Feder, Tinte und die Liebe des Marquess

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Was für ein Skandal: Weil Felicity einen überaus erfolgreichen Schauerroman geschrieben hat, verbannt ihre Familie sie von London aufs Land! Immerhin entkommt sie so den lästigen Verkupplungsversuchen. Sie will schließlich Autorin sein und nicht Ehefrau werden. Doch im entlegenen Shropshire lernt sie Martin Howell, den faszinierenden Marquess of Woodley, kennen. Zu ihrer freudigen Überraschung findet sie heraus, dass er genauso wenig an Heirat interessiert ist wie sie. Schnell wird aus ihrer Freundschaft brennende Leidenschaft. Mit süßen Folgen – der nächste Skandal um Miss Felicity ist da!


  • Erscheinungstag 06.01.2026
  • Bandnummer 444
  • ISBN / Artikelnummer 9783751539845
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christine Merrill

Feder, Tinte und die Liebe des Marquess

1. KAPITEL

Felicity Morgan hatte nie vorgehabt, eine Schande für irgendjemanden zu werden.

Als vor fünf Jahren ihr Debüt gewesen war, hatte ihre Mutter sie vor der schwächenden Wirkung gewarnt, die Champagner und Mondlicht auf die Entschlossenheit eines Mädchens haben konnten, und Felicity hatte daraufhin beides nur in Maßen genossen. Ebenso legte sie nicht allzu viel Wert auf die Komplimente von Gentlemen – an ihr bissen sich die Schurken unter ihnen die Zähne aus.

In vielerlei Hinsicht war Felicity eine sehr vernünftige junge Frau. Aber in anderer Hinsicht hatte sie ihren Kopf stets in den Wolken.

Wenn Männer mit ihr sprachen, vermochte sie es nur selten, Interesse dafür aufzubringen, was sie zu sagen hatten. Es war keine Skepsis oder Langeweile. Es war einfach Desinteresse, als würde sie gleichzeitig einem anderen Gespräch lauschen, das spannender war als alles, was die Männer zu bieten hatten. Sie schien genauso glücklich zu sein, allein am Rand eines Ballsaales zu sitzen, wie wenn jemand um ihre Gunst warb. Sie war nicht bereit oder in der Lage, einem der Gentlemen ihre Aufmerksamkeit lange genug zu schenken, um einen Antrag zu erhalten.

An ihrem Aussehen war nichts auszusetzen. Sie hatte schöne Augen, ein süßes Lächeln und eine ansehnliche Figur. Auch ihre Kleidung entsprach stets der aktuellen Mode. Ihre Eltern gaben ihr Jahr für Jahr ein großzügiges Taschengeld, damit sie sich mit den neuesten Kreationen ausstatten konnte.

Aber die Jahre waren vergangen, ohne dass auch nur ein Gentleman um ihre Hand angehalten hätte. Ihr Vater verlor die Geduld, und ihre Mutter deutete an, dass es nicht schaden würde, wenn sie ein klitzekleines bisschen über die Stränge schlagen würde. Wenn sie nur ein bisschen auftaute und einen Hauch Flirterei zuließe, könne das den Galanen Mut machen.

Es war klar, dass sie ihr Leben als alte Jungfer beschließen würde, wenn sich nichts änderte. Ihrer Meinung nach war das keine schlechte Sache. Es war nicht so, dass sie Männer nicht mochte. Nein, vielmehr fand sie sie faszinierend, geheimnisvoll und fremdartig – aber eben nur aus sicherer Entfernung.

Und das Miteinander ihrer Eltern hatte Felicity zu der Überzeugung gelangen lassen, dass die Ehe keine Garantie für Glück war. Ihr Vater war ein anspruchsvoller Mann mit einem aufbrausenden Temperament. Ständig damit beschäftigt, ihn zu besänftigen, schien ihre Mutter mit jedem Jahr stiller und unglücklicher zu werden.

Aber viele unverheiratete Ladys in ihrem Bekanntenkreis schienen mit ihrem Los recht zufrieden zu sein. Sie hatten Freunde und Interessen und machten insgesamt einen glücklicheren Eindruck als ihre verheirateten Schwestern. Es gab keinen Grund zu glauben, dass es ihr nicht genauso ergehen würde, wenn ihre Eltern endlich die Idee aufgaben, dass sie den Konventionen entsprechen und heiraten musste.

Sie hatte bereits Pläne geschmiedet. Mit deren Umsetzung wäre ihre Zukunft geregelt und ein erfolgreiches und friedliches Leben ohne Ehemann, der über sie bestimmte, so gut wie gesichert. Wenn sie ihre Absichten nur noch ein paar Monate vor ihren Eltern hätte geheim halten können, hätte sie genug verdient, um sich eine eigene Wohnung zu nehmen und für den Rest ihres Lebens recht komfortabel leben zu können.

Aber so war es bedauerlicherweise nicht gekommen. Ihre Eltern hatten ihr Geheimnis entdeckt und hielten es für so skandalös, so entsetzlich, dass es einem Skandal gleichkam. Ihre Mutter hatte geweint, und ihr Vater hatte das Geld beschlagnahmt, das sie für die Zukunft gespart hatte. Dann verkündete er, dass sie aus seinem Haus verbannt sei. Sie dürfe nicht mehr nach London zurückkehren, bis sie wieder zur Vernunft gekommen oder bis ein geeigneter Mann gefunden sei, der sie heirate und zu der fügsamen und gehorsamen Frau forme, die zu sein er von ihr erwarte.

Dass die zweite Möglichkeit einträte, war höchst unwahrscheinlich. Sie hatten bereits festgestellt, dass niemand in der Stadt sie wollte. Jetzt schickten sie sie nach Shropshire, wo sie bei einer Freundin ihrer Großmutter, der verwitweten Schwester eines Dukes, unterkommen sollte. Felicity bezweifelte, dass die Auswahl an Ehemännern im Dorf Vicar’s Hill besonders üppig war, und es stand außerdem zu befürchten, dass ihr Ruf ihr vorausgeeilt war.

Allerding standen auch die Chancen, dass sie zur Vernunft kommen würde, nicht gerade gut.

Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Ihr Vater war vielleicht anderer Meinung, aber ihre Bestrebungen waren keineswegs unsinnig. Sobald sie außer Sichtweite ihrer Eltern wäre, würde sie so weitermachen wie bisher. Wenn es ihr gelänge, ihre Anstandsdame, Lady Ophelia Winterbottom, dazu zu überreden, ihr ein wenig Freiheit zu gewähren, könnte sie weiterhin tun, was sie wollte. Wenn nicht, würde sie einfach einen Weg finden müssen, wie sie der älteren Dame entkommen konnte. Aber am Ende würde sie ihren Willen kriegen.

Die lange und holprige Fahrt mit der Postkutsche von London, von der ihr Vater gesagt hatte, sie würde ihren Starrsinn zügeln, hatte sie in ihrem Entschluss nur noch bestärkt. Niemals würde sie sich bevormunden oder gängeln lassen, um sich von einem unterdrückten Mädchen in eine resignierte Frau zu verwandeln. Nein – sie würde sich befreien!

Sie würde diese Reise als Abenteuer und als Chance betrachten, sich als der unabhängige Geist neu zu erfinden, der sie sein wollte. Eine Reise in ein abgelegenes englisches Dorf war zwar nicht dasselbe wie eine Fahrt auf dem Canal Grande in Venedig. Aber es war besser als nichts.

Und das Abenteuer würde in ein paar Meilen beginnen, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte.

Sie lehnte sich aus dem Kutschenfenster und schaute nach vorne, den Blick fest auf den Horizont und die strahlende Zukunft gerichtet, die sich dahinter verbarg.

Plötzlich hielt die Kutsche an. Und als Felicity sich umsah, schwanden ihre Hoffnungen. Die Umgebung sah nicht nach einer strahlenden Zukunft aus. Da war kein malerisches Örtchen voller freundlicher Menschen, die sie willkommen hießen. Da war gar nichts.

„Vicar’s Hill!“, rief der Kutscher über das Geklirre der Geschirre und das Hufscharren der Pferde hinweg, die ungeduldig darauf warteten, weiterzukommen.

„Sind Sie sicher?“, fragte sie zweifelnd und starrte aus dem Fenster auf die leere Straße, auf der die Kutsche stehen geblieben war, und in die Ferne, die nichts als Bäume zu bieten hatte. „Ich sehe kein Dorf.“

„Vicar’s Hill Corner“, korrigierte der Kutscher, nahm ihr Gepäck von der Oberseite der Kutsche und ließ es am Straßenrand fallen. „Näher kommen wir nicht heran.“

Dann stellte er einen kleinen Postsack neben dem Meilenstein ab und sah sie erwartungsvoll an, darauf wartend, dass sie ausstieg.

„Es sollte jemand da sein, der mich abholt“, sagte sie und rührte sich nicht von der Stelle. „Man verspätet sich offenbar.“

„Das geht mich nichts an“, sagte er, öffnete den Schlag und deutete auf die schlammige Straße.

Sie hatte damit gerechnet, dass sie wenn schon nicht von einer Kutsche, dann aber zumindest von einem Wagen, der von einem rotwangigen Diener der freundlichen alten Ophelia gefahren wurde, in Empfang genommen würde. Aber wie so oft stimmte ihre Fantasie nicht mit den Tatsachen überein.

„Was soll ich tun?“, fragte sie und starrte in die Ferne und dann zurück zum Kutscher.

„Warten Sie hier“, sagte er. „Oder gehen Sie zu Fuß. Ihre Wahl, Miss.“

Seufzend kletterte sie aus der Kutsche. „Gibt es hier irgendwo ein Haus?“, fragte sie. „Ein Dorf? Einen Bauernhof, wo ich um Hilfe bitten kann?“

Irgendwo in der Nähe musste es so etwas wie Zivilisation geben, sonst hätte er nicht angehalten.

Er zuckte mit den Schultern und deutete die Straße hinauf. „Vielleicht in dieser Richtung?“

Sie warf einen Blick auf ihr Gepäck, das genauso verlassen aussah, wie sie sich fühlte.

Ohne auf eine Antwort zu warten, schwang er sich wieder auf den Kutschbock und griff nach den Zügeln.

„Sie können mich doch nicht einfach hier zurücklassen!“, rief sie und funkelte ihn aufgebracht an.

„Es tut mir leid, Miss“, entgegnete er und trieb die Pferde an. „Ich muss meinen Zeitplan einhalten. Ich bin sicher, dass irgendwann jemand vorbeikommt, um die Post zu holen.“

Und dann rumpelte er davon, die Räder der Kutsche bespritzten sie mit Schlamm, was ebenfalls hervorragend zu ihrem Gefühlszustand passte.

Sie sah der Kutsche hinterher, bis das Gefährt um eine Biegung verschwunden war. Dann schaute sie sich an der T-förmigen Kreuzung um, an der sie ausgesetzt worden war. Wie lange würde es dauern, bis jemand käme, um den Postsack abzuholen? Und was sollte sie in der Zwischenzeit tun?

Es hatte keinen Sinn, zurückzugehen, denn da war nichts als gähnende Leere gewesen, kein Anzeichen menschlicher Existenz weit und breit, und es hatte keinen Sinn, weiterzugehen, denn der Fahrer hätte sie doch gewiss weiter unten an der Straße rausgelassen, wenn das ihre Richtung gewesen wäre.

Die einzige Möglichkeit wäre die Straße linkerhand, über die man ins Dorf gelangen musste, wie Felicity vermutete. Sie setzte sich auf ihre Koffer und wartete fast eine halbe Stunde, in der Hoffnung, dass sich das Problem von selbst lösen würde. Dann gab sie auf und machte sich zu Fuß auf den Weg. Sie ließ alles Gepäck bis auf einen kleinen Koffer zurück, das von den Bediensteten abgeholt werden sollte, sobald sie jemanden auf ihre Anwesenheit aufmerksam gemacht hatte.

Nach einer Meile waren ihre Röcke und Schuhe schlammdurchtränkt, und sie schien ihrem Ziel nicht näher zu sein als zuvor. Die Landschaft hatte sich nicht verändert; keine Menschenseele war zu sehen. Sie war müde und durstig und bereute den einen Koffer, den sie mitgenommen hatte und der mit jedem Schritt schwerer zu werden schien.

Es war schlimm genug, dass sie an diesen entlegenen Ort verbannt worden war, um ihre Missetaten zu bereuen. Das Mindeste, was Lady Ophelia hätte tun können, war, jemanden nach ihr zu schicken. Sie hatte nicht erwartet, so behandelt zu werden, als wäre sie vollkommen unwichtig.

Sie blieb stehen, setzte sich auf den kleinen Koffer, um sich auszuruhen, und dachte darüber nach, zu weinen. Sie hatte bisher nicht geweint, selbst als ihr Vater sie angeschrien hatte. Weinen hätte ihn nicht milder gestimmt, noch hätte er ihre Tränen als Zeichen der Reue angesehen.

Sie würden ihr jetzt auch nicht helfen. Und sie passten auch nicht zu ihrer gegenwärtigen Stimmung. Sie war gar nicht so sehr traurig, sondern eher verärgert über diese jüngste Wendung der Ereignisse. Von Anfang an hatte sie das Bedürfnis verspürt, die Ungerechtigkeit des Ganzen herauszuschreien. Wäre sie ein Mann gewesen, hätten die starren Konventionen der Gesellschaft nicht die Verbannung zur Folge gehabt, und niemand hätte zweimal über das nachgedacht, was sie getan hatte. Man hätte ihr vielleicht sogar für ihre Leistung Anerkennung gezollt.

Aber weil sie eine Frau war, hielten ihre Eltern ihr Verhalten für einen Skandal und hatten beschlossen, sie fortzuschicken. Und nun war sie hier. Allein. Sie stand auf, bereit, sich wieder auf den Weg zu machen, nur um festzustellen, dass ihre Füße tief in einer schlammigen Radspur versunken waren. Als sie sie herauszog, verlor sie zuerst einen Schuh und dann den anderen.

Das war zu viel – der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie öffnete den Mund, holte tief Luft und schrie ihre Wut und Frustration in die leere Landschaft hinaus.

Aus einer Baumgruppe zu ihrer Rechten hob ein Flügelrauschen an, als ein Vogelschwarm alarmiert in den Himmel aufstieg, gefolgt von einem durch und durch männlichen Fluch. Dann, wie aus dem Nichts, tauchte ein riesiger Mann aus dem Dickicht auf und stürmte auf sie zu. An seinem finsteren Gesichtsausdruck, der Haltung seiner breiten Schultern und der Art, wie er beim Gehen mit den Füßen stampfte, konnte sie erkennen, dass er wütend war.

Sie setzte sich wieder auf ihren Koffer, beeilte sich, das Wasser aus ihren Schuhen zu schütten und sie wieder anzuziehen, für den Fall, dass sie davonrennen musste, und behielt den Mann im Auge, während er sich näherte. Er trug abgetragene Lederhosen und einen weiten Mantel mit vielen Taschen, wie ihn Wildhüter oder Wilderer trugen. An seinem Strohhut fehlte ein Stück der Krempe, als hätte ein Pferd oder ein anderes großes Tier daran geknabbert.

Wahrscheinlich hatte sie ihn mit ihrem Schrei bei irgendeinem ruchlosen Verhalten unterbrochen. Welchen anderen Grund hätte dieser Grobian sonst haben können, sich mitten im Nirgendwo herumzutreiben? Und nun war er wütend und würde sie auf eine Art und Weise bestrafen, die sie sich kaum ausmalen konnte.

Aber das hielt sie nicht davon ab, es zu versuchen, denn sie hatte eine unglaublich gute Vorstellungskraft. Sie konnte bereits spüren, wie diese großen Hände ihre Schultern umklammerten und sie durchschüttelten, bis sie ihm gab, was sie hatte …

Er würde sie ausrauben, da war sie sich sicher. Trotz seiner groben Kleidung war er ein gut aussehender Rohling wie einer dieser Schurken aus Geschichten, deren Laster sich nie in ihren Gesichtern zu zeigen schienen. Dunkles Haar quoll unter dem unglücklichen Hut hervor und ebenso dunkle Augen funkelten unter seinen zusammengezogenen Brauen. Seine scharfen Wangenknochen waren mit einem Bartschatten bedeckt, der bei jedem erzwungenen Kuss auf der zarten Haut einer Lady rote Male hinterlassen würde. Bei dem Gedanken daran erschauderte sie.

Und jetzt stand er herausfordernd und sie überragend vor ihr, die Hände in die Hüften gestemmt, als würde er auf eine Erklärung warten.

„Guten Tag“, sagte sie vorsichtig.

„Was zum Teufel machen Sie hier?“, entgegnete er grollend.

„Ich suche Woodley Hall“, antwortete sie und stieg hinter ihren Koffer, als könnte sie das vor dem Fremden schützen. „Ich bin mit der Postkutsche gekommen, aber mich hat niemand abgeholt.“

„Das kann nicht sein“, sagte er bestimmt. „Dienstags fährt keine Kutsche.“

„Es ist Mittwoch“, sagte sie ebenso bestimmt.

Er zählte etwas an seinen Fingern ab und murmelte vor sich hin. „Sonntag Hammel, Montag Huhn, gestern Abend Rind, also Dienstag.“ Überrascht sah er sie an. „Sie haben recht. Es ist Mittwoch. Aber das ist noch lange kein Grund, gleich so herumzuschreien und die Vögel zu erschrecken.“

„Ich hatte sehr wohl allen Grund dazu“, widersprach sie. „Es ist mir völlig egal, was die Vögel denken – es sei denn, sie können mich aus diesem Schlammloch retten und zurück nach London fliegen. Oder vielleicht können sie mein Gepäck holen, das immer noch an der Straße steht …“

Ihre Worte verhallten, als sie ihn wieder ansah, wie er aufrecht und bedrohlich vor ihr stand. Sie hätte nicht preisgeben sollen, woher sie kam, noch dass sie ihr Gepäck unbewacht zurückgelassen hatte. Wenn er ein Wilderer war, wie sie vermutete, könnte sie ihn auf die Idee gebracht haben, ihre Koffer nach Wertsachen zu durchsuchen.

Aber er machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Er sah sie immer noch verärgert an. Rasch trat sie einen weiteren Schritt zurück.

„Sie hätten trotzdem nicht schreien sollen“, sagte er schroff. „Ich glaubte, jemand wäre in Gefahr. Beim besten Willen, niemand kann sich denken, dass sich jemand einfach nur dumm aufführt.“

„Ich bin nicht dumm“, protestierte sie, obwohl sie sich jetzt, da er es erwähnte, genauso fühlte. „Mich hat die Frustration überwältigt. Es war eine lange und anstrengende Woche.“ Dann lächelte sie hoffnungsvoll. „Aber wenn Sie jemanden nach Woodley Hall schicken könnten, der mich und meine Sachen abholt …?“

Er runzelte immer noch die Stirn.

„Oder vielleicht könnten Sie mir einfach sagen, wie weit ich noch laufen muss“, fuhr sie fort. „Und dann mache ich mich einfach auf den Weg, ja? Ich werde Sie nicht weiter belästigen.“

Sekunden verstrichen, und er starrte sie schweigend an, wahrscheinlich überlegte er, wo er ihren Körper entsorgen könnte, nachdem er sie getötet hatte. Doch dann, gerade als sie sich zur Flucht bereit machte, hörte sie einen Wagen näherkommen. Hinter der nächsten Kurve tauchte das Gefährt auf.

„Miss Morgan!“, rief der Kutscher.

„Hier!“, rief sie und stolperte die Straße hinauf, um zu ihm zu gelangen. Als sie ihn erreicht hatte, blickte sie zurück zu dem Fremden auf der Straße. „Keine Sorge. Es ist doch jemand gekommen, um mich abzuholen“, teilte sie ihm überflüssigerweise mit.

„Wenn man sich jetzt um sie kümmert, dann …“, erwiderte er, als ob er ihr die ganze Zeit hatte helfen wollen. Dann schaute er sehnsuchtsvoll zu dem Dickicht, aus dem er gekommen war.

„Alles in Ordnung, danke“, antwortete sie, erleichtert, dass sie nicht mehr mit ihm allein war.

„Ich werde mich dann wieder in mein Versteck zurückziehen“, sagte er.

„Wie Sie wünschen.“ Misstrauisch sah sie ihm hinterher, als er wieder im Gebüsch verschwand. Bevor der Kutscher ihr zu Hilfe kommen konnte, war sie auf den Wagen und in Sicherheit geklettert. Als er sich für die Verspätung entschuldigte und sich anschickte, ihren Koffer einzusammeln, starrte sie auf den Rücken des mysteriösen Mannes aus dem Wald und fragte sich, ob sie ihn jemals wiedersehen würde. Vielleicht könnte sie sich, wenn sie in Woodley Hall angekommen war, nach ihm und seinem seltsamen Verhalten erkundigen. Denn was sollte man auf dem Land schon anderes tun, als über die Nachbarn zu reden?

Wenn es keine Geschichte zu erzählen gab, würde sie sich einfach ihre eigene ausdenken.

Sie lächelte, als der Fahrer in Richtung des Herrenhauses losfuhr, zufrieden damit, dass die Fantasieversion dieser sonderbaren Begegnung noch interessanter sein würde als die Realität.

Er hatte vergessen, welcher Tag war. Schon wieder.

Martin Howell saß in der kleinen Hütte, die ihm als Rückzugsort diente, und dachte an den Besuch, den er hätte abholen sollen. Es war Mittwoch, und Tante Ophelia hatte ihn gebeten, Miss Morgan pünktlich an der Kreuzung in Empfang zu nehmen und sie zum Witwenhaus von Woodley Hall zu bringen. Es war eine einfache Bitte – die Art, die jeder Idiot hätte bewältigen können. Und doch hatte er es vermasselt.

Er hatte nur vorgehabt, einen Teil des Vormittags in der Natur zu verbringen, um seine Gedanken zu sammeln. Aber wie so oft war ihm die Zeit davongelaufen. Plötzlich war es halb drei Uhr nachmittags gewesen, und er hatte nicht daran gedacht, dass die Postkutsche um zwei Uhr ankam. Obendrein war er zu Fuß unterwegs und wäre gar nicht in der Lage gewesen, den Gast angemessen zu transportieren.

Hätte sie nicht geschrien, hätte er sie überhaupt nicht bemerkt, und sie hätte den ganzen Weg zum Haus laufen müssen. Aber in dem Gimpel-Nest, das er beobachtet hatte, zeigten sich erste Anzeichen von Aktivität, und er war abgelenkt gewesen. Das Weibchen hatte das Nest für etwas mehr als eine Stunde verlassen, und durch sein Fernglas hatte er vier winzige Köpfe sehen können, die Schnäbel zum Himmel gereckt, auf die Rückkehr der Mutter wartend.

Er warf nun einen weiteren Blick darauf und schloss kurz die Augen, um das Bild in seinem Kopf zu fixieren. Dann legte er das Fernglas beiseite, nahm ein Skizzenbuch und zeichnete mit schnellen Bleistiftstrichen, was er gesehen hatte. Es war ein Glück, dass er ein ausgezeichnetes Gedächtnis für solche Dinge hatte. Lebende Vögel zu zeichnen war schwierig, da sie dazu neigten, herumzuhüpfen und bei der geringsten Störung davonzufliegen.

Andere Naturforscher griffen zu Fallen oder Tierpräparaten, wenn sie ihre Objekte zeichnen wollten. Aber er sah keinen Sinn darin, etwas zu töten, um es besser studieren zu können. Er hatte schon zu oft in seinem Leben den Tod gesehen, um sich jetzt freiwillig damit zu umgeben.

Unabsichtlich übte er bei diesem Gedanken zu viel Druck auf den Bleistift aus, sodass die Mine brach und die Linie misslang. Er griff nach seinem Taschenmesser, um die Mine wieder zu spitzen.

Es war wirklich ein Glück, dass die Vögel überhaupt zurückgekommen waren, nachdem Miss Morgan auf der Straße einen Wutanfall bekommen hatte. Aber nichts davon wäre passiert, wenn er zur vereinbarten Zeit dort gewesen wäre, wo er hätte sein sollen.

Die Bediensteten hatten offenbar daran gedacht, auch wenn er es nicht getan hatte. Mrs. Spang, die Haushälterin, hatte wahrscheinlich Peters, den Lakaien, mit dem Wagen geschickt, um Miss Morgan einzusammeln, in der Hoffnung, dass die Kutsche Verspätung hätte. Das Personal kannte seine Schwächen nur zu gut und hielt ihm den Rücken frei, wenn er in Gedanken versunken war und drohte die Welt um ihn herum zu vergessen.

Tante Ophelia würde von seiner Abwesenheit erfahren und sich für ihn entschuldigen. Das geschah viel zu oft. Er musste sich zusammenreißen …

Rasch packte er zusammen und schulterte seinen Rucksack. Dann machte er sich mit dem festen Vorsatz auf den Heimweg, seine Nachlässigkeit wiedergutzumachen. Es war verwirrend, dieses Gefühl, von der Zeit losgelöst zu sein, und ihr Verstreichen daran festzumachen, dass das Dinner immer aus der gleichen Abfolge von festgelegten Mahlzeiten bestand, und das jede Woche aufs Neue.

Das war eine weitere Sache, die ihm Sorgen bereiten sollte. Es war wahrscheinlich langweilig für die Köchin, immer wieder dieselben sieben Mahlzeiten zuzubereiten. Als die Haushälterin zum ersten Mal mit der Aufgabe an ihn herangetreten war, das Essen für die kommende Woche abzusegnen, hatte er einen Blick auf den Speiseplan geworfen, den seine liebe Emma verfasst hatte und der immer noch auf dem Schreibtisch im Morgenzimmer lag, und er hatte es nicht übers Herz gebracht, daran etwas zu ändern – bis heute nicht. Seit drei Jahren lag er dort und erinnerte ihn ständig daran, dass das Haus keine Herrin mehr hatte.

Wenn er nicht einmal sein eigenes Leben in den Griff bekam, was sollte er dann mit Miss Morgan anfangen? Eigentlich gehörte sie unter Tante Ophelias Obhut und nicht unter seine. Aber er war hier das Familienoberhaupt, und Ophelia würde erwarten, dass er sich ein Halstuch und ein ordentliches Jackett anzog und sich heute Abend zum Dinner im Witwenhaus zu ihnen gesellte.

Er hoffte, dass von ihm nicht erwartet werden würde, sich auch noch weiter um sie zu kümmern. Er hatte keine Ahnung, was zu ihrer Verbannung aus London geführt hatte, aber nachdem er sie gesehen hatte, hatte er seine Vermutungen. Sie war eine hübsche Person, mit glänzendem dunklem Haar, das unter ihrer Haube hervorschaute. Sie hatte große dunkle Augen und einen sehr küssbaren Mund. Ein solches Gesicht konnte einem Mann zum Verhängnis werden …

Er hoffte, dass Ophelia der Aufgabe gewachsen war, die junge Frau im Zaum zu halten, bis ein geeigneter Ehemann für sie gefunden wäre. Oder bis die Folge ihrer Unbesonnenheit zur Welt gekommen wäre und sich eine Dorfbewohnerin bereit erklärt hätte, das Kind in aller Stille aufzuziehen.

Solche diskreten Geburten kamen oft genug vor, da war er sich sicher. Nur nie auf seinem Grundstück. Die Tatsache, dass eine seiner Pächterinnen gezwungen sein könnte, für Miss Morgans Fehler geradezustehen, ärgerte ihn. Sie hatte bei ihrer Begegnung nichts Reuevolles an sich gehabt. Sie hatte ihn behandelt, als hielte sie sich für etwas Besseres, sich aber keineswegs wie jemand verhalten, der in Ungnade gefallen und auf seine Wohltätigkeit angewiesen war, um die Schande zu minimieren.

Aber es war ziemlich voreingenommen von ihm, ihr die ganze Schuld zuzuschreiben. Mehr als genug davon trug solche Art von Männern, die hemmungslos ihren Spaß suchten und anständige junge Damen ausnutzten, die oft nicht wussten, wohin eine Liebelei führen konnte und wie schwer es war, zu widerstehen, wenn die Leidenschaft erst einmal entfacht war.

Seine eigene Frau, Gott hab sie selig, hatte ihm bewiesen, dass Frauen Triebe hatten, die denen der Männer sehr ähnlich waren. War es wirklich gerecht, diese junge Lady dafür zu bestrafen, dass sie ihren Wünschen erlegen war, während der Mann, der sie in Versuchung geführt hatte, ungeschoren davonkam?

Es war sogar möglich, dass ihr die Ehe versprochen worden war, nur um sie dann fallen zu lassen, als der Mistkerl von ihr bekommen hatte, was er wollte. Wenn das der Fall sein sollte, empfand er Mitgefühl für sie, denn er wusste, was es hieß, jung und verliebt zu sein und bitter enttäuscht zu werden, wenn das Leben nicht so verlief, wie man es sich erhofft hatte.

Er stand nun vor seinem Haus und verdrängte diese Gedanken, während er den Dreck von seinen Stiefeln trat. Dann ging er hinein, warf einen Blick in den großen Spiegel, der in der Halle hing, und verzog das Gesicht bei seinem Anblick.

Er sah aus wie ein Tölpel. Kein Wunder, dass Miss Morgan ihn so behandelt hatte. Sie hatte wahrscheinlich angenommen, er wäre eine Art seltsamer Einsiedler, der auf dem Anwesen ein hartes Dasein fristete.

Und er hatte nichts getan, um diese Annahme zu widerlegen, indem er mit ihr über die Wochentage stritt und vergaß, sich angemessen vorzustellen. Offenbar hatte er inzwischen so viel Zeit allein verbracht, dass er unfähig war, ein höfliches Gespräch zu führen.

Er rieb sich die unrasierte Wange. In den drei Jahren, seit er die Stadt verlassen hatte, war er immer nachlässiger geworden, aber sein derzeitiger Zustand war selbst für ihn nicht länger akzeptabel. Ophelia erwartete ihn gewiss zum Dinner, wo er sich für sein Verhalten würde entschuldigen müssen. Es war zu viel erhofft, dass Miss Morgan ihn nicht als den Mann erkennen würde, den sie auf der Straße getroffen hatte. Aber nach einem Bad und einer Rasur würde sie vielleicht zumindest denken, dass dieser raue Kerl eine Laune gewesen war und nicht sein wahres Ich.

Mit diesem Plan machte er sich auf den Weg zu seinen Räumlichkeiten, bereit, alles wiedergutzumachen.

2. KAPITEL

Felicity saß schweigend auf der Pritsche des Wagens, während der Wagenlenker zur Kreuzung zurückfuhr, um ihre Koffer zu holen, und dann von der Straße abbog und fast drei Kilometer weit fuhr, bevor sie das Anwesen erreichten. Als sie an der Stelle vorbeifuhren, an der sie schließlich abgeholt worden war, gab es keine Spur von dem seltsamen Mann zu entdecken, mit dem sie gesprochen hatte.

Er hatte gesagt, er würde sich in sein „Versteck“ zurückziehen, was keinen Sinn ergab. Sie nahm an, dass es sich um eine Art Hütte oder Verschlag handeln musste, in dem er lebte. Aber vor was oder wem versteckte er sich? Sie musste daran denken, niemals ohne Begleitung in der Gegend unterwegs zu sein, da es eindeutig nicht sicher war, sich allein hier draußen aufzuhalten.

Vielleicht könnte sie sich in Zukunft einen Ponywagen oder eine kleine Kutsche ausleihen, um sich fortzubewegen.

Aber wenn das Anwesen so etwas besaß, warum hatte man es dann nicht geschickt, um sie abzuholen? In dem klapprigen Gefährt, auf dem sie gerade saß, fühlte sie sich wie ein weiteres Gepäckstück und nicht wie eine Lady aus gutem Hause.

Das verhieß nichts Gutes. Vielleicht war das ganze Anwesen eine ungepflegte Ruine.

Die Fantasie ging mit ihr durch, und sie malte sich ein gotisches Monstrum aus Backsteinen aus, in dem sie fortan wohnen sollte, dessen Besitzerin eine knorrige alte Hexe war.

Doch dann bogen sie in die Auffahrt ein und sie sah das Witwenhaus, und ihre Ängste verflogen. Es war nicht das baufällige Haus, das sie befürchtet hatte, sondern ein Gebäude aus weißem Stein mit einem von Rosen gesäumten Weg davor, sauberen Fenstern, die in der Nachmittagssonne glänzten, und einem soliden Schieferdach, das jedem Sturm standhalten konnte.

Lady Ophelia wartete mit besorgtem Gesichtsausdruck vor der Tür. Sie war eine große Frau mit einer angenehmen Ausstrahlung, ihr weißes Haar hochgesteckt unter einer ebenso weißen Spitzenkappe.

„Oje. Oje“, sagte sie und streckte entschuldigend die Hände aus. „So sollten Sie überhaupt nicht ankommen. Martin sollte Sie abholen.“ Sie unterbrach ihre Entschuldigung, um Felicity von Kopf bis Fuß zu mustern, und betrachtete ihre schlammigen Röcke und ihr gerötetes Gesicht. „Sie sind Miss Morgan, nicht wahr? Und Sie scheinen ein Abenteuer erlebt zu haben. Oje.“

„Nichts, wovon man sich nicht wieder erholen könnte“, antwortete Felicity und schenkte ihr ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es überzeugend wirkte. „Und Sie müssen Lady Ophelia sein“, fügte sie hinzu.

„Ja, die bin ich“, antwortete die ältere Frau ein wenig verlegen. „Sie müssen uns alle für furchtbar ungehobelt halten, bitte verzeihen Sie. Kommen Sie ins Haus und ruhen Sie sich aus. Im Salon steht Tee bereit. Außerdem gibt es Limonade und Kuchen. Ich bin sicher, dass Sie nach Ihrer Reise müde und hungrig sind.“

Die Worte sprudelten nur so aus der Frau heraus, als sie Felicity hereinführte.

„Meine Schuhe“, sagte Felicity und starrte auf den Schlamm, der auf dem Leder trocknete. „Ich sehe furchtbar aus.“

„Machen Sie sich keine Sorgen“, meinte Ophelia, als sie sich im Salon niederließen. „Man kann Ihnen die Unwägbarkeiten des Reisens nicht vorwerfen. Mein Neffe hätte Sie eigentlich abholen sollen, aber der arme Junge ist so zerstreut, dass er es offensichtlich vergessen hat.“

„Das ist schon in Ordnung“, sagte Felicity und verbarg ihren Unmut hinter einem höflichen Lächeln.

Und vielleicht war dieser ungünstige Anfang nicht so schlimm, wie es schien. Wenn die ganze Familie zerstreut war, vergaßen sie vielleicht, dass sie zur Strafe hier war, und ließen sie tun, was sie wollte.

„Als Sie nicht aufgetaucht sind, habe ich mir solche Sorgen gemacht“, sagte Ophelia. „Ich habe einen Lakaien zum großen Haus geschickt, um Martin an Ihre Ankunft zu erinnern und ihn einzuladen, heute Abend mit uns zu speisen.“

„Das klingt wunderbar“, sagte sie, wünschte sich insgeheim, dass dieser Martin zum Teufel gehen möge, und fragte sich, ob sie den Fremden im Wald erwähnen sollte. Sie entschied sich dagegen. Der Lakai hatte ihn gesehen und kein Wort über ihn verloren. Vielleicht war er der Wildhüter und genauso verschroben wie alle anderen hier.

„Martin ist der Marquess of Woodley“, erklärte Lady Ophelia mit einem ermutigenden Lächeln. „Der einzige Sohn meines Bruders, des Dukes. Und auch noch alleinstehend.“ Sie zwinkerte ihr zu, um den Hinweis noch deutlicher zu machen.

Felicity war sich nicht sicher, wie sie reagieren sollte, da sie nicht auf der Suche nach einem Ehemann war. Sollte sie etwa schon daran denken, den Erben eines Herzogtums zu heiraten, bevor sie überhaupt den Staub der Reise von ihrem Kleid gebürstet hatte?

Nach einer peinlichen Pause sagte sie: „Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen.“

Einige Stunden zu spät, fügte sie im Stillen hinzu und nippte an ihrer Limonade. Dann warf sie einen Blick auf den Schreibtisch in der Ecke und spürte, wie ihr Pulsschlag sich beschleunigte. „Aber vor dem Dinner muss ich meinen Eltern schreiben, um ihnen mitzuteilen, dass ich gut angekommen bin.“

„Natürlich, meine Liebe“, sagte Ophelia wohlwollend. Sie stand auf und ging zum Schreibtisch, zog einen kleinen goldenen Schlüssel von einer Kette um ihren Hals, öffnete damit eine Schreibtischublade, holte einen frischen Federkiel daraus hervor und legte ein einzelnes weißes Blatt Papier von dem kleinen Stapel in der Schublade bereit, schloss den Schreibtisch wieder ab und wandte sich Felicity zu.

Felicity starrte verwirrt auf das Papier.

„Ihr Vater hat seine Anweisungen für Ihren Aufenthalt hier sehr genau formuliert. Nicht mehr als einen Brief pro Tag“, sagte die alte Frau mit einem traurigen Nicken. „Und ein Blatt sollte ausreichen. Wenn ich ehrlich bin, passiert hier nicht viel, worüber es sich zu berichten lohnt.“

„Ich verstehe“, antwortete Felicity und verbarg sorgfältig ihre Enttäuschung.

Ihre Eltern hatten sich ihren Aufenthalt hier eher als Einkerkerung und nicht als Urlaub vorgestellt, und Lady Ophelia war nicht so verwirrt, dass sie das nicht verstanden hätte.

„Vielleicht, wenn Sie mir mein Zimmer zeigen würden, schreibe ich ihnen später.“

„Natürlich“, sagte Lady Ophelia. Dann deutete sie auf die Tür. „Mary, das Dienstmädchen, wird Ihre Sachen inzwischen ausgepackt haben und kann Ihnen beim Umziehen helfen. Dinner gibt es um sieben. Auf dem Land gehen wir früh schlafen.“

„Ich werde pünktlich sein“, sagte Felicity und folgte ihrer Gastgeberin pflichtbewusst aus dem Raum.

Martin kam rechtzeitig um halb sieben im Witwenhaus an, bereit, seinen früheren Fehltritt durch Anwesenheit und Pünktlichkeit wiedergutzumachen. Der Neuzugang im Haushalt war nirgends zu sehen, aber seine Tante wartete bereits im Salon auf ihn.

„Martin“, sagte sie in einem resignierten Tonfall.

Dann musterte sie ihn von oben bis unten, inspizierte sein Jackett und bemerkte die frische Rasur und das sorgfältig gekämmte Haar, bevor sie erleichtert in sich zusammensackte.

„Hast du gedacht, ich würde dich beschämen, indem ich in meinem Vogelbeobachtungsaufzug erscheine?“, fragte er und schenkte ihr ein versöhnliches Lächeln.

„Nun, du hast vergessen, Miss Morgan abzuholen“, erinnerte sie ihn. „Ich war mir nicht sicher, was du als Nächstes tun würdest.“

„Na gut“, stimmte er zu. „Aber ich versuche, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, also brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“

„Besser spät als nie, nehme ich an. Und du tust gut daran, dich zu benehmen. Das Mädchen ist sehr charmant und könnte sich als ausgezeichnete Gesellschaft erweisen.“

„Sie hat es also bis hierher geschafft“, sagte er und fühlte sich über sein früheres Versagen hinweggetröstet.

„Sie ist überhaupt nicht so, wie ich erwartet hatte“, sagte Ophelia lächelnd.

„Und was genau hast du erwartet?“, fragte er stirnrunzelnd.

Sie schüttelte den Kopf, als würde sie ein Geheimnis bewahren. „Sagen wir, es gibt keine Anzeichen für einen Skandal bei ihr, und ihr Geist wurde auch nicht durch diesen plötzlichen Sündenfall gebrochen.“

„Vielleicht wäre das aber besser gewesen“, meinte er.

„Wirklich, Martin. Du warst früher nicht so prüde.“

Vielleicht stimmte das. Er konnte sich kaum daran erinnern, wie er früher gewesen war. „Jedenfalls geht sie mich nichts an.“

„Sie hat dich zumindest so sehr beschäftigt, dass du dich rasiert hast.“ Ophelia warf ihm einen weiteren prüfenden Blick zu. „Das ist mehr, als du normalerweise für mich tun würdest, wenn wir zusammen essen.“

„Es war an der Zeit“, sagte er mit einem Schulterzucken.

„Oder vielleicht wachst du einfach nur aus einem langen Schlaf auf“, sagte sie liebevoll. „Sie ist hübsch. Sehr hübsch, in der Tat.“

„Das geht mich auch nichts an“, murmelte er.

Es entsprach jedoch der Wahrheit. Sie war ziemlich hübsch. Natürlich anders als die Art von Frau, die er bevorzugte. Emma war ätherisch gewesen, mit blondem Haar und Haut wie Porzellan. Miss Morgan war auf eine höchst beunruhigende Weise irdisch.

„Was hat sie getan, um aus London verbannt zu werden?“, fragte er, um sich von diesen Gedanken abzulenken.

„Das geht dich nun wirklich nichts an“, sagte Ophelia mit einem verschmitzten Lächeln. „Wenn sie einen Neuanfang machen will, muss sie ihre Probleme hinter sich lassen. Und das müssen wir auch. Das Letzte, was sie in ihrer freudlosen Situation braucht, ist, dass ihre Tischnachbarn beim Dinner über ihre Moral urteilen.“

„Wie du meinst“, sagte er spitz.

Tante Ophelias Verschleierungstaktik war nicht besonders effektiv. Er hatte die Wahrheit über Miss Morgan herausgefunden, zumindest war er davon überzeugt, als er auf ihre Lippen geschaut hatte, die rot und voll waren. Jemand hatte sich Freiheiten ihr gegenüber herausgenommen, da war er sich sicher. 

„Aber wenn sie hier in weitere Schwierigkeiten gerät, empfehle ich dir, sie sofort dorthin zurückzuschicken, wo sie hergekommen ist.“

Er hatte sich unwohl gefühlt, als er ihren Gast da draußen auf der Straße ansah, als würde er auf einen Sturm am Horizont blicken.

„Unsinn“, erwiderte Ophelia streng. „Erstens sehe ich nicht, in welche Schwierigkeiten sie in Vicar’s Hill geraten könnte. Ich habe genug Zeit in der Gegend verbracht, um dir versichern zu können, dass es hier keinen Unfug zu treiben gibt.“

„Und zweitens?“, hakte er nach.

„Zweitens ist ihre Anwesenheit hier eine gute Sache. Für uns beide“, fügte sie hinzu und bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick.

„Ich brauche keine Gesellschaft“, sagte er scharf. „Mein Leben ist so, wie es ist, in Ordnung.“

Oder zumindest war es das gewesen, bevor er Miss Morgan kennengelernt hatte. Jetzt fühlte er sich auf einmal verwirrt.

Seine Tante sah ihn ungläubig an. „Wenn dein Vater stirbt, wirst du seinen Titel und seinen Platz im Parlament übernehmen. Du wirst heiraten und einen Erben zeugen müssen. Es sei denn, du willst mir sagen, dass du alles, wofür er steht, aufgeben willst?“

Er schüttelte den Kopf. „Er erfreut sich bester Gesundheit. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass ich ihn überleben werde.“

Autor

Christine Merrill
<p>Christine Merrill lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...
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