schaukelstühlen auf der anderen Seite begrüßte die Besucher. Der Weg zu den Verandastufen war von bunten Blumenbeeten gesäumt. Katie erwartete beinahe, von einem Mädchen mit Reifröcken empfangen zu werden, das ihr süßen Tee anbot.

Kaum hatte sie auf die Klingel gedrückt, öffnete ihr eine rothaarige Frau mit geblümter Schürze. Sie lächelte breit. „Ach, hallo! Sie müssen Coltons Schwester sein. Er hat Ihren Besuch schon angekündigt. Ich bin Della.“ Sie schüttelte Katie herzlich die Hand. „Della Barlow. Mir gehört dieses Bed and Breakfast.“

„Ja, hi. Stimmt, ich bin Katie, Coltons jüngere Schwester. Er hat gesagt, er hat ein Zimmer für mich reserviert?“

„Das hat er. Kommen Sie rein.“ Della winkte sie ins Haus.

Beim Anblick der elegant geschwungenen Treppe in den ersten Stock hielt Katie einen Augenblick inne. Sie kam sich vor wie in Vom Winde verweht.

Zur Linken befand sich ein Salon mit einem von zwei Sofas flankierten Klavier. Lange cremefarbene Satinvorhänge hingen vor den bodenlangen Fenstern, und an der Rückwand stand ein kleiner Sekretär. Rechterhand sah sie ein von einem langen Mahagonitisch dominiertes Esszimmer mit einem schönen antiken Kristalllüster. Beide Räume waren in freundlichen Creme- und Pastelltönen gestrichen. Katie gefiel das Haus auf Anhieb.

„Willkommen im Stone Gap Inn“, sagte Della und winkte Katie, ihr in den ersten Stock zu folgen. „Wir haben erst vor ein paar Monaten eröffnet, deshalb läuft noch nicht alles so rund. Das Haus stand jahrelang leer, bevor ich es gekauft habe, aber Gott sei Dank war die Substanz noch gut. Mein Mann und meine Söhne haben mir bei der Renovierung geholfen. Wir haben so viele alte Stilelemente erhalten wie möglich, aber keine Sorge, die Elektrik und die Wasserleitungen sind modern. Es gibt Internetanschluss und einen Fernseher in jedem Zimmer.“

Katie lachte. „Klingt perfekt. Und sieht auch perfekt aus. Das Haus ist wunderschön.“

„Danke, wir haben uns große Mühe gegeben.“ Sie lächelte warm. „Ich habe Ihnen das Charlotte-Zimmer gegeben.“ Della öffnete eine Tür. „Ich hoffe, es gefällt Ihnen?“

Katie hätte sich kein schöneres Zimmer wünschen können. Es war weiß und grün gestrichen, sodass es einem das Gefühl gab, sich im Freien zu befinden. In der Mitte stand ein mit einer weichen Überdecke und Kissen dekoriertes Himmelbett mit einer Bank am Fußende, auf der sich ein Korb voller Handtücher, Seifen und Badesalze sowie ein Tablett mit Wasser und frischem Obst befanden. Katie bekam sofort Lust, sich auf dem Sessel, der am Fenster stand, einzurollen und eins der Bücher zu lesen, die sich auf einem kleinen Regal stapelten. „Wow, ist das schön.“

„Freut mich, dass es Ihnen gefällt. Ich lasse Ihnen jetzt Zeit zum Auspacken. Wenn Sie mir danach in der Küche für eine Tasse Kaffee und ein paar frisch gebackene Kekse Gesellschaft leisten wollen, kommen Sie gern runter.“ Della reichte Katie den Zimmerschlüssel. „Willkommen in Stone Gap.“

Als Della fort war, ließ Katie ließ sich überwältigt aufs Bett sinken. Genau das habe ich mir gewünscht, dachte sie. Vielleicht, ganz vielleicht würde sich ja in dieser anheimelnden Kleinstadt eine Chance für einen Neuanfang ergeben.

Eine Stunde später wurde Katie vom Duft von Schokoladenkeksen geweckt. In dieser einen Stunde hatte sie besser geschlafen als jemals in den letzten zwei Monaten. Es musste am bequemen Bett liegen oder an der totalen Ruhe hier in der Provinz, so ganz anders als im geschäftigen Atlanta.

Als sie die Küche betrat, stand Della am Herd und rührte in etwas, das fantastisch duftete. „Hallo, Katie!“ Sie drehte sich zu ihr herum. „Kaffee?“

„Kaffee wäre toll, Mrs. Barlow.“

„Aber bitte, sag doch Della. Wir sind ja praktisch eine Familie.“

„Gern … Della.“ Katie lächelte.

„Also Katie, dann setz dich doch und …“

Katie winkte ab. Sie fühlte sich immer nutzlos, wenn sie tatenlos rumsaß. „Bitte lass mich dir helfen.“

„Niemals. Du bist hier, um dich zu entspannen.“ Della füllte einen Becher mit dampfendem Kaffee und stellte ihn vor Katie hin, zusammen mit Milch und Zucker. „Jetzt setz dich endlich, und genieß deinen Kaffee. Du hast Urlaub.“

„Leistest du mir Gesellschaft?“, fragte Katie spontan. Aus irgendeinem Grund hatte sie gerade keine Lust, allein zu sein. „Bitte.“

Della warf einen Blick Richtung Herd. „Okay, gern sogar. Meine Füße können eine Pause gebrauchen.“ Sie nahm ihre Schürze ab und hängte sie über eine Stuhllehne, bevor sie sich selbst einen Kaffee einschenkte. „So, jetzt erzähl mal. Was führt dich nach Stone Gap?“

Katie senkte verlegen den Blick. „Wie du selbst gesagt hast, ich habe Urlaub. Und …“ Sie nestelte nervös an ihrem Becher herum, doch Della Barlow wirkte irgendwie so freundlich und offen, dass Katie den plötzlichen Impuls verspürte, sich ihr anzuvertrauen. „Und vielleicht gelingt es mir sogar, einen neuen Job zu finden. Ich hänge gerade etwas in der Luft. Colton hat mir so von dieser Stadt vorgeschwärmt, dass ich dachte, ich gebe ihr auch eine Chance.“

„Wenn du nicht aufpasst, lässt diese Stadt dich nicht mehr los. Mir ging es jedenfalls so, als ich vor über fünfunddreißig Jahren mit meinem Bobby hierhergezogen bin.“ Della lächelte, offensichtlich stolz auf ihre Heimat und den Mann, den sie geheiratet hatte.

Einen Mann, der vor über dreißig Jahren eine Affäre mit Katies Mutter gehabt hatte, aus der Colton hervorgegangen war. Katie hatte Fotos von ihrer Mutter aus jener Zeit gesehen. Damals hatte der Alkohol noch nicht seine Spuren hinterlassen. Vanessa Williams war schön gewesen, mit langem dunklen Haar, grünen Augen und einem strahlenden Lächeln. Nach Coltons und Katies Geburt hatte sie sich jedoch in eine missmutige unzufriedene Frau verwandelt, die ihre beiden Kinder vor allem als Bürde betrachtete.

Della Barlow hingegen war die Art Mutter, die sich jeder wünschte. Es war offensichtlich, dass sie ihre Söhne und ihren Mann liebte, trotz ihrer Ehekrise von damals. Katie hatte den Eindruck, dass sie sich bei ihr wie zu Hause fühlen konnte.

„Und was machst du beruflich, Katie?“, erkundigte sich Della. „Oder vielmehr, was willst du machen? Oft haben wir ja nicht unseren Traumberuf, wenn wir jung sind.“

Es war schon lange her, dass Katie darüber nachgedacht hatte, was sie gern tun würde. Als Jugendliche hatte sie Tierärztin, Schauspielerin und Köchin werden wollen, möglichst alles auf einmal. „Ich … keine Ahnung. Ich bin schon so lange Wirtschaftsprüferin, dass ich mir nichts anderes mehr vorstellen kann.“

„War es immer dein Traum, mit Zahlen zu arbeiten?“

Katie lachte spöttisch. „Nein, ich bin da irgendwie hineingerutscht. Weil ich immer gut in Mathematik war, habe ich ein College-Stipendium für Buchhaltung bekommen. Ich weiß schon gar nicht mehr, ob ich überhaupt etwas anderes kann.“

Della winkte ab. „Schätzchen, du bist noch so jung, dass du dir jeden Traum erfüllen kannst. Sieh mich an, ich bin schon über fünfzig und lebe meinen erst jetzt.“ Sie zeigte auf die sonnige gelbe Küche, die cremeweißen Schränke und den Dielenfußboden. „Trau dich, etwas anderes auszuprobieren, solange du keine Familie hast.“

Trauen Sie sich, etwas anderes auszuprobieren …

Genau deshalb war Katie gekommen, aber sie hatte keine Ahnung, was sie tun wollte. Sie wusste nur, dass sie es keine Sekunde länger in Atlanta ausgehalten hatte, wo alles sie an ihren Verlust erinnerte. „Hm, aber wo soll ich anfangen?“

Della legte eine Hand auf ihre. „Wie wär’s mit Keksen?“

„Keksen?“

„Klar. Mit Keksen fällt vieles leichter.“ Della lächelte. „Und falls du eine Zwischenlösung suchst, hätte ich vielleicht eine Idee. Es ist kein glamouröser Job, macht aber bestimmt Spaß und hat absolut nichts mit Buchhaltung zu tun.“

Katie biss in einen Chocolate-Chip-Cookie, der ihr auf der Zunge zerging. Das hier mussten die besten Cookies sein, die sie je gegessen hatte. „Was für einen Job meinst du?“

„Also …“ Della trank einen Schluck Kaffee und schlang die Hände um ihren Becher. „Sam Millwright sucht eine Nachhilfelehrerin. Wenn du mich fragst, braucht er auch eine gute Nanny. Charity Jacobs, die zurzeit für ihn arbeitet, ist ein liebes Mädchen, aber völlig überfordert.“

Nachhilfelehrerin? Nanny? Katie hatte bisher null Erfahrung mit Kindern.

„Sams Kinder sind total niedlich. Libby ist gerade acht geworden, und Henry ist drei“, erzählte Della. „Die beiden werden dir gefallen.“

Drei und acht, also keine Babys mehr. Das war vielleicht machbar. Aber Nanny? Katie verspürte absolut keinen Wunsch, als Nanny zu arbeiten, und sie hatte nicht genug Erfahrung mit Kindern, um auch nur darüber nachzudenken. „Moment mal … hast du gesagt, er braucht eine Nachhilfelehrerin?“

Della nickte. „Ja, Libby hat Probleme in der Schule, vor allem in Mathematik. Seit dem Tod ihrer Mutter fällt es ihr schwer, den Anschluss zu finden. Sam tut sein Bestes, aber es ist nicht leicht für ihn, weil er jetzt alleinerziehend ist. Seine bisherige Nanny hat vor einem Monat gekündigt, und seitdem findet er niemanden, der auf die Kinder aufpasst. Charity kommt zwar öfter vorbei, aber …“

Della verzog das Gesicht. „Wie dem auch sei, ich hatte die Kinder gestern bei mir, um Sam etwas zu entlasten, aber es ist schwierig, ein Hotel zu leiten und gleichzeitig auf zwei lebhafte Kinder aufzupassen. Auch wenn es die liebsten Kinder der Welt sind“, fügte sie lächelnd hinzu.

Zwei liebe Kinder also. Das konnte doch nicht so schwer sein, oder? Und das Extrageld konnte Katie gut gebrauchen, solange sie in der Luft hing. Außerdem hatte der Job nichts mit Buchhaltung zu tun. Und wenn sie etwas um die Ohren hatte, würde sie nicht so viel Zeit zum Grübeln haben … Vielleicht war dieser Job ja geradezu ideal. „Klar. Ich rede mit ihm.“

„Dann wäre das ja geklärt“, meinte Della erfreut. „Ich rufe ihn sofort an.“

Della hielt Wort und griff zum Handy. Katie bekam nicht mit, was der Mann am anderen Ende der Leitung sagte, nur dass Della sie in höchsten Tönen pries. Die Erwähnung von Coltons Namen schien den Ausschlag zu geben. Della beendete das Telefonat und kritzelte eine Adresse auf ein Stück Papier. „Hier wohnt er“, sagte sie befriedigt. „Du sollst morgen früh um halb neun da sein und dich vorstellen.“

„Danke.“ Katie nahm den Zettel. Ein Job als Nanny war zwar kein echter Fortschritt, aber zumindest auch kein Stillstand. Das reichte ihr vorerst.

2. KAPITEL

Obwohl es erst kurz nach acht war, griff Sam zum allerletzten Ausweg: Bestechung. „Wenn du dein Frühstück aufisst, kriegst du einen Cookie, Libby.“

Das war vielleicht nicht die gesündeste Lösung, aber nach zwei Stunden mit den Kindern – dank Henry, der in aller Herrgottsfrühe aufgewacht war – war Sam völlig erledigt, Verflixt, eigentlich war das sein Dauerzustand! Sein Job, seine zwei Kinder und ein lebhafter einjähriger Golden Retriever überforderten ihn nämlich total.

„Sind die Cookies von Miss Della?“, fragte Libby kritisch. „Deine schmecken nämlich doof.“

Della Barlow hatte einen Blick auf die Snacks geworfen, die Sam seinen Kindern gestern mitgegeben hatte, und ihnen spontan drei Dutzend Mitleidscookies gebacken. Sam war leider ein miserabler Koch. Er war auch kein guter Hausmann, konnte keine Zöpfe flechten und auch nicht die schwierigen Fragen eines noch immer trauernden Drei- und einer Achtjährigen beantworten.

Was er jedoch gut konnte, war, Immobilien zu vermitteln. Oder zumindest hatte er das gut gekonnt, bis die Firma, für die er gearbeitet hatte, pleitegegangen war. All die Gewinne, die er seiner Agentur eingebracht hatte, waren versickert. Als Sam letzten Montag zur Arbeit gefahren war, hatte er ein Verkaufsschild an der Tür gesehen, und die Schlösser waren ausgewechselt worden – vermutlich von der Bank. All seine noch offenen Abschlüsse hatten sich in Luft aufgelöst, da seine Mandanten panisch zu anderen Agenturen gelaufen waren, und der Scheck, mit dem Sam seine Rechnungen hatte bezahlen wollen, war geplatzt.

Zum Teil war diese Situation seine Schuld. Die Anzeichen waren unübersehbar gewesen, aber Sam war zu absorbiert vom Haushalt und den Kindern gewesen, um sich darum zu kümmern. Er hatte also das einzige wirklich Falsche getan und seine prekäre Arbeitssituation ignoriert – was ihn nun seine Existenz kosten konnte.

Zum Glück hatte er noch diesen Vormittag ein Vorstellungsgespräch beim größten Konkurrenten seiner alten Agentur. Das Problem war nur, dass er niemanden gefunden hatte, der zuverlässig seine Kinder betreute. Die drei Nannys, die sich bisher bei ihm vorgestellt hatten, waren entweder ahnungslos, verantwortungslos oder völlig durchgeknallt gewesen. Vor zwei Wochen hatte er daher Charity Jacobs als Babysitterin engagiert. Sie machte den Job ganz anständig – vielleicht nicht gerade wie die Nanny des Jahres –, aber vor allem hatte sie keine Lust, den Job in Vollzeit zu machen. Na ja, immerhin waren die Kinder unter ihrer Obhut sauber und satt.

Zu allem Überfluss hatte Libby Probleme in der Schule. Ihre Lehrerin hatte mit unheilschwangerem Tonfall betont, wie wichtig die dritte Klasse war, was die Grundlagen in Mathematik anging. Im Grunde hatte sie impliziert, dass Libby auf der Straße landen würde, wenn sie dieses Jahr nicht mitkam. Sie brauchte also dringend eine Nachhilfelehrerin … und Sam ein Wunder. Gut, dass Della gestern angerufen und ihm Coltons kleine Schwester als perfekte Kandidatin in Aussicht gestellt hatte.

Libby hüpfte vom Stuhl und drehte sich um sich selbst, sodass ihr Rock tellerförmig um sie herumflog. „Ich will Ballett lernen. Darf ich Ballett lernen?“

Ballettunterricht? Noch etwas, das organisiert werden musste. Libby zog ständig ihr altes Ballerinakleid an, ein uraltes Halloweenkostüm. Er hatte heute Morgen darauf bestanden, dass sie zur Schule eine Jeans und ein T-Shirt anzog, doch Libby hatte einen Tobsuchtsanfall bekommen und geschrien, dass Mommy ihr das Kleid gekauft hatte und sie es unbedingt tragen wollte und …

… Sam hatte nachgegeben. Er war auch insofern eingeknickt, als er zuließ, dass die Kinder beim Frühstück einen Zeichentrickfilm ansahen.

Er warf einen Blick auf die noch nicht angerührte Waffel auf Libbys Teller. „Libby, du musst dein Frühstück essen, damit wir zur Schule fahren können und ich Henry ins Gemeindezentrum bringen kann.“ Ihm blieb gerade noch Zeit, kurz mit der neuen Nachhilfelehrerin zu sprechen, danach musste er die Kinder wegbringen, um pünktlich um viertel nach neun bei seinem Vorstellungsgespräch zu sein.

Libby seufzte ungeduldig. „Wir haben doch heute keine Schule.“

„Natürlich ist heute Schule. Heute ist Dienstag.“

Libby schüttelte den Kopf. „Miss McCarthy sagt, es ist ein Tag für die Lehrer oder so.“

Sam ging zum Kühlschrank und schob eine Lage Flyer und Zeichnungen beiseite, bis er den Schulkalender fand. Er ließ einen Finger zum heutigen Daum gleiten und …

Autor

Shirley Jump
Shirley Jump wuchs in einer idyllischen Kleinstadt in Massachusetts auf, wo ihr besonders das starke Gemeinschaftsgefühl imponierte, das sie in fast jeden ihrer Romane einfließen lässt. Lange Zeit arbeitete sie als Journalistin und TV-Moderatorin, doch um mehr Zeit bei ihren Kindern verbringen zu können, beschloss sie, Liebesgeschichten zu schreiben. Schon...
Mehr erfahren