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Das hat Desiree gerade noch gefehlt: Ein umwerfend attraktiver Mann, der in ihrem Hotel wohnt und sich vor den anderen Gästen als ihr Ehemann ausgibt! Gefahr für Leib und Seele – dabei sollte Mathis sie doch nur vor einem Geist beschützen, der angeblich im Hotel spukt …


  • Erscheinungstag 30.11.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787011
  • Seitenanzahl 112
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die Frau war umwerfend.

Mathis Hazard stellte das Foto wieder auf den Schreibtisch. „Sie sieht sehr gut aus“, bemerkte er.

„Desiree ist eine Schönheit“, bestätigte George Huxley. Er lehnte sich in seinen sündhaft teuren Ledersessel zurück und betrachtete nachdenklich das Bild auf seinem Schreibtisch. Es zeigte eine Frau, die an die junge Grace Kelly erinnerte – lange, schlanke Beine, aristokratische Gesichtszüge, makelloser Teint und schulterlanges blondes Haar.

Oh ja, sie war wirklich umwerfend.

„Sie ist eine vollkommene Schönheit.“ Mathis lächelte.

„Das Foto wird Desiree nicht gerecht“, behauptete der frühere Botschafter Huxley und strich sich über das kantige Kinn. „Sie ist in jeder Hinsicht ein Vollblut.“

„Wie ein Rassepferd?“, fragte Mathis und schaffte es, dabei keine Miene zu verziehen.

„In gewisser Weise. Desiree wurde in Boston geboren und erzogen“, erklärte Huxley. „Sie hat die richtige Herkunft, bewegt sich in den richtigen Kreisen und hat natürlich auch die richtigen Fächer studiert. Kunstgeschichte, Musikwissenschaften und Fremdsprachen.“

„Natürlich“, sagte Mathis ungerührt.

„Desiree wohnt zudem an der richtigen Adresse“, fuhr Huxley fort, „arbeitet am richtigen Ort und trägt die richtige Kleidung. Natürlich nichts, was ins Auge sticht. Vorwiegend Chanel und Armani.“ Huxley, schätzungsweise Mitte sechzig, strich versonnen über den Schreibtisch und schüttelte seufzend den Kopf.

„Was ist dann das Problem?“

„Ihre Eltern haben sich an mich gewandt. Es geht um das Hotel Stratford.“

„Das Hotel Stratford hier in Chicago?“

„Genau das.“

Mathis war erst seit einer Woche in der Stadt, hatte jedoch schon vom Stratford gehört. „Es ist ein steinernes Wahrzeichen von Chicago.“

„Eher ein Mühlstein“, erwiderte Huxley. „Das Hotel wurde von Desirees Urgroßvater eröffnet, Colonel Jules Stratford von His Majesty’s Bengal Lancers. Colonel Stratford leistete vor über einem halben Jahrhundert dem König und dem Land gute Dienste in Indien. Offenbar war der alte Herr der Meinung, wenn er ein Regiment kommandieren kann, könnte er auch ein Hotel führen. Er nahm seinen Abschied von der Truppe, kam in die Vereinigten Staaten, kaufte ein altes Hotel, richtete es neu ein und nannte es Stratford.“

„Wie originell“

„Nun, das Stratford war einst sehr angesehen. Doch der Colonel wurde älter und baute ab. Das Hotel verfiel langsam. Vor etwa zwanzig Jahren starb der Colonel. Seine zweite Frau machte weiter, doch mit jedem Jahr wurde es für sie schwieriger. Charlotte starb vor einigen Monaten, und Desiree hat das heruntergekommene Hotel geerbt – mit allem, was dazugehört, inklusive lebendem und totem Inventar.“

Mathis schwieg geduldig und wartete. Abwarten gehörte zu seinen Stärken.

„Desiree ist eine erwachsene Frau, die über ihre Zeit und ihr Geld verfügen kann, wie es ihr beliebt“, beteuerte der Botschafter. „Ihre Eltern fürchten allerdings, dass sie sich diesmal von Gefühlen und nicht vom gesunden Menschenverstand leiten lässt. Ich habe die beiden daran erinnert, dass ihre Tochter nicht nur schön, sondern auch überaus intelligent ist. Schließlich hat sie in Harvard graduiert, meiner eigenen Alma Mater, summa cum laude.“

Mathis zeigte sich gebührend beeindruckt.

„Ich habe ihre Eltern auch darauf aufmerksam gemacht“, fuhr Huxley fort, „dass Desiree sich bisher ganz der Erhaltung von Dingen aus der Vergangenheit gewidmet hat. Mit Sicherheit ist Desiree deshalb so gut in ihrem Beruf.“

„Und der wäre?“

„Sie ist Kuratorin im Bostoner Museum der Schönen Künste. Ihr Spezialgebiet ist die Konservierung von Dokumenten.“

Mathis betrachtete erneut das Foto und wunderte sich, dass diese Frau nicht im Geringsten langweilig wirkte, wie er das bei ihrem Beruf erwartet hätte.

„Desiree hat sich im Museum beurlauben lassen. Sie hält sich jetzt hier in Chicago auf und sucht nach einer Möglichkeit, das Stratford wieder in seinem einstigen Glanz erstehen zu lassen. Offen gesagt glaubt niemand von uns, dass ihr bewusst ist, worauf sie sich da eingelassen hat. Darum habe ich mich an die Firma Jonathan and Hazards Inc. gewandt. Ihr Cousin hat mir früher einmal einen großen Gefallen getan“, fügte der ehemalige Diplomat hinzu. „Ich bewundere niemanden so sehr wie Jonathan Hazard und vertraue auch keinem Menschen mehr als ihm.“

„Ganz sicher stehen Sie längst nicht mehr in seiner Schuld, vor allem nicht seit dem Fall mit der Ägyptologin und den ägyptischen Antiquitäten.“

„Die Heirat mit Samantha Wainwright war eine erfreuliche Folge dieses Auftrags“, bestätigte Huxley höchst zufrieden. „Meines Wissens hat Jonathan zurzeit Vaterschaftsurlaub.“

Mathis lächelte. „Er hat sich mehrere Monate freigenommen, um bei Samantha und dem Baby sein zu können.“

„Wo ist Nick?“, erkundigte sich der Botschafter.

„Auf Hochzeitsreise mit Melina.“

„Und Simon?“

Mathis winkte ab. „Simon hat nie zur Agentur gehört. Er ist vor Kurzem aus Thailand zurückgekommen.“

„Verheiratet, wie ich hörte.“

„Er hat Sunday Harrington geheiratet, eine bekannte Modedesignerin“, bestätigte Mathis.

„Da sonst niemand anwesend ist, leiten Sie zurzeit Hazards Inc.?“

„Ich war einverstanden, für einige Monate nach Chicago zu kommen und mich um alles zu kümmern“, erwiderte Mathis, schlug die Beine übereinander und strich über die Jeans. Zur braunen Lederjacke trug er ein gebügeltes und gestärktes weißes Hemd. An der Hemdschleife glänzte ein Goldnugget von der Größe eines Daumennagels, und die Cowboystiefel waren blank poliert. Weshalb und wozu er sich allerdings so herausgeputzt hatte, war ihm selbst nicht ganz klar.

„Sie waren bei den Army Rangers?“, fragte Huxley.

Mathis nickte.

„Und bei der Grenzpolizei.“

Wieder nickte Mathis bloß.

„Und Sie haben für die Regierung etliche Geheimaufträge erledigt“, fügte Huxley hinzu. „Danach haben Sie für die Sicherheit zahlreicher wichtiger Staatsoberhäupter gesorgt.“

Auch das bestritt oder bestätigte Mathis nicht.

Es war höchste Zeit, zum Kern der Sache zu kommen. „Was erwarten Sie nun von mir, Herr Botschafter?“, fragte Mathis.

„Nachforschungen“, lautete die knappe Antwort.

„Über das Hotel oder Ihr Patenkind?“

„Über beides“, erwiderte George Huxley offen. „Es heißt, Sie seien ein ausgezeichneter Geschäftsmann und ein ebenso guter ehemaliger …“ Er zögerte. „Nun ja, was auch immer. Ich will wissen, worauf Desiree sich eingelassen hat und ob sie weiß, was sie tut.“

So leicht ließ Mathis sich nichts vormachen. Da steckte mehr dahinter. „Und weiter?“

Der Diplomat seufzte. „Nun, es gab etliche Vorfälle.“

„Was für Vorfälle?“, hakte Mathis nach.

„Unerklärliche Ereignisse“, räumte Huxley ein.

„Könnten Sie das genauer erklären?“

Es war George Huxley sichtlich unangenehm, darüber zu sprechen. „Möbel wurden verrückt.“

„Möbel?“, wiederholte Mathis verwundert, weil das so harmlos klang.

„Ja, und angeblich hat sie niemand berührt. Nachts sind seltsame Geräusche zu hören. Es ist von merkwürdigen Erscheinungen die Rede.“

„Wollen Sie damit andeuten, dass es im Hotel Stratford spukt?“, fragte Mathis amüsiert.

Huxley winkte entschieden ab. „Nein, weil ich nicht an Gespenster glaube.“

„Dann sind wir schon zwei“, stellte Mathis fest.

„Genau deshalb sind Sie genau der richtige Mann für diese Aufgabe. Setzen Sie in dieser verrückten Welt Ihren gesunden Menschenverstand ein.“

„Gibt es sonst noch etwas?“ Mathis wusste immer am liebsten alles im Voraus.

Huxley fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. „Da Sie schon davon sprechen – es gibt tatsächlich noch etwas.“

Mathis hatte es gleich geahnt. So leicht konnte ihm niemand etwas vormachen, nicht einmal ein erfahrener Diplomat.

„Was immer auch in diesem Hotel vor sich geht, steht meiner Ansicht nach in direktem Zusammenhang mit seinen Gästen und dem Personal“, behauptete Huxley. „Nur Desiree darf wissen, wer Sie wirklich sind. Anderenfalls, fürchte ich, wird diese Angelegenheit nie aufgeklärt. Mit anderen Worten, Sie müssen verdeckt ermitteln.“

„Ich soll mich also tarnen?“

„Ja, das würde ich Ihnen dringend empfehlen.“

„Was würden Sie vorschlagen?“ George Huxley ließ den Blick über den teuren schwarzen Stetson mit dem Hutband aus getriebenem Silber zu den schwarzen Lederstiefeln wandern. „Sie könnten sich als Cowboy ausgeben.“

„Was hätte ein Cowboy im Stratford zu suchen?“, fragte Mathis.

„Dazu fällt uns schon noch etwas ein.“

„Uns?“

„Wir denken uns eine glaubhafte Geschichte aus, die Ihre Anwesenheit erklärt.“

„Wann soll ich anfangen?“

„Heute.“

Mathis blickte aus dem Fenster auf das Zentrum von Chicago. Er brauchte unbedingt weitere Informationen über das Hotel Stratford und sämtliche Eigentümer, bevor er sich der Dame aus Boston präsentierte.

„Morgen“, entschied er schließlich. „Ich muss noch einiges überprüfen, ehe ich mich bei Miss Desiree Stratford vorstelle.“

„Also gut, dann morgen“, erwiderte Huxley.

Sie unterhielten sich noch eine Weile. Dann begleitete George Huxley seinen Besucher persönlich zur Tür und reichte ihm die Hand.

„Viel Glück, Hazard“, wünschte der Botschafter. „Sie werden es brauchen.“

Hazards Inc. stellte Mathis für den Sommer ein Penthouse in der zweiundvierzigsten Etage eines Chicagoer Wolkenkratzers zur Verfügung. Es bestand auf drei Seiten aus Glaswänden und bot einen traumhaften Ausblick auf den Lake Michigan.

Das Abendlicht fiel auf den ungewöhnlich ruhigen See. So weit das Auge reichte, leuchteten weiße Segel auf dem dunkelblauen Wasser. Der Anblick erinnerte Mathis entfernt an den Sonnenuntergang, der sich ihm von seinem Haus aus bot. Die Sangre de Cristo Mountains schimmerten dann blutrot, typisch für New Mexico.

Schon vor Jahren hatte er herausgefunden, welche bedeutende Rolle das Licht in New Mexico spielte. Deshalb hatte er dort seinen Landsitz gekauft, wohin er sich nach seinem Berufsleben zurückziehen wollte.

Er hatte George Huxley am Nachmittag versichert, seine Einsätze ohne Narben überstanden zu haben, und das stimmte auch. Aber war es wirklich die volle Wahrheit? Nun ja, zumindest nahe dran.

Es gab etliche Menschen, die Mathis als Einzelgänger bezeichneten und meinten, dass er gerade deshalb immer so gut gearbeitet hatte. Durch seine bewegte Vergangenheit unterschied er sich von anderen Männern. Sie machte ihn einsam.

Für ihn war es selbstverständlich gewesen, sich mitten in New Mexico eine Ranch zu kaufen, die zwischen einer einsamen Bergkette und einem unerschlossenen See lag. Die nächsten Nachbarn wohnten über sechzig Kilometer entfernt. Von der sogenannten Zivilisation hatte er die Nase gestrichen voll.

Das lag an den Menschen, mit denen er zu tun gehabt hatte, und an der Welt, in der er sich bewegt hatte. Das war eine Welt, von der die meisten Leute nichts ahnten.

Es war eine Welt, in der man einen sechsten Sinn dafür entwickeln musste, was hinter einem passierte. Wer dazu nicht in der Lage war, lebte nicht lange. Es war eine Welt, in der nichts so war, wie es den Anschein hatte. Eine Welt, in der man lernte, nur einem einzigen Menschen zu vertrauen – sich selbst. In dieser Welt halfen Erfahrung, Instinkt und Mut zum Überleben, wenn es der Verstand allein nicht mehr schaffte.

Mathis trank einen Schluck Bier.

Die Gesellschaft von Frauen … na ja, das war etwas anderes …

Er strich sich mit der kalten Dose über Wange, Kinn und Hals. Dabei spürte er, wie sich ihm jemand von hinten näherte. „Verstehst du etwas von Frauen, Beano?“, fragte er, ohne sich umzudrehen.

„Die machen Ärger, Boss.“

Beano musste es wissen. Zu seiner Zeit war er ganz schön herumgekommen. Drei Mal hatte er geheiratet und war jedes Mal geschieden worden. Davor, danach und zwischendurch hatte er etliche Affären gehabt. Im Moment war er wieder frei und ungebunden.

William „Beano“ Jones war schon mit neun Jahren auf die Circle-H-Ranch gekommen. Fünf Jahre lang hatte er für Mathis’ Großvater auf einem Verpflegungswagen gearbeitet, bevor er Koch im Mannschaftshaus wurde. Später war er dann in die Küche des Ranchhauses übergewechselt. Und er hatte sich immer um den Jungen – wie er Mathis selbst heute noch nannte – gekümmert. Jetzt war Beano siebzig und hielt es nach wie vor für seine Pflicht, für Mathis zu sorgen.

Aus dem Jungen war mittlerweile ein Mann geworden, der bisher allerdings noch nie eingefangen, gefesselt, geknebelt und mit einem Brandzeichen versehen worden. Mathis hielt das für eine gute Beschreibung seines ungebundenen Lebens.

Es war schon lange her, dass er geglaubt hatte, verliebt zu sein. Damals war er neunzehn gewesen. Das Mädchen war achtzehn, hübsch, blond und wild wie der Wind. Es hatte sich um eine typische Sommerliebe gehandelt – heiß, stürmisch und aufwühlend. Und sie war genauso schnell wieder vorbeigegangen.

Mathis ließ den Blick über die Stadt gleiten. „Was hältst du von vornehmen Ladys aus Boston?“

„Das sind die Schlimmsten, Boss.“

„Wieso?“

Beano kam einen Schritt näher. „Eine solche Frau kann einem Mann den Verstand rauben. Sie bringt ihn dazu zu vergessen.“

Mathis wurde neugierig. Er wandte den Kopf und drehte sich zu Beano um. „Was vergisst er?“

Beano grinste von einem Ohr zum anderen, was ganz typisch für ihn war. „Das habe ich doch glatt vergessen.“

Mathis lachte so herzhaft, dass sein Bier überschwappte und auf seine nackte Brust spritzte. „Und ich falle auch noch darauf herein!“

Beano überlegte kurz, bevor er eine weitere Kostprobe seiner Weisheiten von sich gab. „Frauen“, murmelte er. „Man kann nicht mit ihnen leben, aber …“

„Ja?“, fragte Mathis nach, doch sein Freund sagte nichts mehr. Da für Beano das Thema offenbar beendet war, berichtete er von sich aus: „Ich habe heute Nachmittag mit einem Klienten gesprochen.“

„Ach ja?“

„Mit George Huxley.“

Beano brummte lediglich. Er wusste genau, dass dieser neue Klient ein bekannter Diplomat war, aber es beeindruckte ihn nicht im Geringsten.

„Ich soll mich um sein Patenkind kümmern“, fuhr Mathis fort.

„Ist das die Lady aus Boston?“

„Genau.“

„Klingt nach Ärger, wenn du mich fragst“, brummte Beano.

Das vermutete Mathis ebenfalls. „Ich muss den Fall übernehmen“, sagte er, griff nach seinem T-Shirt und trocknete sich damit die Brust ab. „Mir bleibt nichts anderes übrig.“

Mathis stellte die Bierdose auf den Tisch und zog sich das feuchte T-Shirt an, stand auf und blickte auf den See hinaus. „Sie sieht sagenhaft aus“, seufzte er.

„Das tun sie alle“, erwiderte Beano ungerührt. „Falls du Hilfe brauchst …“

Auf dieses Angebot hatte Mathis gewartet. „Allerdings, die brauche ich.“

„Was soll ich machen, Boss?“, fragte sein Koch und selbst ernannter Beschützer.

„Ich möchte, dass du dich morgen früh besonders gut rasierst und dann in Schale wirfst.“

Beano betrachtete sein frisch gewaschenes Hemd, die saubere Jeans und die Stiefel. „Also meine besten Cowboystiefel.“

„Und deinen besten Hut.“

Beano runzelte die Stirn. „Du willst die Lady beeindrucken. Das riecht nach Ärger.“

Mathis konnte dem nicht widersprechen.

„Was machen wir denn eigentlich bei der Lady?“

Wie sollte Mathis das erklären, ohne zu viel oder zu wenig zu sagen? Er nahm den letzten Schluck Bier aus der Dose. Verdammt, er wusste selbst kaum, worauf er sich mit diesem Auftrag eingelassen hatte.

Dann fiel ihm ein altes amerikanisches Volkslied ein. „Fröschlein ging auf Brautschau, auf Brautschau das Fröschlein ging …“

„Wir gehen auf Brautschau“, sagte Mathis und störte sich nicht an Beanos fassungslosem Gesicht.

2. KAPITEL

Die Sirene hätte Tote geweckt.

Desiree Stratford rollte sich auf die Seite, öffnete widerwillig die Augen und versuchte, die Zeit von der Uhr auf dem Nachttisch abzulesen.

Drei Uhr nachts!

„Oh nein“, stöhnte sie, drehte sich um und presste das Gesicht in das weiche Kissen. Sie wollte nicht aufwachen. Dafür brauchte sie den Schlaf viel zu dringend.

Der Tag hatte sich endlos hingezogen. Desiree hatte ermüdende Besprechungen mit Anwälten, Bankleuten, Architekten und Bauunternehmern hinter sich. Sie hatte sich mit den langjährigen Hotelgästen unterhalten müssen. Danach hatte es ein schauderhaftes und zudem noch kaltes Essen gegeben. Sie nahm sich vor, den launischen und unfähigen Koch Andre hinauszuwerfen, sobald sie die Zeit fand, um sich nach Ersatz umzusehen.

Abends hatte sie die Papiere im Arbeitszimmer ihres Urgroßvaters durchgesehen und sich dabei gefragt, ob dieser liebenswerte Mann wirklich sein Leben lang jeden Brief und jeden Beleg gesammelt hatte. Vor etwa zwei Stunden, also um eins, war sie dann endlich erschöpft ins Bett gesunken, und nun war sie wieder wach.

Allerdings konnte sie niemandem außer sich selbst die Schuld daran geben. Schließlich hatte sie sich freiwillig die einstige Wohnung ihrer Urgroßeltern ausgesucht. Und sie schlief in demselben Schlafzimmer wie damals, wenn sie als Kind zu Besuch war.

Sie drehte sich auf den Rücken und blickte zur Decke. Durch die Fenster fiel gerade so viel Licht ins Schlafzimmer, dass sie das Deckengemälde erkennen konnte. Vor Jahrzehnten hatte es ein erfolgloser, aber sehr talentierter Künstler geschaffen.

Im Laufe der Zeit waren die Farben leicht verblasst. Staub und Schmutz hatten sich unweigerlich darauf abgesetzt. Trotzdem erahnte man noch die großartige Darstellung des Himmels – Sonne, Mond, Sterne, Planeten, Wolken und Sternbilder.

Die Bilder mochten verblasst sein, nicht jedoch Desirees Erinnerungen …

„Ich habe Angst vor der Dunkelheit, Urgroßvater“, gestand sie, als er sie eines Abends ins Bett brachte.

„Aber nur in der Dunkelheit können wir zum Himmel hochblicken und die vielen Sterne sehen“, erwiderte er.

Daran hatte sie bisher noch nie gedacht.

„Wie viele Sterne gibt es denn am Himmel?“, fragte die Achtjährige wissbegierig.

„Tausende, sogar Millionen“, erwiderte ihr Urgroßvater und setzte sich in den lederbezogenen Ohrensessel, der schon immer neben dem Gästebett gestanden hatte.

„Kann ich sie zählen?“

„Natürlich kannst du das. Du kannst alles, wenn du nur willst, absolut alles. Vergiss das nie, Desiree.“

Daraufhin blickte sie zu dem Deckengemälde. „Aber da oben sind ganz viele Sterne, Urgroßvater.“

„Keine Angst, mein Kind, wir zählen sie gemeinsam.“

Danach zählten sie und ihr Urgroßvater die Sterne, sie ganz leise und er mit seiner kräftigen und wohlklingenden Stimme, bis sie die Augen nicht mehr offen halten konnte. Abend für Abend schlief sie zum Klang seiner Stimme ein und träumte von Orten, an denen sie noch nie gewesen war, und von Dingen, die sie noch nie gesehen hatte.

Das Gästezimmer schien auch einem Traum entsprungen zu sein. Die Möbel stammten aus Indien. Sie waren zierlich geschnitzt und hatten kunstvolle Einlegearbeiten aus seltenen Hölzern. Über dem Sekretär hingen Bilder von Elefanten, die ihre Rüssel majestätisch zum Himmel erhoben, umringt von munter spielenden Affen und bunt gefiederten Vögeln auf den Zweigen.

Über dem Kamin hing ein großes Gemälde. Es zeigte einen wilden bengalischen Tiger, der von einer königlichen Jagdgesellschaft verfolgt wurde. An der gegenüberliegenden Wand stellte ein aus dem siebzehnten Jahrhundert stammender Wandteppich das Leben am Hofe eines Maharadschas dar.

Auch die Wohnräume der Familie waren vollgestopft mit Andenken und persönlichen Gegenständen aus Indien. Desiree warf dort einen Blick in die Welt ihres Urgroßvaters – eine vergangene Welt, die unwiederbringlich verloren war. Wie hatte sie doch seine Geschichten über den indischen Subkontinent genossen.

In jenen Tagen hatte das Hotel Stratford Glanz und Stil besessen. Wenn Desiree allerdings nicht so ein leicht zu beeindruckendes Kind gewesen wäre, das in das Hotel vernarrt war, hätte sie vielleicht schon damals die ersten Verfallserscheinungen bemerkt.

Mit acht Jahren hatte sie nur gesehen, was sie auch wirklich sehen wollte. Sie hatte die elegant eingerichtete Hotelhalle geliebt, die auf Hochglanz polierten Verzierungen aus Messing, die Marmorfußböden, die Lüster aus Kristall hoch oben an der Decke, die großzügig geschwungene Freitreppe, den rot livrierten Portier und den beeindruckenden Empfangschef.

Am meisten hatte Desiree ihren Urgroßvater geliebt, den Colonel, wie er von den Angestellten genannt wurde. Er machte eine großartige Figur in seinem makellos gebügelten Maßanzug und mit dem gestärkten weißen Kragen und der altmodischen Krawatte.

Die Liebe zu ihrem Urgroßvater und dem traditionsreichen Stratford hatte letztlich dazu geführt, dass Desiree das Bewahren des Alten zu ihrem Lebenswerk gemacht hatte. Ihrer Überzeugung nach verstand man die Gegenwart nicht, ohne die Vergangenheit zu kennen. Und ohne dieses Verständnis konnte man sich auch nur mangelhaft auf die Zukunft einstellen.

Sie holte tief Luft und seufzte bekümmert.

Leider brachte sie diese Sentimentalität nun schon wieder um den bitter benötigten ungestörten Schlaf. Das passierte ihr nicht zum ersten Mal, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Schließlich war sie fest entschlossen, das Hotel von Grund auf zu renovieren.

Das Stratford war mittlerweile alt geworden, etwas heruntergekommen … nun, der Zahn der Zeit hatte sichtbar an dem einst so majestätischen Gebäude genagt. Trotzdem konnte man es noch retten. Davon war Desiree fest überzeugt.

Den Blick auf die an der Decke funkelnden Sterne gerichtet, begann sie leise zu zählen. „Eins, zwei, drei, vier.“ Nach einer Weile musste sie die Lippen mit der Zungenspitze befeuchten, bevor sie weitermachen konnte. „Siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, hundert.“ So leicht gab sie nicht auf. „Hunderteins, hundertzwei.“

Autor

Suzanne Simms
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