Zärtlicher Eroberer

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Sieben Jahre lang musste der attraktive Diplomat Valerian Inglemoore, Viscount St. Just, ein Doppelleben als Geheimagent auf dem Kontinent führen. Jetzt ist er zurück in Cornwall und will nur noch eins: Endlich Philippa Stratten heiraten - die Frau, die er einst zum Wohl ihrer Familie aufgegeben musste, obwohl er sie liebte. Doch er hat einen Rivalen um ihre Gunst. Zwar ist ihr Verlobter mehr an ihrem Vermögen als an ihrer Liebe interessiert, wie Valerian schnell entdeckt. Aber Philippa schlägt seine Warnungen in den Wind. Zu sehr hat er sie damals verletzt. Wie kann er nur ihr Vertrauen - und ihr Herz! - zurückerobern?


  • Erscheinungstag 16.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769468
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

London, Juni 1820

Valerian Inglemoore, Viscount St. Just, hatte ein Geheimnis. Ein schreckliches Geheimnis, das ihn vor Schuld und Selbstverachtung erzittern ließ, als er allein auf Lady Rutherfords Veranda stand und in den von Lampions erhellten Garten starrte, ohne wirklich etwas zu sehen.

Er war so durchdrungen von seinem Geheimnis, dass er keinen Blick übrig hatte für den eleganten Stadtgarten mit seinen Springbrunnen und den sorgfältig angelegten Wegen, die an Beeten und kleinen Ligusterhecken vorbeiführten.

Unter normalen Umständen hätte er den Garten verlockend gefunden, doch in dieser Nacht trug er zu schwer an seinem Geheimnis. Er war einundzwanzig Jahre alt und verliebt in Philippa Stratten, Lord Pendennys’ Tochter, die seine Liebe erwiderte. Auf dieser Veranda waren sie heute verabredet.

Zum letzten Mal.

Das war das Geheimnis.

In dieser Nacht würde er ihr auf Bitte ihres Vaters hin sagen, dass es aus war. In dieser Nacht musste er sie davon überzeugen, dass zwei Monate verstohlener Küsse und heimlicher Treffen für ihn nicht mehr gewesen waren als eine kurzlebige Romanze. Er wusste nicht, wie er das fertigbringen sollte. Er liebte sie so sehr.

Nach dieser Nacht würde er sie nie wieder in die Arme nehmen, nie wieder ihre zärtlichen Finger in seinem Haar spüren. Die letzten beiden Monate waren der Himmel auf Erden gewesen. Bei ihrem Debüt im April hatte er mit ihr getanzt – und seitdem jede weitere Nacht. Sie hatten in Lauben hinter zugezogenen Vorhängen heiße Küsse getauscht und lange Spaziergänge in den Gartenanlagen gemacht. Sie waren sich genug gewesen, weshalb einzig Gründe gefunden werden mussten, um mit ihr allein sein zu können. Er war leidenschaftlicher Botaniker und Reiter, und so hatte es immer plausibel geklungen, wenn sie behaupteten, sie wollten sich eine bestimmte Blumenspezies oder ein neugeborenes Fohlen ansehen.

O ja, sie hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt. Man hätte fast sagen können, es wäre Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber er hatte Philippa schon seit Jahren gekannt. Sie war die Schwester seines besten Freundes Beldon. Zu dritt hatten sie in den Schulferien die Küste Cornwalls erkundet. Seit er das erste Mal in den Ferien von der Schule nach Hause gekommen war, hatte er gewusst, dass sein Herz niemals einer anderen gehören würde.

Hinter ihm, im Ballsaal der Rutherfords, tanzten hundert der Vornehmsten Londons in Seide und Satin durch die Nacht; der Champagner floss in Strömen. Das alles berührte ihn nicht. Ihm brach das Herz.

„Valerian.“ Die vertraute, geliebte Stimme ertönte in der Dunkelheit. Er atmete noch einmal tief durch und betete um die Kraft, Philippa aufzugeben. Es war nur zu ihrem Besten, selbst wenn sie das niemals glauben würde.

Er drehte sich um und weidete sich wie immer an ihrer Schönheit, die er auch in dieser Nacht überwältigend fand. In ihrem blassblauen Ballkleid erschien sie ihm fast überirdisch schön. Der Stoff schien im Mondlicht zu schimmern, wenn sie sich bewegte. Ein sanfter Sommerwind schmiegte das Gewand an ihren Körper und erinnerte Valerian an die reizvollen Rundungen, die sich unter dem zarten Chiffon verbargen.

„Val.“ Sie flüsterte seinen Namen und kam mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. „Ich konnte es kaum erwarten dich wiederzusehen.“ Ein zärtliches Lächeln umspielte ihre Lippen, und in den Tiefen ihrer blauen Augen lag ein Ausdruck, der nur ihm allein galt. Es war ein berauschendes Gefühl, zu wissen, dass die Leidenschaft, die sich hinter dem sanften Lächeln und dem weichen Blick verbarg, einzig für ihn bestimmt war.

Er schwelgte in diesem Gefühl. Nach dieser Nacht würde er nie wieder solch eine Freude empfinden.

Sie schob ihre behandschuhten Finger in seine und erwartete, dass er sie wie gewohnt in seine Arme zog. Er kämpfte verzweifelt gegen die Versuchung an. Er war gekommen, um seine Pflicht ihrer Familie gegenüber zu erfüllen, einer Familie, die ihn seit seiner Jugendzeit immer liebevoll bei sich aufgenommen hatte. Ihr Vater hatte ihn gebeten, Philippa zum Wohl der allgemeinen finanziellen Situation und ihrer eigenen Zukunft aufzugeben. Es war bestenfalls eine schwere Aufgabe. Bei der kleinsten Berührung und beim leisesten Zuneigungsbeweis von Philippa wurde sie herkulisch.

Er umarmte sie nicht. Er konnte es nicht, so sehr er sich auch danach sehnte, ihre Nähe zu spüren. Wenn er das tat, versagte er ihrer Familie den einzigen Gefallen, um den man ihn je gebeten hatte. Als Ehrenmann schuldete er ihr mehr.

Philippa sah in sein Gesicht und schien seine Gedanken zu ahnen. Unbewusst ermahnte sie ihn damit, seine Züge besser zu beherrschen, wenn er diese Aufgabe glaubwürdig hinter sich bringen wollte. „Freust du dich nicht, mich zu sehen?“, fragte sie.

„Natürlich freue ich mich, dich zu sehen. Ich freue mich immer, wenn ich einen lieben Freund sehe.“ Hoffentlich hörte sie die unausgesprochene Lüge nicht heraus. Sie war für ihn immer mehr als nur ein Freund gewesen.

„Dann küss mich. Ich habe den ganzen Tag auf dich und auf diesen Augenblick gewartet.“ Sie versuchte, sich an ihn zu schmiegen, damit er sie doch in die Arme nahm.

Er zwang sich, hart zu bleiben. „Philippa, nicht. Wir müssen reden.“

„Hier?“ Sie sah sich neugierig um, aber die Enttäuschung spiegelte sich unübersehbar auf ihren Zügen wider. Valerian fragte sich, was sie wohl erwartete, dass sie diese Umgebung nicht für angemessen hielt. Sicherlich nicht das, was er ihr zu sagen hatte. Ihr Vater, Lord Pendennys, hatte angedeutet, dass Philippa und Beldon nicht die geringste Ahnung von der Lage der Familie besaßen.

Auf der Veranda herrschte nicht viel Betrieb, aber ein paar Paare befanden sich dennoch in der Nähe. Sie waren in der Tat längst nicht so ungestört, wie Valerian erhofft hatte. Er schüttelte den Kopf. „Nein, nicht hier. Komm, wir gehen ein wenig im Garten spazieren.“

Sie fanden eine Bank zwischen voll erblühten Rhododendronbüschen und setzten sich. Valerian behielt ihre Hand in seiner. Er zeigte auf einen Rosenbogen über dem Weg. „Diese Blüten sind wunderschön. Zudem habe ich gehört, Lady Rutherford hat sich eine besondere gelbe Rose aus der Türkei schicken lassen.“

Er zögerte es heraus, und er wusste es. Er schob den Moment auf, so lange er konnte, und versuchte, sich jede Einzelheit von ihr für immer einzuprägen – von der schönen, unschuldigen Philippa, die an die Reinheit seiner Liebe glaubte, und der er gleich beweisen musste, dass sie sich getäuscht und dass ihr Herz ihr nur einen Streich gespielt hatte. Es würde Jahre dauern, bis sie verstand, dass alles nur vorgetäuscht war, um ihre Familie zu schützen.

„Was hast du, Val? Du bist doch nicht hergekommen, um mir Rosen zu zeigen“, meinte sie forschend.

„Ich habe heute Abend mit deinem Vater gesprochen.“

Ihre Miene hellte sich auf, sie stieß einen leisen Freudenschrei aus und schlug die Hände vor den Mund. In Gedanken wiederholte er seine Worte noch einmal, und ihm wurde klar, wie Philippa sie aufgefasst haben musste. Sie dachte, er wäre gekommen, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Er musste vorsichtiger, überzeugender sein.

Valerian schüttelte warnend den Kopf. „Nein, Philippa, es ist nicht so, wie du denkst. Dein Vater hat mir von deiner Verlobung mit dem Duke of Cambourne erzählt. Der Duke hat heute Nachmittag um deine Hand angehalten, und dein Vater hat sie ihm gewährt.“

Philippa runzelte verwirrt und ungläubig die Stirn. Seine Worte zeigten die beabsichtigte Wirkung. Diese Neuigkeit kam für sie so unerwartet, dass sie nicht einmal zornig sein konnte. Sie würde erst wütend auf ihn werden, wenn sie die einzelnen Mosaikstücke zusammensetzte. Das arme Mädchen hatte nicht einmal gewusst, dass Cambourne überhaupt an ihr interessiert war, obwohl bereits allerorts Wetten abgeschlossen wurden, wann der verwitwete Duke den entscheidenden Schritt wagen würde. Die Männer in der Stadt hatten insgeheim längst Cambournes Interesse an der schönsten Debütantin der Saison akzeptiert. Valerian hatte gehofft, abwarten zu können, bis sich der Sturm gelegt hatte. Vielleicht hätte er damit sogar Erfolg gehabt, wenn die finanzielle Lage von Pendennys nicht so verzweifelt gewesen wäre.

„Cambourne? Du musst dich irren, Val.“Voller Zuversicht stand sie auf und strich sich das Kleid glatt. Sie glaubte fest daran, sie brauchte nur in den Ballsaal zurückzugehen und ihrem Vater alles zu erklären. „Vater liebt dich wie einen eigenen Sohn. Nichts würde ihn mehr freuen, als dich in unserer Familie willkommen heißen zu können. Er würde sich das für mich, für uns beide wünschen.“

„Warte, Philippa.“ Valerian bemühte sich um einen ruhigen, kühlen Tonfall, um sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt er innerlich war. „Ich bin hier erschienen, um dich zu ermutigen, Cambournes Antrag anzunehmen.“

„Wie meinst du das? Du willst, dass ich Cambourne heirate?“, rief Philippa entsetzt aus. „Er ist alt genug, mein Vater sein zu können! Ich liebe ihn nicht. Ich habe ein paar Mal mit ihm getanzt, aber sonst kenne ich den Mann kaum.“ Ihr berühmtes Temperament begann sich zu regen, nachdem der erste Schock abgeklungen war.

„Du hast den Rest deines Lebens Zeit, ihn kennenzulernen, Philippa.“ Scheinbar gefühllos tat er ihren Einwand ab. „Er ist eine ausgezeichnete Partie für dich, bedenke doch nur.“ Er zählte die Vorzüge des anderen Mannes an seinen Fingern auf. „Er kommt aus unserer Gegend, das heißt, du würdest in der Nähe deiner Familie bleiben. Er ist reich. Er liebt Pferde, genau wie du. Er ist weder hartherzig noch unansehnlich. Du könntest wirklich mit ihm glücklich werden. Er wird dir Beständigkeit und Sicherheit bieten.“

„Aber keine Liebe!“, gab sie hitzig zurück. „Du preist seine Vorzüge an wie ein Kaufmann seine Ware, aber das Einzige, worauf ich Wert lege, ist Liebe. Er kann mich nicht lieben, er kennt mich doch gar nicht. Aber du kennst mich, Val. Wenn all diese Bedingungen für meinen Vater so wichtig sind, warum bist du dann nicht geeignet? Auch du stammst aus unserer Gegend, du liebst Pferde, du bist freundlich und gut aussehend, du hast Geld. Was stimmt nicht an dir? Lass mich mit meinem Vater reden, und bis Mitternacht sind wir verlobt. Du wirst schon sehen.“

Er blickte in die großen blauen Augen, die ihn flehend ansahen. Es war unglaublich schwer, so zu tun, als gäbe er ihr den Laufpass. Wenn er Erfolg hatte, würde sie den Garten in der Überzeugung verlassen, dass ihn diese ganze Sache kalt ließ. Sie würde niemals erfahren, dass er seit zwei Wochen einen Ring in der Tasche hatte – wider alle Vernunft hoffend, dass Cambourne aufhörte, um sie zu werben.

Der Ring befand sich immer noch dort, in der linken Tasche seiner Jacke, und da würde er auch bleiben. Valerian bezweifelte stark, dass er ihn je einer anderen geben würde. Es war eine unerträgliche Qual, ihr Cambournes Qualitäten aufzuzählen und ihr zu versichern, dass alles gut werden würde, wenn ihm gleichzeitig klar war, dass er selbst wohl nie wieder froh sein konnte. Ihm war übel.

„Was an mir nicht stimmt?“, gab Valerian mit gespielter Lässigkeit zurück. „Zum einen will ich überhaupt nicht bis Mitternacht verlobt sein. Zum anderen habe ich nicht um deine Hand gebeten.“

Noch mehr Lügen. Natürlich hatte er um ihre Hand gebeten, obwohl ihm die Situation bekannt war. Ihr Vater hatte ganz unverblümt erklärt, dass er, der junge Viscount, einfach nicht genügend Geld hätte – jedenfalls nicht bis zu seinem siebenundzwanzigsten Lebensjahr, wenn er sein Erbe antreten durfte. Aber Lord Pendennys konnte nicht so lange warten. Es hatte unendlich wehgetan, erkennen zu müssen, dass seine Träume für Goldmünzen verkauft worden waren. Eines Tages würde er ein sehr reicher Mann sein, der für alle Zeit ohne das Einzige leben musste, das er sich von seinem Geld nicht kaufen konnte.

„Wie bitte? Du hast ihn nie gefragt?“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Stimme klang ungläubig. „Ich verstehe das nicht.“

Wie wunderschön sie war. Valerian widerstand dem Bedürfnis, sie an sich zu ziehen. Sie befand sich so nah vor ihm, dass ihm das größte Mühe bereitete. Er konnte den Zitronenduft ihrer Seife wahrnehmen, der von ihrer Haut aufstieg.

Sie ließ sich auf die steinerne Bank fallen und versuchte, den Sinn des Ganzen zu begreifen. „Ich dachte, du liebst mich. Ich dachte, du willst mich heiraten.“

Valerian hätte sich am liebsten zu ihr gesetzt und tröstend ihre Hände ergriffen, aber er durfte sie nicht berühren, denn dann würde sie wissen, dass alles nur eine Lüge war. „Dämpfe deine Stimme“, mahnte er und sah sich verstohlen um. „Das Letzte, was wir jetzt, da es vorbei ist, gebrauchen können, ist eine kompromittierende Situation.“ Das war abweisend gemeint gewesen, aber sie sah darin die Lösung ihrer Probleme.

„Das ist es!“, rief sie aus. „Wenn du mich kompromittierst, muss Vater uns heiraten lassen, und Cambourne kann sich in Ehren zurückziehen. Jeder wird verstehen, dass er mich in dem Fall nicht heiraten kann.“

Valerian spürte, dass er sich durchaus für diesen Gedanken erwärmte. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sie zu kompromittieren, aber er liebte sie zu sehr, um sie nicht vor den Konsequenzen zu warnen – Konsequenzen, die sie sich in ihrer Unschuld nicht vorstellen konnte, er hingegen nach drei Jahren in der Stadt schon. „Philippa, niemand in London würde uns empfangen. Wir müssten wie in der Verbannung leben, und dazu könnte ich dich nicht verdammen. Und mich selbst auch nicht“, fügte er hinzu.

Philippa konnte man nicht so leicht etwas vormachen, und sie neigte den Kopf etwas zur Seite, eindeutig verblüfft über diese Behauptung, die ihm so gar nicht ähnlich sah. „Solche Dinge bedeuten dir etwas? Ich dachte immer, wenn du nur deine Pferde, deine Gärten und mich hättest, wäre dir das genug.“ Sie stand auf, schmiegte sich an ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter.

Valerian unternahm nichts dagegen, blieb aber stocksteif stehen und ließ die Arme hängen, als wäre er eine hölzerne Puppe. Er war es leid, noch weiter zu kämpfen. Es war jetzt unvermeidlich, das Ende stand unmittelbar bevor. Nach dieser Nacht würde er Philippa nicht mehr wiedersehen. Er hatte längst beschlossen, dass er nicht in sein Haus in Cornwall zurückkehren konnte, wo er mit ansehen musste, wie sie die Ehefrau eines anderen wurde. Es hätte ihn in den Wahnsinn getrieben, zu wissen, dass sie und ihr Gemahl nur einen Tagesritt weit entfernt wohnten. Als er zu dieser Verabredung gekommen war, hatte er schon gewusst, was er zu tun hatte. Ihm war klar gewesen, dass sie versuchen würde, sich gegen den Entschluss ihres Vaters aufzulehnen, und dass er ihrem Flehen widerstehen musste. Er hatte nur nicht geahnt, wie schmerzhaft das werden würde.

In ihrer Verzweiflung kämpfte Philippa mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, jetzt sogar mit ihrem Körper. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte er es genossen, ihr etwas über den männlichen Körper beizubringen. Es war seltsam berauschend, einen geliebten Menschen in die Kunst der Sinnlichkeit einzuführen. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass nicht er derjenige sein würde, mit dem sie die endgültige Liebeserfahrung erlebte. Erneut stieg Übelkeit in ihm auf.

Philippa hob kurz den Kopf von seiner Schulter, eine Strähne löste sich aus ihrem locker hochgesteckten Haar. Unwillkürlich streckte Valerian die Hand aus, um die rotbraune Strähne zurückzustreichen. Wie oft hatte er das in den vergangenen Monaten schon getan …

„Wenn du mich weder heiraten noch kompromittieren willst, dann schenke mir wenigstens eine letzte Nacht der Leidenschaft. Lass mich so bei dir sein, wie wir irgendwann zusammen sein wollten.“

Allein diese Worte zu hören, versetzte ihn in Erregung. Mit einem leisen Aufstöhnen schloss er die Augen. Da ihr Kopf wieder an seiner Schulter lag, konnte sie zum Glück sein gequältes Gesicht nicht sehen, auch wenn ihm klar war, dass sie seine Erregung spüren musste. Gott, wie sehr er sie begehrte! Er versuchte gar nicht erst, sich nichts davon anmerken zu lassen. Sie wusste, welche Wirkung sie auf ihn hatte. Aber er war ein Ehrenmann. Er hatte versprochen, sie gehen zu lassen.

„Das ist ein sehr unvernünftiger Vorschlag, Philippa“, hörte er sich mit einer ruhigen Stimme sagen, die klang, als spräche da ein ganz anderer, völlig unbeteiligter Mann.

„Bitte, Val“, rief sie und nahm seine Hände. „Ich liebe dich, und du liebst mich, das weiß ich. Ich kann es spüren!“

Er musste der Szene bald ein Ende setzen. Philippa war kurz davor, zusammenzubrechen, und seine Kräfte ließen nach. Wenn das noch länger so weiterging, würde er sich nicht mehr beherrschen können, und dann bezahlten sie beide den Rest ihres Lebens für einen unbedachten Augenblick. Das wollte er ihr nicht antun.

„Hör auf zu betteln, so etwas kann ich nicht ausstehen“, sagte er leise. Er entzog ihr seine Hände, trat einen Schritt zurück und bereitete sich darauf vor, die schwersten Worte auszusprechen, die er je gesagt hatte. Aber er musste Philippa einfach dazu bringen, dass sie sie glaubte. „Ich liebe dich, aber vielleicht nicht auf dieselbe Art wie du mich liebst. Es tut mir leid, wenn du meine Absichten falsch ausgelegt hast, als wir unsere kleine Tändelei begannen. Wir sind jetzt am Ende angelangt, du und ich. Was immer zwischen uns war – es war nichts weiter als ein Abenteuer. So sehen Männer das nun einmal.“

Es war, als senkte sich ein Vorhang zwischen ihnen. Ein Schweißtropfen rann ihm über den Rücken, als er auf ihre Antwort wartete. Sein Herz rang mit seinem Verstand. Sein Verstand wollte, dass sie das Ende ihrer Affäre einsah und akzeptierte; sein Herz wünschte sich, dass sie diese Farce durchschaute.

Er beobachte, wie ihre Miene kalt wurde, und Verzweiflung wich Zorn. Ihre Augen begannen vor Wut zu funkeln, als sie langsam die Schlussfolgerungen zog, die sie hatte ziehen sollen. „Ein Abenteuer? Das war alles nur ein Spiel für dich? Das Ganze war nur eine Lüge?“, stieß sie mit bebender Stimme hervor. Plötzliches Begreifen überschattete ihr Gesicht, wie Wolken, die sich vor die Sonne schoben. Er wünschte, er hätte sie nicht so gut gekannt, denn so ahnte er, was in ihr vorging. Ihr blasses Gesicht spiegelte Zweifel und Schmerz wider. Er wusste, sie glaubte jetzt, dass jeder wissende Blick, jeder leidenschaftliche Kuss und jede drängende Berührung nichts weiter gewesen waren als ein perfides Mittel zur Verführung. Er hatte seine Rolle gut gespielt. Sie nahm nun an, dass ihm all diese Gesten gar nichts bedeutet hatten, während sie für Philippa alles gewesen waren.

„Ich hatte dich für einen Ehrenmann gehalten, Valerian.“ Ihre Stimme zitterte.

Noch einmal nahm er all seine Kraft zusammen. „Ich bin ein Ehrenmann. Deshalb habe ich auch das Bedürfnis, unser kleines Intermezzo zu beenden, ehe es zu weit geht.“

„Intermezzo?“ Philippa war fassungslos. „Du sagst das, als wäre unsere Beziehung nichts anderes als ein Zwischenakt im Theater gewesen. Ein Zeitvertreib zwischen anderen Beschäftigungen!“

Valerian straffte sich und bereitete sich auf den coup de grâce vor, den Gnadenstoß. „Ich werde morgen abreisen und meinen Onkel auf dem Kontinent besuchen, eine Reise, die zu Kriegszeiten nicht möglich war und die ich nun nachzuholen gedenke.“

„Valerian, das bist doch nicht du! Du spielst ein grausames Spiel.“ In ihrer Stimme klang ein gegen sie beide gerichteter Vorwurf mit. Ein Vorwurf wegen seines abscheulichen Verhaltens, aber auch Ärger auf sich selbst, weil sie sich so unbesonnen auf ihn eingelassen hatte. Natürlich irrte sie sich; er liebte sie von Herzen, aber es gab keinen ehrbaren Ausweg aus dieser Situation. Vielleicht war es das Beste, wenn sie das Schlimmste glaubte – dass seine Liebe nur Trug und sie selbst nur eine Tändelei für ihn gewesen war.

Valerian brachte nichts zu seiner Verteidigung hervor. Stattdessen verneigte er sich steif vor ihr. „Ich lasse dich jetzt allein. Ich sehe, dass du einen Moment für dich brauchst, um dich zu sammeln, ehe du in den Ballsaal zurückgehst“, sagte er mit unterkühlter Höflichkeit und wandte sich zum Gehen.

Philippa rief ihn ein letztes Mal zurück. Sie war offenbar kurz davor, in Tränen auszubrechen, denn sie brachte nur ein ersticktes Flüstern zustande. „Sag mir, dass du mich geliebt hast, dass nicht alles nur ein falsches Spiel war.“

Valerian blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihr um. Wie bei Orpheus wäre das sein Untergang gewesen. „Miss Stratten, das kann ich nicht.“ Er tröstete sich damit, dass das sogar der Wahrheit entsprach. Seine Kehle war vor Schmerz wie zugeschnürt, er hätte niemals die Worte hervorgebracht, die sie hören wollte. Schlimmer noch, er wusste, dass sie sein Schweigen als Herzlosigkeit auslegen würde. Aber wenn er ihr den Gefallen getan hätte, wäre das für sie ein Anlass für falsche Hoffnungen gewesen. Wenn Philippa auch nur eine winzige Chance für sich witterte, würde sie nicht nachgeben. Sie war hartnäckig. Er zählte auf diese Hartnäckigkeit, Philippa diese Krise überwinden zu lassen, sodass sie sich ein neues Leben aufbauen konnte.

Valerian schloss die Augen, und ein bitteres Gefühl des Verlusts breitete sich in ihm aus. Es war besser, diese Worte blieben ungesagt, auch wenn sie grausame Schlussfolgerungen daraus ziehen musste. Seine Vernunft war ihm nur ein schwacher Trost, als Philippa wieder zu sprechen begann. Ihre ruhigen, gefassten Abschiedsworte trafen ihn wie ein Pfeil mitten ins Herz. „Ich werde das nicht vergessen, Valerian.“

Verzweifelt straffte er die Schultern, in der Absicht, Philippas Vater aufzusuchen und ihm zu sagen, dass er seiner Bitte nachgekommen war und der finanziellen Sicherheit der Familie nicht länger im Weg stand. Er würde Beldon bitten, Philippa nach Hause zu fahren. Und dann würde er abreisen – das war die einzige Wahrheit, die er an diesem Abend von sich gegeben hatte.

In seiner anderen Jackentasche steckte der Brief seines Onkels, der ihn einlud, ihn und seine Familie auf dem Kontinent zu besuchen, wo Valerian als einer der vielversprechendsten jungen Diplomaten für England im Einsatz gewesen war. Der Brief war am vergangenen Tag eingegangen, als Antwort auf Valerians Anfrage. Valerian wusste, er konnte nicht auf der Insel bleiben und zusehen, wie sich Philippas neues Leben entwickelte. Stattdessen wollte er abreisen, England gegen alle möglichen Bedrohungen verteidigen und versuchen, die Erinnerung an Philippa Stratten aus seinem Herzen zu verbannen.

1. KAPITEL

30. Dezember 1829

Ein eisiger Wind pfiff beständig durch die undichten Fugen der Postkutsche, sodass die beiden Insassen trotz ihrer dick gefütterten Kapuzenumhänge und der heißen Ziegelsteine, die sie sich im Gasthaus an der Kutschenstation hatten geben lassen, froren. Aber mehr ließ sich gegen die Kälte nicht unternehmen; der Westen des Landes war nicht gerade für Luxus berühmt. Dem kürzlich zurückgekehrten Viscount St. Just machte das nichts aus. Er hatte sich in den letzten neun Jahren in weitaus ungemütlicheren Situationen befunden und war einfach froh, wieder zu Hause zu sein.

„Worüber lächelst du?“, fragte Beldon Stratten, der junge Lord Pendennys, missmutig und stampfte mit den Füßen auf den Boden, in dem vergeblichen Versuch, sich etwas aufzuwärmen.

„Lächele ich?“, fragte Valerian. „Ich war mir dessen gar nicht bewusst.“

„Allerdings, schon seit dem Gasthaus in St. Austell. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum.“

Beldon hatte recht. Es gab wenig Grund zum Lächeln. Ihre Reise hatte sich als eine einzige Aneinanderreihung von Fehlschlägen erwiesen. Nichts war so verlaufen wie geplant, seit sie nicht mehr in London waren, wo sie die Weihnachtsfeiertage verbracht hatten. Sie waren davon ausgegangen, mit dem Schiff die Küste von Cornwall entlang bis St.-Just-in-Roseland, Valerians Zuhause auf der Halbinsel, segeln und somit die Straßen meiden zu können. Unwetter über dem Ärmelkanal erstickten diesen Plan im Keim. Also hatten sie sich zu Pferd auf den Weg gemacht, weil sie glaubten, so schneller voranzukommen als mit einer schwerfälligen Kutsche. Valerian wollte unbedingt bis Neujahr wieder zu Hause sein. Doch wieder hatte ihnen das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht, und schließlich war es zu kalt geworden zum Weiterreiten. Sie hatten die Pferde in St. Austell zurückgelassen und die einzige verfügbare Postkutsche gemietet.

Ohne dass sie darüber reden mussten, war ihnen klar, dass sie an diesem Tag nicht weiter als bis Truro kommen würden. Auch wenn sie bis Neujahr St.-Just-in-Roseland erreichen wollten, so musste dennoch mit der Weiterfahrt bis zum morgigen Tag gewartet werden.

„Glaubst du eigentlich an Vorhersehung, Val?“, fragte Beldon und versuchte, seine langen Beine in dem beengten Raum zwischen den Sitzbänken auszustrecken.

Valerian sah ihn zweifelnd an. „Ich bin mir nicht ganz sicher, was du meinst.“

„Nun, wenn plötzlich etwas passiert, womit man nicht gerechnet hat, was aber in dem Moment genau das Richtige ist.“

„Ach, Zufall“, verbesserte Valerian. „Du glaubst, es war nur ein glücklicher Zufall, dass wir uns in London getroffen haben.“

„Glücklich auf jeden Fall, da du vorher kein Wort über deine Rückkehr verlauten ließest.“ Ein leicht tadelnder Unterton schwang in Beldons Stimme mit, der Valerian nicht entging. Er hatte sich nicht richtig von Beldon verabschiedet, als er London vor all den Jahren so plötzlich verlassen hatte, und er hatte ihm auch nie geschrieben, mit Ausnahme eines kurzen Briefs ganz zu Beginn. Es sprach für die Tiefe ihrer Freundschaft, dass Beldon ihn schmerzlich vermisst hatte und so schnell bereit war, ihm zu verzeihen.

„Vielleicht wirst du mir eines Tages erklären, warum du von einem Tag auf den anderen zu deinem Onkel entschwunden bist. Ich bin dein Freund, ich werde deine Gründe verstehen, welcher Art sie auch sind. Du hast uns allen gefehlt, selbst Philippa. Ich glaube, sie hat dich insgeheim immer bewundert.“

Valerian horchte auf. Hatte Philippa in den vergangenen Jahren ihr Geheimnis für sich behalten? Er war eher davon ausgegangen, dass sie sich anderen anvertraut hatte. In seiner Vorstellung hatte sie sich in jener letzten Nacht im Garten an Beldons Schulter ausgeweint und geklagt, dass dieser Schuft von einem besten Freund ihres Bruders ihr das Herz gebrochen hätte.

Ihm war klar, dass dieser Augenblick unweigerlich kommen würde. Das Nennen ihres Namens war nur der erste vieler solcher Momente. Tief im Herzen wusste er, dass das der Grund war, warum er Beldon nicht geschrieben hatte, um seine Rückkehr anzukündigen. Erst in der letzten Sekunde hatte er erfahren, dass er zu der Gruppe von Unterhändlern gehörte, die nach London geschickt werden sollten, um einen Friedensvertrag durchzusetzen, der dem Konflikt zwischen den Türken und Russland ein Ende bereitete. Doch selbst als er mit Sicherheit gewusst hatte, dass er zurückkehren würde, hatte er niemanden davon in Kenntnis gesetzt. Es war eine Verzögerungstaktik, eine verzweifelte noch dazu, mit dem Ziel, das Wiedersehen mit Philippa bis zum letzten Moment hinauszuschieben.

Seine Amtszeit auf dem Kontinent war nicht lange genug gewesen, als dass sein eigenes gebrochenes Herz hätte heilen können. Er war in Europa geblieben so lange er konnte und hatte sich freiwillig für unzählige diplomatische Aufgaben gemeldet, die in der Folge der Napoleonischen Kriege erforderlich wurden. Napoleon hatte bei alten und neuen Regimes Spuren hinterlassen, und Valerian hatte schnell gemerkt, dass es immer jemanden zu bekämpfen gab.

Abkommen mochten unterzeichnet worden sein, aber Europa und vor allem der Balkan befanden sich nicht im Frieden. Es gab noch immer vieles, was England Sorge bereitete, während Länder Kriege führten, um ihre Identität zu finden, und danach trachteten, sich in dem Machtvakuum auszubreiten, das Napoleons Niederlage geschaffen hatte.

Valerian war Augenzeuge gewesen, wie neuzeitliche Geschichte geschrieben wurde, während England und das restliche Europa darum stritten, den Balkan zu beherrschen.

Nach Jahren sinnloser Siege und Enttäuschungen war Valerian zu der Erkenntnis gelangt, dass er keinen Gefallen an Auseinandersetzungen fand, die nach außen hin einen idealistischen Anstrich hatten, im Grunde aber nur von Gier und Habsucht geprägt waren. Auch durfte er nicht unbegrenzt von zu Hause fortbleiben. Er musste sich um seinen Besitz und seine Gärten kümmern und konnte sich nicht ewig auf seinen Verwalter verlassen.

Einem jungen Mann von einundzwanzig Jahren mit gebrochenem Herzen konnte man es nachsehen, wenn er sein Erbe in einem ungestümen Augenblick vergaß, doch als ein erwachsener Mann von dreißig Jahren, der seine Pflicht kannte, durfte er sich nicht länger davor drücken. Trotzdem war es schwer, nach Hause zurückzukehren, denn das bedeutete, irgendwann Philippa und Cambourne gegenüberstehen zu müssen. Aber Pflichtgefühl und Ehre waren zwei Tugenden, die er stets hochgehalten hatte, im Gegensatz bisweilen zu seinem Land.

„Wie geht es deiner Schwester?“, fragte er und versuchte, beiläufig zu klingen.

Beldon nickte. „Es geht ihr gut, ich sehe sie oft. Du hast sie in London verpasst. Sie hat die Ferien mit einem Freund in Richmond verbracht. Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich sie überreden können, in der Stadt zu bleiben.“ Beldon verstummte und schien sich seine nächsten Worte sorgsam zurechtzulegen. „Es ist kaum zu glauben, dass sie erst siebenundzwanzig ist und ihre erste Ehe bereits hinter sich hat. Ich hingegen bin dreißig und war noch nie verheiratet. Irgendwie fühle ich mich dadurch etwas ‚zurückgeblieben‘.“

Valerian erstarrte. „Sie hat ihre erste Ehe bereits hinter sich?“

„Ja, wusstest du das nicht? Es stand in allen Zeitungen, ein ziemlich spektakulärer Tod.“

„Ich war schließlich nicht die ganze Zeit über in Wien“, gab Valerian trocken zurück und dachte an die kargen, dünn besiedelten Balkanlandschaften mit ihren schroffen Bergen, durch die er gereist war. Es gab Orte in Europa, bis zu denen keine Post gelangte, Orte mit Namen wie Voden und Negush. Orte, die auf keiner Landkarte verzeichnet waren, es sei denn, man war ein türkischer Pascha, der die Aufgabe hatte, die christlichen Gemeinden in Schach zu halten.

„Cambourne starb vor drei Jahren bei einem Grubenunglück. Es kam zu einem Einsturz, als er gerade eine seiner zehn Zinnminen inspizierte. Ein schrecklicher Unfall. Ein Stützpfeiler gab nach. Die Grubenarbeiter konnten ihn zwar herausholen, aber drei Tage später erlag er zu Hause seinen schweren Verletzungen.“

Philippa war Witwe. Diese Neuigkeit löste die unterschiedlichsten Empfindungen in Valerian aus. Er schwankte zwischen einem makabren Glücksgefühl, weil Philippa frei war, und Traurigkeit, weil sie den Verlust ihres Ehemanns hatte hinnehmen müssen und schon so früh im Leben ihr Dasein in der Gesellschaft als Dowager Duchess fristen musste. „Ich hoffe, Cambourne hat sie gut versorgt zurückgelassen“, sagte er ruhig, denn er wusste ja, dass das Vermögen der Pendennys so stark von Cambournes Wohlergehen abhängig war. Valerian widerstrebte der Gedanke, ihre Ehe könnte zu nichts geführt haben.

„Unbedingt. Ein Cousin erbte den Titel, aber Philippa hat alles, was sie braucht oder sich wünscht. Natürlich ist der Hauptfamiliensitz ebenfalls an den Erben gegangen, aber Philippa besitzt das Haus in Cornwall, wo sie schon während ihrer Ehe lebte. Meiner Meinung nach hat sie das bessere Los gezogen. Coppercrest ist ein viel behaglicheres Zuhause als der Familiensitz, selbst Cambourne bevorzugte es. Den ‚Erben‘ zieht es nicht sonderlich in die Stadt, daher kann Philippa auch frei über das Stadthaus verfügen. Außerdem hat Cambourne ihr einen großen Anteil an den Minen und den damit verbundenen Unternehmen hinterlassen. Er besaß eine Zinnschmelzerei und eine kleine Schwarzpulverfabrik.“

Valerian hörte nur halb zu, als Beldon ihm Philippas Situation beschrieb. Schon die erste Einzelheit hatte seine ganze Aufmerksamkeit gefesselt – ein Cousin war der Erbe des Titels. Also gab es keine Kinder, und damit war eine weitere heikle Frage beantwortet. Valerian fragte sich, ob Beldon das absichtlich oder zufällig erwähnt hatte.

Beldon lachte leise. „Ich vergaß, dass du sie schon so lange nicht mehr gesehen hast. Sie hat sich seit damals sehr verändert, sie ist nicht mehr die aufstrebende kleine Debütantin. Philippa ist jetzt eine kluge, kultivierte Frau, die sich in der Stadt unter den vornehmsten Gastgeberinnen und Politikern genauso wohlfühlt wie auf dem Land, wo sie die Steilküste entlangstreift oder an halsbrecherischen Jagdausflügen teilnimmt. Wenn sie in der Stadt ist, wimmelt es in ihrem Haus nur so von Politikern. Jeder sucht ihren Rat und ihre Meinung. In letzter Zeit gehört sie zu den führenden Befürwortern der Minenreform, und das aus berechtigten Gründen.“

Valerian lächelte nachdenklich in der aufziehenden Dämmerung. Der graue Nachmittag ging allmählich in den Abend über. Truro konnte nur noch wenige Meilen entfernt sein, und Beldons Enthüllungen reichten aus, die restliche Zeit anzufüllen. Valerian wurde in sich gekehrt und grübelte über all das nach, was Beldon berichtet hatte.

Philippa war frei. In einem Märchen hätte sich ihm dadurch eine zweite Chance geboten. Doch diese Welt war alles andere als ein Märchen, und sie waren vor neun Jahren nicht im Guten auseinandergegangen. Philippas letzte Worte hallten noch immer schmerzlich in ihm wider. Dazu kam nun auch noch alles, was er in diesen vergangenen Jahren erlebt hatte. Seine Jahre auf dem Balkan bescherten ihm einen weiteren Alptraum, weitere Menschen, die er im Augenblick der Not im Stich gelassen hatte. Dieses Versagen lastete wie ein unsichtbarer Mahlstein auf ihm, auch wenn es ihm gelungen war, mit den Erinnerungen an seine vergeblichen Bemühungen einigermaßen fertig zu werden.

Er war in London überrascht gewesen, wie viele Leute von seinen Unternehmungen auf dem Kontinent gehört hatten. Natürlich wusste niemand alle Einzelheiten, aber das Wesentliche war ihnen bekannt. Er hatte ein ausschweifendes Leben während seiner kurzen Zeit in Wien geführt und die Rolle eines Diplomaten übernommen, der ständig in Frauengeschichten verwickelt war. Der perfekte Gegensatz zu den überall in Europa ausbrechenden Aufständen, die ihn in dunkle, unheimliche Tiefen führten. Er war ein überaus erfahrener Spion und Unterhändler und hatte sich mit den diplomatischen Aktivitäten befasst, die es niemals auf die Titelseiten der Zeitungen schafften.

„Wir übernachten heute bei Lucien Canton, etwas außerhalb von Truro, das ist viel angenehmer als in einem Gasthaus. Er hat eine ausgezeichnete Köchin und einen noch ausgezeichneteren Weinkeller“, unterbrach Beldon Valerians Gedanken.

Valerian nickte zerstreut. „Wir fallen ihm damit doch hoffentlich nicht zur Last?“ An diesen Freund von Beldon wohl aus Jugendzeiten konnte er sich nicht erinnern. „Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne.“

„Er ist der Sohn und Erbe von Viscount Montfort. Er stand Cambourne vor dessen Tod sehr nahe. Seitdem ist er Philippas verlässliche rechte Hand.“

Valerian wusste Beldons Gesichtsausdruck nicht recht zu deuten. Er machte nicht den Eindruck, als wäre er ausgesprochen glücklich über den Umgang dieses Mannes mit seiner Schwester, sondern eher, als hätte er sich irgendwie damit abgefunden.

Doch Beldon sprach bereits weiter. „Es wird ein kleines Fest vor dem großen Fest sein, wir drei wieder zusammen wie in alten Zeiten. Mit etwas Glück ist Philippa auch schon da. Lucien hat sie gebeten, auf seiner Silvestergala die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen, denn seine Schwester konnte nicht aus London kommen und diese Aufgabe übernehmen.“

Jetzt war Valerian voll und ganz bei der Sache. „Philippa wird auch da sein?“Trotz Beldons Versicherung, Lucien Canton wäre ein feiner Kerl, hatte Valerian das Gefühl, er würde den Mann nicht besonders gut leiden können. Wahrscheinlich bezog sich das auf jeden Mann, der einen Anspruch auf Philippas Aufmerksamkeit anmeldete, und bei diesem Lucien war das ganz eindeutig der Fall. Niemand bat eine Frau, für ihn als Gastgeberin aufzutreten, wenn er sie nicht besonders gut kannte. Die beiden mussten wirklich gute Freunde sein, vielleicht sogar noch mehr.

Beldon schmunzelte und beugte sich aufgeregt nach vorn. „Ja, und sie wird über alle Maßen überrascht sein, dich zu sehen.“

Mit Sicherheit, dachte Valerian trocken, obwohl er und Beldon wohl vollkommen unterschiedliche Vorstellungen von ihrer Reaktion auf diese Überraschung hatten.

Philippa Lytton, die verwitwete Duchess of Cambourne, schwebte die geschwungene Treppe in Lucien Cantons Herrenhaus in Truro hinunter. Es war halb sechs, und Philippa wusste, dass sie als Letzte im Salon eintreffen und die einzige Frau in der Runde sein würde. Was als kleines Abendessen en famille mit Canton und dem unverheirateten Vikar aus der Nachbarschaft vorgesehen war, hatte sich zu einer Abendgesellschaft mit drei zusätzlichen, unerwarteten Gästen entwickelt.

Einer von ihnen war ihr Bruder Beldon, der erst vor zwei Stunden unangekündigt eingetroffen war und einen weiteren Gast mitgebracht hatte. Beldons Ankunft war so überraschend nicht, angesichts des schrecklichen Wetters und der Tatsache, dass Philippa selbst bereits anwesend war. Das Erscheinen des dritten Gasts war nicht so leicht zu erklären. Lucien kannte ihn nur über Dritte. Es handelte sich um einen gewissen Mr. Danforth, einen gut betuchten Spediteur aus Liverpool, der hoffte, hier eine Provinzialbank gründen zu können. Er war kein Mensch, mit dem sie sonst gesellschaftlich verkehrt hätten. Er war ein reicher Emporkömmling, der einen Großteil seines Vermögens im Krieg gemacht hatte; auf welche Weise, blieb ein wenig im Dunklen. Aber da sich mitten im Winter kaum Menschen im unwirtlichen Cornwall aufhielten und er überdies irgendwie geschäftlich mit Lucien zu tun hatte, war es schwierig gewesen, ihn abzuweisen.

Philippa blieb am Fuß der Treppe stehen, atmete tief durch und straffte die Schultern. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel der Eingangshalle. Die hochgesteckte und mit Perlen durchsetzte Frisur stand ihr gut, der schwere Satinrock umspielte ihre Knöchel. Sie mochte das leise Rascheln des Stoffs, wenn sie sich bewegte. Überhaupt liebte sie dieses Kleid gleichermaßen wegen seiner Materialien und seines Aussehens. Der cremefarbene Rock ging über in ein dunkelblaues Samtmieder, vorn hochgeschlossen, aber mit einem tiefen Ausschnitt im Rücken. Dazu trug sie ein eng anliegendes Halsband aus blauen Saphiren.

Ja, sie sah passabel aus. Nicht, dass sie damit Aufsehen erregen wollte; sie kleidete sich nicht in diesem Stil, um Anklang bei Männern zu finden, nicht einmal bei Lucien, obwohl dieser aus seiner Bewunderung für sie keinen Hehl machte. Gut auszusehen verlieh ihr einfach mehr Selbstvertrauen und Sicherheit. In einem Raum voller Männer konnte man nie genug Selbstbewusstsein haben, wenn man sich behaupten wollte.

Philippa trat in die Tür zum Salon und ließ den Blick taxierend über die Versammlung schweifen. Lucien stand am aus Eiche geschnitzten Kaminsims. Er trug einen dunklen Abendanzug und sah schlank und elegant aus, wie immer die Verkörperung von Makellosigkeit und Vollkommenheit. Er erfüllte seine Pflicht als Gastgeber und plauderte mit dem unwürdigen Mr. Danford. Auf der anderen Seite des Salons saßen in der kleinen Sesselgruppe unter dem großen Landschaftsgemälde von Gainsborough ihr Bruder, der Vikar und offenbar der Gast, den Beldon mitgebracht hatte. Der Unbekannte kehrte ihr den Rücken zu, sodass sie nur seine breiten Schultern und sein im Kerzenlicht schimmerndes dunkles Haar wahrnehmen konnte.

Beldon bemerkte sie als Erster. Er winkte sie zu sich und ersparte ihr damit, sich zu Lucien und seinem abstoßenden Bekannten gesellen zu müssen. Philippa lächelte ihrem Bruder warm zu. Sie freute sich immer, ihn zu sehen. Schon als Kinder hatten sie sich sehr nahegestanden, und während ihrer Ehe mit Cambourne war dieses Band sogar noch enger geworden. Er hatte sie unterstützt, als sie hatte lernen müssen, sich in der Londoner Gesellschaft zu bewegen, und später dann auch im gesellschaftlich tückischen Fahrwasser, das eine Witwe von Rang erwartete.

Er und die anderen beiden Männer erhoben sich, als sie näher kam. „Beldon, ich freue mich ja so, dich zu sehen! Wir haben dich gar nicht erwartet, aber es ist trotzdem wunderbar, dass du hier bist.“ Sie gab ihm einen schwesterlichen Kuss auf die Wange und brauchte sich dabei kaum zu strecken. Sie waren beide fast gleich groß und von ähnlich anmutiger Gestalt. Wer sie nebeneinander stehen sah, merkte sofort, dass sie derselben Familie entstammen mussten. Beide hatten wache blaue Augen und kastanienbraunes Haar, und jeder für sich war auf seine eigene Art auffallend attraktiv.

Der Vikar beugte sich zur Begrüßung über ihre Hand. „Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen, Euer Gnaden.“

„Die Freude besteht ganz meinerseits. Wie weit sind Ihre Pläne für eine Schule für die Kinder der Minenarbeiter gediehen? Sie erwähnten so etwas, als wir uns das letzte Mal sahen.“

„Wie freundlich von Ihnen, sich daran zu erinnern.“ Der Vikar strahlte. „Ich hoffe, wir haben nachher noch Gelegenheit, uns darüber zu unterhalten. Ich hätte gern Ihre Meinung zu verschiedenen Dingen gehört.“ Er nickte unauffällig in die Richtung des dritten Herrn in der Runde.

Der Vikar hatte recht. Es wäre unhöflich gewesen, sich gleich ins Gespräch zu vertiefen, wenn die Begrüßungen noch nicht abgeschlossen waren. Philippa wandte sich augenblicklich dem dritten Gast zu; es fiel ihr nie schwer, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Doch der Mann zu ihrer Rechten war kein Fremder, und die Worte erstarben ihr auf den Lippen.

2. KAPITEL

Valerian Inglemoore war der Letzte, den sie in Lucien Cantons Salon erwartet hätte. Philippa rang um ihre Fassung. „Viscount, das ist in der Tat eine Überraschung.“

Und das war noch weit untertrieben. Was machte er in Truro? Seit wann war er zurück? Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Sie versuchte, sie zu unterdrücken und sich einzureden, dass sie an solchen Informationen gar nicht interessiert sei, aber es war wie ein Kampf gegen die Hydra. Je mehr sie gegen die Fragenflut ankämpfte, desto mehr Fragen taten sich auf – schlimmere Fragen, weil sie sich nicht mit dem Grundliegenden, dem Wie, Wann und Wo zufriedengaben, sondern tiefer gingen – hatte er während seiner Abwesenheit überhaupt an sie gedacht? War ihm klar geworden, dass das, was er einst als Abenteuer abgetan hatte, doch viel stärker war? Empfand er immer noch etwas für sie? Und sie für ihn, trotz aller ihrer Bemühungen, das abzustreiten? Ihr Puls raste jedenfalls, als wäre das der Fall, als hätte sie vergessen, dass sie schon vor Jahren bewusst jegliche Beziehung zu ihm abgebrochen hatte.

„Für mich ist es ebenfalls eine Überraschung, und eine angenehme noch dazu, wenn ich das sagen darf.“Valerian beugte sich mit einer eleganten Verneigung über ihre behandschuhte Hand. „Enchanté, Duchesse.

Die Wärme seiner Berührung jagte ihr einen solchen Schauer über den Rücken, dass sie sich beherrschen musste, ihm die Hand nicht ruckartig zu entziehen, als hätte sie sich verbrannt. Sie sagte sich, dass das nur an seinem festen Händedruck liegen konnte. Ihre Reaktion hatte nichts damit zu tun, dass sie sich noch immer zu ihm hingezogen fühlte. Schon vor Jahren hatte sie ihr Herz immun gegen ihn gemacht, und das zu Recht.

Die Zeit hatte gezeigt, dass diese Entscheidung richtig war und dass sie großes Glück gehabt hatte, seiner verführerischen Ausstrahlung entkommen zu sein. Während seines Aufenthalts im Ausland waren aus Europa Berichte bis in ihre Kreise vorgedrungen, laut derer er ein brillanter Diplomat und ausgesprochener Frauenheld war. Von der Generalsgattin bis zur Prinzessin war keine Frau gefeit vor den Verführungskünsten des Viscount – und sie wollten es auch gar nicht sein. Er war zu einem viel begehrten Mann geworden.

Der Grund dafür war nicht zu übersehen, und Philippa war doppelt froh, ihn schon vor Jahren aufgegeben zu haben. Jetzt, in der Blüte seiner Jahre, sah er einfach viel zu gut aus. Jede nicht so kluge Frau wie sie würde auf sein seidiges dunkles Haar hereinfallen. Philippa wusste aus Erfahrung, dass man mühelos einen ganzen Abend damit zubringen konnte sich vorzustellen, wie man die Finger durch diese ebenholzfarbenen Strähnen gleiten ließ.

Und wenn man sich nicht ausreichend von seinem Haar ablenken ließ, konnte man seinen jadegrünen, durchdringenden Augen zum Opfer fallen, seinen gleichmäßigen, markanten Gesichtszügen, den sinnlichen, verheißungsvollen Lippen, den Liebkosungen seiner erfahrenen Hände und seinem muskelgestählten Körper unter den elegant geschneiderten Anzügen. O ja, Valerian Inglemoore war die personifizierte Leidenschaft, aber gefährlich – er verhieß große Wonnen, brachte einer ahnungslosen Frau jedoch nur Kummer. Wie gut, dass sie es besser wusste. In diese Falle würde sie nicht mehr tappen.

Valerian nickte ihr leicht zu, und ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Philippa merkte, wie sie errötete. Ihm war nicht entgangen, dass sie ihn betrachtet hatte, und das hatte sie eigentlich vermeiden wollen.

Autor

Bronwyn Scott
Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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