Wohin gehst du, sexy Ginny?

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Nach dem Tod ihrer despotischen Mutter will Ginny endlich einmal Spaß haben. Zum ersten Mal in ihrem Leben geht sie in eine Bar und bestellt sich mutig ein Bier. Die Wirkung auf die zierliche junge Frau ist verheerend: Beschwipst wirft sie sich dem attraktiven Cole McCallum an den Hals, der Ginny ungewöhnlich reizvoll findet. Diese sexy Lady scheint ihm der Himmel geschickt zu haben: Er braucht dringend eine Ehefrau, um sein Erbe antreten zu können! Außerdem muss Cole ehrlich zugeben, dass er durchaus bereit wäre, Ginny in die Geheimnisse der Leidenschaft einzuführen ...


  • Erscheinungstag 29.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746704
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Cole McCallum näherte sich mit seinem Porsche dem Ortseingang von Coldwater in Texas und hätte am liebsten mitten auf der Straße gewendet, um nach Dallas zurückzufahren, wo er hingehörte. Eigentlich hatte er gedacht, dieses kleine Kaff nie wieder sehen zu müssen, doch dann hatte das Schicksal ihm übel mitgespielt.

Vor elf Jahren war er zum ersten Mal nach Coldwater gekommen. Damals hatte er Dallas verlassen müssen, um das letzte Jahr der Highschool hier zu verbringen. Sein Vater war damals wegen Scheckbetrugs ins Gefängnis gewandert; Coles Mutter war schon verschwunden, als der Junge erst sieben Jahre alt war. Das Vormundschaftsgericht hatte das Sorgerecht für Cole seiner Großmutter übertragen, die der Junge kaum kannte. Voller Komplexe war er nach Coldwater gekommen, und sein trotziges Auftreten in enger Jeans und schwarzer Lederjacke hatte ihm unter der örtlichen Bevölkerung schnell den Ruf als Unruhestifter eingebracht. In dieser Hinsicht hatte Cole die Leute auch nicht enttäuscht.

Bereits während der ersten Wochen verstieß er ein paar Mal gegen die Schulregeln und verabredete sich mit allen Mädchen, die ihn gewähren ließen. Klatsch und Tratsch besorgten den Rest. Schon während des nächsten Jahrs wurde er für alles, was schief ging, verantwortlich gemacht, egal, ob der Wasserturm mit Graffiti beschmiert war oder ob bei Angela Putnam die Regel ausblieb. Cole machte sich nicht die Mühe, sich zu verteidigen. Nur seine Großmutter wusste es besser, doch abgesehen von den Mädchen, die für Cole schwärmten, konnte sich niemand in der Stadt vorstellen, dass einmal aus ihm etwas Anständiges werden würde. Genau aus diesem Grund war Cole mit achtzehn aus der Stadt verschwunden und hatte Coldwater aus der einzigen Perspektive gesehen, die ihm gefiel: im Rückspiegel seines Autos.

Jetzt kehrte er zurück.

Er hatte diese verschlafene kleine Stadt als ein Niemand verlassen und sich etwas Eigenes aufgebaut. Nun war er voller Wut darüber, wie schnell die Dinge, die er sich so hart erkämpft hatte, ihm wieder weggenommen worden waren.

Nur zu gut konnte er sich an den Moment erinnern, als er mitten in der Nacht in Dallas auf der Straße gestanden hatte. Die Hitze des riesigen brennenden Gebäudes hatte auf sein Gesicht abgestrahlt. Das große Haus war fast fertig renoviert gewesen, und durch den Verkauf wäre Cole zum Millionär geworden.

Und genau wie das Haus lösten sich auch Coles Träume in Rauch auf.

Er hielt jetzt vor Taffy’s Restaurant direkt neben Ben Murphys nagelneuem Pick-up an. Cole stieg aus und drehte sich dann zur Straße. Aus dem Schönheitssalon gegenüber starrte ihn eine Brünette mit einem Kopf voller Lockenwickler an. Sie tippte eine Blondierte mit hochtoupiertem Haar an, und als Cole die Tür des Restaurants erreichte, hingen schon ein halbes Dutzend Frauen am Fenster des Schönheitssalons. Einer hingen Aluminiumfetzen im Haar, eine andere hatte ein Handtuch ums nasse Haar geschlungen, und einer dritten standen die Haare ungekämmt zu Berge.

Cole konnte sich nicht beherrschen. Er schenkte den Frauen ein strahlendes Lächeln.

Alle blickten sich gegenseitig an, und dann redeten sie anscheinend gleichzeitig aufeinander ein. Sicher erzählten sie sich die alten Geschichten und Gerüchte von damals. Cole McCallum, dem nachgesagt wurde, er hätte einmal mit der gesamten Cheerleader-Truppe in einer Nacht geschlafen, war immer für Klatsch gut. Die Berichte in der Dallas Morning News hatten den Gerüchten über ihn bestimmt neue Nahrung geliefert.

Er ging in das Restaurant und entdeckte Ben Murphy in einer Ecke am Fenster. Die Stimmen im Restaurant verstummten, als die Gäste mitten im Essen verharrten, um Cole zu beobachten. Er hörte nur dass die leisen Stimmen der Kellnerinnen, die sich darüber stritten, wer jetzt an Ben Murphys Tisch bedienen durfte.

Cole setzte sich gegenüber von Murphy und wurde von ihm mit Schweigen begrüßt. Der alte Mann biss die Zähne zusammen, und Cole konnte den Blick von Bens blauen Augen nicht deuten. Ben war zweiundsiebzig, was man ihm deutlich ansah, denn sein sonnengebräuntes Gesicht war von zahlreichen Falten durchzogen. Er kaute wie immer auf einem Zahnstocher. Ben Murphy war so eine Art Großvater für Cole, da er seine Großmutter geheiratet hatte. Das war allerdings auch schon alles, was die beiden Männer verband.

Eine Kellnerin kam zum Tisch und Cole erkannte Mary Lou Culbertson erst auf den zweiten Blick. Sie steckte in einer hellblauen Kellnerinnen-Uniform, die ihr vielleicht vor zehn Jahren mal gepasst hatte, als sie noch zehn Kilo leichter gewesen war.

„Hallo, Cole. Dich haben wir hier ja lange nicht mehr gesehen.“

„Hallo, Mary Lou.“

„Ich habe in der Zeitung von dem Brand gelesen. Du hattest es nicht gerade leicht, stimmt’s?“

„Das ist jetzt vorbei.“

„Was machst du denn hier in der Stadt?“

„Ich kümmere mich um einige Angelegenheiten.“ Er lächelte sie strahlend an. „Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?“

„Natürlich.“ Ihre Stimme klang dabei so sinnlich, als hätte Cole sie gebeten, schon mal auf dem Rücksitz seines Wagens auf ihn zu warten. Während sie hüftschwenkend zur Theke ging, hob Ben fragend die Augenbrauen.

„Du flirtest also immer noch auf Teufel komm raus, ja?“

Cole antwortete nicht. Stattdessen zog er ein paar Briefbögen aus der Jackentasche.

Ben Murphy warf einen Blick darauf. „Die Zeit wird langsam knapp, findest du nicht?“

„Laut Ednas Testament kommt es nur darauf an, dass ich innerhalb eines halben Jahres nach ihrem Tod heirate und mit meiner Frau sechs Monate lang auf der Ranch lebe. Dann gehört die Ranch mir. Wie ich es sehe, bleibt mir noch bis zum nächsten Sonntag Zeit, um einzuziehen.“

„Schon vor sechs Monaten hast du das alles erfahren. Da hast du gesagt, eher würde die Hölle zufrieren, als dass du heiratest und auf der Ranch lebst.“

Vor sechs Monaten hatte Cole auch noch viel Geld auf der Bank gehabt mit der Aussicht auf einen dicken Gewinn. Jetzt besaß er so gut wie nichts mehr. Er zuckte mit den Schultern. „Die Menschen ändern sich.“

„Manche ja, manche nie.“ Ben kaute auf seinem Zahnstocher. „Und manche investieren in Immobilien und lösen ihre Probleme dann mit Streichhölzern.“

Bens Worte brachten Cole in Rage. Es fiel ihm sehr schwer, sich zu beherrschen. „Anscheinend hast du vorgestern die Zeitung nicht gelesen. Mein Partner wurde verurteilt und nicht ich.“

Ben zuckte mit den Schultern. „Dann hattest du wohl den besseren Anwalt.“

In dieser Stadt änderte sich wirklich überhaupt nichts.

Als Cole mit achtzehn Coldwater verließ, fing er an, verwahrloste Häuser zu renovieren und hier und da ein bisschen Geld zu verdienen. Dieses Geld steckte er in immer größere Investitionen. Im Lauf der Jahre sammelte er auf diese Weise eine ganze Reihe von Mietshäusern und eine Menge Geld an.

Dann kaufte er zur Verwunderung der gesamten Branche mit einem Partner zusammen das Haus Nummer 77 in der Broadway Avenue, ein großes Gebäude aus der Jahrhundertwende. Sie ließen es aufwendig renovieren, und die Presse berichtete laufend über das Projekt.

Dann brach das Feuer aus.

Cole dachte, das sei das Schlimmste, was ihm zustoßen konnte, bis es hieß, der Grund des Feuers sei Brandstiftung gewesen. Sein Partner und er wurden zu Hauptverdächtigen. Es hieß, die beiden hätten daran gezweifelt, dass ihre Investitionen sich auszahlen würden, und deshalb hätten sie das Gebäude angesteckt, um die Versicherungssumme einzustreichen.

Cole hatte sein gesamtes Geld für die besten Anwälte ausgegeben und war davon ausgegangen, dass sein Partner ebenfalls unschuldig war. Dann stellte sich heraus, dass Coles Partner hohe Spielschulden hatte. Deshalb hatte er den Brand gelegt, um mit dem Geld der Versicherung seine Schulden bezahlen zu können.

Die Wut, die Cole bei dieser Erkenntnis überkam, wurde nur noch von seiner Verzweiflung übertroffen. Weil es sich um Brandstiftung handelte, zahlte die Versicherung keinen Cent, und Cole blieb nichts als ein Haufen Anwaltsrechnungen und ein ruinierter Ruf in der Geschäftswelt. Zehn Jahre lang hatte er daran gearbeitet, dass sich ein paar Türen für ihn öffneten, und diese Türen wurden ihm nun wieder vor der Nase zugeschlagen.

Dann fiel ihm das Testament seiner Großmutter wieder ein. Es war eine letzte Chance für ihn, sich wieder aus dem Sumpf zu ziehen. Diese Gelegenheit wollte Cole nutzen, auch wenn er dafür noch einmal ein halbes Jahr in Coldwater verbringen musste.

„Und wo ist deine Ehefrau?“, fragte Ben. „Von deiner Hochzeit habe ich keinen Ton gehört.“

„Am Sonntag werde ich sie dir vorstellen.“

Ben blickte Cole warnend an. „Ein Teil der Abmachung ist, dass du auf der Ranch arbeitest.“

„Das habe ich auch früher schon getan.“

„Und du hast es gehasst.“

Dagegen konnte Cole nichts einwenden. Allerdings wusste Ben Murphy sehr genau, dass er in dem Jahr auf der Ranch auch hart gearbeitet hatte. Cole hatte gewusst, dass Ben nur darauf wartete, zu Edna gehen zu können, um ihr zu sagen, dass Cole nicht seinen Anteil an der Arbeit leistete. Diese Genugtuung hatte Cole ihm nicht geben wollen, und er hatte alles daran gesetzt, dass Ben sich nicht über seine Arbeit beklagen konnte.

Mary Lou stellte Cole einen Becher Kaffee hin und lächelte aufreizend. Als sie wieder ging, schob Cole den Becher zur Seite.

„Laut Ednas Testament habe ich Anrecht auf ein monatliches Gehalt, und ich würde während des halben Jahres das Haus des Vormanns bewohnen.“

„Das steht in ihrem Letzten Willen.“

„Ich wollte nur sicher sein, dass wir uns einig sind.“

„Das sind wir, vorausgesetzt, du erinnerst dich noch, wer entscheiden soll, ob du dich an die Bedingungen des Testaments gehalten hast oder nicht. Wenn du auch nur an einem einzigen Tag nicht zur Arbeit erscheinst, kann ich dafür sorgen, dass du keinerlei Ansprüche mehr hast. Wie kommst du darauf, dass ich dir eine Chance gebe, die Ranch zu bekommen?“

Cole wusste genau, dass Ben Murphy es nicht ertragen konnte, jetzt noch ein halbes Jahr warten zu müssen, bevor feststand, wem die Ranch letztendlich gehörte. Wenn Cole sie nicht erbte, ging sie in Bens Besitz über. Seit Ednas Tod bedeutete die Ranch Ben nicht mehr sehr viel, und schon vor der Ehe mit Edna war Ben Murphy ein wohlhabender Mann gewesen. Dennoch würde er darauf beharren, dass die Bedingungen von Ednas Testament wortwörtlich erfüllt wurden, auch wenn er mit dem Testament nicht einverstanden war.

„Weil du ein gerechter Mensch bist“, stellte Cole fest. „Das hat Edna immer wieder gesagt.“

Verärgert verzog Ben den Mund, und Cole erkannte, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte.

„Edna hat mehr auf ihr Herz gehört als auf ihren Verstand“, erwiderte Ben. „Sie wusste, dass ihr Sohn ein Nichtsnutz war, aber in ihren Enkel hat sie immer Hoffnungen gesetzt. Sie sagte, du brauchtest nur eine gute Frau, einen richtigen Job und ein Ziel, auf das du hinarbeitest. Dann würde aus dir ein Mann werden, auf den sie stolz sein könnte. Stattdessen hast du das letzte Jahr mit dem Versuch verbracht, nicht wie dein Vater ins Gefängnis zu kommen.“

Cole zwang sich zur Ruhe, auch wenn es in ihm brodelte. Er konnte sich noch genau an jenen Tag vor elf Jahren erinnern, als ein Gericht in Dallas seinen Vater verurteilte. Cole war siebzehn gewesen und fand, er könne für sich selbst sorgen, aber das Gericht sah das anders. Seine Großmutter hatte ihn zu sich genommen, und nach den ersten schwierigen Monaten hatte Cole überrascht erkannt, dass es tatsächlich einen Menschen auf der Welt gab, der ihn achtete und schätzte.

Wenn er daran dachte, wie ruppig er sich am Tag seiner Ankunft verhalten hatte, wunderte es ihn, dass sie ihn nicht sofort hochkant wieder aus dem Haus geworfen hatte. Aber sie hatte ihm eine warme Mahlzeit zubereitet, ihm ein sauberes Bett zur Verfügung gestellt und ihm versichert, dass es keine Rolle spielte, was sein Vater getan habe. Er sei nicht sein Vater und brauche nicht dessen Fehler zu wiederholen.

In den folgenden Monaten war er oft frech, benahm sich unmöglich und merkte, wie oft er seine Großmutter enttäuschte. Dennoch begann sie jeden Tag mit neuer Hoffnung, und schließlich gab Cole seinen inneren Widerstand auf. Von seiner Großmutter bekam er zum ersten Mal in seinem Leben Liebe und Zuneigung, und als sie starb, vermachte sie ihm all ihren Besitz. Unter gewissen Bedingungen …

Ben Murphy räusperte sich. „Ich persönlich glaube, dass Edna die Dinge etwas verklärt gesehen hat. Ich bin überzeugt, dass du genau denselben Weg wie dein Vater eingeschlagen hast. Bei dir ist alles zwar etwas beeindruckender und auf einem höheren Niveau, aber am Ende läuft es auf dasselbe hinaus. Dies hier ist nur eine kleine Verschnaufpause auf deinem Weg. Wenn du erst hast, was du willst, wirst du deinen Weg unbeirrt weitergehen.“

Er stand auf und legte einen Geldschein auf den Tisch. Dann senkte er die Stimme. „Eines noch. Ich habe dafür gesorgt, dass außer uns beiden und dem Anwalt niemand etwas von den Bedingungen weiß, die Edna mit dem Testament verknüpft hat. Wenn bekannt wird, dass sie versucht hat, ihren nichtsnutzigen Enkel in einen ehrlich arbeitenden Familienvater zu verwandeln, wird sie als Närrin dastehen, und das will ich verhindern. Falls ich erfahre, dass du den Leuten Dinge erzählst, die sie nicht zu wissen brauchen, werde ich diese Abmachung hier so schnell beenden, dass dir schwindlig wird. Haben wir uns verstanden?“

Cole nickte.

„Dann bis zum Sonntag. Ich bin schon gespannt auf deine Frau.“

Cole blickte ihm nach und lehnte sich dann seufzend zurück. In einem Punkt hatte Ben recht. Wenn er in einem halben Jahr die Ranch verkaufte und mit dem Geld seiner Wege ging, würde er seine verstorbene Großmutter dadurch enttäuschen. Aber bei all ihren guten Absichten hatte sie nicht begriffen, dass er zwar den hart arbeitenden Ehemann spielen konnte, aber innerlich niemals zu so einem Menschen werden würde.

Vor kaum einem Jahr noch hatte Cole ständig von irgendwelchen fremden Frauen die Telefonnummern zugesteckt bekommen. Und er war drauf und dran gewesen, mehr Geld zu verdienen, als er es sich jemals erträumt hätte. Durch den Verkauf der Ranch könnte er all dieses Geld und noch etwas mehr auf einen Schlag wiederbekommen. Weshalb sollte er also sein übriges Leben vergeuden, indem er es mit Frau und Kindern auf einer Ranch im Nirgendwo verbrachte?

Er stand auf und lächelte kurz den Kellnerinnen hinter dem Tresen zu. Ein Zwinkern brachte sie dazu, angeregt miteinander zu tuscheln. Dann ging er hinaus und beschloss, sich auf den Weg zum „Lone Wolf Saloon“ zu machen. In spätestens einer Stunde würde es dort voll werden, und eine so große Auswahl an Frauen fand er sonst nirgendwo unter einem Dach. Ich setze mich mit einer Flasche Bier in eine Ecke, beschloss er, und dann werde ich das Angebot sondieren.

Bis morgen um Mitternacht musste er eine Ehefrau gefunden haben.

Virginia White bog mit ihrem alten Auto auf den Rastplatz und fuhr direkt vor die Waschräume. Sie nahm sich die große Einkaufstüte vom Beifahrersitz, stieg aus und holte sich von der Kasse den Schlüssel.

Während sie das kleine Bad aufschloss, wünschte sie, sie wäre zum Umziehen nach Hause gefahren, aber vom Einkaufszentrum zurück nach Coldwater wären es über dreißig Kilometer gewesen. Dann hätte ihr Mut sie bestimmt verlassen, und sie wäre letztendlich zu Hause geblieben.

Sie verschloss die Tür, schubste tote Kakerlaken hinter die Toilette und wand sich aus dem abgetragenen Kleid mit Blumenmuster, das ihre Mutter für sie im letzten Sommer auf einem Flohmarkt erstanden hatte. Entschlossen stopfte sie das Kleid in den Mülleimer. Dann zog sie sich den weißen Baumwoll-BH aus und entsorgte ihn ebenfalls. Zögernd holte sie aus der Tüte einen Push-up-BH aus schwarzer Spitze mit Vorderverschluss, gewagten Satinträgern und genug Polsterung, um damit eine Matratze zu füllen.

„Solche BHs tragen nur billige kleine Schlampen, die es darauf anlegen, in Schwierigkeiten zu geraten“, hatte ihre Mutter immer gesagt.

Virginia zog ihn an, drehte sich zum Spiegel und erstarrte.

Ein Dekolleté! Zum ersten Mal hatte sie ein Dekolleté!

Sie betrachtete die „billige kleine Schlampe“ im Spiegel, hielt den Atem an und wartete insgeheim auf die übliche Schimpftirade ihrer Mutter, die jetzt seit drei Monaten tot war.

Virginia holte eine Jeans aus der Tüte und streifte sie sich über. Für dreizehn Dollar sieht die Jeans ganz gut aus, dachte sie. Als Nächstes holte sie eine kurzärmelige braune Baumwollbluse mit kleinem Hufeisenmuster hervor. Passt zum Western-Stil, dachte Virginia und ließ die obersten beiden Knöpfe offen. Nach kurzem Zögern machte sie auch noch den dritten auf und zog die Kragenaufschläge auseinander, damit man wenigstens auch ihr frisch entdecktes Dekolleté sehen konnte. Wieder wartete sie innerlich auf irgendeine Strafe, doch nichts passierte.

Anschließend zog sie sich die neuen braunen Cowboystiefel an. Ihr war klar, dass sie für achtzehn Dollar keine Lederstiefel bekam, aber in ihren Augen sah das Material fast wie echtes Leder aus. Sie drehte sich wieder zum Spiegel und fuhr sich mit einer Bürste durchs Haar. Wie schon so oft in ihrem Leben wünschte sie sich, sie hätte blondes welliges Haar anstatt ihrer braunen glatten Haare, die so gänzlich ohne jeden Halt waren. Seufzend holte sie einen Lippenstift aus der Tüte und sagte sich, dass es wie früher in der Grundschule beim Ausmalen einer Vorlage sei. Immer innerhalb der Linien bleiben.

Virginia presste die Lippen kurz aufeinander und trat prüfend einen Schritt zurück. Gar nicht schlecht. Doch im Grunde war es ihr egal, wie sie aussah – Hauptsache, sie sah nicht mehr aus wie Virginia White.

Ein paar Minuten später saß sie wieder im Auto und fuhr weiter. Sie kurbelte das Fenster herunter, drehte das Radio lauter und sang lauthals mit. Der kühle Fahrtwind ließ ihr Haar im Nacken wehen, und im Dämmerlicht des Sonnenuntergangs streckten sich die Schatten der Landschaft in die Länge. Wenn sie ihr Ziel erreichte, würde es schon dunkel sein.

Happy Birthday, Virginia, dachte sie. Es wird Zeit zu leben.

Heute Abend machte sie sich ein Geschenk, das längst überfällig war. Sie wollte an einen Ort, wo es Hunderte von Menschen gab, die sie nicht kannten. Leute, denen ihr Name nichts bedeutete und die sie nicht verachteten, nur weil sie die Tochter einer Frau war, die wie eine Einsiedlerin lebte. Oder weil sie sich nicht richtig anzog und schrecklich schüchtern war.

Während andere Mädchen nach der Schule endlos miteinander telefonierten, sich gegenseitig die Fußnägel lackierten und sich über Jungen unterhielten, hatte Virginia in der Bücherei ausgeholfen, um etwas Geld für ihre Mutter und sich dazuzuverdienen. Während sie Rechnungen bezahlte, vergnügten andere Mädchen sich auf den Rücksitzen von Autos. Und während Virginia weiterhin bei ihrer Mutter lebte und sich um sie kümmerte, hatten andere Frauen Sex, heirateten und bekamen Kinder.

Irgendwann würde Virginia genug Geld fürs College gespart haben, und dann würde ihr neues Leben beginnen. Aber als Bankkassiererin verdiente sie nicht viel, schon gar nicht in Coldwater, wo das Gehalt nur in jedem Schaltjahr erhöht wurde. So lange wollte Virginia nicht warten, um ein bisschen von dem Spaß zu bekommen, der für den Rest der Welt selbstverständlich war.

Sie gab noch mehr Gas und schon bald erblickte sie ihr Ziel.

Wenn das stimmte, was Virginia über den Lone Wolf Saloon gehört hatte, dann bot diese Bar wilden Spaß für alle im Umkreis von dreißig Meilen.

Der Parkplatz war fast voll. Sie stellte den Motor aus und saß einen Moment schweigend da. In Gedanken hörte sie die Stimme ihrer Mutter.

„Solche Einrichtungen sollten verboten werden. Dort herrscht die Sünde.“

Virginia atmete ein paar Mal tief durch. Wenn es eine Sünde war, sich ein bisschen zu amüsieren, dann war die Hölle mittlerweile sicher so voll, dass für sie dort ohnehin kein Platz mehr war.

Sie nahm ihre Handtasche, stieg aus und steuerte auf den Eingang zu. Dort straffte sie die Schultern und sammelte ihren Mut. Dennoch war sie nicht auf die unzähligen Sinneseindrücke vorbereitet, die auf sie einstürmten, als sie die Tür öffnete.

Auf einer Bühne, die in allen Regenbogenfarben angestrahlt war, spielte eine Country-Band, und die Musik ließ Virginias Trommelfelle erbeben. Ein Bier, dachte sie. Jetzt brauche ich ein Bier.

Sie ging zur Bar und kam dabei an vielen dicht besetzten Tischen vorbei, auf denen Bierflaschen und volle Aschenbecher standen. Die ganze Bar schien in Bewegung zu sein. Pärchen, die sich langsam und flirtend bewegten, Menschen auf der Tanzfläche und die Kellnerinnen, die hektisch von einem Tisch zum nächsten eilten. Dichter Zigarettenqualm erfüllte die Luft, und Virginia hatte den Eindruck, in eine andere Welt geraten zu sein.

Sie setzte sich auf einen freien Barhocker, und der Barkeeper, dessen muskulöse Oberarme so dick wie Strommasten waren, kam auf sie zu. Sein goldener Ohrring blitzte auf.

Virginia räusperte sich. „Ein Bier, bitte?“

„Irgendeinen speziellen Wunsch?“

Sie erstarrte. „In einer Flasche?“

Der Mann lächelte spöttisch und ging wieder. Virginia kam sich schrecklich dumm vor. Erleichtert sah sie, dass der Barkeeper kurz darauf zurückkam und eine Flasche vor ihr auf den Tresen stellte.

„Drei Dollar.“

Sie gab ihm das Geld und nahm das eiskalte Bier entgegen. Prüfend roch sie daran, hob die Flasche an die Lippen und trank einen Schluck. Tränen traten ihr in die Augen. Es schmeckte wie schale Limonade mit besonders viel Kohlensäure, aber Virginia kämpfte gegen den Würgreiz. Stolz auf den kleinen Sieg, nahm sie noch einen Schluck, diesmal einen größeren, und sie spürte das Brennen bis in ihren Magen.

Also gut. Das war nicht so schlimm. Wieder blieb eine Strafe für ihr sündiges Verhalten aus.

Sie trank winzige Schlucke von dem Bier und drehte sich auf dem Hocker herum, um die Menge zu beobachten. Niemand schien sie zu bemerken, und das war auch nicht ungewöhnlich. Sie gehörte zu den Leuten, die schon in den Hintergrund gerieten, wenn nur ein anderer danebenstand. Das war ihr ganzes Leben lang so gewesen, und Virginia wusste, dass es sich nicht über Nacht ändern würde.

Aber irgendwann musste das anders werden.

Die Leute auf der Tanzfläche bewegten sich mit geschickten kleinen Schritten und Drehungen und schienen überhaupt nicht unsicher in ihren Bewegungen zu sein. Auf einmal stellten sich über ein Dutzend Leute in einer Reihe auf und fingen an zu tanzen. Alles schienen die Schritte genau zu kennen, und niemand trat einem anderen dabei auf die Füße.

Überall schienen die Leute zu lachen.

Schon bald wurde Virginia etwas gelassener, und als sie die Flasche geleert hatte, war ihr warm und sie fühlte sich ein bisschen benebelt. Sie bestellte sich noch ein Bier, denn wenn sie sich nach einem schon so gut fühlte, wirkte das zweite sicher noch besser.

Die Band spielte ein langsames gefühlvolles Stück, und die Pärchen auf der Tanzfläche rückten enger aneinander. Mann und Frau bewegten sich wie eine Einheit. Virginia kam es vor, als habe die Welt sich zu Paaren zusammengefunden, nur sie sei dabei übrig geblieben.

Sie stützte einen Ellbogen auf die Bar, legte die Wange in die Handfläche und betrachtete sehnsüchtig all die glücklichen Frauen, die das Gefühl kannten, sich an einen Mann zu schmiegen, den Kopf an die muskulöse Brust zu legen, sich zur Musik zu bewegen und den Rest der Welt zu vergessen.

Nicht einmal in ihrem Leben hatte ein Mann sie auch nur berührt. Sie hatte sich nie verabredet, war nie geküsst worden und hatte nicht einmal mit einer Freundin über Jungen geredet. Kein Mann hatte sie jemals begehrlich angesehen oder ihr gesagt, dass sie schön sei. Das war sie natürlich auch nicht. Keine Frau war so farblos wie sie, das musste sie sich eingestehen.

Auf der Tanzfläche schmiegte eine Frau mit weißblondem Haar sich an ihren Partner, als wolle sie mit ihm verschmelzen. Es sah wie Sex im Stehen aus. Sehr viel wusste Virginia zwar nicht darüber, aber selbst eine Nonne hätte erkannt, was diese Frau im Sinn hatte.

Virginia konnte es ihr nicht verübeln.

Wenn sie mit einem Mann tanzen würde, der so sexy aussah wie der Tanzpartner dieser Frau, dann würde sie sicher auch vergessen, wo sie sich befand. Er war etwa ein Meter neunzig groß und bewegte sich zu der Musik, als wäre sie ein Teil von ihm. Virginia genoss seinen Anblick und betrachtete die festen Schultern, die schmale Taille, die Hüften und die muskulösen Schenkel in der engen abgetragenen Jeans. Das dichte schwarze Haar streifte den Kragen des Hemds, und sie sah, dass die Blondine ihm mit beiden Händen durch die schwarzen Strähnen fuhr. Wie mochte sich das anfühlen? Das Tanzen, das Berühren oder sogar Küssen? Bei dem Gedanken errötete Virginia, doch das hinderte sie nicht daran, in dieser Richtung weiterzudenken. Dann wandte der Mann sich um, und Virginia blickte ganz unvermittelt in ein unglaublich gut aussehendes Gesicht.

Sie blinzelte. Das konnte doch nicht wahr sein.

Es war viele Jahre her, seit sie Cole McCallum gesehen hatte, aber jemanden wie ihn vergaß man nicht so schnell. Sie war gerade erst auf die Highschool gekommen, und er war schon im letzten Schuljahr. Trotzdem hatte sie von ihm geträumt, obwohl anständige Mädchen nicht von bösen Jungs wie ihm schwärmen sollten. Allerdings spielte das kaum eine Rolle, denn Jungen wie Cole McCallum interessierten sich nicht für schüchterne, farblose Mauerblümchen, denen das Herz stehen blieb, sobald ein Junge sie nur ansah.

Vielleicht war es ganz gut, dass er sie nie angesehen hatte. Sie hatte oft genug gehört, dass Cole sein gutes Aussehen und sein Lächeln nur als Köder benutzte, um ahnungslose Mädchen in die Falle zu locken.

Die Band hörte mit dem Song auf, und Cole verließ die Tanzfläche. Die Blondine klammerte sich an ihn wie Efeu an eine Mauer. Die Jahre hatten ihn nur noch attraktiver gemacht, und aus dem aufbrausenden sexy Teenager war ein selbstsicherer, gelassener sexy Mann geworden. Sicher war er für Frauen immer noch genauso gefährlich wie damals.

Virginia bestellte sich ein drittes Bier, und kurz danach fing der ganze Raum an, sich sehr angenehm zu drehen. Sie schloss die Augen und lauschte innerlich, aber der Alkohol hatte die tadelnde Stimme ihrer Mutter verscheucht. In einem Zug trank Virginia die Flasche leer und stellte sie energisch auf den Tresen zurück. Ihr wurde warm bis in die Zehenspitzen, und sie seufzte zufrieden.

Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich frei.

Sie sah, wie Cole mit einer anderen Frau tanzte, und ihr Blick folgte seinem großen, aufregenden Körper wie eine Motte dem Licht. Das dritte Bier fing an zu wirken, und mit einmal war Virginia überzeugt, dass zwischen ihr und diesen anderen Frauen, an denen Cole anscheinend interessiert war, gar kein so großer Unterschied sein konnte.

Autor

Jane Sullivan
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