Zwischen Vernunft und wildem Verlangen

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"Willst du mich heiraten?" Victoria hat lange darauf gehofft, dass ihr solider Lebensgefährte Oliver ihr endlich einen Antrag macht. Bis sie an Weihnachten Olivers Freund Liam trifft - und beim Blick in dessen goldbraune Augen von einer nie gekannten verzehrenden Sehnsucht erfasst wird. Nur leider für den falschen Mann! Und als Oliver vor ihr auf die Knie fällt, ist sie plötzlich hin- und hergerissen zwischen Vernunft und Verlangen: Soll sie aus Pflichtbewusstsein Ja sagen? Oder doch darauf hören, was das Herz ihr sagt? Victoria steht vor einer dramatischen Entscheidung …


  • Erscheinungstag 22.11.2016
  • Bandnummer 0024
  • ISBN / Artikelnummer 9783733707156
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Weihnachten – fünf Jahre zuvor

Fast alle waren sie da. Ihre Eltern. Olivers Familie. Olivers Freunde. Die Einzige, die fehlte, war Stella. Ihre rebellische Schwester, die sich vor ein paar Jahren von der Familie losgesagt hatte.

Victoria Rutherford musterte die Päckchen unter dem Baum. Natürlich gab es keins für Stella. Ihre Eltern erwähnten sie ja nicht einmal mehr. Doch war zumindest ein Geschenk für Olivers Freund dabei? Sie trat näher und überprüfte die Geschenkanhänger nach seinem Namen.

Liam.

Dabei ging er sie nichts an. Er war Olivers Segeltrainer. Ein Gast seiner Eltern. Sicher besaßen sie die Umsichtigkeit, dem jungen Mann, der erst letzte Woche nach England zurückgekehrt war, ein Geschenk zu machen.

Seine samtige Stimme riss sie aus ihren Gedanken: „Wenn du wissen willst, was drin ist, solltest du die Kartons schütteln.“

Victoria zuckte zusammen. Dann trat ein Lächeln auf ihre Lippen. Was falsch war. Vollkommen falsch. Doch Liam brachte sie mit seinen unbeschwerten Kommentaren zum Lachen. Und mit dem amüsierten Leuchten in seinen goldbraunen Augen. Jedes Mal liefen Schauer über Victorias Rücken, wenn dieser Mann sie anblickte. Er gab ihr das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Seit dem Moment, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte … bei jenem peinlichen Zusammentreffen in ihrem Gästebad, als er noch nicht gewusst hatte, wer sie war. Sie hatte nichts getragen außer einem Handtuch. Er hatte zwar etwas angehabt, aber dennoch waren Victoria Dinge aufgefallen, die sie lieber nicht bemerkt hätte.

„Die Dekoration ist mehr als gelungen“, hörte sie ihn jetzt sagen.

„Danke.“ Victoria war die ganze Nacht aufgeblieben, um den Baum zu schmücken. Und Liam hatte ihr geholfen.

Sie schluckte und verdrängte die Erinnerung an den frühen Morgen. An den Augenblick, wo sie sich vollkommen durcheinander in ihr Zimmer geflüchtet hatte. Denn sonst wäre etwas passiert, das sie sich niemals vergeben hätte.

Liam war der beste Freund ihres Freundes. Ein Gast im Haus von Olivers Familie. Der letzte Mensch, nach dessen Nähe sie sich sehnen sollte.

Nach und nach kamen die anderen ins Zimmer, und die Bescherung begann. Es gab sowohl die üblichen Scherzgeschenke, die in Olivers Familie Tradition waren, als auch die „richtigen“ Geschenke. Für alle – einschließlich Liam.

Ein sehr kleines Kästchen blieb unter dem Baum liegen. Victoria, die vermutete, dass es für Olivers Mum war, dachte nicht weiter darüber nach. Umgeben von Lachen und Gesprächen fühlte sie sich etwas unbefangener und wagte es, für einen Moment in Liams Richtung zu blicken. Während er sein Geschenk, einen fürchterlich hässlichen, selbst gestrickten Weihnachtspullover in die Luft hielt, lag in seinen Augen ein fragender, fast Hilfe suchender Blick, mit dem er Victoria erneut zum Lachen brachte.

Schnell wandte sie sich ab und unterdrückte ihr Kichern.

„Ich denke, das hier ist für dich.“

Victoria erschrak, als Oliver ganz dicht neben sie trat.

„Du hast mir doch schon ein Geschenk gegeben …“ Sie blinzelte, um ihre Konzentration von Liam auf Oliver zu richten.

Wie in Trance sah sie, dass ihr Lebensgefährte auf seine Knie sank. Warum bloß? Seine blauen Augen funkelten, und alle im Raum waren plötzlich still geworden.

„Victoria, du weißt, wie sehr ich dich liebe.“

Sie lächelte, doch ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. War das …? Oliver hatte doch nicht etwa vor …?

„Willst du mich heiraten?“

Victoria starrte ihn an, als er ihre rechte Hand in seine nahm. Oliver, ihr erster Freund. Der Mann, den sie fast ihr Leben lang kannte und dem sie vertraute. Und hier vor ihren Eltern, seinen Eltern und …

„Victoria?“ Sie hörte ganz deutlich Liams Stimme.

Oh nein … Sieh ihn nicht an! Konzentriere dich auf Oliver!

Doch sie konnte nicht anders, als sich zu Liam umzudrehen.

Ihr Blick verschmolz mit seinem. Seine wunderschönen Augen wirkten ernst und schienen direkt auf den Grund von Victorias Seele zu blicken. Als ob Liam all ihre Gedanken lesen konnte.

All ihre Zweifel und Sehnsüchte.

„Jetzt nicht, Liam.“ Oliver klang eher erstaunt als wütend über die Unterbrechung. „Sie ist gerade dabei, eine wichtige Antwort zu geben.“

Victoria ertrank in Liams Augen. Sie hätte zu Oliver sehen sollen, doch schaffte es nicht. Eine leichte Unruhe kam unter den Gästen auf. Victoria fühlte, wie Oliver ihr fragende Blicke zuwarf. Ebenso seine Eltern. Und ihre Eltern. Jede Sekunde würde jemand etwas sagen.

Oliver räusperte sich. Oliver, der Mann, der perfekt für sie war und eine gemeinsame Zukunft plante. Sie konnte ihn nicht verletzen oder in Verlegenheit bringen. Weder ihn noch die anderen Menschen um sie herum. „Victoria?“ Er klang mittlerweile leicht ungehalten.

Pflichtbewusst blickte sie zu dem Mann, der vor ihr kniete. Irgendwie schaffte sie es, das Lächeln auf ihren Lippen zu behalten. Um Oliver zu beruhigen. Oder vielleicht sich selbst? Sie liebte ihn doch. Wollte all das, was er auch wollte. Was ihre beiden Familien wollten und erwarteten. Oder nicht?

Oliver lächelte zurück. Und während sich alles vor Victorias Augen zu drehen begann, stellte er ihr noch einmal die Frage: „Willst du mich heiraten?“

1. KAPITEL

„Ja, natürlich“, antwortete sie strahlend und ignorierte den brennenden Schmerz in ihrer Hand. „Auf jeden Fall.“

Sie würde tun, was getan werden musste. Das war es, was erfolgreiche Unternehmer auszeichnete. Sie brachten Opfer. Arbeiteten die ganze Nacht. Victoria hatte das Buch „Jeder kann Milliardär werden“ vor Monaten gelesen und wusste, was sie zu tun hatte. Auch wenn das Leben einer Milliardärin oder Millionärin gar nicht ihr Ziel war. Victoria wollte nur zahlungsfähig sein. Um keine dieser schrecklichen roten Zahlen mehr auf ihren Kontoauszügen sehen müssen.

Zudem war das Kalligrafieren von fünf weiteren Tischkarten in geschwungener Kupferschrift nichts im Vergleich zu dem, was Victoria bereits geleistet hatte. Wenn ihre Kundin nur mit den fertigen Exemplaren zufrieden war. So viel hing davon ab.

Aurelie Broussard schritt durch die prunkvolle Bibliothek – direkt auf den großen Schreibtisch zu, an dem Victoria nervös wartete. Wie wohl jeder in Aurelies Nähe konnte Victoria nicht anders, als diese Frau anzustarren. Sie war unglaublich schön. Selbst in einem schlichten weißen Sommerkleid und einem marineblauen Bolerojäckchen überstrahlte sie alles. Ihr langes dunkles Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern. Es hatte dieselbe Farbe wie Aurelies Augen. So glänzend und verführerisch wie heiße Schokoladensoße. Vielleicht hing es mit ihrem betörenden Aussehen zusammen, dass diese Frau alles erreicht hatte, wovon andere träumten: Die mehrfache Surfweltmeisterin war nicht nur ein gefragtes Model, sondern auch eine überaus erfolgreiche Unternehmerin. Und bald Ehefrau und Mutter – wie die anmutige Wölbung ihres Bauches verriet.

Victoria hatte nie eine schönere Frau gesehen. Oder eine Frau, die größere Macht hatte, ihrem kleinen Kalligrafie-Unternehmen auf die Beine zu helfen. Beziehungsweise es zu zerstören. Wenn Aurelie ihre Arbeit mochte, käme alles in Ordnung. Wenn nicht, wäre Victoria verloren. Und Bräute waren schrecklich pingelig. Besonders Bräute mit einer Entourage von berühmten Freunden und einer bevorstehenden Superhochzeit.

Victoria gab sich Mühe, ihre Nervosität zu verbergen. Langsam legte sie die fertiggestellten Karten auf die antike Schreibtischoberfläche. Schweigend begutachtete Aurelie das Ergebnis. Es hatte Victoria zahllose Arbeitstage und schlaflose Nächte gekostet, die Tischkarten fertigzustellen. Sie war erst vor vierzehn Tagen für das Erstellen von Aurelies Hochzeitsdekoration auserwählt worden. Nicht gerade der geeignete Zeitraum, um in Perfektion ein Handwerk auszuführen, das eigentlich Licht, Ruhe und Zeit für Kreativität erforderte.

„Sie sind wunderschön.“ Aurelie verkündete endlich ihr Urteil. „Genau, was ich wollte.“

Victoria blinzelte Tränen der Erleichterung fort. Innerhalb kürzester Zeit zweihundertvierunddreißig perfekte Tischkarten zu erstellen, war beinahe unmöglich gewesen. Doch sie hatte es geschafft.

„Ich habe die Namen genauestens von Ihrer Liste abgeschrieben“, sagte sie leise. „Dennoch möchte ich Sie bitten, alles noch einmal Korrektur lesen zu lassen.“ Sie konnte sich nicht leisten, dass irgendein berühmter Gast sich beleidigt fühlte, weil sein Name falsch buchstabiert war.

Aurelie nickte. „Meine Assistentin wird das tun. Vielleicht können Sie die zusätzlichen fünf Tischkarten gleich erstellen, während Sie hier sind?“ Aurelie trat um den antiken Schreibtisch herum und zog aus einer der Schubladen ein Blatt Papier mit getippten Namen.

„Natürlich.“ Victoria hatte vorsorglich ein paar leere Karten, ihren Federhalter und die kupferfarbene Tinte mitgebracht. Doch ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Die Erwähnung von fünf weiteren Gästen würde im schlimmsten Fall bedeuten, dass … „Wie verbleiben wir mit dem Sitzplan?“, begann sie.

Es hatte so viele Tage Arbeit gekostet, ihn zu kalligrafieren. Ein großes Wandbild mit zweihundertvierunddreißig Namen. Dazu die Namen jedes Tisches. Beim Gedanken daran, all das noch einmal machen zu müssen, wurde Victoria ganz schlecht. Ihre rechte Hand tat plötzlich so weh, dass sie am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre.

„Wir brauchen einen neuen.“ Aurelie strich ihre dunklen Locken aus dem Gesicht und stellte sich ganz gerade vor den Schreibtisch. Sie war fast einen Kopf größer als Victoria. „Das wäre doch kein Problem, oder?“

„Überhaupt nicht“, schwindelte Victoria und zwang sich, noch einmal zu lächeln. Sie würde fünf weitere Nächte nicht schlafen und durcharbeiten, bis alles zu Aurelies Zufriedenheit fertiggestellt war.

Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Tag, an dem sie selbst eine Braut gewesen war. Zu all der Freude und Hoffnung, die sie damals verspürt hatte. Sie würde so hart sie konnte arbeiten, damit ihre Kundin ähnlich glücklich war. Und sie hoffte, dass Aurelies Glück anhielt. Denn während Victorias Hochzeitstag wie der Auftakt einer großen Romanze gewirkt hatte, war ihre Ehe mit Oliver von Tag zu Tag mehr den Bach hinuntergegangen. Viel zu schnell hatte sich ihr Glück in eine Katastrophe verwandelt. Und irgendwann hatte Oliver sie für eine andere Frau verlassen.

Aurelies Hochzeit mitzugestalten, würde Victoria helfen, ihr Leben zumindest finanziell wieder in Ordnung zu bringen. So viele reiche Gäste würden kommen. Wenn sie hier ihre beste Arbeit zeigte, könnte sie sicher neue Kunden gewinnen.

Die Ironie, nach ihrer gescheiterten Ehe einen Beruf zu haben, in dem sie anderen Menschen zu einem perfekten Hochzeitsfest verhalf, war Victoria nicht entgangen. Aber sie war nicht zynisch. Für zwei Menschen, die zusammengehörten, war eine Hochzeit ein wunderbarer Anfang.

Hoffentlich war Aurelies Verlobter ein anständiger Kerl. Victoria fiel in diesem Moment auf, dass sie eigentlich gar nichts über ihn wusste. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, sich im Internet über ihn zu informieren, und auf Tischkarte und Sitzordnung war er nur mit dem Wort „Bräutigam“ vermerkt. Einige der Gästenamen hingegen hatte Victoria sofort einordnen können: Elitesportler, Berühmtheiten, Models.

„Ich bin sicher, dass ich mich auf Sie verlassen kann.“ Aurelie schenkte ihr eins dieser Lächeln, die unterschwellig sagten: „Falls irgendetwas schiefgeht, bringe ich Sie um.“

Gut zu wissen. Während Aurelie sich auf sie verließ, müsste Victoria sich wohl auf Kaffee verlassen. Gallonen davon.

„Ich kann die Karten jetzt gleich schreiben, wenn Sie das möchten, aber den Sitzplan muss ich zu Hause anfertigen. Ich konnte die Materialien dafür nicht mitbringen.“

Aurelie nickte. „Ich sorge dafür, dass meine Assistentin Ihnen die Änderungen umgehend mitteilt.“

„Und ich bringe Ihnen den Plan, sobald er fertig ist.“

„Wann wird das sein?“ Die eisige Frage und dabei dieses Lächeln. Victoria stand unter Druck.

Sie war in der verzweifelten Lage, jemandem etwas recht machen zu wollen, das eigentlich unmöglich war. Zögerlich antwortete sie: „Rechtzeitig.“ Noch einmal setzte sie ein gezwungenes Lächeln auf, während Aurelie sie mit ihren dunklen Augen musterte.

Irgendwann lächelte die Braut zurück. „Danke schön.“

Großartig. Victoria griff nach ihrer Tasche und zog ihren Federkasten und das Tintenglas hervor. Für fünf Karten sollte sie nicht allzu lange brauchen. Ihrer Kundin würde sie damit guten Willen beweisen. Vielleicht könnte sie auf der Heimfahrt im Zug ein wenig schlafen. Und zu Hause würde sie sich sofort an das erneute Kalligrafieren der Sitzordnung machen. Vorher musste sie jedoch in der Apotheke irgendetwas kaufen, das sie wach hielt.

„Gefallen Ihnen die Kerzen?“, fragte Aurelie plötzlich.

Victoria blickte zu ihr auf. Ihre Kundin hatte eine große Kiste auf den Schreibtisch gestellt, aus der sie eine von vielen zylinderförmigen weißen Kerzen nahm. „Sie riechen nach Surfbrettwachs.“ Aurelie kicherte. „Das ist mein Lieblingsduft.“

Victoria musste ebenfalls schmunzeln. Eine Hochzeit in einem französischen Schloss mit Kerzenlicht, kalligrafierten Tischkarten und Plänen, überall Dekorationen aus Spitze und Seide, obendrein ein Streichorchester, Springbrunnen und Wasserspiele. Und dazu der Duft von Surfbrettwachs? Klassisch und dennoch ohnegleichen. Aurelie hatte alles. Die Glückliche.

„Sie sind toll. Alles, was Sie geplant haben, ist toll. Ihre Hochzeit wird sicher traumhaft.“ Victoria meinte es so. Wirklich.

Aurelie legte die Kerze zurück in den Karton. „Sie wird perfekt.“

„Das wird sie.“ Victoria holte tief Luft, um den Mut zu finden, eine letzte gefürchtete Frage zu stellen: „Die Speisekarte hat sich nicht zufällig auch geändert, oder?“

„Selbstverständlich nicht.“ Aurelie lachte, sichtlich amüsiert über Victorias Worte. „Aber vielen Dank, dass Sie fragen. Ich bin so froh, dass Sie mir empfohlen wurden. Sie sagen Ja – egal was man von Ihnen verlangt.“

Innerhalb von zwei Minuten hatte Aurelie sie durchschaut. Victoria zuckte zusammen. Sie war stets zu gut darin gewesen, Ja zu sagen. Zu ihren Eltern. Zu Oliver. Zu all den Menschen, die sie glücklich machen wollte. Nur ihr eigenes Glück war dabei auf der Strecke geblieben. Und noch etwas an Aurelies Kommentar ließ sie aufhorchen.

„Ich wurde Ihnen empfohlen?“

Von wem? Victoria war erst seit sieben Monaten in Paris, und den Großteil ihres Einkommens verdiente sie sich durch Sekretariatsaufgaben, die sie von einer Zeitarbeitsagentur bekam. Und ihr kleines Onlineunternehmen für Kalligrafie und personalisiertes Briefpapier hatte sie erst vor Kurzem wiedereröffnet. Vielleicht war sie Aurelie von jemandem aus London empfohlen worden. Einem Kunden aus der Zeit, als es ihrer Firma richtig gut gegangen war? Damals, zu Beginn ihrer Ehe. Auf jeden Fall war Victoria dem Vermittler dankbar. Trotz der anstrengenden Tage, die hinter – beziehungsweise vor – ihr lagen.

Aurelie antwortete nicht. Stattdessen huschte sie ans Fenster, als vom Park her das Knirschen von Kieselsteinen vernehmbar war. Ein Auto kam an.

„Oh nein“, raunte sie. „Er ist hier. Er darf noch nichts von Ihrer Arbeit sehen. Wenn er ins Zimmer kommt, verstecken Sie alles.“ Sie demonstrierte eine von Frauen mit Babybauch nie erwartete Sportlichkeit und Grazie, als sie aus dem Zimmer eilte.

Victoria blieb noch für einen Moment am Schreibtisch stehen. Dann jedoch spähte sie ebenfalls durch eins der großen Fenster. Vermutlich war er der Bräutigam. Neugierig, zu sehen, welcher Mann die wunderhübsche Aurelie für sich gewonnen hatte, blickte sie hinunter zum Eingang des Schlosses. Die geparkte schwarze Luxuslimousine war leer. Ein Concierge trat auf den Wagen zu. Natürlich. Er würde für die illustren Gäste einparken, um ihnen während ihres Aufenthaltes jegliche Mühe abzunehmen. Das Schloss aus vergangenen Zeiten bot jeglichen Luxus der Gegenwart. Es war einer der prächtigsten Orte, an denen Victoria jemals gewesen war. Umgeben von einem riesigen Park mit einer kiesbedeckten Zufahrtsallee und unzähligen kleinen Spazierpfaden, kleinen Wäldern und versteckten Grotten und geziert mit großen und kleinen Brunnen für Wasserspiele, wirkte das Anwesen wie die Kulisse eines Märchens.

Victoria trat an den Schreibtisch zurück, um die fertiggestellten Tischkarten in ihren Karton zu legen. Sie wollte nicht, dass auch nur eine einzige beschädigt wurde. Denn sie konnte keine Zusatzaufgabe mehr bewältigen. Als alles sorgfältig verpackt war, nahm sie aus einem zweiten Karton fünf leere Exemplare und legte sie auf den polierten Schreibtisch. Beim kleinsten Geräusch an der Tür würde sie die Karten verstecken, doch Aurelie hatte ja verlangt, unverzüglich mit dem Kalligrafieren zu beginnen. Schade nur, dass das Licht in diesem Zimmer nicht so ideal war wie an Victorias eigenem Arbeitsplatz.

Sie hatte gerade begonnen, auf einem Blockblatt ein paar Probeschriftzüge zu machen, um ihre Finger aufzuwärmen, als sie eine Stimme vernahm.

„Aurelie? Bist du hier?“

Victoria erstarrte und drückte den Federhalter viel zu fest auf den Block. Panik erfasste sie. Tinte spritzte in alle Richtungen, doch Victoria bemerkte es kaum. Alles, was sie zur Kenntnis nahm, war diese Stimme. Der warme, entspannte, selbstbewusste Tonfall. Sie blickte vom Schreibtisch auf, als jemand in die Bibliothek trat. Ihr Herz hörte für ein paar schmerzhafte Sekunden auf zu schlagen.

Liam?

Der hinreißende, unerreichbare Liam?

Ihre Augen brannten verdächtig, als sie ihn im Türrahmen erkannte. Doch sie würde in seinem Beisein nicht weinen. Niemals.

Er blieb für einen Moment an der Schwelle stehen, bevor er langsam auf den Schreibtisch zutrat. Doch Victoria bemerkte jedes winzige Detail an diesem Mann – auch das leichte Zögern. Durch irgendeinen verrückten Zufall kreuzte Liam noch einmal ihren Weg, dachte sie, während sie ihn wie versteinert musterte. Seine Größe. Seinen schlanken, muskulösen Körper. Er hatte sich kaum verändert. Schon bei ihrem ersten Treffen war er athletischer gewesen als alle Männer, die Victoria je gekannt hatte. Liam Wilson stach Konkurrenz auf den ersten Blick aus. Egal in welchem Bereich. Egal zu welchem Preis.

Und er stand kurz davor, den wohl besten Preis seines Lebens zu gewinnen. Aurelie.

Mit seinen goldenen Augen musterte er Victoria. Und sie musterte ihn. Den lässigen Stoppelbart, der ihn bereits vor fünf Jahren so unbekümmert und entspannt wirken ließ. Seine markanten Gesichtszüge und das dunkelbraune Haar, das jetzt etwas kürzer geschnitten war als bei ihrer letzten Begegnung. Nur vage nahm sie seine perfekt sitzende Kleidung wahr – die dunklen Jeans und das strahlend weiße Hemd. Denn ihr Blick hing wie gefesselt an seinem Gesicht. Sie hatte bei einem Mann nie schönere Züge gesehen.

Um ihre Gedanken unter Kontrolle zu bringen, zwang sie sich jedoch, für einen Moment zu Boden zu blicken.

Liam Wilson. Wie konnte er noch attraktiver geworden sein? Und wie war es möglich, dass sie nur einen Blick auf ihn zu werfen brauchte, um sich mit jeder Faser ihres Körpers nach diesem Mann zu verzehren?

Ihre Aufmerksamkeit von seinem perfekten Äußeren abzulenken nutzte nichts. Denn sofort wanderten ihre Gedanken zu jenem Abend, den sie so gerne vergessen hätte. Es blieb ihr wohl nur, sich irgendwo zu verstecken. Niemand hatte sie je derart durcheinandergebracht wie Liam. Und das mit nur einem Blick.

„Victoria.“

Sie bemerkte die kupferfarbene Tinte, die sie auf dem Schreibtisch verspritzt hatte. Gequält blickte sie zu Liam auf, der nur noch eine Armeslänge entfernt stand.

Er räusperte sich. „Lange nicht gesehen!“

Der amüsierte Unterton in seiner Stimme entging Victoria nicht. Schon vor all den Jahren hatte sie das Gefühl gehabt, ein Lächeln zu hören, wann immer Liam sprach. Was sicher an seiner Unbeschwertheit und dem für ihn so charakteristischen Charme lag. An seiner Zuversicht, mit der er Victoria so tief beeindruckt hatte.

Victoria schluckte, bevor sie zurück in Liams Gesicht sah. Tatsächlich umspielte ein Lächeln seine sinnlichen Lippen, doch sein Blick wirkte nicht nur fragend oder gespannt. Er wirkte argwöhnisch.

Es nutzte nichts, dass Victoria sich ebenfalls räusperte. Ihre Stimme versagte. Alles in ihr schien zu versagen. Besonders ihr Gehirn, das seit Liams Erscheinen irgendwie ausgesetzt hatte.

„Wie geht es dir?“, fuhr er fort, als Victoria auch nach ein paar weiteren Sekunden nichts sagen konnte.

Sollte das ein Witz sein? Seit er vor fünf Jahren so ungeschickt in ihren Heiratsantrag geplatzt war, hatten sie sich nicht mehr gesehen. Und nun, fünf Tage vor seiner eigenen Hochzeit, begrüßte er Victoria wie eine alte Schulkameradin?

Aber andererseits … Was sonst sollte er auch sagen?

Victoria fielen die leeren Karten auf dem Schreibtisch auf. Zumindest hatte sie die beschrifteten weggepackt. Aurelie wollte ja nicht, dass ihr Bräutigam sie sah.

Aurelie. Liam.

Aurelie Broussard heiratete Liam Wilson.

Sie erwarteten ein gemeinsames Baby.

Er wäre bald ein Ehemann. Und Vater.

Warum war das so schwer zu akzeptieren?

Victoria hatte einmal die Chance gehabt, Ja zu Liam zu sagen. Nicht vor einem Standesbeamten. Sondern vor ihrer Familie. Sie hatte es nicht gewagt. Sie hatte Ja zu jemand anderem gesagt. Das Leben war für alle weitergegangen. Und es war in Ordnung.

Sie stand auf und ignorierte das Gefühlschaos, das in ihr tobte. „Es geht mir sehr gut, danke.“ Ihre Stimme klang beinahe normal, als sie Liam antwortete. „Und dir?“

„Ich bin überrascht, dich hier zu sehen.“

Wohl nicht so überrascht wie sie. Denn Liam ging nun vollkommen ruhig um den Schreibtisch herum, um sich ganz dicht neben Victoria zu stellen. In seiner sportlichen Kleidung, die ganz sicher maßgeschneidert war. Zu perfekt betonte sie seinen durchtrainierten Körper. Vor allem die breiten Schultern. Doch was Victoria am meisten verwirrte, war der Argwohn in Liams Augen, während sein Blick über ihr Haar und ihr Gesicht glitt. Für einen Moment verharrte er auf ihrem Mund, bevor Liam begann, jeden Zentimeter ihres Körpers zu mustern. Genau wie beim ersten Mal, als sie einander in Olivers Gästebad begegnet waren. Damals war es entschuldbar gewesen, weil er nicht gewusst hatte, wer sie war. Aber jetzt?

Victoria spürte, wie sie sich angesichts seiner konzentrierten Aufmerksamkeit verspannte. Sie hoffte, dass ihre Körperhaltung nicht verriet, wie sehr sie sich zu Liam hingezogen fühlte. Denn all das war Vergangenheit. Eine Verstrickung des Schicksals, die es besser nicht gegeben hätte. Damals ebenso wenig wie heute.

„In all der Zeit …“, hörte sie ihn sagen, „… bist du noch schöner geworden. Auch wenn ich nie gedacht hätte, dass es möglich wäre.“

Ihr Atem ging schneller, als sie seine Worte hörte. Denn sie dachte das Gleiche über Liam. Und das war so falsch. Hitze breitete sich in Victorias gesamten Körper aus. Vor allem tief in ihrem Bauch.

Irgendwann erwachte ihr Gehirn wieder zum Leben. Doch es brauchte zu lange, um zu verstehen, dass Liams Worte keine Bedeutung hatten. Sie waren nur dem gewinnenden Wesen eines Mannes geschuldet, der mit etwas charmantem Small Talk so gut wie alles bekam, was er wollte. Dennoch war sein Flirten alles andere als angemessen. Victoria arbeitete schließlich für seine Verlobte! Zumindest sie würde deshalb ruhig und besonnen bleiben und Liam höflich in seine Schranken weisen.

„Du siehst auch gut aus“, sagte sie mit gezwungenem Gleichmut und brachte sogar ein Lächeln zustande. Sie würde mit dieser unheilvollen Situation klarkommen. Sie musste es.

Als Liam sich zwanglos gegen den Schreibtisch lehnte, hätte sein Körper beinahe ihren berührt. Schnell trat Victoria einen Schritt zurück. Doch ihre Füße spürten keinen Boden mehr, und die Haut an ihren Beinen brannte. Leider war es keine Option, davonzulaufen – denn so hätte sie Don Juan nur gezeigt, wie sehr er sie durcheinanderbrachte. Zitternd sank sie wieder auf den Schreibtischstuhl. Sie wusste, dass sie mit dem Feuer spielte. Ebenso wie vor all den Jahren. Jetzt, wo er so dicht neben ihr stand, leuchteten in Liams goldenen Augen dieselben Flammen, die bereits bei ihrer ersten Begegnung gedroht hatten, Victoria zu verbrennen. So, wie er sie jetzt ansah, wirkte er wie eine Raubkatze, die gerade eine schmackhafte Beute entdeckt hatte. Ein wehrloses Opfer, das er langsam und genüsslich verschlingen wollte. Doch Victoria würde nie wieder ein wehrloses Opfer sein.

„Danke“, sagte er lächelnd.

Victoria kniff die Augen zusammen, als sie eine vollkommen untypische Wut in sich aufkommen spürte. Liam Wilson war noch immer derselbe Draufgänger wie vor all den Jahren. Sogar jetzt, wo er heiratete und Vater wurde.

„Victoria“, flüsterte er genauso sanft wie an jenem Weihnachtstag. Damals wie heute drohte er, damit ihr Herz zu stehlen.

Schauer liefen Victorias Rücken hinab, als Liam sich zu ihr neigte und viel, viel zu nahe kam. Sie hielt ihren Atem an, doch es war zu spät. Liams maskuliner Duft drang an ihre Nase. Dieser berauschende Duft von Meer, Sonne und Freiheit, der alles andere um Victoria herum ausblendete. Alles, was sie noch wahrnahm, war Liam. Die unwiderstehliche, verbotene Versuchung. Doch sie musste ihre Achterbahn fahrenden Hormone schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Liam würde niemals zu ihr gehören.

„Was tust du?“, keuchte sie und klang mehr denn je wie ein hilfloses Opfer.

Während er noch ein wenig näher kam, musterte Liam Victorias Gesicht. Das Lächeln auf seinen Lippen verstärkte sich, als sie sich unter seinem intensiven, herausfordernden Blick wand. Er war jetzt so nahe, dass Victoria die beneidenswert langen Wimpern sehen konnte, die seine goldenen Augen rahmten.

„Stört es dich, wenn ich dir den hier abnehme?“ Mit einem scharfen Ruck löste er den Federhalter aus ihrer verkrampften Hand. „Es wirkt, als hältst du einen Dolch in der Hand. Du hast mir schon einmal mitten ins Herz gestochen. Ich werde dieses Risiko nicht noch einmal eingehen.“

Victoria starrte ihn an. Sie hatte ihm einen Dolch ins Herz gestochen? Genau das Gegenteil war passiert. Er hatte sie verletzt. Und Oliver. Er hatte einen Riss in ihre Beziehung gebracht, den sie niemals wieder kitten konnten. Einen Riss, der sich in einen Abgrund verwandelt hatte. Doch Liam brauchte nicht zu wissen, wie viel Einfluss er auf ihr Leben gehabt hatte.

Autor

Natalie Anderson
Natalie Anderson nahm die endgültigen Korrekturen ihres ersten Buches ans Bett gefesselt im Krankenhaus vor. Direkt nach einem Notfall-Kaiserschnitt, bei dem gesunde Zwillinge das Licht der Welt erblickten, brachte ihr ihr Ehemann die E-Mail von ihrem Redakteur. Dem Verleger gefielen ihre früheren Korrekturen und da es gerade einen Mangel an...
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