Wild wie ein irischer Kuss

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Wie sehr war Lady May Worth damals in Liam, den Freund ihres Bruders, verliebt! Einen sinnlichen Sommer lang war sie die Seine – bis er sie verließ. Jetzt ist Liam zurück in Schottland: Er soll sie vor einem Feind beschützen. Doch die allergrößte Gefahr geht für die schöne Adlige von dem irischen Schwerenöter selbst aus!


  • Erscheinungstag 16.10.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512947
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Dieses Mal war Preston Worth in Gefahr, wirklich zu sterben. Liam Casek zog hastig das Hemd aus und riss einen breiten Streifen davon mit einer Geschicklichkeit ab, die er seiner allzu großen Erfahrung zu verdanken hatte – Preston war bereits mehr als einmal von ihm zusammengeflickt worden. Doch heute könnte es gut das letzte Mal sein. Liam drückte den Stoff auf die klaffende Schnittwunde in Prestons Brust, erschrocken darüber, wie nah sie sich an der Lunge befand und wie schnell der notdürftige Verband sich mit Blut vollsaugte.

„Case!“, presste Preston heiser hervor und packte ihn eindringlich am Arm, um ihn zum Zuhören zu zwingen. „Lass mich. Sie kommen vielleicht zurück.“ Er meinte die Männer, die ihnen in der Dämmerung auf der Straße aufgelauert hatten. Es waren zu viele gewesen, als dass sie sie hätten zurückschlagen können, und doch hatten sie es am Ende geschafft, wenn auch erst, nachdem Preston verwundet worden war. Allerdings hatte seine Verwundung sie wahrscheinlich gerettet. Ihre Angreifer hatten sich zurückgezogen, weil sie vielleicht geglaubt hatten, ihr Opfer würde schon bald den Folgen der Verletzung erliegen.

„Sei still“, knurrte Liam, während er ein weiteres Stück Stoff um Prestons Brust wickelte. „Wir müssen dich versorgen lassen.“ Doch zunächst musste die Blutung gestillt werden. Angestrengt dachte er nach. Die nächste Stadt lag zwei Meilen hinter ihnen. „Drück fest auf den Verband.“ Liam stützte ihn unter den Achseln. „Du musst runter von der Straße.“ Es widerstrebte ihm, Preston zu bewegen, aber er konnte einen verwundeten Mann nicht in der Dunkelheit mitten auf der Straße liegen lassen. Die Gefahr nahender Kutschen oder gar die Rückkehr ihrer Angreifer war zu groß.

Preston stöhnte auf, als Liam ihn zur Seite zerrte – keine leichte Aufgabe, denn Preston war ebenso groß wie er, über eins achtzig und nicht fähig, sich selbst auf den Beinen zu halten. Ächzend brachte Liam seinen Freund bis zu einem Baumstamm und untersuchte im schwächer werdenden Licht den Verband, so gut es ging. Bald würde es völlig dunkel sein. Verwünschter Winter! Es gab nie genügend Tageslicht, und im Augenblick brauchte Liam es so dringend. Er fühlte mehr, als dass er sah, wie das Blut den Verband durchtränkte.

„Ich habe Schmerzen, Case“, gestand Preston. Einen winzigen Moment lang klang Angst in seiner Stimme mit.

„Das ist ein gutes Zeichen“, ermutigte Liam ihn. „Es geht dir nicht allzu schlecht. Du bist bei Bewusstsein, du sprichst, du hast keine Taubheitsgefühle.“ Das Taubheitsgefühl fürchtete Liam am meisten, da es ein sicheres Zeichen für den nahenden Tod war. Viel zu oft hatte er es während des Krieges erlebt. Er war kein Arzt, aber Kriegsveteran.

„Diese Männer“, stieß Preston hervor. „Cabot Roan hat sie geschickt.“

Liam nickte. Es würde ihn nicht überraschen. Der Angriff heute bestätigte nur, was sie bereits befürchtet hatten. Cabot Roan war ein wohlhabender Geschäftsmann, den sowohl das Innen- als auch das Außenministerium verdächtigten, ein Waffenkartell anzuführen. Das Kartell bestand aus reichen Bürgern, die für die gar nicht so weit zurückliegenden Kriege Waffen für England hergestellt hatten. Doch jetzt, da die Kriege vorüber waren, fehlte ihnen das Einkommen, und so verkauften sie ihre Waffen an verschiedene Aufständische in ganz Europa. Die Ziele der meisten dieser Aufstände ließen sich allerdings nicht unbedingt mit den politischen Interessen des Britischen Königreichs in Einklang bringen, sodass diese Männer im Grunde Verrat an ihrem Land verübten. Allerdings waren Beweise dafür nötig, dass Cabot Roan hinter den Waffengeschäften steckte. Diese zu finden, war Prestons Aufgabe. Sollte Roan tatsächlich der Anführer sein, musste er so diskret wie möglich gestoppt werden. Dies wiederum war Liams Aufgabe.

„Unsere Vermutung stimmte also. Das ist schon mal gut. Roan hätte nicht seine Häscher geschickt, wenn er nichts zu verbergen hätte.“ Liam hörte nicht auf zu lächeln und zu reden. Ihm kam es so vor, als wäre die Blutung endlich schwächer geworden, wenn sie auch immer noch viel zu stark war. Er konnte nicht länger damit warten, Hilfe zu holen. „Glaubst du, du könntest reiten? Nur einige Meilen.“

Preston nickte. „Und selbst wenn nicht, müssen wir es versuchen. Wir können nicht hierbleiben. Die Verletzung ist zu ernst. Du brauchst Licht, um sie versorgen zu können, Case.“ Ganz anders als all die anderen Male, da Preston eine Schuss- oder Schnittwunde erlitten hatte. Liam hätte lachen müssen, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Er fürchtete, dass er sehr viel mehr brauchen würde als etwas mehr Licht, um Preston zu retten.

Als er ihm aufhelfen wollte, hielt Preston ihn auf. „Warte. Vorher muss ich dir noch etwas sagen.“ Liam begriff die unausgesprochene Botschaft. Falls ich das Bewusstsein verliere, weil das Reiten zu große Schmerzen verursacht. Falls ich danach nicht wieder aufwache.

„Das kannst du tun, nachdem der Arzt dich versorgt hat“, warf Liam energisch ein.

Prestons Griff um seinen Arm wurde fester. „Kein Arzt, Case. Kein Gasthaus. Versprich mir das.“ Er atmete flach. „Zu öffentlich. Roan wird zuerst in allen Gasthäusern nach uns suchen und alle Ärzte der Gegend nach uns ausfragen.“

Widerwillig nickte Liam. Er hatte einen Plan. Plötzlich war ihm etwas eingefallen. „Nicht weit von hier gibt es ein Bauernhaus. Aber du musst mir erlauben, einen Arzt zu holen.“

Preston schüttelte entschlossen den Kopf. „Du hast meine Wunden oft genug genäht, um zu wissen, wie es geht.“ Er versuchte zu lachen und verzog vor Schmerzen das Gesicht.

„Lass das jetzt. Wir können später darüber lachen.“ Liam bezweifelte aber sehr, dass er je in der Lage sein würde, über diese Situation zu lachen. Wie ähnlich es Preston jedoch sah, ihm Zuversicht geben zu wollen, wenn er es doch war, der hier am Wegrand verblutete.

Zitternd atmete Preston ein. „Hör mir jetzt zu. Ich habe gestern den Beweis für Cabot Roans Schuld gefunden. Bevor du zu mir gestoßen bist.“

Das waren gute Neuigkeiten. „Wo ist er?“ Wenn irgendjemand geglaubt hätte, Preston könnte den Beweis bei sich tragen, hätten ihre Angreifer ihn niemals am Leben gelassen. Liam konnte nur hoffen, dass er sich nicht in den Satteltaschen des Pferdes befunden hatte, das durchgegangen war.

„Ich habe zwei Kopien des Beweises mit der Post verschickt. Eine direkt nach London und eine andere zu meiner Schwester, falls sie die Londoner Postkutsche abfangen.“ Preston ließ seinen Arm nicht los. „Sie ist zusammen mit einer Freundin in Schottland außerhalb von Edinburgh in einem kleinen Dorf. Du musst zu ihr reisen und sie beschützen, bis wir die Information dazu benutzen können, Cabot festzunehmen.“

Das gefiel Liam ganz und gar nicht. Ihm gefiel nie etwas, das mit May Worth zusammenhing. „Warum sollte Roan auch nur auf den Gedanken kommen, deine Schwester zu verfolgen?“ Selbst nach so vielen Jahren fiel es ihm noch immer schwer, ihren Namen auszusprechen.

„Weil Cabot Roan weiß, dass ich es war, der in sein Haus eingebrochen ist“, antwortete Preston aufgeregt. „Ich war unvorsichtig, und er hat mein Gesicht gesehen. Er wird Jagd auf May machen, Case, und ich kann nicht da sein, um sie zu beschützen.“

Nein, in seinem Zustand konnte Preston niemanden beschützen. Und selbst wenn er unverletzt gewesen wäre, hätte er jeden Verfolger nur direkt zu May geleitet. Roan würde zweifellos jede seiner Bewegungen beobachten lassen – falls Preston die Nacht überlebte. „Gib mir dein Wort, Case. Du wirst May doch beschützen?“

„Mit meinem Leben“, versprach Liam, weil er Preston alles versprochen hätte. Selbst die Fahrt zu der ganz besonderen Art von Hölle, die May Worth für ihn bedeutete. „Jetzt lass mich dich auf das Pferd setzen.“ Er schuldete Preston mehr, als er jemals wiedergutmachen könnte, und wünschte nur, der Einsatz für seinen Freund müsste nicht ausgerechnet etwas mit dessen Schwester zu tun haben.

Was tat May überhaupt in Schottland? fragte Liam sich. Ein ziemlich ungewöhnlicher Aufenthaltsort für die Tochter eines einflussreichen Engländers wie Prestons Vater. Und in welchem Dorf steckte sie? Preston hatte den Namen nicht erwähnt. Doch seine Fragen würden warten müssen. Noch bevor sie eine Viertel Meile hinter sich gebracht hatten, war Preston gegen Liam gesackt, erschöpft von dem Kampf, dem Schmerz und dem Blutverlust. Wahrscheinlich war es sogar besser, dass er das Bewusstsein verloren hatte. Endlich hatten sie den Hof erreicht. Allerdings war es nicht leicht für Liam, abzusteigen und gleichzeitig den bewusstlosen Mann vor einem Sturz zu bewahren.

„Ich brauche Hilfe für einen Verwundeten!“, rief er. Inzwischen war es völlig dunkel geworden, und Fremde um diese Stunde würden jeden Bewohner eines so abgelegenen Hofes misstrauisch machen. „Ich komme in Frieden!“ Doch er legte eine Hand für alle Fälle auf den Griff seiner Pistole. Man konnte nicht vorsichtig genug sein.

Mehrere lange Augenblicke vergingen, bevor die Tür des Hauses geöffnet wurde und ein Mann, eine Lampe in der einen Hand, heraustrat.

„Bitte helfen Sie uns. Er ist schwer verletzt. Ich muss ihn so bald wie möglich behandeln.“ Liam gab sich Mühe, sich die Angst nicht anmerken zu lassen, die ihm die Kehle zuschnürte. Er würde nicht zulassen, dass Preston Worth starb, doch wenn er ihm helfen wollte, musste er ruhig bleiben und die Situation in den Griff bekommen. Die Menschen zweifelten für gewöhnlich an niemandem, der Autorität ausstrahlte, sondern folgten seinen Anweisungen. Der Mann eilte vorwärts und rief gleichzeitig andere zu Hilfe. Zwei große, schlaksige Jungen kamen jetzt aus dem Haus, gefolgt von einer Frau, die sich sofort nützlich machte, indem sie die Lampe übernahm.

Mehrere Hände halfen Preston behutsam vom Pferd herab. „Vorsichtig. Er ist verwundet“, stieß Liam schärfer hervor als nötig, doch die Familie blieb gelassen. Sein bester Freund verblutete vor seinen Augen. Noch nie hatte Liam sich so hilflos gefühlt. Wenn seine Fähigkeiten nun nicht ausreichten? Sollte er doch besser einen richtigen Arzt holen? Liam warf einem der Jungen die Zügel zu. „Kümmere dich um ihn. Ich brauche ihn ausgeruht.“ Jetzt durfte er sich nicht auf das konzentrieren, was er nicht tun konnte, sondern nur auf alles, was er tun konnte. Nur so war es möglich, eine Katastrophe zu überleben. Und Liam hatte so viele überlebt, dass er Bescheid wusste. Denke nur daran, was als Nächstes geschehen muss.

Er wandte sich an die Frau. „Ich brauche Tücher, um ihn zu verbinden, und heißes Wasser.“ Sie nickte knapp und hastete voran zurück ins Haus. Liam folgte ihr mit Preston auf dem Arm. Der Mann und die Jungen begleiteten ihn und hielten ihm die Tür auf.

Drinnen sah Liam sich in dem großen Raum um, der die Küche darstellte. „Machen Sie den Tisch frei, damit wir ihn darauflegen können.“ Es war der beste Ort, dicht am Feuer, wo es warm war, und Liam genug Licht hatte, um arbeiten zu können. Er zog die Jacke aus und krempelte die Ärmel hoch. Gleich darauf stand eine Schüssel heißen Wassers auf dem Tisch.

„Habe ich zufällig schon fertig, weil ich gerade das Abendessen kochen wollte“, erklärte ihm die Frau mit einem freundlichen Lächeln. „Es wird reichen, bis ich neues Wasser gekocht habe. Und die werden Sie auch brauchen.“ Sie hielt ihm Nadel und Faden hin.

„Und eine Kerze und etwas Whisky, wenn Sie welchen haben.“ Liam öffnete Prestons Hemd und konnte dessen Wunde zum ersten Mal richtig untersuchen.

„Sie sind Arzt?“ Die Frau reichte ihm eine braune Flasche.

„So in etwa.“ Verarzten konnte er das nicht nennen, was er tat. Ärzte waren außerdem meist reiche Männer, die zur Universität gegangen waren und eine Praxis mit Spitzenvorhängen an den Fenstern besaßen. Die einzige Ausbildung, die Liam genossen hatte, war ihm durch Preston zuteilgeworden, und alles Übrige hatte er auf einem serbischen Schlachtfeld gelernt. Er betete inständig, dass seine lückenhaften Kenntnisse heute ausreichen würden.

Nachdem er den Korken herausgezogen hatte, schnupperte er an der Flaschenöffnung. Es war ein guter, starker Whisky und würde höllisch brennen. Liam nickte dem älteren Jungen zu. „Packe ihn bei den Schultern und halte ihn gut fest. Er wird sich wehren wollen, wenn ich mit diesem Feuerwasser die Wunde reinige.“ Der Junge wurde blass, tat aber, worum er gebeten worden war.

Liam beugte sich über Preston und schluckte unruhig. „Es tut mir leid, alter Junge, das wird jetzt ein wenig wehtun, aber wir wollen ja schließlich möglichst verhindern, dass die Wunde sich entzündet.“ Er schüttete den Whisky Preston über die Brust und hielt mit seinem Gewicht dagegen, als sein Freund aufschrie und sich aufbäumte. Gut, dachte Liam. Noch hatte er genügend Kraft, um sich wehren zu wollen. „Ruhig, Preston. Wir sind in einem Bauernhaus, und ich flicke dich wieder zusammen, wie du gewollt hast“, redete er ihm gut zu.

„Keine Ärzte“, brachte Preston rau hervor.

„Keine Ärzte.“ Liam lächelte und beugte sich wieder über ihn, damit Preston ihm in die Augen sehen konnte. „Hier sind wir sicher.“ Er hoffte, dass er recht hatte und Roans Männer nicht jeden Moment hereinplatzen würden. Und er hoffte, dass sie nicht morgen kommen und diese freundlichen Menschen bedrängen würden. Zwar hatte er sich trotz der Dunkelheit Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen, doch sehr viel konnte man nicht tun, wenn man einen Verwundeten retten wollte, der Eile nötiger brauchte als Besonnenheit.

„Hier ist, was Sie haben wollten.“ Die Frau hatte den Faden bereits aufgefädelt und lächelte wieder freundlich. „Bei diesen dreien hier muss ich immer vorbereitet sein. Auf einem Hof gibt es immer Schnitte oder blaue Flecken zu verarzten.“ Sie wurde ernst. „Wie übel ist es?“

Liam trat beiseite, damit sie die Wunde sehen konnte, und hielt die Nadel in die Flamme. „Ich glaube nicht, dass etwas Lebenswichtiges verletzt worden ist, aber er hat viel Blut verloren.“ Er wies auf die Whiskyflasche. „Geben Sie ihm jetzt etwas davon zu trinken. Er wird es nötig haben, wenn ich anfange, ihn zu nähen.“ Wenn sie Glück hatten, würde Preston nach den ersten paar Stichen das Bewusstsein verlieren. Doch zunächst musste Liam die Wunde vom Schmutz befreien, um sie besser behandeln zu können. Das frische heiße Wasser war jetzt fertig. Er tauchte ein Tuch hinein. Nachdem er das Blut fortgewischt hatte, sah die Verletzung etwas weniger bedrohlich aus – den Umständen entsprechend. Jetzt konnte Liam erkennen, dass die Blutung aufgehört hatte und zum Glück nicht die Lunge getroffen worden war. Doch es war eine lange, hässliche Wunde. Offenbar war die Klinge schartig gewesen. Preston würde nicht ohne Narbe davonkommen.

Der Bauer stellte sich neben seinen Sohn. „Sie brauchen wahrscheinlich uns beide. Ihr Freund sieht mir nach einem sehr kräftigen Burschen aus.“ Die Frau und der andere Sohn umfassten je ein Bein. Liam holte tief Luft, betete, dass seine Hände ruhig sein würden, bekreuzigte sich und begann zu nähen.

Nach wenigen Minuten war es vorüber, wenn es sich auch angefühlt hatte, als wären Stunden vergangen. Liam war völlig erschöpft. Besorgt betrachtete er sein Werk. Würde es reichen? Hatte er genügend Vorsorge getroffen, um eine Entzündung zu verhindern? Aus bitterer Erfahrung wusste er, dass es nicht die Wunde war, die einen Soldaten tötete. Oft war es die Entzündung, die folgte, oder schlechte ärztliche Behandlung – ob nun mit Spitzenvorhang-Ausbildung oder nicht. Liam brachte es nicht über sich, sich vorzustellen, er könnte verantwortlich für Prestons Ableben sein und nicht sein Retter. Wenn Preston nicht gewesen wäre, würde er noch immer auf der Suche nach Arbeit sein und auf der Straße von der Hand in den Mund leben.

Der Bauer legte ihm einen Arm um die Schultern. „Meine Jungs werden auf ihn achten, während meine Frau sauber macht. Lassen Sie uns etwas trinken. Es war eine höllische Nacht für Sie.“ Sie traten in den Raum neben der Küche, ließen aber die Tür offen.

Und sie war noch nicht vorüber. Der Bauer drückte Liam ein Glas Whisky in die Hand. „Wir stellen Ihnen eine Pritsche vor das Feuer. Dann können Sie in der Nähe Ihres Freundes bleiben.“

„Nein. Ich muss weiter.“ Liam leerte sein Glas und spürte, wie der Whisky ihn bis ins Innerste erwärmte. Das bernsteinfarbene Getränk gab ihm die Kraft, die er aufbringen musste, um das freundliche Angebot auszuschlagen. Nichts wünschte er sich im Moment mehr, als zu schlafen und bei seinem Freund zu bleiben, aber er hatte Preston ein Versprechen gegeben. Er musste noch viele Meilen reiten, bevor er ruhen durfte. Je größer der Abstand zwischen ihm und Cabot Roan wäre, desto besser. „Sie haben bereits so viel getan, und doch muss ich Sie um noch einen Gefallen bitten.“

„Schon erledigt“, unterbrach der Mann ihn. „Wir werden, so gut wir können, auf Ihren Freund achten, und hoffen, dass kein Fieber einsetzt.“

„Ich kann Sie bezahlen. Er wird gut essen müssen, viel Fleisch, damit er das Blut erneuern kann, das er verloren hat.“ Liam griff in seine Tasche und drückte dem Bauern einen Beutel Münzen in die Hand.

„Das ist nicht nötig“, wehrte der ab.

„Doch, das ist es, glauben Sie mir. Sie haben heute Abend mehr getan, als Ihnen bewusst ist.“ Liam runzelte die Stirn. „Und ich weiß nicht einmal Ihren Namen.“

„Taylor. Ich bin Tom Taylor. Und Sie?“

Liam lächelte schief. „Meine Freunde nennen mich Case.“ Der Bauer nickte, da er begriff, dass Liam ihn mit seinem Schweigen nur schützen wollte. Manchmal konnte es gefährlich werden, einen bestimmten Namen zu kennen. Es war besser, wenn die Unschuldigen nicht zu viel wussten. Liam wollte nicht, dass ihnen wegen ihrer Großzügigkeit Schaden zugefügt wurde.

„Glauben Sie, jemand wird nach ihm suchen?“, fragte der Mann. Natürlich wollte er es wissen, um seine Familie beschützen zu können.

„Das ist möglich.“ Liam wollte ihn nicht anlügen. Aber er hoffte sehr, dass es nicht geschehen würde. Preston brauchte mindestens zwei Wochen, um sich zu erholen, und sogar einen ganzen Monat, um wieder völlig zu Kräften zu kommen. Besorgt warf Liam einen Blick in die Küche, wo Preston reglos auf dem Tisch lag. So wenig Liam gehen wollte, musste er sich doch beeilen. Edinburgh war sehr weit entfernt, und er würde einen Vorsprung brauchen, um May rechtzeitig zu erreichen. Wobei er allerdings hoffte, Cabot Roan würde gar nicht erst auf den Gedanken kommen, dort nach ihr zu suchen.

Der Bauer sah zum Himmel hinauf. „Es wird heute Nacht noch regnen. Und nicht wenig. Sind Sie sicher, dass Sie aufbrechen wollen?“

Nein, er war überhaupt nicht sicher, und er wollte nicht in die Nacht hinausreiten, aber er hatte Preston sein Wort gegeben. Er musste schnell zu May gelangen, ob sie nun seines Schutzes bedurfte oder nicht – und obwohl sie ebenso wenig erfreut sein würde, ihn zu sehen, wie umgekehrt.

Der Bauer begleitete Liam nach draußen zu seinem Pferd. Liam schüttelte dem Mann die Hand dankte ihm ein letztes Mal und saß, skeptisch zum Himmel blickend, auf. Vielleicht würde es ja nicht so bald regnen. Ein wenig Glück hätte er wirklich verdient. Schon zwei Meilen später begann ein sintflutartiger Regen.

2. KAPITEL

Ein Dorf am Firth of Forth, einem Meeresarm in Schottland,

November 1821

Einen Penny und nicht mehr“, beharrte May Worth streng. Sie war auf dem Markt und wollte die Karotten von Bauer Sinclair ebenso wenig kaufen, wie er sie an sie verkaufen wollte – jedenfalls nicht zu diesem Preis. „Drei Pennys für ein Bund Karotten ist Wucher.“

„Irgendwie muss ich schließlich meine Familie ernähren.“ Sinclair rieb sich das unrasierte Kinn mit einer schwieligen Hand. „Was macht es Ihnen außerdem aus, ob sie einen oder drei Pennys kosten? Sie können es sich doch leisten.“

„Über gewisse Mittel zu verfügen, so bescheiden sie auch sein mögen“, betonte May, „bedeutet nicht, dass ich sie unnötig verprassen muss.“ In den vier Monaten, die sie und Bea sich hier aufhielten, hatten sie versucht, so sparsam wie möglich zu leben. Doch trotz all der Mühe, die sie sich gegeben hatten, waren einige Leute genau wie Sinclair mit seinen Karotten zu dem Schluss gelangt, sie seien vermögende Damen.

Der Bauer knurrte leise. „Zweieinhalb. Es sind gute Karotten, die besten im ganzen Dorf, und die letzten frischen, die Sie wahrscheinlich bis zum Frühling zu Gesicht bekommen werden.“

Dagegen konnte May nichts sagen. Sinclairs Karotten waren so spät im Herbst tatsächlich zweieinhalb Pennys wert, aber May verlor nicht gerne. Jetzt, da sie den Kampf begonnen hatte, war es ihr unmöglich nachzugeben.

„Zwei.“ Sinclair würde sich als Sieger aufspielen, wenn sie sich zu leicht geschlagen gäbe. Bea würde zwar lachen, wenn sie ihr davon erzählte, aber umso besser. Die letzten Wochen waren sehr schwierig für sie gewesen. Sie befand sich im letzten Monat ihrer Schwangerschaft, war sehr rund geworden und fühlte sich ständig unwohl. Inzwischen war es ihr nicht mehr möglich, zum Markt zu gehen, ohne dass ihr die Füße anschwollen. „Zwei. Für Beatrice und ihr Baby“, fügte May dramatisch hinzu.

Damit erreichte sie, was sie wollte. „Also zwei“, kapitulierte Sinclair. „Richten Sie Mrs. Fields bitte meine Grüße aus.“ Er reichte May die Karotten, und sie legte sie triumphierend in ihren Korb. Aber sie wusste, dass es nur ein halber Sieg war. Bea hätte auch ohne Feilschen einen besseren Preis erzielt. Alle im Dorf hatten Beatrice gern. Was nicht hieß, dass sie May nicht zu schätzen wussten, aber vor ihr waren sie eindeutig auf der Hut.

Jetzt hatte sie alles besorgt, was auf ihrer Liste stand. Höchste Zeit, nach Hause zu gehen. May war nur ungern so lange fort von Bea, jetzt, da das Baby jeden Moment kommen konnte. Und sie musste Briefe lesen – den von ihrem Bruder ganz besonders. Auch Bea würde sich darauf freuen. Neuigkeiten von zu Hause erhielten sie nicht allzu oft. Der andere Brief kam von ihren Eltern und war nicht ganz so willkommen. Sie würde ihn erst auf ihrem Zimmer lesen, wenn sie allein sein würde.

May dachte wieder an die Dorfbewohner. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich nur wegen Bea toleriert wurde, und sie konnte auch verstehen, warum. Sie war einfach zu unverblümt für einige der hiesigen Damen und zu hübsch für andere, die sich Sorgen machten, sie könnte ihnen ihre Männer ausspannen. Wenn sie ihnen nur sagen könnte, dass sie an keinem Mann interessiert war. Sie war schließlich hergekommen, um ihnen auszuweichen. Und das hatte auch wunderbar geklappt. Keiner hier wurde schlau aus ihr, keinem gelang es, mit ihrer direkten Art fertigzuwerden. Noch nie war das jemandem gelungen, bis auf Beatrice und Claire und Evie.

Ihre Freundinnen hatten sie einfach akzeptiert, so wie sie war, ohne sie verändern zu wollen. Was man von ihren Eltern leider nicht behaupten konnte. Stattdessen hatten sie ihr gedroht, sie mit einem Geistlichen zu verheiraten, wenn sie bis zum Frühling keinen Ehemann gefunden hatte. Zwar glaubte sie eigentlich nicht, dass sie ihre Drohung wahr machen würden. Sie wollten nur Druck auf sie ausüben. In ihrem Brief versuchten sie gewiss, genau das zu tun. Während der Saison hatten sie unzählige Male versucht, sie auf passende junge Männer aufmerksam zu machen. Doch May hatte jeden von ihnen abgewiesen, und ihre Eltern waren inzwischen offensichtlich verzweifelt. Eine weitere Saison war vorüber, und sie war noch immer nicht zu der pflichtbewussten Tochter geworden, die sie sich wünschten. Mit ihren fast zweiundzwanzig Jahren und drei Saisons hinter sich, hatte sie noch immer keinen vielversprechenden Bewerber um ihre Hand – und alles nur wegen eines gewissen Mannes.

Sie hatte sich einmal Hals über Kopf verliebt, obwohl man sie gewarnt hatte. Er sei zu gefährlich für ein junges Mädchen, das gerade eben das Schulzimmer verlassen hatte und viel zu unerfahren und ruhelos war. Doch sie hatte nicht auf den wohlmeinenden Rat gehört, und jetzt bezahlte sie den Preis dafür. Sie konnte ihn nicht haben, dafür hatte die schroffe Art, wie sie sich getrennt hatten, sicher gesorgt. Die harten Worte, die sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten, konnten nicht zurückgenommen werden. Doch das verhinderte nicht, dass May seitdem jeden Mann mit ihm verglich – und keiner konnte ihm das Wasser reichen. Ihr Vater nannte sie ungehorsam, ja sogar regelrecht aufrührerisch. Ihre Mutter nannte es eine Schande.

Vielleicht hatten sie ja auch recht. Vielleicht war sie wirklich aufrührerisch und eine Schande für die Familie. Oberflächlich betrachtet besaß sie alles, was eine erfolgreiche Debütantin sich nur wünschen konnte. Sie war hübsch, ihre Familie respektabel, ihr Vater der zweite Sohn eines Viscounts und angesehenes Mitglied des Parlaments. Und sie würde eine Mitgift bekommen, die ebenfalls nicht zu verachten war. Eigentlich hätte sie schon längst unter der Haube sein müssen, eine so begehrte Ware auf dem Heiratsmarkt wie sie war.

Wahrscheinlich hatten ihre Eltern ihr nur erlaubt, Beatrice ins schottische Exil zu begleiten, da sie dann ihre Tochter nicht sehen mussten. Aus den Augen, aus dem Sinn – und ein wenig Ruhe. Vielleicht hofften sie auch, nach einigen Monaten in Schottland würde May ihre Meinung ändern, weil sie erkannt hätte, wie es war, allein und von der Gesellschaft abgesondert zu leben. Eine alte Jungfer konnte sich nicht mehr als das erhoffen.

May lächelte und ging etwas ausgelassener den Weg nach Hause entlang. Wenn ihre Eltern darauf spekulierten, hätten sie sich nicht mehr in ihr täuschen können. Sie liebte es hier. Es machte ihr nichts aus, dass die Dorfbewohner sich über sie wunderten. Das würde sich mit der Zeit ändern. Und wenn nicht, so war es ihr gleich, denn sie war gern allein, nur sie und Beatrice. Es gefiel ihr, für sich selbst zu sorgen. Sie hatte festgestellt, dass sie ein Talent fürs Kochen besaß, für ihren kleinen Haushalt und dafür, Gemüse anzubauen. Sie und Bea besaßen das großartigste Gewächshaus, in dem sie das ganze Jahr über Gemüse zogen, wenn auch noch nicht genug, um davon leben zu können. Eine Weile würden sie noch von Leuten wie Sinclair abhängig sein. Aber im Frühling … Ihre Schritte wurden wieder etwas zögernder.

Würden sie im Frühling denn noch hier sein? Sie hoffte es zwar, aber Beatrices Eltern würden sie vielleicht nach Hause zurückrufen, sobald das Baby da war. Und auch ihre eigenen Eltern würden gewiss irgendwann erwarten, dass sie zurückkam. Seit einigen Wochen beunruhigte dieser Gedanke Beatrice und sie. Sobald das Baby auf der Welt sein würde, würde alles anders werden. Beatrice befürchtete, jemand könnte ihr das Baby fortnehmen. Schließlich war sie unverheiratet, selbst wenn man sie im Dorf Mrs. Fields nannte und glaubte, Mr. Fields sei ein Forscher und zurzeit beruflich auf See unterwegs. Dieses Märchen hatten sie sich aus einem Liebesroman ausgeliehen, den Beatrice gelesen hatte. Tatsache war, dass Beatrice sich im vergangenen Winter unbesonnen verhalten hatte und jetzt mit den weitreichenden Konsequenzen leben musste. Und sie wollte gewiss ebenso wenig zurück nach Hause wie May.

„Wir gehen einfach nicht“, hatte May ihr am vorherigen Abend gesagt, als Beatrice sich wieder Sorgen gemacht hatte. „Sie können uns nicht zwingen.“ Was nur teilweise stimmte. Ihre Eltern konnten sie sehr wohl zwingen. Sie brauchten dafür einfach nur die Zahlung des Geldbetrages einzustellen, mit dem sie sich das gemütliche Landhäuschen leisten und sich verpflegen konnten. Vielleicht würde Preston sich aber für sie einsetzen. Das tat er immer. Er war der beste Bruder, den man sich denken konnte. Und er war der Einzige, der May fürchterlich fehlte.

Aber sie konnte nicht ständig mit Prestons Hilfe rechnen. Die Entscheidung lag ganz bei ihr und Beatrice. Sie mussten sich auf sich selbst verlassen. Schon vor einer ganzen Weile hatten sie angefangen, ihr Geld zu sparen, falls ihnen ihre Eltern die Unterstützung versagen sollten. Dann hätten sie noch das Gewächshaus und im Frühling den Garten. Sie könnten Obst einmachen und möglicherweise sogar so viel davon, dass sie es auf dem Markt verkaufen konnten. Und sie hatten ihre Kleidung und die Pferde, obwohl die Pferde natürlich Heu brauchten. Wenn sie nur sparsam wären, könnten sie vielleicht wirklich wie Frauen vom Land leben. Der Plan war waghalsig und nicht ohne Risiko. Sie würden das Leben aufgeben, das sie gewohnt waren, aber sie würden frei sein.

Nichts ändert sich, wenn man sich selbst nicht ändert. Das Motto des „Vereins der vergessenen Mädchen“, von dem inzwischen nur noch zwei Mitglieder übrig waren – sie und Bea. Claire und Eve hatten geheiratet. Im Oktober war sie auf Evies Hochzeit gewesen. Wie strahlend, wie stolz Evie ausgesehen hatte an der Seite ihres ausgesprochen attraktiven Mannes, eines königlichen Prinzen aus Kuban, der seinen Titel für sie aufgegeben hatte und ein Landedelmann in Sussex geworden war. Wenn Dimitri Petrovich es fertigbringen konnte, dann Bea und sie vielleicht auch. Nur sie selbst konnten eine Veränderung in ihrem Leben erwirken. Selbst wenn es bedeutete, dafür kämpfen zu müssen.

Das schwere Gewicht in ihrer Rocktasche erinnerte May daran, dass es sogar im wahrsten Sinne des Wortes ein Kampf werden könnte. Versprich mir, dass du niemandem erlauben wirst, das Baby zu nehmen, hatte Beatrice sie mit Tränen in den Augen angefleht. Falls jemand versuchen sollte, das zu tun, würde er sich nicht mit May auf eine Diskussion einlassen. Er würde rohe Gewalt einsetzen. Die traurige Wahrheit lautete nun einmal, dass Männer eine Frau ganz einfach mit ihrer Kraft überwältigen konnten, um zu bekommen, was sie wollten. Doch eine Pistole stellte auf wunderbare Weise wieder eine Art Gleichgewicht her, das hatte Preston ihr beigebracht. Und so trug May auch jetzt eine Pistole bei sich – für alle Fälle. Sie hatte Bea versprochen, dass niemand ihr das Baby wegnehmen würde, solange sie die Chance hatte, einen Schuss abzugeben. Und das Wort einer Worth war heilig.

Ein seltsames Prickeln überlief sie, als sie sich ihrem Landhäuschen näherte. Normalerweise erweckte der Anblick des hübschen Backsteingebäudes mit seinem steilen Schieferdach ein Gefühl der Geborgenheit in ihr. Doch heute empfand sie Unbehagen. Vielleicht hatte das Grübeln über die Möglichkeit, jemand könnte das Baby stehlen wollen, sie unruhig gemacht. Das Baby ist ja noch nicht einmal geboren, redete sie sich gut zu, doch es hatte keinen Zweck. Irgendetwas stimmte nicht. Es lag Schmutz auf den Stufen zur Tür – Schmutz, wie er an Stiefeln haften blieb. Stiefel – also war ein Mann gekommen. Ein Mann verhieß Ärger.

May stellte ihren Korb auf die Erde und sah sich um. Da! Ein Pferd, ein fremdes Pferd, und ein viel zu elegantes Pferd, um einem einfachen Bauern zu gehören. Ein solches Pferd gehörte einem Mann, der viel ritt und der wohlhabend genug sein musste, um sich ein solches Tier leisten zu können. Außerdem kam es ihr irgendwie bekannt vor. Plötzlich wurde ihr Mund ganz trocken. War schon jemand von Beas Familie gekommen? May steckte die Hand in die Tasche und holte langsam die Pistole hervor, während sie sich zwang, Ruhe zu bewahren. Denke nur daran, was du als Nächstes tun musst. Es war ein Trick, den Preston ihr beigebracht und den er bei seiner Arbeit für die Regierung gelernt hatte.

Durch das Fenster konnte sie den Hinterkopf eines Mannes sehen. Jemand saß im Salon. Gut. Wer immer es war, konnte sie seinerseits nicht sehen. Überrasche sie. Gib ihnen nicht die Gelegenheit nachzudenken. Du bist die Einzige, die überlegen sollte. Auch das hatte Preston ihr beigebracht. Sie wusste, wohin sie sich wenden musste, sobald sie durch die Tür kam, und in welche Richtung sie mit der Pistole zielen musste.

May atmete tief ein und drückte die Eingangstür mit der Schulter auf, wobei sie mehr Kraft darauf verwandte, als nötig gewesen wäre. Die Tür krachte lärmend gegen die Wand, sodass sie die beiden Menschen im Raum überrumpelte. Sofort wirbelte May zu dem Sessel am Fenster herum, die Pistole auf den Mann gerichtet. Das Licht kam von hinten und warf somit einen Schatten auf das Gesicht des Mannes, doch May sah ihn deutlich genug, um ihn treffen zu können. „Gehen Sie. Wir wollen Sie nicht hier haben.“ Das unheilvoll klingende Klicken der Pistole erfüllte die Stille, eine Stille, die jedoch nicht lange anhielt.

Die meisten Menschen nahmen eine Pistole sehr ernst. Der Mann im Sessel allerdings nicht. Er lachte! Ein Schauer rann May über den Rücken, als sie die Stimme erkannte und der Mann lässig meinte: „Hallo, May. Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.“ Gegen jede Erwartung war es jetzt jedoch May, die völlig überrumpelt worden war.

Sie erstarrte. Liam Casek war hier? Das war so unwahrscheinlich, dass sie blinzelte, als glaubte sie wirklich, ihre Augen würden sie täuschen. Liam Casek, der Partner ihres Bruders, ihre einzige große Dummheit, der Mann, mit dem sie alle anderen Männer verglich und gegen den alle verblassten – Liam saß in ihrem Salon am äußersten Ende Schottlands. Er war wirklich der letzte Mensch, mit dem sie gerechnet hätte. Und wenn sie ehrlich war, war er auch der einzige Mensch, den sie auf keinen Fall hatte wiedersehen wollen. Er würde sie nur in Schwierigkeiten bringen, wie er früher oft genug bewiesen hatte. Wie sollte sie Beatrice gegenüber seine Gegenwart erklären? Langsam ließ sie die Pistole sinken, und sein Blick folgte der Bewegung.

„Wie ähnlich es dir sieht, einen Gentleman mit der Pistole zu begrüßen“, sagte er beleidigend. Fünf Jahre waren vergangen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Damals war sie gerade siebzehn Jahre alt gewesen, doch jetzt war sie eine erwachsene Frau. Sie sollte ihm irgendetwas Schlagfertiges an den Kopf werfen, eine ihrer berüchtigten Spitzen. Doch sie konnte ihn nur stumm anstarren.

Er sah ungefähr so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte – irische blaue Augen, die selbst in der Gefahr frech funkelten. May kannte nicht viele Männer, die eine auf sie gerichtete Pistole so gelassen hinnehmen würden. Das unordentliche dunkle Haar trug er wie früher lang, und seine große Gestalt ließ den Raum viel kleiner als sonst erscheinen. Liam war früher hochgewachsen und schlank gewesen, doch nun schüchterte er May fast ein, so groß und kräftig kam er ihr jetzt vor. Und sie entdeckte auch einige ungewohnte Dinge an ihm – eine winzige Narbe auf der Wange, dicht unter dem linken Auge. Die hohen Wangenknochen hatten seinem Gesicht schon immer eine gewisse Scharfsinnigkeit verliehen. Doch jetzt war sein Blick klüger, welterfahrener als früher. Aus dem Jungen, den May einst gekannt hatte, war ein Mann geworden.

Doch sein Mund war noch genau wie früher. Es war der Mund eines Gentlemans mit seiner dünnen Oberlippe, die fälschlicherweise auf Adel schließen ließ, und eine volle, sinnliche Unterlippe. Sein Mund deutete auf eine Weichheit hin, die das markante Kinn Lügen strafte und jede Frau daran erinnerte, dass jene Sanftheit lediglich eine Täuschung war. Er wusste eine Frau zu verführen, zu locken, sodass sie sich wünschte, hinter die raue Fassade blicken zu können. May war einmal so kühn gewesen – und so naiv. Beide waren sie damals unbesonnen gewesen, May mehr noch als er. Doch er war nicht der Richtige für sie. Das wussten sie beide ganz genau, und umso unbegreiflicher war es, dass er jetzt hier vor ihr saß.

Allmählich gelang es May, sich zu fassen. „Was tust du hier?“ Er war nicht ihretwegen gekommen. Sie hatten sich nicht gerade in gutem Einvernehmen getrennt. Aber wenn er nicht ihretwegen hier war, warum dann? Preston! Oh, nein! Die Gedanken begannen ihr durch den Kopf zu rasen. Der Brief, den sie im Dorf abgeholt hatte! Er lag in ihrem Korb.

May lief wieder hinaus, wo sie ihn stehen gelassen hatte, holte den Brief heraus und eilte wieder in den Salon, während sie Liam mit Fragen bombardierte. „Was ist Preston geschehen? Wo ist er? Ist er mit dir gekommen?“ Es war nicht unmöglich. Vielleicht war er nur kurz fortgegangen, um etwas zu erledigen. Hastig riss sie den Briefumschlag auf. Zwei lose Blätter fielen heraus. Doch May war nicht an ihnen interessiert, sondern nur an Prestons kühn gekritzelten Worten. Sie überflog den Inhalt und sah Liam wieder eindringlich an. „Sag mir sofort, was ist mit meinem Bruder?“

„Er ist niedergestochen worden, May“, antwortete Liam ruhig, vielleicht in der Hoffnung, ihr nicht mehr Angst als nötig einzujagen. Doch eine solche Nachricht konnte nicht gelassen aufgenommen werden. May hörte Bea keuchen, machte einige unsichere Schritte und ließ sich neben ihrer Freundin auf das Sofa sinken. Nur undeutlich nahm sie wahr, wie Bea tröstend ihre Hand ergriff. Aber May war entschlossen, nicht vor Liam die Fassung zu verlieren. „Wann ist das geschehen? Sag mir alles.“

„Vor sechs Tagen“, entgegnete er. May spürte, dass er ihr etwas verheimlichte. Unruhig bückte sie sich, hob die zwei Blätter Papier vom Boden auf und betrachtete sie. Sie stammten eindeutig aus einem Kontobuch und wiesen Ausgaben und erhaltene Zahlungen auf. Daneben standen Namen und Summen. Alles sehr verdammende Beweise, und Preston hatte sie ausgerechnet an sie geschickt. Das verriet sehr viel über seinen Zustand. „Wird er durchkommen?“ Es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen. Es musste sich um eine sehr schwere Verletzung handeln, wenn Liam deswegen zu ihr gekommen war. Bea drückte ihr die Hand, und May war noch nie so froh gewesen über die Nähe ihrer Freundin.

Liam zögerte. „Ich habe ihn, so gut ich konnte, zusammengeflickt. Er befindet sich in einem abgelegenen Bauernhaus.“ Und er beantwortete ihre nächste Frage, bevor May sie stellen konnte. „Preston erlaubte mir nicht, einen Arzt zu holen.“ Natürlich nicht, dachte May bedrückt. Ihr Bruder würde sich um die Sicherheit all jener sorgen, die mit ihm zu tun hatten, und wer immer ihnen schaden wollte, würde zuerst jeden Arzt in der Nähe befragen. „Und dann musste ich ihm versprechen, direkt zu dir zu reisen“, fuhr Liam fort.

„Zu mir oder zu dem Brief?“, fragte May bissig.

„Das kannst du nicht ernst meinen“, sagte Liam vorwurfsvoll. „Deine Sicherheit war selbstverständlich Prestons erster Gedanke, während er blutend auf dem Boden lag.“

Seine Worte beschämten sie. Natürlich war es so. Aber es machte ihr auch Angst. Preston musste geglaubt haben, dass er sterben würde, weil er Liam an seiner statt geschickt hatte. „Du kannst mich zu ihm bringen.“ Schließlich wusste er, wo Preston war. Schon wollte sie sich erheben. Am besten würden sie zu Pferd reisen. Das wäre schneller. „Wir können noch heute aufbrechen.“ Innerhalb der nächsten Stunde, wenn es nach ihr ginge.

Zum ersten Mal zeigte Liam eine lebhaftere Reaktion. Allein die Vorstellung, mit May zusammen eine längere Strecke zurücklegen zu müssen, brachte ihn so in Aufruhr, wie es eine Pistolenmündung nicht geschafft hatte. Augenblicklich schoss er aus seinem Sessel hoch. „Ich soll dich in die Höhle des Löwen bringen, noch dazu mit den Beweisen, für die dein Bruder sein Leben riskiert hat?“, rief er fassungslos. „Was für eine schwachköpfige Idee! Dein Bruder hat mich geschickt, damit ich dich beschütze, nicht um die Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.“

Er wollte sie beschützen? Aber vor wem? May musste unbedingt Einzelheiten erfahren, allerdings nicht, solange Beatrice bei ihnen war. „Ich kann mich gut selbst beschützen. Wer ungebeten diese Schwelle überschreitet, macht Bekanntschaft mit meiner Pistole, wie du vielleicht gemerkt hast.“

„Die wird dir am Ende nicht helfen“, erwiderte Liam fast belustigt. „Wobei ich sogar sicher bin, dass du einen Mann außer Gefecht setzen könntest. Ich erinnere mich, dass du eine gute Schützin bist. Aber es reicht nicht, nur einen Mann zu töten.“ Wieder diese Andeutungen. Sie würde Liam irgendwie allein sprechen müssen, wenn sie weitere Informationen bekommen wollte. „Wenn man den Mann, um den es hier geht, fängt, wird er wegen Landesverrats am Galgen baumeln. Also wird er nicht nur einen seiner Häscher schicken. Auch gegen deinen Bruder und mich schickte er mehrere. Und dabei wird es ihm gleichgültig sein, ob es eine schwangere Frau im Haus gibt oder ein Baby.“ Worin war Preston dieses Mal wieder verstrickt? May wusste, dass seine Arbeit gefährlich war, aber dass er sogar Landesverräter jagte, war schlimmer, als sie befürchtet hatte.

Sosehr sie auch mehr wissen wollte, musste sie doch an Beatrice denken, die bereits genug eigene Sorgen hatte, ohne jetzt auch noch von Liam beunruhigt zu werden. „Wer immer dieser neue Feind ist, er muss mich zuerst einmal finden.“

„Er ist verzweifelt, May. Er wird dich finden. Vergiss nicht, du warst kürzlich auf der Hochzeit einer Freundin in Sussex. Deine Familie weiß es. Ich nehme an, sie haben es jemandem gegenüber erwähnt, vielleicht sogar mehreren Leuten. Irgendjemand irgendwo wird wissen, dass du dich hier aufhältst.“

Autor

Bronwyn Scott
Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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