Historical Saison Band 45

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

EIN DUKE FÜR GEWISSE STUNDEN von BURROWS, ANNIE
Allein und mittellos ist Prudence ausgerechnet auf die Hilfe des draufgängerischen Dukes angewiesen, der sich ihr unsittlich genähert hat. Umso aufgewühlter ist sie, als der schöne aber arrogante Fremde alles tut, um ihre Ehre zu retten. Verbirgt sich hinter der rauen Schale etwa ein respektabler Gentleman?

DIE RACHE DER SCHÖNEN LADY von HEATH, VIRGINIA
Sein schlechter Ruf? Darauf gibt Ross Jameson keinen Penny! Nur zu gern spielt der Charmeur den rücksichtslosen Halunken. Da ist die Eroberung seiner rätselhaften Hausdame natürlich Pflicht! Die er teuer bezahlen muss, denn Hannahs Küsse betören ihn so sehr, dass er beinahe nicht bemerkt, was sie im Schilde führt …


  • Erscheinungstag 18.04.2017
  • Bandnummer 0045
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768584
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie Burrows, Virginia Heath

HISTORICAL SAISON BAND 45

ANNIE BURROWS

Ein Duke für gewisse Stunden

Als Gregory Willingale, Duke of Halstead, in einem Gasthof neben einer nackten Schönheit erwacht, ist er sich sicher: Diese Kurtisane hat sich in sein Bett geschlichen, um ihn zu erpressen! Aber warum sieht er dann in ihren großen Augen nichts als Unschuld? Und warum fühlt er das Verlangen, den Hals der betörenden Fremden mit heißen Küssen zu bedecken?

VIRGINIA HEATH

Die Rache der schönen Lady

Nach ihrer Verbannung hat Lady Hannah nur das eine Ziel: Sich an Ross Jameson dafür zu rächen, dass er sie um Barchester Hall betrogen hat. Um den lasterhaften Schurken zu entlarven, gibt sie sich als Hausdame aus. Doch schnell muss sie feststellen, dass sie den dreisten Herzensbrecher nicht hassen kann – und dass sein Charme sie in höchste Gefahr bringt …

1. KAPITEL

Schändlicher Verführer!“

Gregory fuhr zusammen und zog sich die Bettdecke bis über die Ohren. Was war das für ein Gasthaus? Selbst in einem so hinterwäldlerischen Kaff sollte ein Reisender doch wohl nicht hinnehmen müssen, dass geistig verwirrte Frauenzimmer noch vor dem Frühstück in sein Zimmer drangen und herumkreischten.

„Diese Niedertracht!“

Offensichtlich hatte das Manöver mit der Bettdecke seine Abneigung gegen lärmenden Besuch nicht deutlich genug gezeigt, denn das Geschrei wurde eindeutig lauter. Und kam näher.

„Wohin soll das führen?“

Das möchte ich auch gerne wissen, dachte er aufgebracht, schlug mühsam die Augen auf und sah die Besitzerin jener schrillen Stimme direkt vor sich stehen und mit einem knochigen Zeigefinger bedrohlich vor seiner Nase herumwedeln.

„Wie konnten Sie nur?“, schrie die Frau ihn an. Ihm mitten ins Gesicht!

Genug war genug. Er wusste, dass Gasthöfe zwangsläufig, nun … gemischte Kundschaft beherbergten. Trotzdem stand einem doch auch hier ein gewisses Maß an Privatsphäre zu? Zumindest in seinem eigenen Zimmer?

„Wer“, äußerte er in dem unterkühlten Ton, der normalerweise jeden Domestiken verschreckt erbeben ließ, „hat Sie hier eingelassen?“

„Wer mich eingelassen hat? Ich mich selbst natürlich!“ Sie schlug sich theatralisch auf die Brust. „Nie in meinem Leben war ich so aufgebracht!“

„Nun, was erwarten Sie, wenn Sie ins Zimmer eines Mannes eindringen?“

„Oh!“, rief die Frau erneut, wobei sie dieses Mal wie in Verzweiflung ihren Handrücken an die Stirn drückte. „Hat es je einen solchen Schurken gegeben? Nur eine völlig schwarze, verderbte Seele kann die Verführung einer Unschuld derart leichtfertig abtun!“

Verführung einer Unschuld? Die Frau musste mindestens fünfzig sein! Und sie war in sein Zimmer eingedrungen. Wo war da die Unschuld?

„Und was dich angeht!“ Der Zeigefinger der Kreischenden wanderte zu einer Stelle links neben ihm. „Du … du Flittchen!“

Flittchen? Außer der verrückten Frau neben seinem Bett war darin auch noch ein Flittchen?

Ein kurzer Ausflug mit dem linken Fuß bestätigte ihm, dass, ja, in der Tat, sich in seinem Bett ein weiteres Paar Beine befand. Ein schlankes Paar Beine. Die, so musste er annehmen, dem besagten Flittchen gehörten.

Er krauste die Stirn. Er pflegte keine Flittchen mit in sein Bett zu nehmen. Noch sonstige Frauen. Immer, aber auch immer, besuchte er sie in deren Betten. Damit er sich, sobald er sie bis zum Hinschmelzen befriedigt hatte, absentieren konnte, um daheim in seinem eigenen Bett – wohin er sich gerade von Herzen wünschte – eine ruhige Nacht zu verbringen. Denn wäre er zu Hause geblieben, läge jetzt keine fremde Frau in seinem Bett. Noch, und das war ein wichtiger Punkt, würde dort irgendjemand wagen, vor ihm herumzuzetern.

„Mit diesem schändlichen Betragen lohnst du es mir?“, klagte das überspannte Frauenzimmer. „Nach allem, was ich für dich getan habe? Die Opfer, die ich gebracht habe?“

Ihre Stimme stieg höher und höher. Und wurde lauter und lauter. Dem zum Trotz schien sein Hirn in einen dichten Nebel gebettet. So dicht, dass es ihm ums Leben nicht gelang zu klären, warum eine Frau in seinem Bett war. Er konnte sie unmöglich dafür bezahlt haben. Weil er es noch nie nötig gehabt hatte, eine Frau für solche Dienste zu bezahlen. Wieso also war sie hier?

Was das anging, wieso war er hier? Und wie sollte er darüber nachdenken, solange diese Harpyie auf ihn einschrie?

Er hielt sich die Ohren zu.

„Undankbares Ding!“

Gott, er hörte sie immer noch!

„Madam“, sagte er kalt und löste die Hände von den Ohren – es hatte offenbar keinen Sinn. „Senken Sie die Stimme.“

„Die Stimme senken! Die Stimme senken? Oh ja, das würde Ihnen so passen, was? Damit Ihre schändliche Untat nicht laut wird!“

„Ich habe nie“, entgegnete er entrüstet, „irgendeine schändliche Untat begangen.“ Noch solche Formulierungen benutzt, die viel eher auf die Bühne gehörten.

Er drückte die Handballen gegen seine Schläfen. Seine pochenden Schläfen. Wie viel musste er gestern Abend getrunken haben, um mit einem Flittchen im Bett gelandet zu sein, das abgeschleppt zu haben er sich nicht erinnern konnte, und um wie ein Papagei die ordinären Ausdrücke jener Frau nachzuplappern, die ihm anscheinend unbedingt eine … eine Szene machen wollte?

„Raus aus meinem Zimmer!“, stieß er hervor.

„Sie erdreisten sich, mir Befehle zu geben?“

„Ich erdreiste mich?“ Er riss die Augen auf, funkelte die Kreischende wütend an. Setzte sich auf. „Nein! Sie erdreisten sich! Erdreisten sich, in mein Zimmer einzudringen und derart unverschämte Reden zu schwingen!“

„Ja! Weil Sie mein zartes Lämmchen verführt haben! Mein …“

Am Ende seiner Geduld angekommen schoss er aus dem Bett hoch.

„Ich verführe keine unschuldigen Lämmchen!“

Nun schrie die Frau noch lauter. Bedeckte ihre Augen und wankte zur Tür. Zur offenen Tür. Wo sie sich durch einen kleinen Auflauf Neugieriger drängen musste. Die alle in einer Mischung aus Empörung und Missbilligung in sein Zimmer spähten.

Ausgenommen ein dralles Mädel, das er als das Zimmermädchen erkannte. Selbiges glotzte ihn offenen Mundes an.

Was ihn darauf brachte, dass er splitternackt war.

Mit unterdrücktem Knurren stolzierte er zur Tür und knallte sie den Gaffern vor der Nase zu. Und schob zusätzlich den Riegel vor.

Eine Maßnahme, die er wohl zu spät ergriff, nachdem wer weiß wer alles durch sein Zimmer marschiert war, während er schlief.

Und zwar wie ein Toter. Was ganz unsinnig war. Wie hatte er überhaupt schlafen können? Als er beschlossen hatte, für die Nacht hier unterzukommen, war er überzeugt gewesen, überhaupt keine Ruhe zu finden, da er derartige Gasthäuser kannte. Dort pflegten nämlich plump beschuhte Reisende Tag und Nacht durch die Gänge zu trampeln und Kutschen in den Hof zu rattern, deren Kutscher laut ihr Posthorn bliesen, während im Schankraum die Bauern mit blökenden Stimmen ihre Weisheiten zum Besten gaben.

Dieses Mal allerdings hatte das Zimmermädchen ihn zu einer Dachkammer gebracht, zu der der Lärm nicht drang. War er nach den Ereignissen der letzten Tage so erschöpft gewesen, dass er in eine Art Koma gesunken war?

Unwahrscheinlich. Und erklärte auch nicht seine Benommenheit. Es war eher ein Gefühl, als hätte er ein Schlafmittel genommen. Nur dass er noch nie im Leben ein Schlafmittel genommen hatte. Und dass er sich gestern plötzlich dazu entschlossen hätte, konnte er einfach nicht glauben.

Er rieb sich die Stirn, doch vergeblich, in seinem Hirn lichtete sich nichts. Wenn er sich doch nur an das Geschehen des gestrigen Abends entsinnen könnte!

Angestrengt dachte er nach.

Er hatte sich kurz gewaschen und war dann zum Abendessen hinuntergegangen. Das Mahl war erstaunlich gut gewesen, und er wusste noch, dass er sich anschließend beglückwünscht hatte, einen Gasthof mit so gutem Essen erwischt zu haben. Danach – nichts mehr.

Könnten der Werkmeister und sein Komplize ihn auf dem Weg zu seinem Zimmer überfallen haben? Um sich an ihm zu rächen? Behutsam betastete er seinen Hinterkopf, doch da war nichts, keine Beule, keine Platzwunde. Nichts. Die Halunken hatten sich natürlich mit Stiefeltritten an ihm ausgelassen, als es ihnen gelungen war, ihn zu Boden zu strecken. Wo er nicht lange geblieben war, erinnerte er sich zufrieden und streckte die Finger seiner Rechten, deren Knöchel aufgeplatzt waren. Es war eines, die Kunst in einem Boxclub zu üben, wo den regelmäßigen Besuchern mit gebührender Achtung begegnet wurde, doch etwas ganz anderes war es, triumphierend aus einer zufälligen Prügelei mit ein paar Schlägern hervorzugehen, die weder gewusst hatten, wer er war, noch fair kämpften.

Doch das beantwortete weder die Frage, warum dieses Höllenweib in seinem Zimmer aufgetaucht war, noch erklärte es die Anwesenheit des weiblichen Wesens, mit dem er offensichtlich das Bett geteilt hatte, ohne sich auch nur im Geringsten an das Zusammentreffen mit ihm erinnern zu können.

Langsam wandte er sich um. Was für ein Frauenzimmer konnte er in dem heruntergekommenen Gasthaus eines öden kleinen Ortes aufgestöbert haben?

Ausgiebig betrachtete er das Mädchen, das aufrecht im Bett saß, das Oberbett bis hoch ans Kinn gezogen.

Anders als er erwartet hatte, war sie ein hübsches kleines Ding mit einer Mähne kastanienbrauner Locken und großen braunen Augen.

Er war außerordentlich erleichtert. Sein Gedächtnis mochte er verloren haben, aber wenigstens nicht seinen Geschmack.

Prudence rieb sich die Augen. Schüttelte den Kopf. So etwas hatte sie noch nie geträumt. Jedenfalls nichts so Schlimmes. Manchmal hatte sie Albträume von ihrer Tante Charity, denn die Mutter ihrer Schwester war eine jener kalten, schroffen Frauen, die einem Mädchen hier und da Albdrücken verursachen konnten, doch nie – nicht einmal in den bizarrsten Fieberträumen – hatte ihre Tante derartigen Unsinn geredet. Und in keinem Traum war je ein nackter Mann in ihr Zimmer eingedrungen. In ihr Bett!

Er war zur Tür gegangen und hatte sie zum Glück geschlossen, leider erst, nachdem sie bemerkt hatte, dass der Wirt ihre Brust beglotzte. Ihre nackte Brust. Warum hatte sie nicht überlegt, ob sie nackt war, ehe sie sich aufgerichtet hatte? Und warum war sie nackt? Wo war ihr Nachtgewand, ihr Nachthäubchen? Und wieso war ihr Haar nicht brav geflochten? Was war hier los?

Der nackte Mann an der Tür fuhr sich mehrfach durch das kurz geschnittene Haar, als hätte er Kopfweh. Und er brummelte irgendetwas vor sich hin.

Ein nackter Mann?

Ihr wurde ganz übel. Sie erinnerte sich deutlich, dass sie sich noch vor einer Minute an diesen Mann geschmiegt hatte. Und er hatte sie in seinen Armen gehalten. Ein … ein schönes Gefühl. Allerdings hatte sie da noch gedacht, dass sie träumte, jemand umarme sie, sodass sie sich endlich behütet fühlen könnte. Geliebt.

Stattdessen hatte er womöglich …

Sie schluckte. Was er mit ihr gemacht hatte, wusste allein der Himmel.

Und nun stand er zwischen ihr und der Tür. Die er gerade verriegelt hatte.

Bleib weg! Nicht umdrehen. Bloß nicht umdrehen.

Er drehte sich um. Betrachtete sie forschend.

Steuerte das Bett an.

Sie öffnete den Mund, wollte um Hilfe schreien. Doch ihre Kehle war so ausgetrocknet, dass nur eine Art entrüstetes Krächzen herauskam.

Verzweifelt versuchte sie, in ihrem Mund Feuchtigkeit zu sammeln, damit sie endlich um Hilfe rufen konnte.

Nur, wer sollte ihr helfen? Der Wirt, der sich eben noch einen gründlichen Blick auf ihre Brüste gegönnt hatte?

Tante Charity, die hier hereingestürmt war und sie Flittchen geschimpft hatte?

Obwohl … es sah gerade nicht so aus, als müsste sie um Hilfe rufen. Der Mann blieb stehen. Stemmte die Hände in die Hüften und bedachte sie mit wütenden Blicken.

Jäh erkannte sie das Gesicht. Weil sie ihn endlich direkt anblickte. Und nicht nur seine breiten, nackten Schultern. Oder den von Blutergüssen bedeckten Brustkorb. Oder auf … Nun, sie hatte noch nie zuvor einen nackten Mann gesehen, da musste sie das einfach anschauen. Was sie nicht sollte, wie sie genau wusste.

Aber egal, nun, da sie sein Gesicht sah, wusste sie, sie war ihm schon begegnet. Gestern Abend. Im Speiseraum.

Er hatte ganz allein an einem Tisch in einer Ecke gesessen. Und gefährlich ausgesehen. Nicht nur wegen der Schwellung an seinem Kinn oder weil eins seiner Augen sich violett zu verfärben begann, oder weil seine Fingerknöchel zerschrammt waren, als hätte er einen Boxkampf hinter sich. Es war die eisige Aura, die ihn umgab. Die Kälte, die seine stahlgrauen Augen ausstrahlten und jeden vor dem Versuch einer Annäherung warnten.

Ihr war nicht aufgefallen, dass er sie beobachtet hätte, was aber der Fall gewesen sein musste. Irgendwie musste er erfahren haben, dass sie ein Zimmer für sich allein hatte, musste ihr gefolgt sein und dann …

Doch von dem Punkt an herrschte Leere in ihrem Kopf.

Er hatte sie nicht grob angefasst, sonst hätte sie irgendwo Schmerzen haben müssen. Obwohl – vielleicht hatte sie sich nicht sonderlich gewehrt. Mochte geahnt haben, dass es sinnlos gewesen wäre, bedachte man die sichtlich ausgeprägten Muskeln dieses kraftvollen großen Körpers.

„Das wird nicht funktionieren!“

„Entschuldigung?“, brachte sie mühsam über die Lippen.

„Das hier …“ Der große, gefährliche, nackte Mann machte eine den Raum umfassende Geste und zeigte dann auf sie selbst. „Dieser Versuch, mich zu kompromittieren.“

Kompromittieren? Seltsame Wortwahl. Wenn hier jemand kompromittiert wurde, war es doch wohl sie.

Sie räusperte sich, wollte etwas erwidern, um ihn auf seinen Irrtum hinzuweisen, doch er wandte sich abrupt ab, ging im Zimmer umher und raffte diverse Kleidungsstücke vom Boden auf, knüllte sie zusammen und warf sie ihr hin.

„Zieh dich an und verschwinde!“, knurrte er. Und dann zog er obendrein die Bettvorhänge zu, wie um sie nur nicht mehr sehen zu müssen.

So konnte sie wenigstens unbeobachtet in ihre Kleidung schlüpfen – offenkundig die vom gestrigen Abend, die hier verstreut gelegen hatte, als hätte sie sie sich in heller Verzückung vom Körper gerissen und einfach fallen gelassen.

Was ihr gar nicht ähnlich sah. Sie pflegte ihre Sachen stets sorgsam zu falten, um alles, was sie beim Aufstehen brauchte, zur Hand zu haben. Eine Angewohnheit aus ihren ersten zwölf Lebensjahren, als es oft lebensnotwendig gewesen war, ein Quartier jederzeit auf die Schnelle räumen zu können.

Doch mit Gedanken an frühere Zeiten würde sie sich nun nicht lange aufhalten. Wenn es je an der Zeit war, sich rasch aus dem Staub zu machen, dann jetzt. Sie musste sich, so schnell es nur ging, sittsam bekleiden und aus dem Zimmer kommen, ehe der riesige, wütende, nackte Mann es sich anders überlegte und sie festhielt.

Hastig zerrte sie ihr Hemdchen aus dem Kleiderbündel und zog es an. Griff nach dem leichten Korsett. Und überlegte kurz. Es würde dauern, bis sie es angelegt hätte, und dann die Schnürung! Besser nur flink das Kleid anziehen und sehen, dass sie hier verschwand.

Als sie durch die Bettvorhänge lugte, sah sie, dass der Mann auf einem Stuhl saß und gerade ein Paar zerschrammte, ziemlich ausgebeulte Stiefel zur Hand nahm.

Das erinnerte sie. Ah, Schuhe! Wo waren ihre Schuhe?

Dort, neben der Tür. Schön ausgerichtet, nur lag einer auf der Seite.

Sie raffte ihr Schnürleibchen an sich und wartete, bis der Mann – jetzt in Hemd und Reithosen – nach dem zweiten Stiefel griff. Er wirkte nicht wie jemand, der seine Würde opferte, um auf einem Bein hinter ihr herzuhopsen. Als er also den Fuß in den Schaft schob, stürzte sie zur Tür.

So rasch es ging, schlüpfte sie in ihre Schuhe und riss dann am Türgriff.

Die Tür blieb zu.

Blieb einfach zu, so sehr sie auch zerrte, so wild sie den Knauf drehte.

Und inzwischen musste der Mann auch den zweiten Stiefel angezogen haben, denn sie hörte Schritte hinter sich.

In ihrer Angst ließ sie das Schnürmieder fallen, um mit beiden Händen zu ziehen. Doch sie war nicht schnell genug. Er war hinter ihr, streckte die Hand aus. Über ihrem Kopf.

Und löste den Riegel.

Den Riegel! Vor blinder Hast hatte sie den Riegel völlig vergessen!

„Erlauben Sie“, sagte der Mann, öffnete die Tür und machte eine spöttische Gebärde der Höflichkeit.

Dann legte er die andere Hand auf ihren Rücken.

Und schob sie hinaus auf den Gang.

Das Ungeheuer. So ein grober, gemeiner, abscheulicher Mann! Er hatte sie nicht einmal ihr Schnürmieder aufheben lassen! Nicht dass sie tatsächlich mit einem solchen Stück Unterwäsche in den Händen hätte in dem Gasthof umherlaufen wollen.

Aber trotzdem … Ihre Unterlippe bebte. Wenn ihr Körper nicht so ausgetrocknet gewesen wäre, wären ihr bestimmt die Tränen gekommen. Sie rieb sich die Augen, was aber auch nicht half. Außer dass ihr davon ganz schwindelig wurde – es war, als schwanke der Boden unter ihren Füßen.

Und da war noch etwas merkwürdig. Die Zimmer waren um den Treppenabsatz gruppiert, und alles schien verkehrt herum zu sein. Gestern bei ihrer Ankunft hatte sie nicht viel Zeit gehabt, sich umzusehen, doch dieses Podest unter dem Dach hatte sich ihr eingeprägt. Die Treppe mündete in eine Art Galerie, der gegenüber das eine Zimmer lag; die anderen beiden befanden sich rechts und links davon. Sie war in dem Raum rechts einquartiert worden. Nun aber stand sie auf der linken Seite, also war sie gerade gar nicht in ihrem Zimmer gewesen.

Sondern in seinem.

Aber warum? War sie gestern quasi im Halbschlaf ins falsche Zimmer getaumelt?

Nein … nein … sie konnte sich deutlich erinnern, dass sie sich eben zum Schlafen bereit machen wollte, als ihre Tante mit einem Becher heißer Milch hereinkam.

Ein Geräusch aus dem Zimmer, in dem der Mann sich noch immer befand, ließ sie entsetzt zusammenzucken. Sie durfte hier nicht herumtrödeln. Was, wenn er sie doch noch zurückholte?

Auf wackligen Beinen schlich sie sich über die Galerie, vorbei an der Tür, hinter der ihre Tante und ihr … Sie schüttelte den Kopf. An den neuen Mann ihrer Tante mochte sie einfach nicht als ihren Onkel denken. Er war nicht mit ihr verwandt. Es war schlimm genug, ihr Heim mit ihm teilen, doch schlimmer noch, den alten Geizhals wie ein Familienmitglied behandeln zu müssen.

Sie stockte an der Schwelle der Tür, die offen stand. Das war ihr Zimmer. Ganz bestimmt. Bett und Waschtisch waren genau da, wo sie sein sollten. Und die kleine Dachgaube mit dem Fenster, von dem man hinaus auf die Einfahrt schauen konnte.

Aber – wo waren ihre Sachen? Ihr Koffer sollte am Fuß des Bettes stehen, daneben ihre Hutschachtel, und alles, was sie zur Morgentoilette brauchte, auf dem Waschtisch.

Verwirrt stolperte sie zu dem Zimmer, das ihre Tante und der gemeine Mr. Murgatroyd teilten. Es ließ sich nicht vermeiden, sie musste hinein, selbst wenn die beiden sich gerade – sie schauderte – in den Armen lagen, wozu sie mit widerwärtiger Regelmäßigkeit neigten.

Sie wappnete sich und klopfte. Keine Reaktion. Also klopfte sie erneut und drehte dann zaghaft den Türknauf. Hinter der Tür lag ein leeres Zimmer. Kein Gepäck. Nicht ein persönlicher Gegenstand mehr.

Als wären sie fort.

Sie blinzelte verdutzt und schüttelte den Kopf. Sie musste träumen. Ein Albtraum. Gleich würde sie aufwachen und wieder in … in …

Fest kniff sie sich in den Arm.

Doch nichts änderte sich. Sie war immer noch in einem Gasthof in einem kleinen Ort, dessen Name ihr nicht einfiel. Nachdem sie im Bett neben einem nackten Mann aufgewacht war.

Das konnte einfach nicht wahr sein.

Ihre Tante und deren neuer Ehemann mussten unten beim Wirt sein, die Rechnung begleichen. Ja, genau! Sie konnten sie nicht im Stich gelassen haben. Absolut unmöglich.

Mit flatterndem Puls rannte sie die Treppe hinab.

2. KAPITEL

Wir führen ein anständiges Haus“, sagte die Wirtin und musterte Gregory giftig.

„Wirklich?“ Wenn das hier als anständig durchging, mochte er sich nicht vorstellen, was für sie nicht anständig war. Innerlich schüttelte er den Kopf über sich selbst. Warum fiel ihm nicht das Gegenteil von „anständig“ ein?

„Also wären wir dankbar, wenn Sie zahlten und abreisten.“

„Ich hatte noch kein Frühstück.“

„Und dabei bleibt es. Wir bieten unseren Gästen nur ungern solche Szenen, wie Sie sie heute Morgen verursachten.“

„Ich habe keine Szenen verursacht.“

Warum stritt er sich mit der Frau herum? Das entsprach gar nicht seiner Art. Die Leute taten, was er ihnen sagte, oder bekamen sein Missvergnügen zu spüren.

„Na, da habe ich von meinem Albert aber anderes gehört“, sagte die Wirtin. „Dass nämlich die Gäste sich beschwerten, weil sie durch zeternde Frauen geweckt wurden und nackte Mädchen in Zimmern waren, wo sie nicht hingehören, und …“

Mit einer herrischen Geste gebot er ihr zu schweigen. Also gut, räumte er innerlich ein, es hatte eine Szene gegeben, in die er verwickelt gewesen war. Wenn er es sich recht überlegte – wollte er wirklich hier frühstücken? Nach dem letzten Mahl hier war er in einen Zustand so tiefen Vergessens gesunken, dass anscheinend ein paar Schurken an ihm eine … eine Schurkischkeit begehen konnten.

Da war es wieder! Ihm fehlten die richtigen Worte! Es war, als hätte ihm jemand ein großes Stück seines Gehirns gestohlen. Als er aufgewacht war, hatte er seinen Zustand den Folgen eines grandiosen Besäufnisses zugeschrieben. Da er Derartiges aber verabscheute, hatte er bisher nur selten dem Alkohol heftig zugesprochen. Und das auch nur während seiner noch unbedarften Jünglingszeit.

Und die Wirtin stand immer noch da und beäugte, die Hände in die Hüften gestemmt, grimmig sein Zimmer, als ob sie erwartete, das nackte Mädchen zu sehen, das er hinausgeworfen hatte, sobald es bekleidet war. Das klang gemein. Als ob er es nur so lange geduldet hätte, wie es nackt gewesen war. Natürlich meinte er, er hätte es nicht hinausgeworfen, ehe es nicht angezogen war. Alles andere wäre ungehörig gewesen.

Während er sich noch wunderte, warum seine Gedanken derart in Unordnung waren, obwohl er doch üblicherweise in Sekundenschnelle prägnante Entscheidungen zu treffen in der Lage war, kniff die Wirtin die Augen zusammen und ihre Nasenflügel bebten empört. Er folgte ihrem starren Blick und entdeckte einen Strumpf. Einen Damenstrumpf. Über den Spiegel des Waschtischs geworfen, was jeden denken lassen musste, dass er während einer feurigen Entkleidungsszene dort gelandet sein müsse.

Steifen Schrittes ging er hin, riss das Teil herunter und stopfte es in seine Tasche. Irgendwie fühlte er sich … betrogen. Wenn er dem Mädchen tatsächlich die Kleider in solch glühender Leidenschaft vom Körper gezerrt hatte, dass ihre Strümpfe quer durchs Zimmer geflogen waren, sollte er sich wenigstens daran erinnern können. Und daran, derart zügellos gewesen zu sein, dass er auch seine eigenen Kleider ringsum verstreut hatte.

Er schüttelte sich bei dem Gedanken, dass sein Hemd die ganze Nacht am Boden gelegen hatte. Einem Boden, der nicht allzu sauber war.

„Ich komme sofort hinunter. Ich reise ab“, sagte er kurz entschlossen.

Die Wirtin sah ihn mit Basiliskenblick an, dann stieg sie ostentativ über das Schnürmieder, das am Boden bei der Tür lag, und entfernte sich.

Er ging zur Tür, knallte sie zu. Hob das Stück Damenunterwäsche auf und starrte es wütend an. Fragte sich kurz, warum es ihm so widerstrebte, es da unten liegen zu lassen.

Weil ich nicht will, dass nach meiner Abreise auch nur eine Spur von mir oder dem hier Geschehenen zurückbleibt. Weswegen er das Ding dann auch in seinen eher mager bestückten Mantelsack stopfte. Er sammelte seine Toilettenartikel vom Waschtisch und ließ sie dem Schnürleibchen folgen.

Es würde wohl kaum jemand in sein Gepäck schauen, bis er wieder dahin zurückgekehrt war, wo er hingehörte. Was er so bald wie möglich tun würde.

Da er keinen Wert darauf legte, vom Wirt bedient zu werden, zahlte er seine Rechnung am Tresen. Je schneller er hier fertig war, desto besser. Er brauchte frische Luft!

Anstatt jemanden zu rufen, der sein Gig vorfahren würde, beschloss er, es selbst zu holen. Weil hinten im Stallhof zwangsläufig eine Pumpe sein würde, unter die er den Kopf stecken konnte. Er brauchte wirklich etwas, um seinen Kopf zu klären.

Auf der Schwelle hielt er jäh inne, da die Frühlingssonne ihn schmerzhaft blendete. Sie kam ihm nach dem dämmrigen Schankraum unglaublich hell vor.

Als er sich an das Tageslicht gewöhnt hatte, entdeckte er tatsächlich eine Pumpe. Und daneben zwei Personen. Eine war der Stallknecht des Gasthofs. Die andere das Mädchen. Das Mädchen von der Nacht – oder eher, von heute Morgen. Was in der Nacht passiert war, mochte der Himmel wissen.

Die Kleine tastete sich rückwärts um die Pumpe herum, während der schmierige Stallknecht sie lüsternen Blickes bedrängte.

Gregory runzelte die Stirn. Wenn sie hier in diesem Gasthaus ihrem Beruf nachging, würde sie gewiss einer solchen Annäherung weder ausweichen noch angstvoll dreinschauen. Sie sollte mit lockendem Lächeln versuchen, dem Stallknecht möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen.

Wenn er es nun recht bedachte – eigentlich hätte sie im Bett auch nicht ihre Brust mit den Laken bedecken dürfen oder sich so überstürzt ankleiden oder geradezu verzweifelt zur Tür stürzen, um ihm zu entkommen.

„He! Du da! Bursche!“

Unwillig blieb der Mann stehen. Als er in Gregory einen Gast erkannte, schob er seinen speckigen Hut mit einem schmutzigen Zeigefinger auf den Hinterkopf und schlurfte herbei.

„Lass das Mädchen“, hörte Gregory sich sagen. Wo er doch hatte sagen wollen: Schirr mein Pferd an.

Der Knecht schaute nachgerade höhnisch. „Haben wohl selbst ein Auge drauf, was?“

Das Mädchen blickte hektisch umher, als suchte es eine Möglichkeit zur Flucht. Doch aus dem Hof hinaus gelangte man nur durch einen Torbogen, und der Weg dorthin führte nur an ihm, Gregory, und an dem lüsternen Knecht vorbei.

„Das soll dich nicht interessieren“, antwortete er. „Ich will mein Gig, und zwar plötzlich!“

Der Mann grunzte, offensichtlich fiel ihm wieder ein, dass er hier arbeitete. Als er an dem Mädchen vorbei in den Stall ging, warf er ihm einen Blick zu, der es erschaudern ließ.

Gregory schaute zurück zu dem Mädchen. Sie drückte sich an die Wand, als wollte sie im Mauerwerk versinken.

Das war widersinnig. Nun, dieser ganze Morgen war widersinnig. Aber wie das Mädchen sich verhielt, war besonders verwirrend.

Das gefiel ihm alles nicht. Es gefiel ihm nie, nicht Herr der Lage zu sein. Er stolperte nicht gern im Dunkeln herum.

Hatte er nicht einfach von hier verschwinden und zur Normalität zurückkehren wollen? Aber das Rätsel um dieses Mädchen und wieso sie in seinem Bett gewesen war, wenn sie keine käufliche Dirne war, plagte ihn.

Er würde erst Ruhe finden, wenn er wusste, was sich wirklich in der Nacht zugetragen hatte. Er suchte Antworten. Und die hatte vermutlich das Mädchen.

Er näherte sich ihr. Als sie es sah, riss sie furchtsam die Augen auf und drückte sich noch enger an die Wand. Er nahm an, sie fürchtete die Konsequenzen irgendeiner … Betrügerei, die sie gestern Nacht zu begehen versucht hatte. Und mit Recht. Wenn sie versucht hatte zu verüben, was immer zu verüben sie vorgehabt hatte, na, dann hatte sie sich den falschen Mann ausgesucht.

Knapp einen Fuß vor ihr blieb er stehen. Wie würde er sie am ehesten dazu bringen, die Loyalität ihren Komplizen gegenüber aufzugeben? Er musste glaubwürdig wirken, nur dann würde sie ihm seine Fragen beantworten. Nämlich, wie zum Teufel es ihnen gelungen war, seine Verkleidung zu durchschauen, und was wohl ihr nächster Schritt wäre.

Er wusste, wie er vorgehen musste, als der Knecht das Pferd samt Gig aus dem Stall führte und die Leinen an einem Metallring in der Wand befestigte, wobei er das Mädchen triumphierend angrinste. Sein Blick sagte, wenn sie bisher keine Hure war, würde sie es heute Abend sein. Willig oder auch nicht willig.

Aus tiefstem Herzen widerstrebte Gregory die Vorstellung, irgendeine Frau einem solchen Schicksal zu überlassen, gleichgültig, was sie ihm vielleicht hatte antun wollen.

Außerdem musste er an seinen Ruf denken. Irgendwie musste die zeternde Frau herausbekommen haben, wer er war.

Oder hatte einen Hinweis erhalten.

Ah, ja, das würde alles erklären. Sogar, warum das Mädchen so verwirrt und gehetzt dreinschaute. Es sähe Hugo so ähnlich, in einen seiner wilden Streiche eine arglose dritte Partei zu verwickeln und die dann die Folgen ausbaden zu lassen.

Und das Teuflische war: Hugo wusste genau, dass er, Gregory, sein Äußerstes tun würde, alles zu vertuschen. Dass er den Namen der Familie nie beschmutzen lassen würde.

„Wenn ich erst das Gig aus dem Hof gelenkt habe“, sagte er nachdrücklich zu dem zitternden Mädchen, „sind Sie diesem Mann ausgeliefert.“

Ihr Blick huschte wild zwischen dem Wagen und dem Knecht hin und her, der auf sie zukam. Erst als sie ihn, Gregory, anschaute, fuhr er fort: „Sie kämen besser mit mir. Ich passe auf Sie auf.“

Sie machte nicht den Eindruck, als glaubte sie ihm. Ihm eine Lüge zu unterstellen war ebenso beleidigend, als hätte sie ihn angespuckt.

Er richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und erklärte: „Ich gebe Ihnen mein Wort.“

Etwas an seinem Auftreten – vielleicht aber auch nur, dass der Knecht näher kam – musste sie wohl überzeugt haben, denn sie nickte heftig, flitzte an ihm vorbei und kletterte hastig hinauf in das Gig.

Der Knecht schnitt eine Grimasse und spuckte tatsächlich aus, als sie an ihm vorbeifuhren und in die sogenannte Hauptstraße dieses schäbigen kleinen Nests einbogen.

Kaum dass Gregory den Fahrersitz eingenommen hatte, schlang sich das Mädchen wie zum Schutz die Arme um den Leib. Was ihn so zornig machte, dass er erst einmal keine Lust hatte, ihr zu beteuern, sie sei nun bei ihm in Sicherheit. Wie unverschämt, auch nur anzudeuten, dass er ein Lügner sei!

Obwohl, fairerweise musste er zugeben, dass er in den letzten paar Tagen wirklich mit der Wahrheit ein klein wenig gegeizt hatte.

Doch nie, unter keinen Umständen würde er einer hilflosen Frau etwas antun. Und einer unhilflosen Frau auch nicht. Hölle, schon wieder versagte sein Vokabular. Das Wort unhilflos gab es ja wohl nicht.

Da ihm ein Bauernkarren entgegenkam, ließ er von weiteren fruchtlosen Wortfindungsversuchen ab und konzentrierte sich ganz darauf, auf dem schmalen Fahrweg sein Gefährt an dem Karren vorbeizumanövrieren. Besonders, weil sich das vor sein Gig gespannte Pferd von dem des Bauern gestört zu fühlen schien. Um zu verhindern, dass seine missgelaunte Mähre das sanfte, etwas dümmliche Tier biss, hatte er alle Hände voll zu tun und den Kopf für sonst nichts frei.

Erst nachdem er schon eine geraume Strecke zurückgelegt hatte, beschloss er, abermals mit dem Mädchen zu reden.

Und fand, dass er sich darauf freute, sie sprechen zu hören. Nur ein Wort war ihr bisher über die Lippen gekommen, und das mit irgendwie rauchiger Stimme. Wie eine samtene Liebkosung.

Samtene Liebkosung? Guter Gott, was war mit ihm los, dass ihm so verschrobene Begriffe in den Sinn kamen?

Überhaupt würde er sie nicht zum Reden bringen müssen. Nach seiner Erfahrung schwiegen Frauen nie lange. Nicht so lange wie die hier jedenfalls. Außer sie heckten etwas aus. Er sah sie prüfend an. Immer noch umschlang sie ihre eigene Taille, hatte die Hände unter die Achselhöhlen geschoben. Plötzlich dämmerte ihm, dass sie nicht mehr nur abwehrend wirkte. Sie sah aus, als wäre ihr kalt.

Natürlich! Sie trug keinen Mantel, keine Haube. Ihr rostfarbenes Kleid war aus feiner englischer Wolle, doch ein Blick auf ihre Füße zeigte ihm nur bloße Haut zwischen Schuhen und Rocksaum. Zwar schien die Sonne, trotzdem würde es so früh im Jahr erst um die Mittagszeit richtig warm werden. Wenn überhaupt. Sie brauchte etwas zum Überziehen. Aber sie hatte ja kein Gepäck.

Angestrengt grübelte er darüber nach, was er für sie tun könnte. Ihr den einzelnen Strumpf aus seiner Rocktasche anzubieten war ziemlich nutzlos. Sie brauchte mehr als einen Strumpf. Was sie brauchte, war ein Mantel.

Er könnte ihr seinen leihen. Aber nein, darin würde sie versinken. Selbst sein Reitrock würde ihr vermutlich bis zu den Knien reichen. Obwohl das eigentlich gar nicht so schlecht wäre.

Er sah sich auf dem schmalen Fahrweg nach einer Stelle zum Anhalten um und entdeckte bald schon ein offenes Gatter, hinter dem ein Feld lag. Also lenkte er das Gig in die Lücke, zog seine Handschuhe aus und knöpfte rasch seinen Mantel auf.

Gerade als er sich, den linken Arm schon aus dem Ärmel, vorbeugte, um auch den rechten zu befreien, stieß ihn das Mädchen kräftig in die Seite. Er verlor das Gleichgewicht, plumpste aus dem Sitz und landete zwischen Gig und Gatterpfosten.

Verflucht, wieso hatte er das nicht kommen sehen? Frauen waren nie so wehrlos, wie sie aussahen. Offensichtlich wollte sie Pferd samt Wagen stehlen, sobald er nicht mehr auf der Hut war.

Und warum hatte er nicht besser aufgepasst? Ein bisschen Gezittere, eine Mitleid erregende Haltung, und prompt war ihm entfallen, wie sie sich begegnet waren. Er hatte nur noch an eins gedacht – sie zu beschützen. So wie er sie vor jenem abstoßenden Stallknecht hatte beschützen wollen.

Na, nicht noch mal! Von Wut erfasst schoss er in die Höhe. Er mochte ja diese missgelaunte Mähre vor dem klapprigen Gig verachten, und normalerweise ließ er dergleichen nicht in seine Ställe, geschweige denn damit auf öffentlicher Straße herumzufahren, doch momentan war es das einzig verfügbare Gefährt. Und das würde er nicht so einer Handvoll Mädel überlassen! Er würde auf den Fahrersitz springen und ihr die Zügel entreißen. Und dann …

Nichts. Denn sie saß gar nicht dort oben. Im Gegenteil, während er sich noch aufrappelte, war sie hinausgesprungen und rannte nun, so schnell sie konnte, den Weg zurück.

Ihr Komplize musste sich noch in dem Ort befinden. Zum Henker auch, warum war ihm der Gedanke nicht gekommen? Vermutlich hatte sie vor dem Stall herumgelungert, weil sie auf ihn wartete.

Ha, es würde ihr nicht gelingen! Es reichte ihm. Er würde sich nicht länger für dumm verkaufen lassen und ritterlich und voller Mitgefühl sein und was sonst noch. Er würde sie zurückholen und die Wahrheit, wenn es sein musste, auch aus ihr herausschütteln. Denn nur wenn er die Wahrheit aufdeckte, hatte er eine Chance, wieder die Oberhand zu gewinnen.

Prudence rannte, so schnell ihre Füße sie trugen, obwohl ihre Schuhe grässlich scheuerten und ihre Beine immer noch ganz wackelig waren.

Trotzdem war sie nicht schnell genug. Sie hörte seine eiligen Schritte, näher und näher kamen sie.

Wie konnte sie ihn nur aufhalten? Sie stolperte und wäre auf dem unebenen Boden beinahe gefallen, denn der Weg war mit Steinbrocken übersät, die sich wohl aus dem die Straße säumenden Mäuerchen gelöst hatten.

Rasch hob sie einen Stein auf. Wandte sich um zu dem großen, wütenden Mann, der sie … sie wusste nicht, was er ihr antun würde, wenn er sie erwischte, doch seine Miene sprach Bände.

Von einer Art rasender Verzweiflung gepackt schleuderte sie den Stein auf ihn.

Zu ihrer Überraschung – und zu seiner – traf sie ihn an der Stirn.

Er fiel um wie … nun, wie ein Stein. Prudence blieb wie gelähmt stehen. Sah entsetzt das Blut, das ihm übers Gesicht rann.

Seine schlaffen Gliedmaßen. Seine absolute Reglosigkeit.

Was hatte sie getan? Sie hatte ihm doch nur zeigen wollen, dass sie es ernst meinte. Dass sie ihn aufhalten wollte.

Und jetzt hatte sie … sie hatte ihn umgebracht!

3. KAPITEL

Sie lief zu ihm und sank neben ihm auf die Knie. Der Mann lang hingestreckt im Staub, Blut in Haar und Gesicht. Sie konnte nicht glauben, dass sie ihn einfach so niedergestreckt hatte. Mit einem kleinen Stein. Also gut, mit einem mittleren Steinbrocken. Er war ein so großer Mann. So voller Kraft und Energie. Es erschien ihr unnatürlich, ihn so still liegen zu sehen.

Und dann stöhnte er. Nie im Leben war ein so willkommener Laut an ihr Ohr gedrungen.

„Ach, Gott sei Dank, Sie sind nicht tot“, schluchzte sie fast.

Er schlug die Augen auf und schleuderte ihr einen kalten, ungläubigen Blick entgegen.

„Was ich nicht Ihnen zu verdanken habe“, grollte er, hob eine Hand an die Wunde und zuckte zusammen. Betrachtete dann seine Finger, als brauchte er den sichtbaren Beweis, dass er wirklich blutete.

Sie tastete in ihrer Kleidertasche nach einem Taschentuch, um das Blut zu stillen. Nichts. Aber ihr Hemd war aus feinstem Leinen, das würde auch genügen. Also ergriff sie den Rocksaum und begann, an dem dünnen Hemdstoff zu zerren.

„Was“, fragte der Mann argwöhnisch – was nicht verwunderte, da sie ihn beinahe umgebracht hätte, „tun Sie da?“

„Einen Streifen von meinem Hemd abreißen“, antwortete sie, ohne in ihrer Bemühung nachzulassen.

„Warum?“ Jetzt schaute er nicht nur argwöhnisch, sondern auch verdutzt.

„Für die Wunde an Ihrer Stirn.“

„Die Sie mir zugefügt haben?“

„Genau.“

„Möchten Sie nicht lieber noch einen Stein suchen und beenden, was Sie begonnen haben?“, fragte er recht milde.

„Nein! Aber nein! Ich wollte Ihnen nicht wehtun. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so gut zielen kann. Eigentlich …“ Sie ließ sich auf die Fersen sinken. „Habe ich auch nicht gut gezielt. Weil ich gar nicht Ihren Kopf anvisiert habe. Ich habe einfach nur vage in Ihre Richtung geworfen, weil ich klarmachen wollte, dass Sie mich in Ruhe lassen sollen.“

„Warum?“

Während sie noch erklärte, hatte er in seinen Taschen gekramt und zog ein großes blütenweißes Schnupftuch hervor, das er ihr mit grandioser Geste reichte.

„Danke“, sagte sie, nahm es entgegen und drückte es auf die Wunde. „Was meinen Sie mit warum?“

„Warum sind Sie weggerannt? Warum haben Sie nicht einfach das Gig gestohlen? Oder können Sie keinen Wagen lenken?“

„Doch, das kann ich, natürlich. Aber das würde mir nie einfallen. Ich stehle nicht!“

Er zog eine Braue hoch, als glaubte er ihr nicht. „Sie stehlen nicht? Habe ich ein Glück.“

Mit einer Hand umfing sie seinen Hinterkopf, damit er stillhielt, während sie das Tuch fest auf die Stirnwunde drückte. „Natürlich haben Sie Glück! Ich hätte Sie auch hier liegen lassen können, sodass die nächstbeste Diebesbande Sie erledigen könnte!“

„Na, das wäre mir vernünftiger erschienen als das hier.“ Er wies vage auf seine Stirn.

Vermutlich meinte er den Steinwurf.

„Sie hatten überhaupt keinen Grund wegzulaufen“, meinte er ein wenig beleidigt. „Ich hatte Ihnen gesagt, dass ich Ihnen nichts tue. Aber …“ Nun sah er sie misstrauisch unter gesenkten Brauen an. „… ich nehme an, Sie wollten unbedingt zurück in den Ort, um Ihren Lohn einzustreichen.“

„Lohn?“ Sie nahm das Tuch fort und sah erleichtert, dass die Wunde nicht mehr blutete. „Was meinen Sie damit?“

„Spielen Sie nicht die Unschuldige! Hugo hat Sie angestiftet, nicht wahr?“

„Hugo? Ich kenne keinen Hugo!“

„Sehr wahrscheinlich! Warum sind Sie denn weggelaufen, wenn nicht, um sich im Ort Ihre Belohnung abzuholen?“

„Sie haben mich erschreckt“, gestand sie. „Als Sie begannen, sich auszuziehen.“

„Ausziehen? Ich habe mich nicht ausgezogen.“ Er runzelte die Stirn. „Sicher, ich habe den Mantel ausgezogen, aber nur, weil ich Ihnen meinen Reitrock leihen wollte. Sie schienen zu frieren.“

„Ihren … Ihren Reitrock?“ Sie sank zurück. Das Schnupftuch rutschte ihm von der Stirn und fiel zu Boden, wo er immer noch lag und sie böse anfunkelte. „Weil Sie dachten, ich friere? Aber … aber …“

Entsetzt presste sie die Hände auf den Mund. So betrachtet sah das alles ganz anders aus.

„Es tut mir so leid. Ich dachte … ich dachte …“

„Ja“, knurrte er, „ich sehe schon, was Sie dachten!“

Mit einem Mal ärgerte es sie, dass er es schaffte, sie von oben herab anzuschauen, obwohl er platt am Boden lag und sie ein Stück über ihm aufragte. „Also“, sagte sie scharf, „was hätten Sie wohl gedacht? Ich erwache nackt in einem fremden Bett, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen bin. Tante Charity schreit mich an, Sie laufen, genauso nackt, in dem Zimmer herum und schreien mich ebenfalls an. Dann gehe ich in mein Zimmer, und es ist leer, und Tante Charity ist weg, mitsamt all meinen Sachen, und die Wirtin beschimpft mich und wirft mich hinaus, und im Stallhof kommt dieser Mann … dieser …“ Sie schauderte.

„Aber ich sagte Ihnen doch“, tadelte er, nahm das Taschentuch auf und drückte es wieder auf die Verletzung, „dass ich auf Sie aufpassen würde!“

„Das glaubte ich Ihnen natürlich nicht. Ich bin kein Dummkopf. Ich ging nur mit Ihnen, weil ich so verzweifelt von diesem garstigen, schmutzigen Stallknecht fort wollte. Und weil Sie wenigstens keine … verliebten Absichten zu haben schienen. Selbst heute Morgen, als wir aufwachten, kam es mir nicht so vor. Sie waren nur wütend. Daher dachte ich, das zumindest würden Sie mir ersparen. Nur fuhren Sie dann mit mir praktisch in irgendeine gottverlassene Ecke und begannen sich auszuziehen. Was sollte ich denn da denken? Es ist alles ein einziger grässlicher Albtraum.“ Ihre Unterlippe begann zu beben. „Das erscheint mir alles so unwirklich.“ In ihren Augen brannten Tränen.

„Ja“, meinte er langsam. „Das alles erscheint so unwirklich.“

Und dann setzte er sich auf.

Unwillkürlich wollte sie zurückweichen. Doch wie feige würde das aussehen! Also zwang sie sich, ganz stillzuhalten und ihm direkt in die Augen zu sehen, als er forschend ihren Blick suchte.

„Ihre Augen sehen merkwürdig aus.“ Er umfing ihr Kinn mit der Hand. „Ich habe noch nie jemanden mit so winzigen Pupillen gesehen.“

Für einen so großen, kräftigen Mann waren seine Hände bemerkenswert sanft. Besonders da er guten Grund hatte, wegen dieses Steinwurfs böse auf sie zu sein. Wo sie ihn noch dazu getroffen hatte.

„Meine Augen sind auch so komisch schwer.“ Ihre Stimme schwankte ein wenig. Seine Finger an ihrem Kinn … auch das gab ihr ein seltsames Gefühl. Insofern seltsam, als sie gedacht hätte, nach allem, was zwischen ihnen bisher geschehen war, würde sie vor ihm zurückschrecken. Aber nein, nicht im Geringsten. Denn aus irgendeinem absonderlichen Grund empfand sie die Berührung als angenehm. Tröstend.

Was widersinnig war.

„Mein Kopf ist wie verstopft. Nichts ergibt einen Sinn.“ Behutsam schüttelte sie den Kopf in dem vergeblichen Versuch, endlich wieder klar denken zu können. Wodurch seine Finger sich von ihrem Kinn lösten. Was schade war.

Nein, war es nicht! Sie wollte seine Hand nicht nehmen und an ihre Wange legen, um sich in seine Handfläche zu schmiegen. Überhaupt nicht.

„Genauso geht es mir auch“, sagte er rau.

„Tatsächlich?“ Das fand sie unwahrscheinlich, aber nun, alles an diesem Morgen kam ihr wie in einem Traum – einem Albtraum – vor.

„Ja. Seitdem ich aufgewacht bin, musste ich ständig nach Wörtern suchen.“

Wörter. Er redete über Wörter. Anstatt wieder ihr Gesicht zu umfangen.

„Sie liegen mir auf der Zunge und sind dann wie weggeweht.“

„Weggeweht sind meine Tante und mein Onkel“, sagte sie verbittert. „Buchstäblich. Und meine Beine fühlen sich an, als wären sie noch nicht richtig wach.“

„Und Sie haben wirklich noch nie von jemandem namens Hugo gehört?“

Während sie den Kopf schüttelte, knurrte ihr Magen plötzlich. Knurrte laut.

Er betrachtete sie, die Lippen leicht gekräuselt, was verdächtig wie ein beginnendes Lächeln aussah.

„Oh, wie unfein!“ Rasch schlang sie wieder die Arme um ihre Mitte.

„Das klingt so hungrig, wie ich mich fühle“, sagte er. „Ich hatte kein Frühstück.“

„Ich auch nicht, aber bis mein Magen geknurrt hat, habe ich nicht an Essen gedacht“, stellte sie unversehens fest. „Ich habe solchen Durst.“

„Ich auch. Und mein Kopf ist wie vernebelt. Und es ist, als wollten meine Glieder mir nicht richtig gehorchen. Generell gelte ich als guter Fahrer, aber im Augenblick fällt es mir echt schwer, mit diesem Gaul da vor dem Gig zurechtzukommen. Aber vor allem …“ Er atmete tief ein, als wäre er gerade zu einem Entschluss gelangt. „… ich habe nicht die mindeste Erinnerung an gestern Abend. Also, was nach dem Essen geschah. Und Sie?“

Sie überlegte kurz. Bisher war der Tag so absonderlich verlaufen, dass sie einfach nur versucht hatte, irgendwie über die Runden zu kommen. Und das war schwer genug gewesen, auch ohne sich mit dem vorherigen Abend auseinanderzusetzen.

„Direkt nach dem Dinner suchte ich mein Zimmer auf“, sagte sie langsam. „Ich erinnere mich, dass ich mit meiner abendlichen Toilette begann und Tante Charity mir heiße Milch brachte. Damit ich besser schlafen könnte, sagte sie …“

Ihr wurde plötzlich ganz kalt.

„Danach …“, fuhr sie fort, während ein grässlicher Verdacht in ihr aufstieg, „… weiß ich nichts mehr, bis ich heute morgen neben Ihnen aufwachte.“

„Dann scheint klar zu sein, was geschah.“ Er stand auf und streckte ihr eine Hand hin. „Sie betäubte sie mit irgendetwas, das sie in die Milch getan hat, und trug Sie in mein Zimmer.“

„Nein! Nein!“ Sie schüttelte den Kopf, während sie sich auf die Füße ziehen ließ. „Warum sollte sie etwas so Abscheuliches tun?“

„Ich frage mich, ob sie Hugo kennt“, überlegte er laut. Dann sah er sie streng an. „Denn wenn Hugo nicht hinter all dem steckt … müssen wir eine andere Erklärung finden. Denken Sie unterwegs mal gründlich darüber nach.“

„Unterwegs wohin?“

Nachdem er ihr aufgeholfen hatte, behielt er ihre Hand fest in der seinen, und sie sträubte sich nicht dagegen. Als er daher zurück zum Gig ging, trottete sie brav neben ihm her.

„Nach Tadburne.“ Er half ihr auf den Wagen. „Da werden wir in einem respektablen Gasthaus etwas essen, in einem Privatsalon, damit wir über alles reden und Pläne schmieden können.“

Dass es etwas zu essen geben sollte, hörte sie gerne. Auch, dass sie Pläne fassen wollten. Aber nicht in einem Privatsalon. Nun, da er ihre Hand losgelassen hatte, fiel ihr wieder ein, dass er eigentlich ein völlig Fremder war. Und ein sehr wenig respektabel wirkender Fremder.

Aber hatte sie denn eine Wahl? Sie war hungrig, fror und war völlig mittellos, da ihre sämtlichen Besitztümer zusammen mit Tante Charity verschwunden waren. Selbst das wenige Taschengeld, das ihr zugeteilt wurde, hatte sie nicht mehr, denn es war in dem Geldbeutel, der in ihrem Retikül steckte. Und das wiederum hatte sie gestern Abend zur Sicherheit unter ihr Kopfkissen geschoben.

Ach, warum war sie nicht auf den Gedanken gekommen, in dem leeren Zimmer noch einmal unter dem Kopfkissen nachzuschauen! Dann hätte sie nun vielleicht ein paar Shilling, um … Ja, um was? Was würden ihr jetzt ein paar Shilling nützen?

In diesem Moment reichte er ihr seinen Reitrock, und sie bedankte sich mit aller ihr möglichen Zerknirschung und ließ ihm sich anlegen, froh, dass noch seine Körperwärme daran haftete. Es war irgendwie sonderbar, denn es fühlte sich an, als umfingen seine Arme sie erneut, so wie heute Morgen beim Aufwachen.

Zum Glück warf er ihr einen niederschmetternden Blick zu, was sie wieder zur Vernunft brachte. Dann bückte er sich und hob den Mantel auf, der ihm beim Sturz aus dem Gig aus der Hand gefallen war.

„Zu denken, dass ich mir Sorgen machte, mein Name könnte beschmutzt werden“, brummelte er, während er den Überzieher ausschüttelte. „Es gelang Ihnen, mich in die einzige Pfütze weit und breit zu schubsen.“

Sie spürte ihr Gewissen, aber nur ein bisschen. Nicht nur färbte sich sein geschwollenes Auge violett, sondern nun hatte er auch noch eine Wunde auf der Stirn, Blutflecken auf seinem Krawattentuch und einen feuchten Schlammstreifen auf seinem Mantel.

Als er wieder auf den Sitz kletterte, machte sie sich auf eine Flut von Vorwürfen gefasst, doch er löste nur die Bremse, nahm die Leinen auf und trieb das Pferd an.

Er schaute entschieden missmutig drein, doch er ließ seine schlechte Laune – die sie voraussetzte – nicht an ihr aus. Jeder Mann, der eben gerade unanständiger Vorhaben beschuldigt worden war, während es ihm nur um das Wohlergehen einer Dame ging, und dann zu dem sowieso schon schmerzenden blauen Auge noch eine Platzwunde erlitten hatte, musste ja missgestimmt sein.

„Es tut mir leid“, sagte sie nach einer Weile, da sie das Gefühl hatte, jemand müsste das Schweigen brechen.

„Was genau?“

Oh. Also gehörte er zu den Männern, die nicht tobten, sondern schmollten, wenn sie zornig waren.

„Dass ich den Stein nach Ihnen geworfen habe. Und Sie traf, obwohl ich normalerweise nicht mal ein Scheunentor treffe.“

„Sie haben die Angewohnheit, mit Steinen nach Scheunentoren zu werfen?“

„Natürlich nicht! Ich meinte nur … ich wollte mich entschuldigen. Müssen Sie so sein? So … so …“

„Ihnen fällt das richtige Wort nicht ein?“

„Sie brauchen nicht zu spotten!“

„Tue ich gar nicht. Es war schlicht eine Beobachtung. Ich erwähnte doch schon, dass ich heute Morgen dauernd nach Worten suche. Und genau wie auch Ihnen kommt mir das alles so unwirklich vor. Ich schätze, wenn die Wirkung der Droge, die man uns anscheinend verabreicht hat, nachlässt, werde ich viel wütender auf Sie sein. Aber im Augenblick kann ich nur an eins denken – an etwas zu trinken.“

„Eine Tasse Tee …“ Sie seufzte. „Das wäre himmlisch.“

„Einen Krug Ale …“

„Brot mit Butter.“

„Ein Steak. Mit Zwiebeln.“

„Zum Frühstück?“

„Das schmeckt immer gut.“

Sie schüttelte sich. „Ich weiß nicht … ich habe nach dem Aufwachen meistens keinen Hunger. Gewöhnlich esse ich vor Mittag nicht viel.“

„Ich lasse den Lunch meistens aus. Bin dann unterwegs, in diversen Angelegenheiten, wenn ich auf dem Land bin. Oder in der Stadt im Arbeitszimmer, mit meinem Sekretär.“

„Sie haben einen Sekretär? Was für Geschäfte betreiben Sie?“

„Unwichtig“, sagte er ziemlich abwehrend.

Ohje. Gestern Abend hatte Tante Charity angemerkt, dass er ganz die verrufene Person sei, wie man sie in einem so abgelegenen Gasthof zu erwarten habe. Dass er wahrscheinlich ein Straßenräuber sei. Oder ein Einbrecher. Obwohl – die hatten wohl kaum Sekretäre. Dennoch, dass er nicht über seine Arbeit reden wollte, erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass er ein Schurke war.

Aber kein ganz schlimmer Schurke. Ein solcher hätte ihr nicht seinen Reitrock geliehen. Hätte sie nicht vor dem Stallknecht gerettet oder angeboten, ihr ein Frühstück zu bezahlen. Nein, der wäre ungerührt davongefahren. Wenn nicht schon am Gasthof, dann spätestens, als sie mit dem Stein nach ihm geworfen hatte.

Sie rieb sich die Stirn. Er sah so schurkisch aus, und doch betrug er sich nicht so. Wohingegen ihre Tante, die bei jeder Gelegenheit ihre Frömmigkeit zur Schau stellte … Ach, heute ergab aber auch nichts einen Sinn. Überhaupt nichts.

„Mir wird gerade bewusst, dass ich nicht einmal Ihren Namen kenne“, sagte er und riss sie aus ihren Gedanken. „Wie heißen Sie?“

„Prudence Carstairs. Miss …“

„Prudence?“ Er sah sie von der Seite an und begann dann zu lachen.

„Was ist daran so lustig?“

„Aus dem Lateinischen für Vernunft? Für ein Mädchen, dem Dinge wie die heutigen zustoßen, könnte ich mir keinen unpassenderen Namen vorstellen.“ Er wischte sich eine Lachträne fort. „Warum bloß nannte man Sie Prudence? Oh!“ Jäh musterte er sie argwöhnisch. „Gehören Sie zu den Quäkern?“

„Nein, ich bin Methodistin“, erwiderte sie kriegerisch. „Meinen Großvater ereilte einst die Erleuchtung, das machte ihn sehr sittenstreng. Deshalb benannte meine Mutter mich natürlich nach einer der Tugenden.“

„Natürlich. Aber warum ausgerechnet Vernunft?“

„Weil das die einzige Tugend war, die sie anders nicht erlangen konnte“, antwortete sie unbedacht.

„Und als Sie alt genug waren, eigene Eigenschaften zu zeigen, fand sie da, es sei ihr gelungen? Ich befürchte, nein“, meinte er. „Ich glaube, Sie sind genau wie sie.“

„Bin ich nicht! Sie brannte mit einem Mann durch, den Sie erst eine Woche kannte, weil sie fürchtete, ihn nie wiederzusehen, da seine Einheit auf den Kontinent verlegt wurde. Wohingegen ich mich noch nie von einem roten Rock oder goldenen Tressen habe blenden lassen. In der Tat habe ich noch nie wegen irgendeines Mannes den Kopf verloren.“

„Wie gut!“

„Sie brauchen nicht sarkastisch zu werden!“

„Nein, nein – ich beglückwünsche Sie zu Ihrem klaren Kopf“, sagte er ernst. Doch seine Lippen zuckten verdächtig.

„Das glaube ich nicht.“

„Also verstehe ich recht?“ Er ignorierte ihren Einwurf. „Ihre Mutter lief mit einem Soldaten davon und bedauerte es so sehr, dass Sie Ihnen einen Namen gab, der sie stets an ihre jugendliche Torheit erinnern sollte?“

„Aber nichts dergleichen! Also, ja, Papa war Soldat, aber sie hat es nie bereut. Nicht einmal, als ihre Familie sie verstieß. Die beiden waren sehr glücklich miteinander.“

„Warum dann …“

„Nun, wünschen nicht alle Eltern ihren Kindern ein besseres Leben?“

„Keine Ahnung.“

Das sagte er so freudlos, dass sie einfach nicht mehr auf ihn böse sein konnte.

„Und für diese Art sinnloses Geplapper habe ich nichts übrig.“

Was? Sie hatte wohl kaum geplappert. Sie hatte nur auf seine Fragen geantwortet.

Tief atmete sie ein, um das gleich klarzustellen, doch er hob Einhalt gebietend eine Hand.

„Ich muss mich jetzt einen Moment konzentrieren“ sagte er barsch. „Zwar kenne ich mich hier vage aus, aber diesen Weg bin ich noch nie gefahren.“

Sie waren an einer Weggabelung angelangt, die in einen breiten Fahrdamm mündete.

„Ich glaube, wir müssen links abbiegen“, murmelte er. „Ja, ich bin mir beinahe sicher.“

Damit bog er aus dem holprigen Weg in die breite, sichtlich viel genutzte Straße ein.

„Wie kommt es dann“, sagte er, als sie nun in forschem Trab dahinfuhren, „dass Sie am Ende in so schlechter Gesellschaft landeten? Wenn doch Ihre Mutter so darauf bedacht war, Ihnen ein besseres Leben zu verschaffen, wie gerieten Sie dann unter die Fuchtel jener Megäre, die heute Morgen mein Zimmer stürmte?“

„Diese Megäre“, antwortete sie beißend, „ist zufällig die Schwester meiner Mutter.“

„Mein herzliches Beileid.“

„Gewöhnlich ist sie nicht so …“, begann sie hitzig, nur um sofort abzubrechen. „Eigentlich stimmt das nicht. Mit Tante Charity war nie gut Kirschen essen. Obwohl ich mich immer bemüht habe. Also zumindest am Anfang“, gestand sie. „Aber als ich schließlich erkannte, dass sie keine Sympathie für mich empfand, schien es mir nutzlos zu sein.“

„Warum sollte sie Sie nicht mögen?“

Er wirkte überrascht. Als sähe er auch nicht einen Grund, der gegen sie sprach. Hieß das, er fand sie sympathisch?

„Es war, weil Mama durchgebrannt war. Die Schande. Ich war das Ergebnis dieser Schande. Eine ständige Erinnerung daran. Besonders solange mein Vater noch lebte.“

„Er schickte Sie noch zu seinen Lebzeiten zur Familie Ihrer Mutter?“

„Nun, nicht absichtlich. Ich meine …“ Ach, warum war es so schwer, das deutlich zu erklären? Angestrengt runzelte sie die Stirn, wollte die Tatsachen logisch abspulen, ohne abzuschweifen. „Also, Mama starb. Und Papa sagte, dass die Armee für ein Kind in meinem Alter, ohne mütterlichen Schutz, nicht der richtige Ort sei. Verstehen Sie, ich war fast zwölf.“

„Und wie ich verstehe“, sagte er.

„Genau … Er ging davon aus, seine Familie würde mich aufnehmen. Aber nein. Sie waren über seine Heirat mit einem Mädchen, das ‚nach dem Kaufmannsladen roch‘, ebenso wütend, wie Großvater Biddlestone es war, weil seine Tochter mit einem Sünder weggelaufen war. Also schickten sie mich in den Norden, wo immerhin Mamas Verwandte sich für mich verantwortlich fühlte. Wenn auch unwillig. Dazu kam, dass Tante Charity derweilen Großvater ebenfalls erzürnt hatte – mit der Wahl ihres Ehemannes oder zumindest mit dessen Entwicklung. Denn trotz seiner methodistischen Überzeugung war er offensichtlich ein Abtrünniger. Er trank nämlich. Aber das ist inzwischen unwichtig.“

„Inwiefern das?“

„Er war schon lange tot, als ich nach England zurückkehrte. Ich weiß nicht, warum ich ihn überhaupt erwähnte.“

„So wenig ich glauben kann, dass ich gerade sagte ‚Inwiefern das‘?“

„Macht nichts, dass Sie so unelegant reden“, sagte sie tröstend. „Ich wusste, was Sie meinen.“

Als Antwort schnaubte er nur, was nicht sehr höflich, jedoch sehr ausdrucksvoll war.

„Wie auch immer, mein Großvater entschied, dass ich bei Tante Charity leben sollte, bis mein Vater andere Arrangements treffen könnte. Schließlich war sie eine Frau, und ich benötigte wegen meines Alters weibliche Anleitung. So sagte er. Sie erzählte mir, Großvater habe sich nicht mit der Erziehung eines Mädchens befassen wollen, das seinem Geschäft keinen Vorteil bringen würde.“

„Und warum traf ihr Vater keine anderen Arrangements?“

„Weil auch er starb. Zwei Jahre später.“

„Das ergibt für mich genauso wenig Sinn wie das, was ich zuerst dachte“, sagte er angewidert.

„Was dachten Sie denn?“

„Ach, egal“, sagte er knapp. „Wir nähern uns Tadburne. Ich muss auf den Verkehr achten. Dieses elende Vieh hier …“ Er zeigte auf das Pferd. „… will scheint’s alles beißen, was uns entgegenkommt, und ich brauche einen klaren Kopf – soweit heute Morgen möglich –, wenn wir nicht im Graben landen wollen.“

Das verstand sie. Ihr war schon aufgefallen, dass er zusehends Schwierigkeiten hatte, das Pferd zu beherrschen, weil der Verkehr stark zunahm, je näher sie der Stadt kamen.

„Allerdings sollten Sie, finde ich, über ein paar Dinge nachdenken“, empfahl er.

„Über was denn?“

„Erstens, warum sollte Ihre Tante – Ihr eigenes Fleisch und Blut – Sie betäuben, ausziehen und in mein Bett verfrachten? Und schlimmer noch, Sie in diesem Gasthof aussetzen, nachdem sie Ihnen alle Ihre Besitztümer genommen hat, sodass Sie ganz der Gnade völlig Fremder überlassen waren? Denn sehen Sie, Miss Prudence Carstairs, genau so war es, dessen bin ich mir fast sicher, da Sie ja verneinen, etwas von Hugo zu wissen – und Sie scheinen mir eine ehrliche Person zu sein.“

4. KAPITEL

Sie irren sich! Tante Charity ist ein Säule ihrer Gemeinde und geradezu unverschämt wohltätig. So etwas könnte sie nicht tun.“

Nur, fragte Prudence sich, warum kann ich mich dann an nichts mehr erinnern, nachdem ich jenen Becher Milch getrunken hatte?

Er sagte nichts.

Vermutlich aber nur deshalb, weil er gerade ein schwieriges Manöver mit dem Wagen durchführen musste, um in den Hof eines Gasthofs einzubiegen. Nicht, weil er ihr nicht zustimmte.

Aber natürlich hatte er unrecht.

Nur, wie sonst war sie ins das Bett eines Fremden geraten? Nackt! Nie im Leben wäre sie aus eigenem Antrieb in sein Zimmer gegangen, hätte ihre Kleider wild darin verstreut und wäre zu ihm ins Bett gestiegen.

Und der Mann leugnete, sie dorthin gelockt zu haben. Nun, genau genommen hatte er es nicht geleugnet. Weil ich ihn dessen nicht beschuldigt habe, überlegte sie, während er das Gig anhielt, nach einem Stallknecht rief und an ihre Seite des Wagens kam, um ihr hinabzuhelfen.

Nach seinen Worten zu urteilen, vermutete er, sie sei an einer Art Verschwörung gegen ihn beteiligt gewesen. Und auch er war sich nicht im Klaren darüber, was nach dem Dinner geschehen war. Behauptete, er könne sich ebenfalls nicht erinnern, wie sie gemeinsam in sein Bett gekommen waren.

Also meinte er, da weder sie noch er dafür verantwortlich waren, müsse jemand anders es veranlasst haben.

Was nur ihre Tante übrig ließ.

Und den Onkel.

Oder diesen Hugo, den er immer wieder erwähnte.

„Nun kommen Sie doch!“ Das klang recht ungeduldig.

Sie blinzelte und bemerkte, dass sie schon eine ganze Zeit reglos, wie in Trance, in dem betriebsamen Hof stand, während sie mit der abscheulichen Vorstellung kämpfte, die er ihr in den Kopf gesetzt hatte.

„Ich jedenfalls möchte endlich frühstücken!“ Damit drehte er sich auf dem Absatz um und schritt zum Eingang.

Das Ekel!

Wohl oder übel musste sie ihm folgen. Außerdem wollte sie ja auch frühstücken. Und hatte kein Geld.

Sie holte ihn ein, als er schon die Tür zum Schankraum erreicht hatte. Dort drängten sich eine Menge palavernder Männer, Bierkrüge in den Händen und schon leicht angetrunken. Es musste wohl Markttag sein.

„Sie bleiben hier stehen“, grollte er, dann ging er zum Tresen. „Ich will einen Privatsalon“, verlangte er von dem schwer gebauten Mann mit der fleckigen Schürze, der dahinter regierte. „Für mich und meine …“, er machte eine Geste in ihre Richtung, „…Nichte.“

Seine Nichte? Was sollte denn das?

Es wurde ihr klar, sobald sie die Miene des Wirts sah. Schlimm genug, dass sie in dem vorherigen Gasthaus als Flittchen beschimpft worden war. Wenn man sie hier für seine Nichte hielt, war das wenigstens eine annehmbare Erklärung dafür, dass sie gemeinsam reisten. Wenn auch nicht für ihrer beider Aussehen.

„Und Frühstück“, fuhr ihr „Onkel“ fort, als ließe ihn völlig ungerührt, was der Wirt über ihn denken mochte. „Steak mit Zwiebeln, Ale, Brot, Butter und Tee.“

Der stämmige Mann musterte seine zahlreiche Kundschaft, musterte sie und ihren Begleiter und zuckte die Achseln.

„Na, der Kaffeesalon ist frei, weil die Kutsche nach Birmingham grad abgefahren ist. Wenn Sie mögen, können Sie dort sitzen.“

„Der Kaffeesalon?“

Prudences schlammbespritzter, blutbefleckter Gefährte schaute pikiert. Er öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch in dem Moment schob der Wirt ihn beiseite und eilte zu einer lärmenden Gruppe Männer, die eben aufbrechen wollten. Ihr frisch erworbener „Onkel“ wirkte bei Weitem nicht erfreut darüber, behandelt zu werden, als wäre sein Wunsch nach Frühstück nebensächlich. Er musste wirklich hungrig sein. Oder auf einen Streit aus. Schließlich hatte es der Morgen bisher wirklich nicht sehr gut mit ihm gemeint.

Der Wirt machte inzwischen mit den Schreihälsen, nachdem er ihr Geld kassiert hatte, kurzen Prozess, indem er sie ins Freie drängte.

Prudences Beobachtungen wurden rüde unterbrochen. Zwei ausgelassene Männer rannten sie im Hinausgehen beinahe um, stolperten gegen sie und stießen sie gegen den Türpfosten. Genug ist genug, dachte sie, verwarf den Befehl zu bleiben, wo sie war, und huschte durch die Menge zu ihrem „Onkel“ hinüber.

„Können wir bitte in den Kaffeesalon gehen … äh … Onkel?“

Verdrießlich sah er sie an.

Energisch reckte sie das Kinn. „Ich fühle mich ein bisschen unwohl.“ Tatsächlich verursachte der überfüllte, lärmende Raum mit dem ganzen Hin und Her ihr Schwindel.

Seine Verdrießlichkeit wich Besorgnis. „Es wird Ihnen besser gehen, wenn Sie erst etwas zu sich genommen haben“, erklärte er, während er ihr hilfreich einen Arm um die Taille legte und sie in den Kaffeesalon führte. „Es tut mir nur leid, dass wir keinen Privatraum bekommen können, denn was wir zu besprechen haben, wird ziemlich …“

„Ja, sicherlich“, murmelte sie, ein wenig erschrocken, weil sie seinen stützenden Arm als so angenehm empfand, obwohl sie ihm noch vor kaum einer halben Stunde hatte entwischen wollen.

„Vielleicht sollten wir jetzt reden“, meinte sie, während er sie sanft in seinen Sessel drückte. „Ehe wieder jemand hereinkommt.“

„Wenn wir erst etwas gegessen haben, werden wir klarer denken können.“

„Woher wissen Sie das? Hat man Sie schon mal betäubt?“

Er zog eine Braue hoch und setzte sich auf den Stuhl neben sie. Dann beugte er sich vertraulich ihr zu und sagte leise: „Dass es so war, akzeptieren Sie also?“

Sie faltete ihre Hände auf dem Schoß. „Könnte es nicht nur ein Versehen gewesen sein? Dass ich vielleicht irrtümlich in Ihr Zimmer wankte?“

„Und sich die Kleider vom Leib rissen und wie wahnsinnig ringsum verstreuten, ehe Sie in mein Bett hüpften? Unwahrscheinlich. Außer Sie wären Schlafwandlerin.“

Sie errötete, als er das Szenarium, das sie sowieso schon als absolut unmöglich abgehakt hatte, beschrieb, und wehrte mit einem Kopfschütteln seine letzte Vermutung ab.

„Welche Erklärung hätten Sie denn sonst?“

„Was ist mit diesem Hugo, den Sie dauernd erwähnen?“

„Ja“, sagte er grimmig. „Ich frage mich immer noch, ob er irgendwie dahinterstecken könnte. Er hat gute Gründe, sich in die Angelegenheit einzumischen, derentwegen ich in die Gegend kam. Nur …“

Mit sorgenvoller Miene rieb er sich den Nacken. Dann schüttelte er den Kopf.

„Nur ist er kein schlechter Bursche – eigentlich nicht. Nur selbstsüchtig und gedankenlos. Dachte ich wenigstens bisher.“

„Bisher? Sie kennen ihn schon länger?“

„Seit seiner Geburt. Er ist mein Cousin. Genaugenommen mein nächster männlicher Verwandter. Seit er die Schule hinter sich hat, versuche ich, ihn all das zu lehren, was er braucht, falls er je meine Stelle einnehmen muss. Diese ganze Sache könnte er sich nicht allein ausgedacht haben. Falls er es war.“

„Aber wie hätte er meine Tante zu etwas Derartigem überreden können? Ganz zu schweigen von meinem Onkel.“

„Er könnte es so dargestellt haben, dass Ihre Tante glaubte, zu Ihrem Besten zu handeln.“

„Zu meinem Besten? Wie kann es mir zugute kommen, dass sie mich demütigt und im Stich lässt? Es hätte wer weiß was passieren können. Wenn Sie nicht die Art Mann wären, der … also, wenn Sie nicht ein … Ich meine … Auch wenn Sie nicht so aussehen … ich denke, Sie sind ein Gentleman. Sie hätten die Lage ausnutzen können. Was Sie nicht taten. Außer … Oh! Sind Sie verheiratet?“

„Nein. Nicht mehr.“

„Das tut mir so leid. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“

„Keine Sorge.“ Er verzog das Gesicht. „Meine Frau ist seit acht Jahren tot.“

„Ah, gut. Also … nicht, dass sie tot ist, sondern dass es lange genug her ist, um den schlimmsten Kummer überwunden zu haben. Aber eigentlich meinte ich, dass Sie nicht zu den Männern gehören, die das Ehegelübde brechen. Ich weiß, selbst Männer, denen man es gar nicht ansieht, können dauernd untreu sein …“

Sein Blick wurde so eisig, dass es sie kalt überlief.

„Nicht dass Sie aussähen, als gehörten Sie zu den Untreuen“, verbesserte sie sich hastig. „Oder zu den … Aber überhaupt, Sie waren verheiratet, also … Das heißt …“

Sie spürte, wie ihre Wangen ganz heiß wurden, je länger sie herumstammelte. Aber zu ihrer Erleichterung taute sein Blick plötzlich auf.

„Ich glaube, ich höre da ein Kompliment heraus.“ Er lächelte schief.

„Gott sei Dank! Also, natürlich wollte ich Ihnen keine Komplimente machen, aber …“

Er hob eine Hand. „Hier brechen Sie besser ab, ehe Sie noch mehr Peinlichkeiten von sich geben. Also zurück zu dem fraglichen Punkt. Vielleicht wollte Ihre Tante Sie in eine kompromittierende Situation bringen, um eine vorteilhafte Verbindung für Sie zu arrangieren.“

„Eine vorteilhafte Verbindung? Sind Sie verrückt?“ Sie musterte seinen verschmutzten Mantel, das blaue Auge, seine zerschrammten Fingerknöchel.

Er fuhr auf.

Um seinen Ärger zu dämpfen, weil sie unterstellt hatte, um jemanden wie ihn als Ehemann ins Auge zu fassen, müsse man verrückt sein, ergänzte sie hastig: „Obwohl sie seit Kurzem sehr verdrossen war, dass ich nicht heiraten wollte. Denn sie wünschte, dass ein gewisser Verwandter ihres Ehemannes meine Erbschaft erhält.“

„Ihre Erbschaft?“

Ohje. Das hätte ihr nicht herausrutschen dürfen. Bisher hatte er sich sehr gut betragen, unter den gegebenen Umständen. Doch wenn er erst wusste, wie viel Geld sie erben würde, wenn sie eine gute Verbindung einging, musste das zwangsläufig seine übelste Seite zum Vorschein bringen. Er war Witwer, wie er sagte. Und welche Art Geschäfte er auch betrieb, sich eine reiche Gattin zu sichern konnte nie schaden.

Warum hatte sie nicht den Mund gehalten? Warum überhaupt plapperte sie auf seine Fragen alles aus?

„Sie glauben nicht, dass Ihre Tante Sie aus einem bestimmten Grund unter allen ledigen Männern, die gestern Nacht in jenem Gasthof waren, ausgerechnet in mein Bett verfrachtet hat? Oder dass sie diesen speziellen Gasthof wählte, weil sie wusste, dass ich dort sein würde?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, sagte sie nach einem Moment fruchtlosen Überlegens. „Wir hielten da nur, weil eins der Pferde lahmte. Eigentlich sollten wir bis Mexworth kommen. Onkel Murgatroyd kochte, als sich herausstellte, dass wir nicht weiterfahren konnten. Und Tante Charity meinte, das Gasthaus sei ein elendes Loch und sie werde keinen Fuß hineinsetzen. Mitten auf der Straße zankte sie sich lauthals mit dem Postkutscher herum …“

„Ich kann’s mir lebhaft vorstellen“, warf er trocken ein.

„Es war also reiner Zufall, dass wir im selben Gasthof wie Sie landeten. Und ich bin mir sicher, meine Tante plante nicht, Sie zu einer Ehe mit mir zu überlisten. Sie machte beim Abendessen ein paar sehr abfällige Bemerkungen über Sie, sagte, Sie seien genau die Sorte Grobian, die sie in einer miesen kleinen Schenke wie der und in einem ganz unbekannten Kaff zu finden erwartete.“

Mit nachdenklicher Miene lehnte er sich in seinem Stuhl zurück.

„Mit wie viel Geld genau können Sie denn rechnen, wenn Sie heiraten?“

Oder war es berechnend?

Gegen ihren Willen enttäuscht senkte sie den Blick. Wenn er nun begann, ihr zu schmeicheln und … ihr den Hof zu machen, wie so viele Männer, wenn sie von ihrer Mitgift erfuhren, dann würde sie … würde sie …

So wie sie sich heute fühlte, würde sie vermutlich in Tränen ausbrechen.

Zum Glück bemerkte er es nicht, da in diesem Moment ein Hausmädchen mit den Getränken hereinkam. Er war so eifrig auf sein Ale bedacht, dass ihm wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen wäre, wenn sie einen Wutanfall bekommen hätte.

Zornig warf sie zwei Zuckerstücke in ihre Teetasse, goss einen Schuss Milch hinein und rührte wild die Blätter in der Teekanne um.

„Was wird mit dem Geld“, fragte er, nachdem er seinen Krug geleert und abgesetzt hatte, „wenn Sie nicht heiraten?“

„Mit fünfundzwanzig geht es auf jeden Fall in meine Hände über“, antwortete sie träumerisch, während sie sich Tee einschenkte. Ach, wie sie die Tage zählte, bis sie ganz allein für sich einstehen konnte.

„Und wer verwaltet es bis dahin für Sie?“

„Meine Treuhänder. Zumindest …“ Sie hielt einen Augenblick inne, da ihr noch etwas Entsetzliches einfiel. „Oh! Oh, nein!“

„Was ist denn?“

„Also, vielleicht bedeutet es ja nichts. Nur heiratete Tante Charity vergangenes Jahr erneut. Mr. Murgatroyd.“

Sie konnte nicht anders, als den Namen mit absolutem Ekel auszusprechen. Alles hatte sich verändert, seit er unter dem gleichen Dach mit ihnen wohnte. Er gehörte der Methodistengemeinde an, in die ihre Tante sie eingeführt hatte, nachdem Prudence zu ihr gekommen war. Prudence hatte ihn genauso wenig leiden können wie die anderen heuchlerischen Männer dort, die ihr das Leben so trübselig wie möglich zu machen versuchten. Erst als er mit ihrer Tante verheiratet war, hatte sie, Prudence, entdeckt, wie gemein er wirklich war.

„Er überzeugte meine Treuhänder“, fuhr sie fort, „dass es ihm gebühre, mein Geld zu verwalten, da er ja nun der Ehemann meines Vormundes sei.“

„Und die willigten ein?“

„Ehrlich gesagt war nur noch einer übrig. Sie waren schon alle älter als mein Großvater gewesen war, als er die Treuhänderschaft vergab. Und der eine übrig gebliebene war nicht … allzu … hm …“

„Geeignet?“

„Das trifft es genau.“

Mit verdutzter Miene nahm er den Krug und spähte hinein. „Ich dachte immer, Trinken verwirrt einem den Geist. Aber dieses Bier scheint meinen Verstand wiederherzustellen. Zum ersten Mal seit dem Aufwachen ist mir das richtige Wort eingefallen.“

„Schön für Sie“, sagte sie düster und nahm einen Schluck Tee. Der keinerlei restaurierende Wirkung zeigte.

„Und Ihr neuer Onkel hat nun die Verwaltung Ihres Erbes in der Hand? Bis Sie heiraten? Richtig?“

„Ja.“

Ruckartig setzte er den Krug ab. „Wann also kann ich erwarten, dass er mich aufsucht und verlangt, dass ich eine ehrbare Frau aus Ihnen mache?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hätte gedacht, schon heute Morgen, wenn überhaupt. Stattdessen verließen er und meine Tante das Gasthaus mitsamt meinem Gepäck. Genehmigen Sie sich besser einen weiteren Krug und schauen Sie, ob er Ihnen eine neue brillante Idee eingibt, Mr. …“ Sie hielt inne. „Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt.“

„Sie haben noch nicht gefragt.“

„Aber ich nannte Ihnen meinen. Darauf zu reagieren wäre nur höflich gewesen, wenn eine Dame sich vorgestellt hat.“

Er machte ein Geste, als fühlte er sich beleidigt, weil sie sein Betragen kritisierte.

„Eine Dame“, sagte er schneidend, „würde sich nie selbst vorstellen.“

„Ein Gentleman“, fauchte sie, „würde nie eine Bemerkung über den gesellschaftlichen Stand einer weiblichen Person machen. Und Sie haben mir Ihren Namen immer noch nicht genannt. Ich kann nur annehmen, dass Sie sich seiner schämen.“

Autor

Virginia Heath
Mehr erfahren
Annie Burrows
Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
Mehr erfahren