Aus dem Schatten ins Licht – vom Mauerblümchen zur Lady (4-teilige Serie)

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MISS CLAIRES FLAMMENDE SEHNSUCHT von BRONWYN SCOTT
Mutig, sinnlich und unbeschreiblich anziehend – ja, seine neue Französisch-Lehrerin ist eine Frau ganz nach seinem Geschmack! Und sie scheint seine vorsichtigen Avancen durchaus zu erwidern … Aber Jonathon Lashley darf seiner feurigen Begierde nach Claire nicht nachgeben. Er muss eine Vernunftehe eingehen!

DAS MÄDCHEN UND DER PRINZ von BRONWYN SCOTT
Seine Augen haben die Farbe von schokoladenbrauner Seide, und der Blick ist so verführerisch wie eine Liebkosung: In Evie erwacht ein nie gekanntes Verlangen, als sie Dimitri das erste Mal begegnet. Doch für einen waschechten Prinzen ist ein einfaches Mädchen wie sie ganz bestimmt keine angemessene Gattin …

WILD WIE EIN IRISCHER KUSS von BRONWYN SCOTT
Wie sehr war Lady May Worth damals in Liam, den Freund ihres Bruders, verliebt! Einen sinnlichen Sommer lang war sie die Seine – bis er sie verließ. Jetzt ist Liam zurück in Schottland: Er soll sie vor einem Feind beschützen. Doch die allergrößte Gefahr geht für die schöne Adlige von dem irischen Schwerenöter selbst aus!

WIE ZÄHMT MAN EINE WIDERSPENSTIGE? von BRONWYN SCOTT
Sie war einem gewissenlosen Verführer zu Willen – jetzt ist Beatrice eine gefallene Frau! Verzweifelt flieht sie nach Schottland, wo unerwartet ihr Jugendfreund Preston Worth auftaucht. Er macht ihr einen gewagten Vorschlag, der zwar ihre verlorene Ehre wieder herstellen, aber ihr Herz für immer brechen könnte …


  • Erscheinungstag 16.12.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512558
  • Seitenanzahl 640
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Bronwyn Scott

Aus dem Schatten ins Licht - vom Mauerblümchen zur Lady (4-teilige Serie)

IMPRESSUM

Miss Claires flammende Sehnsucht erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2016 by Nikki Poppen
Originaltitel: „Unbuttoning The Innocent Miss“
erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON
Band 51 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Eleni Nikolina

Umschlagsmotive: GettyImages_Massonstock

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751505314

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

London, Mai 1821

Alles begann mit drei Worten. „Ich erwarte ein Kind.“ Der Satz riss Claire unsanft aus ihren, wie sie zugeben musste, recht eigenwilligen Gedanken. Hatte Beatrice tatsächlich eben gesagt, sie erwarte ein Kind? Claire starrte ihre Freundin zutiefst verwirrt an, bis die Worte zu ihr durchgedrungen waren. Beatrice war guter Hoffnung. Enceinte. Unwillkürlich wechselte Claire ins Französische, ihre unfehlbare Methode, mit allem fertig zu werden. In einer schwierigen Situation klang alles immer besser, wenn man es auf Französisch sagte.

Doch dann traf sie der Schreck mit aller Kraft. Guter Hoffnung bedeutete, dass ein Baby auf dem Weg war, und das bedeutete auch, dass gewisse andere Dinge vorher geschehen sein mussten, wenn man nicht gerade die Jungfrau Maria war. Beatrice, eine ihrer besten Freundinnen, mit der sie als Kind gespielt hatte, mit der sie in die Gesellschaft eingeführt worden war, und von der sie nie geglaubt hätte, sie könnte irgendwelche Geheimnisse vor ihr haben – diese Beatrice hatte einen Liebhaber gehabt und es ihr nicht gesagt! Und offenbar auch sonst niemandem, Evies und Mays verblüfften Mienen nach zu urteilen. Beide waren blass und bestürzt, gewiss nicht anders als Claire selbst, und suchten wohl wie sie auch nach einer Antwort auf eine so ungeheure Enthüllung.

Währenddessen saß Bea einfach nur stumm und ebenso blass da und wartete geduldig auf eine Reaktion. Das war ganz und gar nicht, womit Claire heute gerechnet hatte. Ihre heutige Begegnung in der winzigen Dachkammer in Evie Milhams Stadthaus hätte eigentlich so verlaufen sollen wie alle anderen davor – geheim und dem Selbstmitleid gewidmet. Sie hätten den Mangel an männlicher Aufmerksamkeit oder Intelligenz beklagen, ein wenig Kuchen essen und danach wieder heimgehen sollen, um sich eine Woche darauf erneut zu treffen und genau dasselbe zu wiederholen. Es war ein tröstliches Ritual, das sie in den drei Jahren, seit sie in die Gesellschaft eingeführt worden waren, beibehalten hatten. Damals waren ihre Hoffnungen, wenn schon nicht sehr groß, so doch gewiss größer gewesen als nach drei Jahren auf dem Heiratsmarkt, auf dem sich leider kein Interessent für sie gefunden hatte.

Irgendeine von ihnen musste etwas sagen. Doch selbst die sonst so schlagfertige May schien keinen passenden Kommentar parat zu haben. Erst jetzt fiel Claire auf, wie fest ineinander verschränkt Beatrices Hände in ihrem Schoß lagen, während Beatrice der Reaktion ihrer Freundinnen harrte.

Plötzlich begriff Claire. Ihre Freundin wartete darauf, dass sie sie verurteilten. Und gewiss waren sie auch nicht die Ersten, die davon erfuhren. Gewiss hatte Beatrice diese Situation bereits mit ihrer Familie durchgemacht. Offenbar glaubte sie zu wissen, dass auch ihre Freundinnen sie von sich stoßen und zu gesellschaftlicher Verbannung verdammen würden. Im Vergleich dazu verblassten Claires eigene Schwierigkeiten ganz und gar. Sie hatte sich eigensüchtig von ihren Sorgen vereinnahmen lassen, während Beatrice mit sehr viel größeren Problemen zu kämpfen hatte. Dabei hätte sie nicht gezwungen sein dürfen, es ganz allein zu tun.

Wie gern hätte sie ihr geholfen, wenn sie nur gewusst hätte, auf welche Weise. Claire brauchte mehr Informationen, und dieser Gedanke verlieh ihr die Kraft zu fragen: „Wie? Wann? Und vor allem: Wer?“

Beatrice schluckte mühsam, und die stille Evie warf Claire einen vorwurfsvollen Blick zu und nahm Beatrices Hand. „Bea. Du brauchst es uns nicht zu sagen, wenn du nicht willst.“

Doch Bea schüttelte den Kopf mit den dunklen Locken. „Doch. Ihr habt ein Recht darauf, es zu erfahren. So viel bin ich euch schuldig. Ihr werdet Entscheidungen treffen müssen.“ Sie sah jede von ihnen nacheinander an und holte tief Luft, als ob sie Mut fassen wollte. Es brach Claire fast das Herz. Wie gern hätte sie ihrer Freundin gesagt, dass alles wieder gut werden würde, aber sie konnte nicht. Vielleicht würden die Dinge für Beatrice Penrose niemals wieder gut werden.

Beatrice begann zu sprechen. „Im Winter wurde ich mit dem Freund eines Nachbarn bekannt, der für längere Zeit zu Besuch war. Wahrscheinlich wäre es passender zu sagen, dass er sich auf Genesungsurlaub befand. Das war wohl auch der Grund, weswegen er sich in Sussex aufhielt und nicht in London oder an einem anderen sehr viel interessanteren Ort. Mit seinem guten Aussehen und seinen vornehmen Manieren wurde er natürlich von dem gesamten Landadel ohne Zögern akzeptiert. Also tat ich es auch.“ Sie nestelte geistesabwesend an dem Stoff ihres Rockes. „Auf dem Land ist es im Winter so langweilig, und er war aufregend, neu. Keiner hatte sich je so für mich interessiert wie er.“

Claire nickte mitfühlend. Es tat ihr leid, dass sie fort gewesen war. Ihre Familie hatte sich zu der Zeit im Lake District aufgehalten. Und so war sie nicht dort gewesen, um Beatrice vor der Gefahr zu schützen. Ebenso wenig wie May, die mit ihrer Familie in London gewesen war, oder Evie, die eine ihrer Schwestern besucht hatte. Beatrice war völlig auf sich allein gestellt gewesen. Einsam und allein.

Aus Erfahrung wusste Claire ebenso wie ihre Freundinnen, wie es war, aus dem einen oder anderen Grund von den Gentlemen ignoriert zu werden. Sie selbst war nun einmal zu gebildet mit ihrem Talent für Sprachen, das die meisten Männer verunsicherte, die kaum ihre Muttersprache meistern konnten, geschweige denn eine Fremdsprache. Evie war zu unauffällig, sodass sie meistens einfach übersehen wurde. May war zu scharfzüngig und mit ihrem Talent fürs Lauschen wusste sie so ziemlich alles über jeden, eine Tatsache, die jeden Gentleman in Schrecken versetzen musste, der es vorzog, dass seine Geheimnisse auch geheim blieben.

„Er und ich unternahmen viele Spaziergänge, auf denen wir über alles Denkbare sprachen – die Pflanzen- und Tierwelt, die jüngsten Erkenntnisse der Royal Society. Und er hörte mir wirklich zu, wenn ich meine Meinung kundtat.“ Beatrice klang wehmütig, und Claire wunderte sich, wie das sein konnte. Immerhin hatte dieser Mann sich als wahrer Schurke entpuppt. Doch dann erkannte sie Beas Dilemma. Bea wollte ihn hassen, aber sie konnte nicht. Obwohl er sie im Grunde ruiniert hatte.

„Die Tatsache, dass er mir wirklich zuhörte, erwies sich als sehr viel verführerischer, als ich jemals gedacht hätte. Besonders da er mich dabei mit Augen angesehen hatte, deren Grau einen an die Farbe eines Wintersturms erinnerte. Ich war sicher, dass er mich auf die wunderbarste Weise zu schätzen wusste.“

Betroffen unterdrückte Claire einen Seufzer. Für diesen gespielten Respekt hatte Beatrice ihm das Kostbarste gegeben, das sie besaß. Sie hatte ihm ihren guten Ruf anvertraut. Und sich selbst unwiderruflich geschadet, wie sich herausstellte.

Beatrice senkte den Blick, ein trauriges Lächeln um die Lippen. „Das Schlimme ist, dass ich noch immer denke, es kann unmöglich alles nur Einbildung gewesen sein. Gewiss fand er mich in gewissem Maß interessant. Selbst jetzt, kurz vor der Katastrophe, kann ich nicht glauben, dass er nichts für mich empfunden hat. Es kann doch niemandem möglich sein, so tiefe Gefühle zu heucheln. Aber das werde ich wohl niemals erfahren.“ Unwillkürlich legte sie eine Hand auf ihren flachen Bauch.

„Wie weit ist deine Schwangerschaft schon fortgeschritten, Bea?“, fragte Claire.

„Acht Wochen.“

Lange genug, dass sie sich nicht geirrt haben konnte. Allerdings irrte Bea sich auch nur selten. Bei ihren Freundinnen war sie dafür bekannt, dass sie meist wusste, was sie tat.

„Und der Vater? Wie lange ist der schon fort?“, fragte May, die wie immer direkt auf den Kern eines Problems zusteuerte. Sie sah Claire und Evie einen unruhigen Blick tauschen, ließ sich aber natürlich nicht abhalten. „Nun, wir müssen es wissen“, erklärte sie entschlossen. „Wirst du ihn heiraten?“

Bea zuckte anmutig mit den Schultern. „Die Frage ist nicht wichtig. Vielleicht würde ich es, wenn er hier wäre, wenn unsere Affäre für ihn mehr gewesen wäre als ein flüchtiges Vergnügen.“

Bewundernd sah Claire ihre tapfere Freundin an. Selbst mit einem Baby im Bauch würde Beatrice sich nicht bereit erklären, einen Mann zu heiraten, wenn er sie nicht liebte. Wie immer zeigte sie sich kompromisslos, wenn es um ihre moralische Integrität ging. Ein beneidenswerter Charakterzug, der auch Claire einst eigen gewesen war, den sie aber irgendwann im Verlauf der vergangenen drei Jahre verloren hatte, ironischerweise vielleicht gerade weil sie versucht hatte, ihn sich zu erhalten. Sie konnte nicht genau sagen, wann ihre Entschlossenheit, sich selbst treu zu bleiben, nachgelassen hatte. Vielleicht mit Rufus Sheridens Antrag, den sie zurückgewiesen hatte, weil sie glaubte, seine ungeteilte Zuneigung zu verdienen, oder vielleicht auch bei jenem Zwischenfall mit Cecilia Northam. Seit damals schien alles bergab zu gehen für Claire, und sie war nicht mehr so sicher, wer sie war und was sie sich zutrauen konnte.

Mays Wangen röteten sich vor Wut. „Wie unverfroren von diesem Mann, dich zu schwängern und dann einfach sitzen zu lassen, statt sich ehrenhaft zu verhalten!“

Sofort schüttelte Beatrice den Kopf. „Er weiß es nicht, May“, sagte sie sanft, Mays aufbrausende Bemerkung ignorierend. „Er reiste ab, bevor … nun, bevor ich selbst es wusste. Bitte verurteile ihn nicht vorschnell.“ Sie seufzte. „Es war die wundervollste Woche meines Lebens. Er brachte mir Blumen. Er lächelte mich auf eine Weise an, die mich jede Vernunft vergessen ließ. Wisst ihr, er verführte mich nicht. Ich habe mich voller Freude in diese Verrücktheit gestürzt. Den ganzen Winter über unternahmen wir Spaziergänge in der Kälte, und eine Woche davon verbrachten wir wie ein geheimes Liebespaar in verlassenen Landhäusern und auf warmen Heuböden. Eines Tages sagte er mir, er müsse wegen einer Geschäftsangelegenheit in eine Stadt, die einen Tagesritt von uns entfernt lag, und er kam nicht wieder.“

„Wir haben ein wenig Zeit. Das ist doch gut“, meinte Evie ermutigend, immer noch Beas Hand in ihrer. „Das Baby wird um Weihachten herum geboren, also sollte man es dir erst ganz am Ende der Saison ansehen können. Die Mode dieses Jahr verlangt eine sehr viel weitere Taille. Ich könnte sofort damit anfangen, unsere Kleider umzuändern.“ Evies Talent mit Nadel und Faden war unbestreitbar, und sie sprach allen aus der Seele. Sie würden ihre Freundin jetzt nicht im Stich lassen. Alle lächelten Beatrice aufmunternd zu.

Ganz offensichtlich war sie gerührt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie hilflos fortwischte. „Ach, zum Kuckuck, ich wollte doch nicht weinen. Die ganze Woche über habe ich kaum etwas anderes getan. Ich danke euch, ich danke euch allen. Damit habe ich nicht gerechnet.“

„Womit hast du nicht gerechnet?“, fragte Claire empört. „Hast du geglaubt, wir würden dich beim ersten Anzeichen eines Problems verlassen? Nach allem, was wir miteinander durchgemacht haben, solltest du wissen, dass wir aus härterem Holz geschnitzt sind.“

May beugte sich vor und legte genau wie Evie ihre Hand auf Beas. „Du warst für mich da, als meine Familie meinen Geburtstag vergaß. Du hast sogar einen Kuchen für mich gebacken und eine ganze Flasche Brandy aus dem Vorrat deines Vaters gestohlen.“ Daran erinnerte Claire sich auch. Mays Bruder hatte ein hervorragendes Amt bei der Regierung erhalten, und ihre Eltern waren nach London gefahren, um mit ihm zu feiern, hatten May aber zu Hause gelassen. Allein. An ihrem siebzehnten Geburtstag, dem letzten Geburtstag ihrer Kindheit.

„Wir haben uns an jenem Abend ganz schön betrunken, wenn ich mich noch recht erinnere“, sagte sie lächelnd.

„Du hast mir bei den Hochzeiten meiner beiden Schwestern geholfen“, warf Evie ein. „Ich hatte so viel damit zu tun, die Spitze und Perlen an ihre Kleider zu nähen, dass ich es nicht schaffte, mich um mein eigenes Kleid zu kümmern. Aber du bist die ganze Nacht mit mir aufgeblieben, um mir damit zu helfen.“

„Bis heute greife ich nur widerwillig nach einer Nadel!“, sagte Beatrice lachend.

Claire legte ihre Hand auf die Hände ihrer Freundinnen. „Und du warst bei mir, als ich Sheriden abwies. Und auch bei so vielen anderen Gelegenheiten.“ Ihr versagte die Stimme, sodass Claire sich räuspern musste. „Bea, du warst immer für uns alle da, wenn wir dich am meisten brauchten. Wir würden nicht einmal im Traum daran denken, dich deinem Schicksal zu überlassen.“

Dabei ging es nicht nur um einen geretteten Geburtstag oder einige Nadelstiche. Sie waren füreinander da gewesen, wann immer alle anderen sie vergessen hatten. Sie wussten, wie weh es tat, von der eigenen Familie – wenn auch unabsichtlich – ignoriert zu werden, wie schwer es war zu akzeptieren, dass auch ihre Zukunft wahrscheinlich nicht anders aussehen würde. Sie alle waren von den Gentlemen des ton ignoriert worden.

Für sie würde es kein galantes Liebeswerben geben. Jene Gentlemen hatten jahrelang in den Londoner Ballsälen regelrecht durch sie hindurchgesehen, weil sie zu klug oder zu schüchtern, zu unauffällig oder zu freimütig waren für den Geschmack des ton.

May befreite ihre Hand und brach die Stille, die sich über den Raum gelegt hatte. „Beatrice erwartet ein Baby! Wir sollten das feiern.“ Sie griff unter ihren Sessel und zog den Korb hervor, den sie mitgebracht hatte. „Und ich weiß genau, wie wir es feiern werden. Mit Apfelsaft und dem Schokoladenkuchen unserer Köchin.“

Wenn das May nicht wieder ähnlich sah, genau im richtigen Moment zu tun, was die Stimmung heben würde. Claire lächelte erleichtert. Nicht, weil May den Kuchen mitgebracht hatte, wenn er auch mehr als willkommen war, sondern weil sie das Wichtigste erkannt hatte. Dieses Baby mochte ja in etwas zu unorthodoxen Umständen gezeugt worden sein, aber es war deutlich zu sehen, dass Beatrice es schon jetzt liebte. May verteilte die Tassen mit dem Apfelsaft und danach kleine Stücke vom Schokoladenkuchen, bis nur noch eins auf dem Teller liegen blieb.

Sie tippte sich mit einem ihrer langen, schlanken Finger ans Kinn. „Wie wollen wir entscheiden, wer das letzte Stück bekommt? Wie wäre es mit unserem Unglücks-Spiel?“

Lachend streckte Beatrice schon die Hand nach dem Kuchen aus. „Das ist leicht. Ich bin die Unglücklichste von uns. Ich erwarte ein Kind, und der Vater des Kindes hat sich in Luft aufgelöst.“

„Nein, reicht nicht.“ May schob den Teller aus Beatrices Reichweite. „Du magst ja keinen Vater für dein Baby haben, aber du hast drei Tanten, die darauf brennen, das kleine Schätzchen nach Strich und Faden zu verwöhnen. Vielmehr sollte ich das Stück kriegen, weil meine Eltern mir androhen, mich nächstes Jahr um dieselbe Zeit mit unserem schielenden Pfarrer Ely zu verheiraten, wenn ich bis dahin keinen Mann gefunden habe.“ Sie drückte den Handrücken dramatisch an die Stirn und seufzte übertrieben. Allerdings wusste Claire, dass die Sache alles andere als zum Lachen war. Pfarrer Ely, fünfundvierzig Jahre alt, schieläugig und leicht gebückt, predigte jeden Sonntag von der erbarmungslosen Bestrafung aller Sünder. Ein unpassenderer Gatte für die unverblümte May war unvorstellbar. Ebenso unwahrscheinlich war, dass May sich in ein solches Los schicken würde. Sie würde vielmehr einen Ausweg finden. Das tat sie immer.

Evie schüttelte den Kopf. „Aber, May, bis dahin muss noch ein Jahr vergehen. Und inzwischen könnte alles Mögliche geschehen. Ein Duke könnte kommen, und du könntest ihn einfangen …“ Sie schnippte mit den Fingern. „… einfach so. Dir bleibt genügend Zeit dafür. Mir aber keine. Andrew ist wieder daheim und verkündet jedem, dass er die Absicht hat zu heiraten. Und zwar sofort.“

„Das sind großartige Neuigkeiten“, beschwichtigte Claire sie freundlich. „Er ist endlich nach zwei Jahren Abwesenheit zurück, und er ist bereit, sich eine Frau zu nehmen.“

„Er muss mich aber erst bemerken. All die Jahre bin ich nur Luft für ihn. Warum sollte es jetzt anders sein?“, sagte Evie verzweifelt. Alle wussten von ihrer geheimen, unerwiderten Liebe zu Andrew Adair, ihrem Freund aus Kindertagen. „Als er fort war, konnte ich mir wenigstens einreden, dass er nicht unerreichbar ist. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, wenn er heiratet und ich mir eingestehen muss, dass es keine Hoffnung mehr gibt.“ Sie erschauderte, und Claire konnte sie gut verstehen. Ein Leben lang würde Evie Andrew und seiner Frau auf diversen Gesellschaften in Little Westbury begegnen und zusehen, wie Andrews Kinder auf seinem Stammsitz aufwuchsen. Auch Claire war in letzter Zeit von einer ähnlich fürchterlichen Vorstellung gequält worden.

Das war der Nachteil, wenn man in einer recht kleinen Gemeinde lebte. Man konnte ihr nicht entkommen. Es sei denn, Evie heiratete und verließ so die Gegend. Nach Claires Meinung verdiente Andrew Adair die Liebe ihrer Freundin sowieso nicht so sehr, wie Evie anzunehmen schien. Am Ende würde er sie doch nur enttäuschen.

„Er fängt doch gerade erst mit seiner Suche nach einer Frau an. Männer sagen, sie wollen heiraten, und dann brauchen sie doch eine Ewigkeit dazu, sich zu entscheiden“, warf May fröhlich ein. „Erinnert ihr euch an Viscount Banning? Bei ihm dauerte es über drei Jahre, bevor er sich entscheiden konnte. Tut mir leid, kein Kuchen für dich. Du hast genau wie ich noch viel Zeit.“ Sie sah Claire fragend an. Oh nein, nicht hier, dachte Claire erschrocken. Nicht heute. Das war ihre ganz private Hölle, die sie den anderen noch nicht mitteilen wollte. Jetzt bedauerte sie, dass sie es May verraten hatte, denn der schienen ihre warnenden Blicke nicht aufzufallen. „Sag es ihnen, meine Liebe. Wenigstens bekommst du so vielleicht den Kuchen.“

„Was ist denn, Claire?“, fragte Beatrice sofort interessiert.

Nichts ist“, stieß Claire hervor und bedachte May mit einem mörderischen Blick. „Wir sollten uns besser auf Beatrices Problem konzentrieren.“

„Nein, sollten wir nicht“, meinte Beatrice bestimmt. „Uns bleiben noch sieben Monate, in denen wir uns um mich Sorgen machen können. Außerdem wäre es mir ganz lieb, wenn ich mich weniger mit mir beschäftigen könnte. Sag du es uns, May.“

May kam ihrem Wunsch gern nach. „Es ist Lashley. Wie ich aus sicherer Quelle aus dem Auswärtigen Amt erfahren habe, soll er für einen traumhaften diplomatischen Posten nach Wien versetzt werden, und Cecilia Northam tut alles, um ihn als seine Frau begleiten zu können.“

Claire hätte fast gestöhnt vor Entsetzen. „Sichere Quelle“ bedeutete, dass May es von ihrem Bruder Preston gehört hatte, der mit Sir Owen Danvers befreundet war, dem Leiter des Zentralen Europäischen Diplomatenkorps. Wenn Preston es sagte, dann war es wahr. Claire wünschte, es wäre nicht so, denn es war das Schlimmste, was ihr hätte geschehen können – dass Jonathon Lashley sich entschließen könnte zu heiraten, ohne je einen Blick auf sie geworfen zu haben, ohne dass sie die Gelegenheit gehabt hätte, ihn für sich zu gewinnen.

Allerdings hatte sie es nicht anders verdient. Was hatte sie schließlich je getan, um Jonathons Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Im Gegensatz zu Evie, die von Natur aus zurückhaltend war, hatte Claire sich freiwillig dafür entschieden, der Gesellschaft nach einer katastrophalen ersten Saison den Rücken zu kehren. Also hatte sie sich es nur selbst zuzuschreiben.

„Es war nie viel mehr als ein unerreichbarer Traum“, sagte sie leichthin, als wäre es ihr gar nicht so wichtig. Die Angelegenheit ließ sich gewiss nicht mit dem Kummer einer Schwangerschaft ohne Gatten vergleichen. Doch ihre Freundinnen sahen sie voller Mitgefühl an. Sie wussten, dass Claire sich schon seit Jahren nach dem verwegenen Jonathon Lashley verzehrte. Er war ihr Idol gewesen, seit alle vier neunjährigen Mädchen in den wundervollen Sommermonaten damals in Sussex hinter Mays älterem Bruder und dessen Freund hinterhergelaufen waren. Jonathon hatte sich den kleinen Mädchen gegenüber immer sehr liebenswert verhalten, und diese Freundlichkeit, zu der er schließlich nicht verpflichtet gewesen war, hatte Claires Herz erobert. Und noch heute gehörte ihr Herz unverändert ihm. „Lashley hat mich in den Jahren, seit ich in die Gesellschaft eingeführt wurde, nicht mehr als zweimal angesehen.“

„Du gibst dir ja auch keine Chance, Claire“, sagte Beatrice streng. „Du bist hinreißend. Jede Frau würde ihr Leben geben für dein Haar – weiche braune Wellen wie eine Tasse schöner, starker Kaffee. Du musst mir erlauben, dir einmal das Haar zu frisieren, und Evie könnte ein oder zwei Kleider für dich aufputzen.“

Claire schüttelte den Kopf. „Ja, sicher. Schönes braunes Haar. Nur leider ist derzeit blondes Haar Mode und blaue Augen mehr als hellbraune.“ Aber die Mode machte nicht bei der äußeren Erscheinung halt.

Die englische Gesellschaft, da machte Claire sich nichts vor, bevorzugte nicht nur ein gewisses körperliches Ideal, sondern auch ein geistiges. Hohlköpfige junge Damen waren nun einmal lieber gesehen als eine, die sich mit einem Gentleman in vier Sprachen unterhalten konnte. Ihr einziger Versuch, sich einen Mann zu angeln, hatte ihr das nur allzu unmissverständlich vor Augen geführt. Sir Rufus Sheriden, seines Zeichens Baronet, hatte auch keinen Zweifel daran gelassen. In einer Ehe mit ihm würde weibliche Intelligenz nicht geduldet werden. Sobald sie das erkannt hatte, hatte Claire sich zurückgezogen. Sie weigerte sich, für irgendeinen Mann das Dummerchen zu spielen. Nach einer Weile hatte Sir Rufus seine Werbung um sie beendet. Es gab genügend andere Damen, die nur allzu bereit waren, sich seinen Bedingungen zu beugen.

„Und warum sollte Lashley mich auch beachten, wenn er Cecilia Northam zur Hand hat?“ Es tat weh, aber es war die Wahrheit. Welcher Mann würde ein Mauerblümchen ansehen, wenn er einen vollkommenen Garten vor Augen hatte – Cecilia mit ihren hellblonden Locken, den strahlenden blauen Augen und der porzellanzarten Haut. Cecilia hatte alles, was ein englischer Gentleman sich nur von einer Braut erhoffen konnte.

„Weil du viel besser bist als sie“, sprach Beatrice ihr Mut zu, aber es änderte nichts an den Tatsachen. Cecilia war wie Salz in Claires Wunde. Sie war der Liebling des ton. Zwar war sie gemeinsam mit ihnen in die Gesellschaft eingeführt worden, aber im Gegensatz zu ihnen sofort überall beliebt gewesen. Auch für sie war es die vierte Saison, aber die Erfahrungen, die sie in der Gesellschaft gemacht hatte, waren so viel angenehmer. Es war sonnenklar, dass sie jeden Mann haben konnte, den sie wollte. Sobald sie sich dazu entschloss.

Schon oft hatte Claire darüber nachgedacht, wie schade es doch war, dass Männer nicht sehen konnten, wie Cecilia Northam wirklich war. Oder vielmehr, wie entsetzlich, dass Jonathon es nicht sehen konnte. Gewiss, Cecilia war sehr schön, aber sie war ebenfalls hinterhältig, und sie hatte es geschafft, einen Zirkel der arglistigsten jungen Damen um sich zu versammeln – alles Frauen wie sie und darauf bedacht, die begehrtesten Partien zu ergattern. Was Claire auch völlig gleichgültig gewesen wäre. Cecilia konnte jene begehrten Partien gerne haben. Doch jetzt schien sie ihr Interesse ausgerechnet auf Jonathon gerichtet zu haben, und das war Claire alles andere als gleichgültig. Offenbar würde die Freundlichkeit doch nicht den Sieg davontragen, was immer einem die Märchen aus ihrer Kindheit auch vormachen wollten.

Früher einmal hätte sie sich tapfer gewehrt. Aber jetzt war sie nicht mehr tapfer. Es hatte keinen Sinn. Tapferkeit zählte nicht mehr. Dafür hatte Cecilia gesorgt, ebenso wie Rufus Sheriden und die Londoner Gesellschaft an sich. Claire war nicht sicher, wann sie sich verändert hatte, aber es war geschehen.

„Nein.“ Beatrice erhob sich abrupt, und Claire erstarrte. Dieses störrische Recken des Kinns hatte sie schon oft bei Beatrice gesehen. Und wenn Beatrice sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht aufzuhalten. „Das werden wir nicht zulassen. Ich mag ja ruiniert sein, aber es gibt keinen Grund, weswegen ihr drei euch mit einer Zukunft zufriedengeben solltet, die ihr nicht selbst gewählt habt.“

Claire wollte widersprechen, doch Beatrice kam ihr zuvor. „Man hat uns vernachlässigt und vergessen, und das ist nicht ausschließlich unsere Schuld. Dennoch sind wir teilweise selbst verantwortlich. Wir ließen zu, dass uns der ton behandelte, als wären wir mit dem Schicksal einverstanden, einen Pfarrer oder arme dritte Söhne eines Baronets zu heiraten.“

„So ist es doch aber. Was können wir denn tun?“, fragte Evie zögernd.

„Wir können unsere besonderen Talente für die Verbesserung unseres Lebens nutzen statt zu unserem Schaden.“ Etwas begann, sich in Claire zu rühren. Ihr gefiel der Gedanke – Verbesserung und kein Schaden. Es klang wie etwas, das die armen Arbeiter kurz vor beim Peterloo-Massaker hätten anstimmen können, als sie für ihre Rechte demonstriert hatten. Beatrice war dabei, aufgeregt auf und ab zu gehen, und Claire spürte, wie sie von der Leidenschaft ihrer Freundin angesteckt wurde. „Es ist so offensichtlich. Warum haben wir es nur nie vorher begriffen? Wir müssen kämpfen für das, was wir wollen. Es ist ein ganz einfaches Naturgesetz. Wenn ein Geschöpf keine Anreize erhält, stirbt es.“ Sie blieb abrupt vor ihren Freundinnen stehen und sah zuerst Evie an. „Wir werden deine Fertigkeiten mit Nadel und Faden brauchen, damit du hinreißende Kreationen für jene schneiderst, die herausstechen müssen. Claire, du bringst uns einige französische Ausdrücke bei, die wir in die Unterhaltung einfließen lassen können, jetzt da Französisch wieder in Mode kommt. May, du kannst uns helfen, Nachforschungen über unsere Jagdbeute zu betreiben – wo sie sein wird und wann, und vor allem, was für ein Mann es ist. Am besten fängst du gleich mit Lashley an.“

Claires Begeisterung über Beatrices Kreuzzug verwandelte sich in Entsetzen. Warum Lashley? Und Beatrice antwortete, als könnte sie ihre Gedanken lesen: „Bei dir ist wirklich Eile geboten, Claire, also kümmern wir uns zuerst um dich. Außerdem wird es höchste Zeit, dass du endlich diesen Idioten Sheriden vergisst. Du hast dich viel zu lange von seiner Meinung von dir einschüchtern lassen. Und du musst auch Cecilias gemeinen Streich mit dem rosafarbenen Kleid vergessen. Ich glaube nicht, dass es Lashley überhaupt aufgefallen ist, und Jahre sind seitdem vergangen.“

Claire stöhnte auf. „Das beweist ja, was ich sage. Er hat den peinlichsten Moment meines Lebens nicht einmal bemerkt.“

„Es beweist gar nichts“, widersprach Beatrice. „Höchste Zeit, dass wir alle vergessen. Wir haben uns zu lange erlaubt, selbstmitleidig zu sein. Aber jetzt ist genug. Ich musste erst schwanger werden, um zu erkennen, dass ich mich nicht mit dem Leben abfinden muss, das die gute Gesellschaft mir diktiert. Ich will nicht, dass ihr eine ähnliche Tragödie erlebt, bevor auch euch die Augen aufgehen. Jede von uns kann das Leben leben, das sie sich ersehnt, allerdings nur dann, wenn wir darum kämpfen und füreinander einstehen.“

Sie sah Claire fest in die Augen, und Claire spürte, wie etwas Warmes, lang Vergessenes, langsam tief in ihr zum Leben erwachte – vielleicht der Hauch dessen, was sie einmal gewesen war und was sie hatte sein wollen, bevor alles ganz anders gekommen war.

„Wir beginnen mit dir, Claire. Auf keinen Fall werden wir zulassen, dass Cecilia Northam dir Lashley wegnimmt. Nicht ohne einen Kampf, bei Gott. Wir haben ihr viel zu lange erlaubt, ihren Kopf bei allem durchzusetzen, und ohne guten Grund.“ Beatrice hob ihre Tasse mit dem Apfelsaft wie zu einem Toast. „Hiermit verkünde ich die Gründung des ‚Vereins der vergessenen Mädchen‘. Gemeinsam werden wir uns voller Entschlossenheit daranmachen, uns zu verbessern, in Gesellschaft Mut zu zeigen und uns gegenseitig zu beschützen. Wir werden unsere Lebensumstände verändern, indem wir ein Leben zu unseren eigenen Bedingungen führen. Denn, meine Damen, nichts wird sich ändern, wenn wir nicht dafür Sorge tragen.“

2. KAPITEL

Sie waren es, die sich ändern mussten. Beatrices Worte gingen Claire selbst drei Tage später nicht aus dem Sinn. Sie mussten aufhören, alles hinzunehmen, und für das Leben kämpfen, nach dem sie sich sehnten. Prinzipiell war Claire nicht dagegen. Beatrices feurige Rede hatte sie innerlich beflügelt. Aber musste ausgerechnet sie die Erste sein?

Claire strich unruhig über den seidenweichen Stoff ihres Kleides – das durch Evies Änderungen viel eleganter geworden war – und stieg hinter ihren Eltern die Stufen zu Worth House hinauf, wo sie dinieren würden. Der „Verein der vergessenen Mädchen“ hätte mit einer von ihnen anfangen sollen, deren Erfolg wahrscheinlicher gewesen wäre. Nichts konnte einen so schnell entmutigen wie der Versuch, das Unmögliche zu erreichen. Sie wusste das besser als jeder andere. Sie hatte es einmal versucht. Und genau das war diese Mission – ein Experiment, das zum Scheitern verurteilt war. Jonathon hatte sie drei Jahre lang nicht beachtet, warum sollte er es ausgerechnet jetzt doch noch tun? Oder sonst irgendjemand? Immerhin hatte sie es drei Jahre lang darauf angelegt, nicht beachtet zu werden, damit die Leute sich nicht daran erinnerten, dass sie das Mädchen war, das bei seiner Einführung in die Gesellschaft beim größten Ball der Saison genau das gleiche Ballkleid getragen hatte wie Cecilia Northam.

In der hohen Halle von Worth House mit dem blau geäderten Marmorboden, den breiten, überwölbten Nischen und kostbaren Statuen überall spürte Claire, wie ihre Anspannung den Höhepunkt erreichte. Die Absicht, seine Lebensumstände zu verändern, war ja theoretisch schön und gut, aber die Absicht dann auch in die Tat umzusetzen, war etwas ganz anderes. Ein kleiner Trost war immerhin, dass May heute bei ihr sein würde – gemeinsam mit ihrer Mutter war sie die Gastgeberin des Abends –, aber es half Claire nicht über das Wissen hinweg, dass Jonathon Lashley und seine Eltern ebenfalls anwesend sein würden, ganz zu schweigen von Cecilia Northam und deren Familie.

Natürlich waren noch mehr Gäste geladen worden, jeder sehr wahrscheinlich von vornehmerer Herkunft als die Weltons. Claires Vater war ein bescheidener Mann und zurückhaltend, besaß aber den alten Adelstitel eines Viscounts, und somit wurden er und seine Frau überall gern eingeladen.

Der Butler führte sie in den Salon, und sofort war May an Claires Seite und hakte sich bei ihr unter. Claires Anspannung ließ langsam nach. May und auch Beatrice waren dabei gewesen, als Claire ihren einzigen Verehrer zurückgewiesen hatte und den Zorn ihrer Familie ertragen musste. Und May war auch Zeugin von Cecilias gemeinem Streich gewesen. Ohne May hätte Claire sich wahrscheinlich schon vor Jahren mit ihren Büchern aufs Land zurückgezogen. Wahrscheinlich hätte sie jetzt sechs Sprachen gesprochen und nicht nur vier.

„Du siehst wunderschön aus“, flüsterte May ihr zu und sah selbst in ihrem mitternachtsblauen Seidenkleid hinreißend aus.

„Findest du?“ Claire zupfte verlegen am Mieder ihres Kleides. Erst kürzlich hatte Evie den alten eckigen Ausschnitt in einem moderneren umgewandelt, der die Schultern halb frei ließ und auch sonst viel zu viel entblößte, wie Claire fand. Zu allem Übel war der Stoff unter der Brust geschickt gerüscht, sodass sie sehr viel voller erschien.

May klopfte ihr auf die Finger. „Hör auf, den Stoff hochzuziehen. Der Schnitt ist gut, mehr als gut. Evie hat sich selbst übertroffen.“ Das Kleid sah wirklich sehr viel schöner aus. Claire hatte es kaum wiedererkannt, als Evie damit fertig gewesen war. Es war ganz einfach nur so, dass sie nicht an einen solch gewagten Stil gewöhnt war. Ein solches Kleid passte nicht zu einem Mädchen wie ihr – einem Mädchen ohne Aussichten, das sozusagen mit der Tapete verschmolz. In einem solchen Kleid fiel ein Mädchen auf. Claire war nicht entgangen, dass einige der männlichen Gäste ihr bereits mit den Blicken folgten. Was sie ziemlich unruhig machte. Sie war es nicht gewöhnt, angesehen zu werden – nur übersehen zu werden.

Andererseits lautete der Plan ja gerade, die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Nie wieder sollte sie mit dem Hintergrund verschmelzen, als wäre sie gar nicht da. Und wenn sie anders sein wollte, dann musste sie auch anders aussehen. Sie konnte von Glück sagen, dass es Evie gelungen war, aus einem Teil ihrer insgesamt langweiligen Garderobe ein solch elegantes Kleid zu erschaffen.

Claires Freundinnen hatten sich für ein blaues Kleid entschieden. „Ätherisch“, hatte Evie es genannt. Sie hatte in ihr kleines Notizbuch gekritzelt und wahre Wunder vollbracht. Nachdem sie das Mieder abgeändert hatte, hatte sie breites schokoladenbraunes Ripsband am Saum angebracht und dünnere Seidenbänder am Mieder und den kleinen Puffärmeln – ein eindrucksvoller Kontrast zum Himmelblau, der gleichzeitig Claires cognacbraune Augen betonte.

Claire musste zugeben, dass sie sich auch anders fühlte als sonst – vielleicht mehr als ihr lieb wäre. Aber auch wenn ein Kleid ihre Erscheinung verändern konnte, so doch sicher nicht ihr Wesen, oder? Mutig ließ sie den Blick durch den Saal schweifen und entdeckte Jonathon schon bald – dunkelhaarig und hochgewachsen, stand er am breiten Kamin, der die Wand an der anderen Seite des Saals beherrschte. Er lächelte ungezwungen, während er sich unterhielt. Claire glaubte nicht, ihn je ohne dieses Lächeln gesehen zu haben oder ohne dieses Selbstbewusstsein, das er ausstrahlte, wo er auch war – die Verkörperung eines Mannes von Welt.

Kein Wunder, dass man ihm einen wichtigen diplomatischen Posten anvertrauen wollte. Er war geistreich, charmant, gebildet, und er war in vieler Hinsicht talentiert – er sang an musikalischen Abenden, konnte fechten, boxen, reiten und schießen. Er war einfach vollkommen, genau wie Da Vincis Universalgenie.

Im Moment unterhielt er sich mit seinem Vater und Lord Belvoir, Cecilias Vater. Cecilia Northam stand an seiner Seite, heute in einem erlesenen rosafarbenen Seidenkleid, die Hand stolz und besitzergreifend auf Jonathons Arm, als würde er bereits ihr gehören. Ihre Blicke begegneten sich. Cecilia musterte abschätzig Claires Ballkleid.

Claire glaubte, noch die verletzenden Worte von damals hören zu können. Mir steht es besser. Viel besser. Du hättest wissen sollen, dass du auf keinen Fall meine Lieblingsfarbe tragen kannst. Seit damals hatte Claire nie wieder Rosa getragen.

Doch dieses Kleid war nicht wie das rosafarbene von damals. Evies blaue Schöpfung ähnelte in nichts dem pinken Seidenkleid, das Cecilia heute trug. Und dennoch spürte Claire, wie ihr Selbstbewusstsein ins Schwanken geriet. „Ich komme mir vor, als hätte man mich den Löwen vorgeworfen“, flüsterte sie May zu.

„Dann sei wie Daniel. Sieh ihnen erhobenen Hauptes in die Augen und lass sie alle wissen, dass du in dieser Saison Ernst machen wirst. Und zwar ab heute Abend.“

Während sie im Saal die Runde machten und hier und da stehen blieben, um mit der einen oder anderen Gruppe von Gästen ein paar Worte zu wechseln, gab Claire sich alle Mühe, gelassen zu wirken. May sagte leise zu ihr: „Cecilia ist nicht die Einzige, die dich bemerkt hat. Sogar Lashley hat ein- oder zweimal zu dir herübergeschaut. Natürlich diskret.“

Natürlich. Jonathon war stets diskret. Zögernd sah Claire zu ihm hinüber, insgeheim erschauernd vor Freude über Mays Worte. Alles an Jonathon zeugte von seinem guten Geschmack, von seiner Kleidung und seinen Manieren bis zu seiner Art, sich zu unterhalten. Wenn er mit jemandem sprach, bekam sein Gegenüber das Gefühl, dass Jonathon ihm wirklich zuhörte. Zumindest hatte Claire diese Erfahrung gemacht bei den wenigen kurzen Gesprächen, die sie mit ihm im Lauf der Jahre geführt hatte. Wenn auch „Gespräch“ nicht wirklich der richtige Begriff war. Eher hatte es sich um ausgedehnte Begrüßungen gehandelt. Im Gegensatz zu anderen Männern, die lediglich höflich waren, wie die Gesellschaft es von ihnen verlangte, bevor sie zu den Frauen weitergingen, für die sich wirklich interessierten, hatte Jonathon sich immer die Zeit genommen, eine Frage zu stellen und sich die Antwort dann auch anzuhören. Claire konnte sich die Anziehungskraft gut vorstellen, die Beatrices Geliebter auf ihre Freundin ausgeübt hatte. Die Fähigkeit, zuhören zu können, wurde sehr unterschätzt.

Sie und May hatten sich gerade von einer Gruppe getrennt und schlenderten zur nächsten, als Claire Jonathons Blick auf sich spürte. Sie sah ihm einen winzigen Moment in die Augen. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, und sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dieses Lächeln sei nur für sie gedacht. Ihr Herz klopfte schneller, und sie sah hastig fort.

Es war eine dumme, unnötige Reaktion. Sie wollte doch seine Aufmerksamkeit erregen, so wie Cecilia Northam es offenbar tat. Claire wollte diejenige sein, die ihre Hand auf seinen Arm legte und ihm in das attraktive, markante Gesicht und die dunkelblauen Augen sehen durfte.

„Komm.“ May zog sie am Arm mit sich. „Lass uns zu ihm und den anderen gehen. Dort sind wir noch nicht gewesen. Und später habe ich Neuigkeiten für dich.“

Claire erstarrte. Die alte Claire gewann die Oberhand über die neue Claire mit ihrem neuen Kleid und der modernen Frisur. Jetzt sollte sie mit Jonathon reden? „Nein, das ist unmöglich. Was soll ich denn sagen?“ Sie war nicht darauf vorbereitet. Außerdem war sie doch eben erst angekommen.

„Wie wäre es mit ‚Guten Abend‘? Er hat dir zugelächelt. Das ist praktisch eine Einladung.“ May lachte. Aber sie hatte gut lachen. Ihr war nicht zumute, als könnte sie keinen Ton herausbringen, wann immer Jonathon in ihrer Nähe war. Andererseits ging es May niemals so. Es war eine ihrer Stärken und gleichzeitig ein Fluch. Wenn Claire sich in all den Jahren zu zurückhaltend benommen hatte, so konnte man von May genau das Gegenteil behaupten.

„Nein“, beharrte Claire. „Noch nicht. Lass uns bis nach dem Dinner warten.“

May lächelte nur, sodass ihr Grübchen in der einen Wange erschien. Ein sehr schlechtes Zeichen, dachte Claire unwohl, und ein beklommenes Gefühl überkam sie. May gab doch sonst nicht so schnell auf.

Minuten später begriff Claire, was gespielt wurde. Sie hatte sich kaum hingesetzt, als sie Jonathons Stimme vernahm. „Miss Welton, es ist mir ein Vergnügen, Sie heute Abend wiederzusehen.“

Sie sah auf und begegnete Jonathons klugen blauen Augen, fast von derselben Farbe wie ihr Kleid. „Das Vergnügen ist ganz meinerseits.“ Die Worte sprudelten hervor, bevor sie sich dessen bewusst wurde. Viel zu sehr rang sie noch mit der Tatsache, dass er ihr genau gegenübersaß, um darauf zu achten, was sie von sich gab. Die ganze Zeit, während sie zu Tisch saßen, würde sie ihn nach Herzenslust betrachten dürfen.

Aber welche Dame würde je solche kühnen Worte aussprechen? Noch dazu bei einem vornehmen Dinner. Kein Wunder, dass Jonathon amüsiert lächelte. Das kam davon, wenn man wagte, ein solches Kleid zu tragen – man wurde ebenso kühn wie dessen Ausschnitt. Claire senkte schnell den Blick und beschäftigte sich mit ihrer Serviette, um sich von ihrem Fauxpas abzulenken. Man sollte meinen, dass sie sich inzwischen daran gewöhnt hätte, ihn anzusehen. Immerhin tat sie es schon fast ihr ganzes Leben. Aber dennoch bekam sie nie genug von seinem Anblick und war sich jeder seiner Züge nur allzu bewusst – seines eleganten Kinns, seiner sinnlichen Lippen. Besonders seiner Lippen. Sie unterdrückte ein Stöhnen. Das waren recht unziemliche Gedanken, wenn man sich mitten in einer Dinnergesellschaft befand.

Sie warf May, die einige Stühle weiter entfernt saß, einen verärgerten Blick zu. Ihre kleine Intrigantin von Freundin hatte natürlich selbst die Tischordnung so arrangiert. Nun, daran ließ sich jetzt nichts ändern. Ihre Rache musste bis später warten. Insgeheim fürchtete sie, dass May noch mehr geplant haben könnte, um Claire in Jonathons Fokus zu rücken. Es sähe ihr jedenfalls ähnlich. Der Gedanke war aufregend und gleichzeitig beunruhigend. Claire wünschte, May hätte sie in ihre Pläne eingeweiht. Nein, eigentlich doch nicht. Wenn sie es vorher gewusst hätte, wäre sie nur noch aufgeregter gewesen. Jetzt blieb ihr nichts weiter übrig, als wachsam zu bleiben und ihre Chance zu nutzen.

Allerdings war sie im Augenblick zu kaum mehr fähig, als sich an Jonathon sattzusehen, während ihnen der erste Gang serviert wurde. Eine ganz besonders faszinierende Locke seines Haars schien sich nicht zügeln zu lassen. Claire vertiefte sich so in seinen Anblick, dass sie kaum darauf achtete, was er zu ihr sagte.

Sie schnappte nur ein Wort auf und zuckte insgeheim zusammen. Ohne zu überlegen, erwiderte sie: „Sie meinen ‚bonschu‘. Die Franzosen betonen das R am Ende von ‚bonjour‘ nicht so stark.“

Jonathon musterte sie eingehend, ein freundliches Lächeln um die Lippen, als hätte sie ihn nicht eben recht unhöflich unterbrochen und darüber hinaus verbessert. Entsetzt hielt Claire den Atem an. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Doch dann stieß May sie unter dem Tisch gegen das Schienbein, um sie recht schmerzhaft daran zu erinnern, dass sie nie wieder vor der Welt zurückschrecken wollte. Nicht in Evies Kleid, nicht mit Beatrices Frisur und nicht, nachdem May alles getan hatte, um diese Situation überhaupt möglich zu machen.

Heute Abend vertrat sie auch ihre Freundinnen. Claire wusste, sie musste tapfer sein. Aber es war wirklich nicht leicht, lieber Himmel, nachdem sie Jonathon Lashley, einen zukünftigen Diplomaten, korrigiert hatte. Noch dazu in aller Öffentlichkeit. An der Dinnertafel in Gegenwart weiterer achtzehn Gäste. Gewiss hatte sie so seine Aufmerksamkeit erregt, wenn auch vielleicht nicht auf die beste Art und Weise. Lieber Gott, die Leute begannen, sie anzustarren.

„‚Bonschu‘“, verbesserte sich Jonathon ungerührt. Man zerstreute unerwünschtes Interesse am besten, indem man so tat, als wäre nichts Besonderes geschehen. „Ich weiß die Gelegenheit zu schätzen, mich zu verbessern.“ Aber warum hatte sie es getan? Noch dazu an der Dinnertafel. Nachdenklich betrachtete er die Frau ihm gegenüber.

Miss Welton besaß jetzt seine ganze Aufmerksamkeit, während sie davor vor allem ihrem Kleid gegolten hatte. Das Kleid war ihm aufgefallen, sobald Claire hereingekommen war, doch jetzt fiel auch sie ihm auf. Was an sich schon seltsam war. Bisher war sie nie besonders auffallend gewesen. Selbstverständlich kannte er sie. Sie war eine Freundin von Prestons Schwester und auf dem Land eine Nachbarin der Worths. Einige Jahre waren schon vergangen, seit sie in die Gesellschaft eingeführt worden war, und so waren sie sich natürlich hier und da bei diversen Londoner Bällen und Abendveranstaltungen begegnet. Sie hatte ihm immer den Eindruck vermittelt, dass sie nicht bemerkt werden wollte. Also hatte er sie nicht bemerkt. Nicht richtig. Bis heute.

Heute war sie anders. Ihr Auftritt in diesem hinreißenden blauen Kleid war dezent, aber dennoch außergewöhnlich. Wahrscheinlich kannten die Damen einen ausgefalleneren Ausdruck für dieses Blau, aber ihn erinnerte es an einen englischen Sommerhimmel, und an ihr sah es hinreißend aus, wenn dieser besondere Blauton allerdings, ebenso wenig wie der Schnitt des Kleides, zu einer Dame passen wollte, die nicht auffallen wollte. Vielleicht deutete Miss Welton ja damit an, dass sie entschlossen war, in dieser Saison einen Gatten für sich zu angeln? Oder vielleicht hatte sie bereits einen? Nach seiner Erfahrung achtete eine Dame darauf, wie sie sich kleidete, wenn es einen Mann gab, den sie damit beeindrucken wollte.

Was eine Dame allerdings nicht tat, war, einen Mann zu verbessern. Und doch hatte Miss Welton genau das getan und damit alle Blicke auf sich gezogen. Insgeheim gratulierte er ihr zu ihrer Kühnheit. Miss Welton hatte offenbar entschieden, aus ihrem Schneckenhaus herauszukommen. Wenn ihm auch lieber gewesen wäre, sie hätte es nicht mit einem Kommentar über sein Französisch getan. Nun, die eigentliche Schuld traf natürlich nicht sie. Schließlich konnte sie nicht ahnen, wie empfindlich er zurzeit in dieser Hinsicht war. Die Franzosen sprachen tatsächlich nicht jeden Buchstaben in ihren Wörtern aus, was ihn leider nicht davon abhielt, es dennoch zu tun – und noch dazu völlig falsch. Was ihn störte, denn er war es nicht gewohnt, irgendetwas falsch zu machen.

Cecilia, die Dame an seiner Seite, lächelte eher frostig, ein Zeichen dafür, dass sie nicht ganz so nachsichtig war wie er. Sie beugte sich leicht zu ihm, als sollte nur er ihre Worte hören. Doch sie sprach laut genug, um von jedem am Tisch leicht verstanden werden zu können. Was zweifellos ihre Absicht war. „Ich wusste gar nicht, dass wir eine Franzosenfreundin unter uns haben, Lashley.“

Jonathon runzelte die Stirn. Wieder hefteten sich alle Blicke auf die junge Frau. Das war keine freundliche Bemerkung. Abgesehen davon, dass er es nicht nötig hatte, von Cecilia verteidigt zu werden, sah er keinen Grund, weswegen sie Miss Welton derart angreifen musste. Sie eine Franzosenfreundin zu nennen, war das Unhöflichste, was Cecilia hätte sagen können, ohne offen feindselig zu wirken, und Miss Welton wusste es natürlich. So wie jeder andere Gast auch. Alle hatten aufgehört zu essen, die Blicke fasziniert in ihre Richtung gewandt. Der Krieg mochte ja seit sieben Jahren vorbei sein, doch eine Vorliebe für etwas Französisches zu zeigen, was es auch sei, war noch immer nicht gern gesehen.

Jonathon schaute Miss Welton eindringlich an, als könnte er ihr so etwas Stärke vermitteln. Er sah an der Art, wie sie die Finger um den Stiel ihres Weinglases schloss, dass sie kurz davor war, sich betreten zurückzuziehen.

Wagen Sie es nicht, sich zu entschuldigen, Miss Welton. Ich habe einen Fehler gemacht, und Sie haben mich darauf hingewiesen. Sie haben nichts falsch gemacht.

Wenn sich jemand entschuldigen musste, dann Cecilia. Ihre Worte waren völlig inakzeptabel gewesen, und es missfiel ihm, wenn jemand angefeindet wurde – ganz besonders eine Frau, die sich den heutigen Abend ausgesucht hatte, um aus ihrem Schneckenhaus herauszukommen.

Zu seinem Entzücken straffte Miss Welton die Schultern und sah Cecilia direkt in die Augen. „Französisch ist die Sprache der Diplomatie auf dem Kontinent, Miss Northam. Man muss kein Franzosenfreund sein, um einzusehen, wie wichtig es ist, in dieser Sprache bewandert zu sein.“ Sie brachte ein gelassenes Lächeln zustande, als wollte sie zu verstehen geben, dass nichts sie dazu bringen würde, sich wegen ihres Wissens zu schämen. Jonathon hätte ihr am liebsten applaudiert.

„Sie haben großes Glück, diese Sprache so gut zu beherrschen.“ Er lächelte und wusste sehr gut, dass er sich mit seiner Unterstützung klar und deutlich gegen Cecilia stellte. Was sie nicht erfreuen dürfte.

Auf seiner anderen Seite meldete sich jetzt May Worth zu Wort. „Miss Welton spricht fließend Französisch, ebenso wie drei weitere Sprachen.“

Jonathon hob interessiert die dunklen Brauen und versuchte, nicht allzu fasziniert in ihre cognacfarbenen Augen zu blicken oder gar auf den Ansatz ihrer Brüste. Ihr Mieder war nicht tiefer ausgeschnitten als das jeder anderen anwesenden Dame, aber aus irgendeinem Grund fand er ihres unvergleichlich verführerischer. „Ist das wahr, Miss Welton? Ich wusste nicht, dass Sie über solch erstaunliche Sprachkenntnisse verfügen.“

Er beneidete sie darum, was jeden hier am Tisch gewiss erstaunen würde. Wenn er ihre Kenntnisse gehabt hätte, hätte es viele seiner Probleme gelöst. Wenn er Französisch sprechen könnte, wäre ihm der Posten in Wien endgültig sicher, und den wollte er aus persönlichen Gründen unbedingt bekommen. Leider war es ihm bisher und seit er aus Waterloo heimgekehrt war, nicht gelungen. Trotz unzähliger Lehrer und obwohl er die Sprache ohne Probleme lesen und schreiben konnte, war er nicht dazu in der Lage, sie richtig auszusprechen.

Ein Lakai servierte ihm eine wunderschön angerichtete Platte mit Boeuf Bourguignon. Na herrlich. Ein französisches Gericht. Jetzt verspottete sogar das Essen ihn. Und danach würde er sich auch noch einer gewiss wütenden Cecilia stellen müssen – der hübschen, launenhaften Cecilia, die angeblich die ideale Gattin für ihn abgeben würde. Man erwartete von ihm, dass er am Ende der Saison um sie anhielt. Sie war eine weitere Station auf dem Weg zu seinem wichtigen Posten in Wien und der Inbegriff englischer Schönheit, wie die Franzosen es sich vorstellten. Und er war bereit, sie zu heiraten, wenn es nötig war, ebenso wie er auch Französisch lernen würde. Das waren lediglich die letzten zwei Hindernisse, die er noch überwinden musste. Er war es seinem Bruder schuldig. Er würde dazu beitragen, dass noch zu seinen Lebzeiten der Frieden gesichert sein würde und niemand mehr zu sterben brauchte.

Jonathon warf Miss Welton noch einen letzten Blick zu, den sie flüchtig erwiderte, bevor sie sich dem Mann an ihrer Seite widmete. Welche Sprachen beherrschte sie außerdem noch und warum? Hatte sie vor, sie auch anzuwenden, oder waren sie ihr sonst auf eine Weise nützlich? Cecilia zupfte an seinem Ärmel, da er zu viel Zeit hatte verstreichen lassen, ohne sich mit ihr zu beschäftigen. Doch bevor er sich ihr zuwandte, sah er Miss Welton mit ihrem schönen Mund ein einziges Wort formen: Merci. Kein Zweifel, seine Neugier war geweckt, wenn es sich auch ganz und gar nicht gehörte.

3. KAPITEL

Sag schon! Was für Neuigkeiten hast du?“ Claires Neugier war kaum auszuhalten, als sie und May sich endlich in der Kutsche der Worths auf den Weg zu Lady Stamfords Ball aufmachten. Mays Eltern befanden sich mit der übrigen Familie in der Stadtkutsche. Sich zu gedulden, bis sie allein waren, ging fast über Claires Kräfte, besonders da sie sicher war, dass es um Jonathon ging und May es immer schaffte, die interessantesten Dinge zu erfahren.

May zwinkerte ihr zu. „Lashleys Französischlehrer hat ihn verlassen. Keiner weiß, aus welchem Grund, aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass er jetzt keinen mehr hat, der ihn unterrichten könnte.“

Enttäuscht stieß Claire den Atem aus, den sie unbewusst angehalten hatte. „Ist er nicht ein wenig zu alt, um einen Lehrer zu haben?“ Warum wollte er überhaupt Französisch lernen? Mit seinen achtundzwanzig Jahren hatte er die Universität bereits seit Langem hinter sich und war in allem, was er tat, vollkommen. Doch dann runzelte sie die Stirn. Auf der letzten Dinnerparty war er nicht vollkommen gewesen. Sein Französisch war erbärmlich. Und obwohl sein Lehrer aus Paris kam, schien er in seinem Beruf nicht sehr erfolgreich zu sein.

May lehnte sich in die weichen Polster zurück, ein selbstgefälliges Lächeln spielte um ihre Lippen. „Ich bin noch nicht fertig. Während Evie fleißig dein Kleid umgeändert hat, war ich auch fleißig. Jonathon Lashley kann kein Französisch sprechen, und wenn sein Leben davon abhinge. Und das meine ich wörtlich. Preston sagt, man hat Lashley ein Ultimatum gestellt: Entweder er lernt bis August, sich einigermaßen anständig auf Französisch zu unterhalten, oder er verliert seinen diplomatischen Posten.“

Entsetzt sah Claire ihre Freundin an. Das wurde ja immer schlimmer. Sie hatte ihn also nicht nur in Anwesenheit so vieler Menschen verbessert, sondern auch in einer Sache, die ihn sehr schmerzen musste. Lieber Himmel, gewiss verabscheute er sie jetzt. Und trotzdem hatte er sie nicht mit einer grausamen Bemerkung zum Schweigen gebracht, selbst als er dank Cecilia die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Stattdessen hatte er sich mit Worten und freundlichen Blicken für sie eingesetzt. Vielleicht würde sie heute Nacht davon träumen. Sie hoffte es sehr. Sie wollte sich daran erinnern, wie er sie über den Tisch hinweg angelächelt hatte, und an jedes seiner Worte. Fast hätte man es als ein richtiges Gespräch bezeichnen können. Da war jener Moment gewesen, als er sich Cecilia zugewandt hatte, Claire aber irgendwie glaubte, er hätte gern noch etwas gesagt, sie etwas gefragt. Sie seufzte wehmütig. Wie gern wollte sie glauben, wenn auch nur für einen Augenblick, dass sie Jonathon Lashley verzaubert hatte …

Ungeduldig schnippte May mit den Fingern und holte Claire damit in die Gegenwart zurück. Offenbar hatte sie ihrer Fantasie zu sehr die Zügel schießen lassen. „Muss ich es dir denn noch deutlicher machen? Spring in die Bresche, Claire! Sei seine Heldin in dieser schwierigen Stunde. Lehre ihn Französisch, sichere ihm seinen Posten in Wien.“ Ihre Augen funkelten vor Tatendrang. „Wer weiß, ob er dir nicht noch ewig dankbar sein wird.“

Das konnte sie wirklich tun. Oder vielmehr, das Mädchen im himmlischen blauen Kleid konnte das tun. Claire richtete sich abrupt auf. Bei den vielen Möglichkeiten, die sich vor ihr eröffneten, begann ihr, ein wenig schwindlig zu werden. Mays Vorschlag war genial – die vielen Stunden, die sie ganz allein zusammen verbringen würden, und noch dazu der anregende Gegenstand ihres Unterrichts. Nicht ohne Grund hieß es, dass Französisch die Sprache der Liebe sei.

Nachdenklich nagte sie auf ihrer Unterlippe. „Da ist nur ein Problem. Wie kriege ich ihn dazu, zu mir zu kommen?“ Er brauchte ja nicht ausgerechnet sie, sondern einfach jemanden, der Französisch sprechen konnte. „Nichts garantiert uns, dass er mich aufsucht.“ Oder dass sie ihn erfolgreich unterrichten würde. Warum sollte ihr gelingen, was einem echten Franzosen nicht gelungen war? Aber diesen Zweifel behielt sie lieber für sich.

May blieb unverzagt. „Nachdem wir beim Dinner die Samen gesät haben? Mehr brauchen wir vielleicht gar nicht zu tun. Hast du bemerkt, wie er dich angesehen hat, als ich deine vier Sprachen erwähnte? Es war, als sähe er dich plötzlich mit anderen Augen. Seine Zeit läuft aus. Er braucht jemanden, und zwar sofort. Er ist verzweifelt, Claire.“ Genau wie ich.

Verzweifelt? Claire fuhr leicht zusammen. Das war nicht unbedingt die beste Empfehlung. Ihr wäre es lieber gewesen, er würde zu ihr kommen, weil er sie respektierte, nicht aus Verzweiflung. Aber sie war schließlich auch verzweifelt und konnte ihn deswegen sehr gut verstehen. Sie wusste besser als die meisten, dass Leute in ihrer Lage nicht wählerisch sein durften. „Wir verlassen uns ein wenig zu sehr darauf, dass er schon irgendwie zu mir finden wird“, warnte sie May.

Ungeduldig zuckte May mit den Schultern. „Dann schreib ihm einen Brief. Hilf ihm, zu dir zu finden. Was hast du schon zu verlieren? Sag ihm, du hättest von seiner Situation gehört, und wärst froh, ihm zu helfen. Er wird dich nicht bloßstellen, weil es auch für ihn zu peinlich wäre. Ein Skandal ist das Letzte, was er sich im Moment leisten kann. Wenn wir Glück haben, nimmt er dein Angebot an, und wenn nicht, wird er nur höflich ablehnen. In beiden Fällen wirst du nicht schlimmer dastehen.“

Was im Grunde bedeutete, sie stand bereits so schlimm da, dass sie nichts zu verlieren hatte. Für Lashley galt das aber nicht. Claire wurde klar, dass Jonathon nur dann besser dastehen würde, wenn er auf ihr Angebot einging. Wenn nicht, riskierte er sogar, etwas zu verlieren, das ihm teuer war.

Von allen Dingen, die sie gehofft hatte, einmal mit Jonathon Lashley gemein zu haben, musste es ausgerechnet ihre Verzweiflung sein.

„Jonathon, ich bin verzweifelt, vollkommen verzweifelt. Als du das letzte Mal bei einem Empfang Französisch gesprochen hast, hättest du fast einen Krieg verursacht!“ Hinter seinem Schreibtisch in einem der Regierungsgebäude von Whitehall sitzend, warf Sir Owen Danvers, Leiter des diplomatischen Korps für alle Belange in Zentraleuropa, Jonathon einen aufgebrachten Blick zu.

„Ich sprach ein Adjektiv falsch aus“, stellte Jonathon klar. Das war zwei Wochen her, und er war es müde, darüber zu reden oder auch nur daran zu denken. Eine weitere Erinnerung an alles, was jetzt anders war.

„Und verursachtest beinahe einen Krieg!“, wiederholte Danvers entschieden. „Das scheint dir nicht bewusst zu sein.“ Er senkte die Stimme. „Ich brauche dich in Wien. Du bist der richtige Mann für die Arbeit dort. Und dennoch hast du den französischen Gesandten beleidigt.“

Er hatte das Wort beaucoup benutzen wollen, das ganz harmlos einfach nur „viel“ bedeutete. Als er es aussprach, kam leider beau cul heraus. Selbstverständlich ohne jede Absicht, hatte er dem Gesandten mitgeteilt, er habe ein schönes Hinterteil. Im Grunde verlieh man diesem einzelnen Zwischenfall viel zu viel Gewicht. Es war ja schlussendlich nicht zu einem Krieg gekommen, und da erschien es ihm recht kleinlich, so penetrant auf seinem Fehlverhalten herumzureiten.

Jonathon strich sich mit der Hand durchs Haar und atmete aus. Er selbst zog vor zu denken, dass ein möglicher Krieg verhindert worden war und nicht fast begonnen hatte. Allerdings hatte er schon immer zu den Menschen gehört, die die Dinge von der positiven Seite betrachteten. Danvers offenbar nicht. Wie sehr Jonathon jedoch auch versuchte, die Sache abzutun, er konnte nicht leugnen, dass ihm ein solcher Fehler vor sieben Jahren nicht unterlaufen wäre.

„Du musst meine Lage verstehen“, fuhr Danvers fort. „Du bist ein brillanter Kopf, wenn es darum geht, die Nuancen des Ottomanischen Reiches und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu begreifen. Du erfasst das empfindliche Gleichgewicht dort wie kein anderer. Du kannst Französisch mühelos lesen, weswegen du ideal bist, wenn es darum geht, Dokumente zu übersetzen und Korrespondenz zu lesen. Du kannst es im Notfall auch schreiben, was die geringste meiner Sorgen ist. Aber du kannst es ums Verrecken nicht sprechen. Nicht mehr. Es gab einmal eine Zeit, da war dein Französisch, verdammt noch mal, fließend.“

Das war das Problem. Vor dem Vorfall hatte er fließend Französisch gesprochen – bevor sein Bruder Thomas verschwunden war. Damals war irgendetwas mit seinem Gehirn geschehen. Jonathon erhob sich und trat an das hohe Fenster, das den Blick auf die Themse freigab. Danvers’ Büro befand sich nicht irgendwo im finsteren Inneren von Whitehall, denn es gehörte einem Mann, der in England großen Einfluss besaß, und sogar weit über England hinaus. Jonathon konnte sich vorstellen, dass Owen Danvers viele düstere Geheimnisse kannte.

Heute kümmerte ihn nur eine Sache: Owen Danvers hatte die Macht, ihn zu zerstören, selbst wenn er ein alter Schulfreund war. Seine Versetzung nach Wien hing von Danvers’ Empfehlung ab. Jonathon schenkte sich aus der Kristallkaraffe auf einer Anrichte neben dem Fenster ein Glas Brandy ein. „Du weißt, was dieser Posten für mich bedeutet, Owen“, sagte er leise, ohne sich zu seinem alten Freund umzublicken. Er nahm scheinbar gelassen einen Schluck. Der Posten bedeutete ihm alles. Er würde den Verlust seines Bruders mit dem Bemühen um Frieden rächen. Er könnte dem Opfer, das sein Bruder bei Waterloo gebracht hatte, einen Sinn geben. Er könnte der Welt beweisen, dass er mehr war als der Sohn eines Viscounts, mehr als ein Mann, dessen Wert nach seiner Herkunft und seinem Vermögen gemessen wurde.

„Verdammt, natürlich weiß ich das, Jonathon. Ich hätte dich schon längst deiner Wege geschickt, wenn ich nicht wüsste, wie hart du dafür gearbeitet hast und wie sehr du es willst.“ Owen Danvers seufzte. Er war zwei Jahre älter als Jonathon und dennoch war Jonathon ihm damals als Sohn eines Viscounts voraus gewesen, da Owen lediglich der Sohn eines bescheidenen Baronets war und sehr viel mehr hatte kämpfen müssen, um an die Spitze zu kommen. Und jetzt hatte Owen es geschafft, war an der Spitze und hatte, was Jonathon wollte.

„Wollen“ schien ihm ein so unzureichendes Wort zu sein. Er wollte es so sehr, dass er bereit war, sein ganzes Leben nach diesem Ziel auszurichten, ja, sogar dafür zu heiraten. Lord Belvoir, Cecilias Vater, war ein wichtiger Mann im Parlament und hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihn unterstützen würde, wenn Jonathon im Ausgleich dafür seine Tochter zur Frau nahm. Er hatte ebenfalls keinen Zweifel daran gelassen, dass auch das Gegenteil geschehen könnte. Falls Jonathon beschließen sollte, Cecilia doch nicht zu heiraten, würde er diese Unterstützung verlieren. Was Cecilia sich wünschte, das bekam sie auch. In der vergangenen Saison hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, die zukünftige Lady Oakdale zu werden, und sich seitdem in den Gedanken verbissen. Nun, irgendwann musste er schließlich heiraten, da konnte seine Wahl ebenso gut auf sie fallen.

Owen legte ihm eine Hand auf sie Schulter. „Er fehlt uns allen“, sagte er leise. „Thomas war ein tapferer Mann. Er starb im Dienst für sein Vaterland, edel und aufopfernd. Es ist viel Zeit seitdem vergangen, aber manchmal glaube ich, ich höre sein Lachen. Ich drehe mich im Klub um und rechne damit, ihn zu sehen, aber er ist nicht da.“

„Ich weiß. Ich auch.“ Jonathon hielt inne, um sich zu sammeln. „Glaubst du wirklich, er ist tot?“, fragte er kaum hörbar. Nach all dieser Zeit fanden zu viele Leute, dass es lächerlich von ihm war, noch immer an einer so aberwitzigen Hoffnung festzuhalten. Also äußerte er diesen Gedanken nur vor einigen auserwählten Freunden. Es hatte keine Leiche gegeben. Thomas war ganz einfach verschwunden.

Owen lachte nicht und versuchte auch nicht, ihm den Gedanken auszureden. „Es ist sehr lange her, Jonathon.“

Oh ja, sehr lange. Er hatte sieben Jahre Zeit gehabt, sich damit abzufinden, dass Thomas für immer fort war, und dennoch hatte er das ebenso wenig gemeistert wie sein Französisch. Und vielleicht würde es ihm auch niemals gelingen. „Er war einfach zu verdammt jung“, stieß er hervor, unfähig, den Schmerz zu unterdrücken. „Er hatte kaum seinen zwanzigsten Geburtstag hinter sich, kaum die Zeit, erwachsen zu werden.“

„Er hat sein Leben für uns geopfert.“ Owen räusperte sich. „Wir können dafür sorgen, dass sein Tod nicht umsonst war. Jonathon, ich brauche dich in Wien. Was muss ich dafür tun?“ Owen hielt inne. „Machst du denn Fortschritte?“, fragte er behutsam, freundlich.

„Ich brauche Zeit.“ Wenn auch selbst sieben Jahre nicht genug gewesen waren. Er versuchte, nicht an das Debakel vom gestrigen Abend zu denken. „Ich muss nur einen neuen Lehrer finden und den Unterricht fortsetzen“, sagte er so selbstbewusst, wie er nur konnte. Es war großes Pech, dass sein Lehrer ausgerechnet jetzt wegen eines Notfalls in der Familie nach Paris hatte abreisen müssen, aber vielleicht war das ja nicht so schlimm. Plötzlich musste er an ein Paar kluger brauner Augen denken und an eine höfliche Stimme. Die Franzosen betonen das R am Ende von ‚bonjour‘ nicht so stark. Vielleicht ließ sein Problem sich gar nicht durch weiteren Unterricht aus der Welt schaffen. Dennoch musste er es versuchen. Thomas zuliebe.

„Wir müssen den Posten besetzen, bevor die Saison vorüber ist, Jonathon. Elliot Wisefield platzt schon vor Ungeduld, so sehr drängt er auf deine Stelle, solltest du ausfallen, und wir brauchen bis Neujahr Ersatz für Lord Wareborne in Wien. Ich habe gute Männer dort drüben, wie zum Beispiel Viscount St Just, Matheson und Truesdale, aber Zentraleuropa ist kurz davor zu explodieren.“

Oder zusammenzubrechen, je nachdem, wie man es betrachtete. Aber sie wollten Wisefield schicken? Der Name ließ Jonathon schaudern. Sie waren schon in der Schule Rivalen gewesen, so wie er und Owen Freunde. Wie passend, dass sie auch jetzt um denselben diplomatischen Posten wetteiferten. Aber wie konnte Owen, wie konnte irgendjemand Wisefield auch nur in Betracht ziehen? Er mochte ja gerissen sein, über enzyklopädisches Wissen verfügen, wenn es um Geschichte ging, aber er besaß keinen Hauch von Feingefühl.

Jonathon protestiere jedoch nicht. Es gehörte sich nicht, einen Konkurrenten schlechtzumachen. Stattdessen musste er zuversichtlich bleiben. Owen Danvers sollte nicht denken, dass er bettelte. Schwäche überzeugte niemanden, nicht einmal einen guten Freund.

Ein selbstsicheres Lächeln um die Lippen, drehte Jonathon sich zu Owen um, das Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn er allzu ängstliche Damen beruhigen wollte. „Das Ende der Saison passt gut. Danke, Owen.“

Danvers’ Miene wies zum ersten Mal so etwas wie Sorge auf, als er jetzt die Hand seines Freundes nahm und fest schüttelte. „Lass es mich dir noch einmal sagen: Ich will dich dort haben, Jonathon. Die Phanarioten erheben sich, die Griechen verlangen einen unabhängigen Staat. Die nächsten Jahre drohen, sehr unbeständig zu werden. Das Wiener Abkommen wird infrage gestellt werden. Und ob es gehalten wird oder nicht, wird von den Männern abhängen, die wir nach Wien schicken.“

„Das Abkommen muss gehalten werden. Es muss.“ Jonathon überlegte bereits fieberhaft, in welche Richtung geplant werden musste. Die Phanarioten, einflussreiche Griechen in Konstantinopel, glaubten, die Russen könnten ihnen bei ihrem Aufstand gegen das Osmanische Reich helfen, doch Russland wagte es nicht, sich ohne Frankreich und Großbritannien zu rühren. Das Osmanische Reich war schwach, doch war jetzt der richtige Zeitpunkt, es zu zerschlagen? Hunderte von Fragen regten sich, doch keine würde von Bedeutung sein, wenn er nicht endlich diese letzte Bedingung erfüllte.

„Weißt du schon, wer dich weiter unterrichten könnte?“, fragte Danvers.

„Ja, natürlich“, antwortete Jonathon mit einer Sicherheit, die er ganz und gar nicht empfand. Wieder dachte er an die braunen Augen und das hübsche blaue Kleid, das einen besonders reizenden Busen zur Geltung gebracht hatte. Es war Wahnsinn. Er kannte sie kaum, und jetzt machte er seine gesamte Zukunft von ihrer Hilfe abhängig. Miss Welton, Viscount Stanhopes Tochter, May Worths Freundin aus Sussex. Wie hieß sie noch gleich? Clarice, Clara, Clarinda, Catherine? Kein Name schien richtig zu sein. Claire. Das war es. Aber würde sie es für ihn tun? Konnte sie es überhaupt? War ihr Französisch wirklich so makellos, wie May angedeutet hatte? Er konnte es sich nicht leisten, sich mit Mittelmäßigkeit abzufinden. Er brauchte Vorzüglichkeit, und er brauchte sie schnell.

Hastig fasste er einen Plan, und der begann mit Blumen. Jonathon verließ Whitehall eilenden Schrittes und hielt auf den nächsten Blumenhändler zu. Obwohl er sich klarmachte, dass sein Verhalten an Verzweiflung grenzte, war er plötzlich voller Elan. Er erhoffte sich nicht wenig von einer Frau, deren Vorname ihm nur mit Mühe wieder eingefallen war.

„Mr. Jonathon Lashley wünscht Sie zu sprechen, Miss Welton.“

Die Ankündigung des Butlers ließ Claire unwillkürlich erschauern vor Erregung. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, genau diese Worte zu vernehmen? Wie oft hatte sie von diesem Moment geträumt – dass Jonathon Lashley sie zu sehen wünschte? Dann zwang sie sich, nicht zu vergessen, weswegen er zu ihr kam. Denn in keinem ihrer Träume hatte er sie aufgesucht, um sich von ihr Französisch beibringen zu lassen. Wie es aussah, schien Mays Plan aufzugehen. Eigentlich hätte Claire außer sich sein müssen vor Entzücken, warum kam sie sich also ein wenig wie eine Betrügerin vor? Weil sie ihr Französisch benutzt hatte, wie man Käse in der Mausefalle benutzte, um eine Maus zu fangen?

„Bitten Sie ihn herein, Marsden“, sagte ihre Mutter sofort und hob die dünnen Augenbrauen. „Interessant.“

So sehr auch wieder nicht, wie Claire fand. Sie wusste schließlich genau, aus welchen Grund Jonathon hier war. Er hatte den Zeitpunkt seines Besuchs bewusst gewählt, um sich einer gewissen Ungestörtheit sicher zu sein. Die Zeit für einen Nachmittagsbesuch war fast vorbei, der Salon bei ihnen im Stanhope House war leer, da die letzten Besucher sich vor zehn Minuten verabschiedet hatten. Und es bestand nicht die Gefahr, dass noch irgendjemand kommen könnte. War es ihm so peinlich, bei ihr gesehen zu werden? Der Gedanke versetzte ihr einen Stich.

Claire und ihre Mutter erhoben sich, als Jonathon den Raum betrat und sich verbeugte. „Guten Tag, Lady Stanhope, Miss Welton. Ich hoffe, ich habe mich nicht verspätet?“ Er überreichte Claire einen Blumenstrauß aus frischen weißen Schneeglöckchen und buttergelben Rosen.

„Danke. Sie sind sehr schön.“ Sie nahm den Strauß entgegen. Seine Geste rührte sie, obwohl es völlig unvernünftig von ihr war. Es bedeutete nichts, sondern war reine Höflichkeit. Verlegen gab sie Marsden ein Zeichen, eine Vase zu bringen. „Möchten Sie eine Tasse Tee?“ Claire wies auf die Teekanne und die fantasievoll auf hübschen Tabletts angerichteten Kuchen.

„Ich habe eine Bitte an Sie“, begann Jonathon, sobald sie mit Tee und Kuchen Platz genommen hatten. Er balancierte seinen Teller auf einem Knie, die Finger fest um den zarten Henkel seiner Tasse geschlossen. Jetzt wurde es spannend. Claire betrachtete ihn aufmerksam. Wenn es nicht völlig unwahrscheinlich gewesen wäre, hätte sie sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass der so weltgewandte Jonathon Lashley aufgeregt war. Unmöglich. Allerdings hatte sie ja bereits feststellen können, dass er nicht so vollkommen war, wie sie geglaubt hatte. Wenn er Großmutter Highthornes Wedgwood-Porzellan noch etwas fester drückte, würde es wahrscheinlich zerbrechen.

Sie selbst hatte das Gefühl, gleich zerbersten zu müssen unter seinem intensiven Blick. Während er sprach, sah er sie so eindringlich an, dass ihr Puls zu rasen begann. Bisher hatte er noch nie so viele Worte auf einmal an sie gerichtet. Wenn sie etwas in der Hand gehalten hätte, hätte sie auch versucht, sich daran festzuhalten. Jetzt versuchte sie, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. „Ich brauche jemanden, der mich in französischer Konversation unterrichtet. Gestern Abend erwähnten Sie, dass Sie sich in der Sprache auskennen, Miss Welton.“ Er sah jetzt zu ihrer Mutter hinüber. „Wenn Sie es mir erlauben würden, wäre ich froh, könnte ich für die Dauer der Saison die Hilfe Ihrer Tochter beanspruchen.“

Er war gerade zu seiner Bitte gekommen, als es geschah. Ein leises Knirschen war zu hören, und Jonathons Teetasse brach entzwei, fiel auf den Teppich und der Tee ergoss sich über seiner hellbraunen Reithose. „Teufel! Das ist heiß!“ Er sprang sofort auf und schaute sich nach einer Serviette um, doch Claire war schneller.

„Oh, das tut mir leid! Erlauben Sie mir!“ Sie wischte hastig mit ihrer Serviette über die nasse Stelle. In diesem Moment dachte sie nur an das heiße Wasser, und dass es ihm wehtun musste. „Geht es Ihnen gut? Sie haben sich doch nicht verbrüht, oder?“ Sie presste den Stoff auf seinen Oberschenkel.

Plötzlich lag seine Hand auf ihrer und hielt sie fest. Seine Stimme klang kühl. „Es geht mir gut. Das trocknet gewiss rasch wieder. Vielen Dank, Miss Welton, für Ihre … äh … prompte Unterstützung. Ich denke, jetzt kann ich es selbst übernehmen.“

Claire setzte sich wieder in ihren Sessel und sah ihm zu, wie er den Tee abtupfte. Erst jetzt überkam sie tiefe, heiße Scham über das, was sie eben getan hatte. Sie spürte, wie sie errötete. Nur ein wenig weiter rechts, und sie hätte … lieber Himmel! Fast hätte sie den zukünftigen Viscount Oakdale begrapscht, und das auch noch in Anwesenheit ihrer Mutter!

„Ich bitte tausendmal um Vergebung, Lady Stanhope, für meine Ausdrucksweise und für die Tasse. Ich hoffe, es war kein Erbstück.“ Lashley blieb stehen, während er sich entschuldigte, und tat sein Bestes, den dunklen, nassen Fleck auf seiner Hose zu ignorieren, nachdem er von ihm abgelassen hatte.

„Es ist völlig unbedeutend, Mr. Lashley, machen Sie sich deswegen keine Gedanken.“ Claires Mutter lächelte, als wäre nichts Ungehöriges geschehen, als hätte ihre Tochter nicht fast gerade die intimste Stelle ihres Gastes grob berührt. „Ich bin nur froh, dass Sie nicht verletzt wurden.“

Oder von meiner Tochter belästigt. Sie kommt nicht oft aus dem Haus, wissen Sie, dachte Claire gedemütigt, als Lashley den Raum mit größerer Würde verließ, als den meisten Männern in seiner Situation möglich gewesen wäre. Würde sie ihm je wieder in die Augen blicken können? Allerdings würde sie es tun müssen, nicht wahr? Und da fiel ihr ein, dass sie seine Frage gar nicht beantwortet hatte.

Claire eilte zur Tür, wobei es ihr gleichgültig war, dass es sich nicht schickte, hinter einem Mann herzulaufen. Aber die guten Sitten hatte sie bereits hinter sich gelassen, als sie versucht hatte, seine Hose trocken zu reiben. „Mr. Lashley!“, rief sie und brachte ihn an der Haustür zum Stehen.

Jonathon wandte sich zu ihr um. „Ja, Miss Welton?“

„Ich habe Ihnen nicht geantwortet. Es wäre mir eine Ehre, Ihnen zu helfen.“

Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem ernsten Gesicht aus. Ihre Entscheidung erfreute ihn. Bildete sie es sich nur ein, oder schien er auch erleichtert zu sein? Es hatte sehr viel Charakterstärke dazu gehört, sie anzusprechen, so viel, dass er eine Teetasse zwischen den Fingern zerdrückt hatte. Nicht jeder Mann war stark genug zuzugeben, dass er Hilfe nötig hatte. „Wie passt es Ihnen morgens um elf?“

Er war einverstanden! Die Erkenntnis erfüllte Claire mit Erstaunen und Ungläubigkeit. Beatrices und Mays Plan würde tatsächlich funktionieren. Und was nun? Doch sie verschob den beunruhigenden Gedanken auf später. Im Augenblick war ihr einfach zu schwindlig zum Nachdenken. Jonathon sah sie mit leicht erhobenen Brauen an, als wartete er auf etwas. Ach ja, eine Antwort! Was für ein Tölpel sie doch sein konnte. Er würde sich fragen, wie sie die französische Sprache meisterte, wenn sie nicht einmal mit den grundlegendsten Regeln ihrer eigenen Muttersprache zurechtkam.

„Morgens um elf passt mir wunderbar.“ Sie schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr und versuchte, gelassen zu klingen, während sie innerlich vor Freude jubelte. Jonathon hatte Ja gesagt! Sicher, nur zu einigen Unterrichtsstunden mit ihr, aber es war ein Anfang.

4. KAPITEL

Der Unterricht erwies sich in jeder Hinsicht als Reinfall. Sie saßen seit einer Stunde zusammen, und Claire war am Ende ihrer Weisheit. Nie hätte sie gedacht, dass sie so schnell den Punkt erreichen würde, da ihr der Geduldsfaden riss – ganz besonders nicht, wenn es um Jonathon Lashley ging. Auch gelang es ihr offenbar nicht, die gewünschte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, um nicht zu sagen, das Ganze kam einem völligen Misserfolg gleich.

Das Mieder von Evies jüngster Kreation – ein recht tief ausgeschnittenes blassgrünes Morgenkleid – war ein wenig zu eng, sicher dem Versuch geschuldet, ihren Busen leicht anzuheben, doch Lashley konnte nicht lange genug stillhalten, um das Ergebnis zu würdigen. Er erhob sich ständig von dem langen Tisch, an dem sie saßen, und durchquerte die ganze Bibliothek, um sich ans Fenster zu stellen, wo es nicht das Geringste von Interesse zu sehen gab. Claire schaute nach seinem vierten Abstecher selbst nach, um sich zu vergewissern. Vielleicht hatten die Gärtner sich ja entschlossen, nackt zu arbeiten. Aber nein. Gott sei Dank waren alle Gärtner vollständig bekleidet. Es gab nichts zu sehen, nur den Garten und die Mauer, die das Grundstück von der Gasse dahinter trennte.

Doch offensichtlich bedeutete „Sehenswürdigkeit“ für Lashley etwas ganz anderes als für sie. Jetzt war er schon zum achten Mal zum Fenster geschritten, und wenn es auch ein wahrer Augenschmaus für sie war, seine breiten Schultern in dem perfekt zugeschnittenen Gehrock und die langen, muskulösen Beine in der hellen Hose ohne auch nur den kleinsten Teefleck zu bewundern, während er in den auf Hochglanz polierten Stiefeln durch den Raum ging, war damit weder ihrem noch seinem Zweck gedient.

Am liebsten hätte sie ihn in seinen Sessel zurückgeschubst und angeschrien: „Bleiben Sie sitzen und sehen Sie mich an!“ Nicht nur, weil sie dieses lächerliche Kleid ganz allein für ihn angezogen hatte, sondern weil sie unmöglich Mays und Beatrices Ratschläge, wie man am besten die Aufmerksamkeit eines Mannes erregte, in die Tat umsetzen konnte, wenn er ständig davonlief. Er musste schon sitzen bleiben, damit sie sich über den Tisch lehnen und auf etwas im Buch weisen konnte. Er musste sitzen, damit sie sich hinter ihn stellen und ihre Brust leicht gegen seine Schulter drücken konnte, während sie ihm etwas erklärte. Aber ihre Freundinnen hatten es wohl nie mit einem Mann zu tun gehabt, der sich wie ein verflixter Springteufel aufführte.

Wie stellte er sich außerdem vor, dass sie ihm helfen konnte, wenn er nicht bei ihr blieb, um von ihr zu lernen? Eine Dame keifte gewiss nicht wie ein Fischweib, wenn sie sich in der Gegenwart eines Mannes befand, den sie beeindrucken wollte. Aber gute Manieren hatten sie bisher nicht sehr weit gebracht. Claire warf einen verzweifelten Blick auf die Uhr. Ihre Zeit war gleich vorbei, und sie hatten nichts geschafft. Lashley würde sie für unfähig halten. Diese Erkenntnis spornte sie zu einem letzten Versuch an. Was sie auch sein mochte, sie wusste, dass sie über ein äußerst gutes sprachliches Feingefühl verfügte, und das würde sie ihm auch beweisen. Claire holte tief Luft und klammerte sich an die letzten – winzigen – Überreste ihrer Geduld. „Lassen Sie es uns noch einmal versuchen, Mr. Lashley.“ Sie durchmaß den Raum bis zum Fenster, das Buch in der Hand, und murmelte leise vor sich hin: „Dağ sana gelmiyorsa, sen dağa gideceksin.“

„Was haben Sie gesagt?“ Lashley hob erstaunt den Kopf. Nun hatte sie endlich sein Interesse erweckt, wenn auch nicht durch einen französischen Satz. Eigentlich sollte es sie nicht wundern.

„Ich sagte, wenn der Berg nicht zu dir kommt, musst du zum Berg gehen. Es ist aus den Essays von …“

„Francis Bacon, ich weiß. Aber Bacon schrieb seine Essays auf Englisch“, entgegnete Lashley. „Ich vermute, das war Türkisch.“

„Ja, stimmt. Die meisten hätten es nicht erkannt.“ Es war eine angenehme Überraschung, aber es machte nicht die Tatsache wett, dass er sich nicht auf den Unterricht konzentrieren konnte. Er war ein erwachsener Mann, der wahrscheinlich mehrere Güter besaß und mit seinem Verwalter stundenlang über den Rechnungsbüchern sitzen musste. Claire konnte sich nichts Trockeneres vorstellen. Warum konnte er sich also nicht auf Französisch konzentrieren, das alles anderes als langweilig war?

„Und doch sprechen Sie Türkisch, Miss Welton? Ist es eine der vier Sprachen, die Sie beherrschen?“ Er erinnerte sich also an Mays Worte an der Dinnertafel. Sie errötete, insgeheim erfreut darüber, dass er etwas über sie im Gedächtnis behalten hatte.

„Es wird hoffentlich meine fünfte werden. Da das Osmanische Reich offenbar dazu bestimmt ist, im Fokus von England zu stehen, erschien es mir vernünftig, die Sprache zu lernen.“ Vielleicht bot sich jetzt die Gelegenheit, die sie gesucht hatte. Sie beugte sich vor und zeigte auf die Seite, wobei sie hoffte, auch tiefen Einblick in ihren Ausschnitt gewähren zu können. „Wir sind nicht hier, um Türkisch zu lernen, Mr. Lashley. Vielleicht versuchen wir es noch mal mit den französischen Sätzen? Lesen Sie den ersten vor, s’il vous plaît.“

Lashley atmete tief ein und biss leicht die Zähne zusammen, bevor er begann. „Ou esst le salong?“

Da war er wieder, der zweite Grund, weswegen dieser Unterricht sich als wahre Katastrophe herausstellte. Lashleys Aussprache war mehr als fürchterlich. Als wäre seine Unfähigkeit, länger als zwei Minuten bei der Sache zu bleiben, nicht schon arg genug gewesen, war Lashleys Aussprache einfach entsetzlich, wenn er dann doch einen Versuch machte. „Grottenschlecht“ war noch ein milder Ausdruck dafür. Eigentlich war Lob eine gute Methode, um zu Strebsamkeit anzuspornen, aber was sollte sie dazu sagen? „Schön, es klang wie eine Frage. Das ist gut. Es sollte ja auch eine sein.“

Lashley ließ sich nichts vormachen. „Ich bin kein Kind, Miss Welton. Es hilft nicht, mich anzulügen. Bei Ihnen klingt es so leicht. Ich sehe die Worte, ich weiß, was sie bedeuten, aber ich kann sie nicht aussprechen.“

„Noch nicht“, beharrte Claire. Sie konnte die Enttäuschung in seinen Augen nicht ertragen. „Wir müssen einfach nur üben.“

Lashley wandte sich vom Fenster ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er schüttelte den Kopf. „Ich habe geübt. Jahrelang. Es tut mir leid, Miss Welton, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe. Es funktioniert einfach nicht.“

Er wollte gehen? Nein, das war unmöglich. Sie durfte ihn nicht schon nach dem ersten Unterricht verlieren. Wenn Beatrice bereit war, der Tatsache die Stirn zu bieten, dass sie ein Baby erwartete, dessen Vater sie nicht vorweisen konnte, dann würde sie selbst es ja wohl noch schaffen, ihrem vollkommenen Jonathon Lashley Französisch beizubringen. Aber sie musste schnell handeln. Er hatte bereits die Hälfte des Wegs bis zur Tür zurückgelegt. Ein nie geahnter Trotz und wilde Entschlossenheit loderten in ihr auf. Er durfte diesen Raum nicht verlassen. Claire eilte ihm hinterher, um ihn rechtzeitig einzuholen. Selbst wenn es mehr als merkwürdig aussah, dass eine Dame einem Gentleman hinterherlief. Aber im Augenblick konnten ihr die Anstandsregeln gestohlen bleiben.

Sie stellte sich mitten vor die Tür, die Hände in die Hüften gestemmt, um ihm den Weg zu versperren. „Ich hätte Sie nie für einen Drückeberger gehalten, Mr. Lashley. Aber vielleicht haben Sie ja noch nie eine Herausforderung angenommen, die Sie nicht leicht bewältigen konnten.“

„Kennen Sie mich gut genug, um eine solche Behauptung aufzustellen?“ Lashley verschränkte die Arme vor der Brust, den Blick hart auf sie gerichtet. Hier stand ein kälterer, schroffer Jonathon Lashley vor ihr als der, den sie kannte. Der lachende Liebling des ton hatte sich in etwas gefährlich Aufregendes verwandelt. Claires Herz klopfte schneller, aber sie wich nicht von der Stelle.

Das Ganze hatte sogar eine gute Seite! Noch nie hatte sie so dicht vor ihm gestanden – so dicht, dass sie den Kopf heben musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können, so dicht, dass sie mit den Brüsten seine Jackenaufschläge berühren könnte, ohne sich besonders anstrengen zu müssen, so dicht, dass sie den Duft seiner Seife wahrnehmen konnte, Zedern- und Sandelholz, so männlich und so passend zu ihm. Ihr ganzes Leben lang hatte sie darauf gewartet, Jonathon Lashley so nahe zu sein. Doch wie es das Pech wollte, geschah es ausgerechnet während einer Auseinandersetzung, die sie auch noch selbst provoziert hatte.

„Sie sind eine sehr kühne Frau, Miss Welton“, sagte er kühl. „Gestern rieben Sie meine Hose trocken, und heute wollen Sie verhindern, dass ich den Raum verlasse. Man muss sich fragen, was Sie als Nächstes mit meiner Person zu tun gedenken. Morgen finde ich mich womöglich an einen Stuhl gefesselt und Ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.“

Claire errötete heiß. Die recht anschaulichen Worte beschworen prickelnde Bilder herauf, wie das wohl aussehen mochte und was sie dann mit ihrer Macht tun würde. Jonathon gefesselt, sein sonst so vollkommen gebundenes Krawattentuch gelockert, die Beine weit gespreizt, sodass die engen Pantalons seine Männlichkeit nicht verbergen konnten. Liebe Güte, wo war nur ihr Fächer, wenn sie ihn brauchte? Und vor allem, wo war ihre Selbstbeherrschung? Solche Gedanken bewahrte man sich für die Nacht auf, wenn man allein im Bett lag. Doch jetzt war helllichter Tag, und Jonathon stand direkt vor ihr.

Das ging zu weit. Sie musste damit aufhören. Claire verdrängte ihre skandalösen Gedanken, stopfte sie mit aller Macht wieder in die Büchse der Pandora, der sie entsprungen sein mussten. An allem war nur Jonathon schuld, angefangen vom katastrophalen Unterricht bis zu den unzüchtigen Gedanken, die er heraufbeschworen hatte mit seinen Anspielungen auf einen gefesselten Gentleman – der ja nicht unbedingt bekleidet sein musste.

„Sie haben mich darum gebeten!“ Claire verlor endgültig die Fassung. Woher nahm sie all diese Leidenschaft? Sie war seit Jahren nicht mehr so mutig gewesen. Eigentlich hatte sie geglaubt, vergessen zu haben, wie das ging. Aber offenbar irrte sie sich. Auch ihre Kühnheit war seine Schuld. Sie würde ihn verdammt noch mal für alles zur Verantwortung ziehen! Na wunderbar. Jetzt fluchte sie auch noch, als wäre die Vorstellung, ihn mitten in der Bibliothek ihres Vaters an einen Stuhl zu fesseln, nicht schon schlimm genug gewesen. „Sie wollten meine Hilfe, und Sie werden sie bekommen. Sie brauchen mich, wenn Sie auch nur die geringste Chance haben wollen, den Posten in Wien zu erhalten!“

Mitleidlos packte sie ihn am Arm und zerrte ihn zurück ans Fenster, so weit wie möglich von der Tür entfernt. Wenn er versuchen sollte zu fliehen, würde sie genügend Zeit haben, ihn aufzuhalten, und da er nicht stillsitzen konnte, wollte sie nicht länger darauf bestehen. Stühle waren im Moment vielleicht wirklich nicht die beste Idee, und sie musste sich auf das Wesentlichste konzentrieren. „Jetzt gehen wir die Sätze noch einmal durch. Dieses Mal müssen Sie nur auf meinen Mund achten. Denken Sie, das bringen Sie fertig?“

Wahrscheinlich nicht. Er hatte schließlich nichts richtig gemacht, seit die Unterrichtsstunde angefangen hatte. Er hatte eine offensichtlich schlüpfrige Bemerkung über einen Stuhl von sich gegeben und damit eine Dame zu einem äußerst undamenhaften Benehmen veranlasst. Aber es war allein ihre Schuld. Dass er – sogar mehr als gut für ihn war – auf ihren Mund geachtet hatte, war ja überhaupt der Anfang seiner Probleme gewesen. Was zum Henker stimmte nicht mit ihr? Das war nicht die Miss Welton, wie er sie kannte, wenn man überhaupt behaupten konnte, dass er sie kannte.

Ihm kam der Gedanke, dass er sie vielleicht ebenso wenig kannte, wie sie ihn, und hatte er ihr nicht gerade eben genau das vorgeworfen? Was wussten sie schon mehr voneinander als das, was die Fassade bot, die nach außen sichtbar war? Bis zum heutigen Tag waren sie sich immer nur gelegentlich bei gesellschaftlichen Ereignissen begegnet, wo er sie aus bloßer Höflichkeit begrüßt hatte.

Was hatte sie in den vergangenen drei Saisons getan, außer Türkisch zu lernen und sich zu verstecken? Vielleicht hatte sie ja tatsächlich Männer an einen Stuhl gefesselt und sie sich zu Willen gemacht? Jedenfalls war sie heftig errötet, als er die Bemerkung ausgesprochen hatte. Er hätte eine Guinea darum gegeben zu wissen, was sie in dem Moment gedacht hatte. Es waren wirklich immer die stillen Wasser. Und dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass Claire Welton nicht von Natur aus still war. Vielleicht hatte sie es sich im Lauf der Jahre nur angewöhnt. Eine interessante Vorstellung, dass jemand tatsächlich zurückhaltend sein wollte.

„Sehen Sie mich an?“, verlangte sie. „Sie müssen sich konzentrieren.“ Sie wiederholte den eben ausgesprochenen französischen Satz noch einmal, da sie richtig erraten hatte, dass er ihr nicht zugehört hatte.

Dabei konzentrierte er sich. Nur eben auf ihren Mund. Worum sie ihn ja auch gebeten hatte. Hatte sie überhaupt eine Ahnung, wie schwierig es war, auf ihren großen rosigen Mund mit der sinnlichen Unterlippe und den geraden weißen Zähnen zu starren, während sie unmögliche französische Silben formte, und mit den Gedanken beim Unterricht zu bleiben? Die Aufgabe war eines Herkules würdig.

Vielleicht lautete die Frage gar nicht, was mit ihr nicht stimmte, sondern was mit ihm nicht stimmte. Kein einziges Mal in den drei Jahren höflicher Begegnungen hatte er sich so sehr dazu ermutigt gefühlt, sie anzusehen wie heute. Jetzt nahm er alles an ihr wahr, nicht nur ihren Mund, sondern auch die Farbe ihrer Augen, die an kostbaren Cognac erinnerte, das haselnussbraune Haar, den recht verwirrenden Umriss ihrer festen Brüste unter dem verführerisch engen Mieder. Blassgrün stand ihr ungemein, und wer immer dieses Kleid für sie genäht hatte, wer immer das Mieder entworfen hatte – nun, er hatte sehr gute Arbeit geleistet, mehr sagte man besser nicht dazu.

„Répétez. Je m’apelle Claire.“ Er sah ihren Mund die Worte formen und wiederholte den Satz, wobei er die Gelegenheit nutzte, den Blick auf ihren Lippen ruhen zu lassen statt auf weniger schicklichen Stellen.

„Sche mapell Claire.“

„Jonathon“, verbesserte sie leise. Im Sonnenlicht, das durch das Fenster drang, schimmerte ihr Haar fast rötlich.

„Ja?“ Er hob den Blick kurz.

„Nein, keine Frage. Ich meinte nur, Sie sollen Ihren eigenen Namen einsetzen. Sie sagten Claire.“

„Oh, richtig. Sche mapell Jonathon“, korrigierte er sich und kam sich wie ein dummer Schuljunge vor.

„Das war großartig. So viel besser“, lobte sie ihn, und er war unverhältnismäßig stolz darauf, diesen einfachen Satz gemeistert zu haben. Sie legte den Kopf leicht schief und musterte ihn nachdenklich. Diesmal konnte er nicht zum Fenster fliehen. Er stand bereits da. Dieser Blick, mit dem sie ihm bis in die Tiefen seiner Seele zu schauen schien, hatte ihn vom Anfang des Unterrichts verunsichert und schließlich erregt. Gewiss, seit er denken konnte, hatten Frauen ihn gemustert. Dass er die Aufmerksamkeit des schönen Geschlechts erregte, war nichts Neues für ihn. Er wusste, dass Frauen ihn attraktiv fanden – körperlich, aber auch finanziell und gesellschaftlich. Seine Anziehungskraft auf sie nährte sich aus mehreren Aspekten. Aber noch nie hatte eine Frau ihn auf diese Weise angesehen. Sie versuchte nicht, ihn einzuschätzen, sondern zu erforschen. Was sah sie wohl? Der Gedanke machte ihn ein wenig unruhig.

Er war so oft aufgestanden, dass sie denken musste, es sei etwas nicht in Ordnung mit ihm. Aber er konnte ihr ja nicht gut erklären, dass er sich bewegte, um ihr den unverkennbaren Anblick seiner beginnenden Erregung zu ersparen. Helle Pantalons schienen ihm kein Glück zu bringen. Zuerst der Tee und jetzt das hier.

„Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?“ Ihre Stimme klang jetzt sanfter, nicht mehr verärgert. „Sie können die Sprache übersetzen? Sie können sie schreiben?“

„Ja. Ganz gut sogar“, antwortete er entschieden, als müsste er sich verteidigen. Hielt sie ihn für einen völlig ungebildeten Schwachkopf? Sein Stolz war verletzt.

„Wie haben Sie in der Vergangenheit mit Ihren Lehrern gearbeitet? Lasen Sie von einem Papier ab?“

„Ja. Wir lasen Passagen aus Büchern. Warum fragen Sie?“

„Damit hören wir auf. Ich glaube nicht, dass es Ihnen helfen kann, sonst hätte es das inzwischen schon längst getan.“ Sie tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. „Ich habe eine Ahnung, Mr. Lashley, dass Sie unter einer Art Angst leiden könnten, zu versagen.“

Versagen? Ganz offensichtlich war ihr entgangen, wie sehr er die ganze Zeit gegen seine Erregung ankämpfen musste. „Einen Augenblick, Miss Welton. Ich versichere Ihnen, ich habe keine Angst zu versagen.“ Er funktionierte sogar besser, als ihm heute lieb sein konnte, da eine Frau Verlangen in ihm weckte, die er kaum kannte, und nur weil sie ein hellgrünes Kleid trug und ihre Lippen aufregend zu bewegen wusste.

Sie hüstelte diskret. „Ich weiß nicht, von was für einem Versagen Sie reden, Mr. Lashley, aber ich beziehe mich darauf, dass Sie vielleicht früher, wann immer Sie Französisch sprachen, sich gefühlt haben, als würden Sie zur Schau gestellt oder kritisiert. Und das könnte Ihre Fähigkeit, richtig zu sprechen, beeinträchtigt haben.“

Jonathon schnaubte. „Und Sie können dieses Problem lösen?“ Er fürchtete sehr, dass sie es nicht konnte, wenn auch nicht durch ihre Schuld. Schließlich verriet er ihr nicht alles über seine offensichtliche Unfähigkeit.

Sie nickte, ohne zu zögern. „Ja, ich glaube, das kann ich. Es wären nur vielleicht einige unorthodoxe Unterrichtsmethoden nötig.“ Stricke und Stühle kamen ihm da ungebeten in den Sinn. Vielleicht hatte er sich doch nicht in ihr getäuscht. „Wir werden nicht an einem Tisch sitzen und aus Büchern lesen.“ Oh, doch keine Stricke und Stühle. „Ich glaube, das Lesen, also das Ansehen der Buchstaben, war Teil des Problems. Wenn Sie lesen, sehen Sie die Worte, aber Sie hören sie nicht. Sie sprechen sie aus, wie wir englische Wörter aussprechen würden. Die Franzosen haben zwar dieselben Buchstaben wie wir, aber sie ergeben nicht immer dieselben Laute. Sie müssen die Sprache hören, nicht sehen. Am besten beginnen wir von da.“

Jonathon hob die dunklen Augenbrauen, teilweise beeindruckt von ihrer Theorie, aber auch skeptisch. Er sollte ihr wirklich die ganze Wahrheit anvertrauen. „Die besten Lehrer haben es versucht.“ Es war nicht fair, ihr den Rest zu verheimlichen. Es war ja nicht so, dass er kein Französisch sprechen konnte. Er konnte es nur nicht mehr. Einst hatte er die Sprache fließend beherrscht – bevor er in den Krieg gezogen war, bevor er Thomas verloren hatte. Bevor sein Leben zum Stillstand gekommen war.

„Sie haben nicht meine Methode ausprobiert. Wollen Sie es versuchen? Wir beginnen einfach damit, dass ich Sie meine Sätze wiederholen lasse, und schließlich gehen wir über zu Gesprächen, bei denen Sie Ihre eigenen Antworten konstruieren müssen. Wir hören auf, in einem staubigen, alten Raum an einem Tisch zu sitzen. Morgen gehen wir im Garten spazieren, damit Sie sich wohler fühlen, in Bewegung sein können.“

Man musste ihr lassen, dass sie sich nicht schnell unterkriegen ließ. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug die Stunde. Es war ein Uhr. Der Unterricht war zu Ende. „Au revoir, Monsieur Lashley. À la prochaine.“

Alla proschän … Claire.“ Eine solche Vertraulichkeit war gewiss kühn von ihm. Ihren Namen hatte er beinahe genüsslich ausgesprochen, fast verwundert, als wäre er eine Entdeckung. Und in gewisser Weise war er es ja auch. Für ihn war sie insgeheim nicht mehr Miss Welton. Miss Welton war der Name eines Mauerblümchens, aber dieses Geschöpf, das er in der Bibliothek hier vorgefunden hatte, war alles andere als schüchtern und zurückhaltend. Claire Welton war beharrlich.

Er hielt ihren Blick fest, als wäre sie eine Frau, die er auf einem Ball kennengelernt hätte und äußerst interessant fand. Nach einigen aufregenden Momenten senkte sie den Blick. Offenbar erstreckte ihre Hartnäckigkeit sich nicht auf alle Lebensbereiche. Zwar verlieh sie ihr den Mut, sich ihm in den Weg zu stellen und herausfordernde Dinge wie „Angst zu versagen“ und „achten Sie auf meinen Mund“ von sich zu geben, aber versagte ihr den Dienst, wenn ein Mann sie eindringlich ansah. Ein sehr interessanter Gegensatz, fand er. Claire Welton war mehr, als es den Anschein machte. Sie war um einiges vielschichtiger.

Und er hätte nichts dagegen gehabt, die Schichten eine nach der anderen zu entfernen, um ihr Innerstes zu enthüllen.

5. KAPITEL

Wenigstens der Garten schien eine gute Idee gewesen zu sein. Jonathon war am folgenden Tag gelassener, weniger abgelenkt. Claire bemerkte sofort, dass ihm die Worte leichter über die Lippen kamen, jetzt, da er sich während des Unterrichts im Freien bewegen konnte und weniger das Gefühl haben musste, auf dem Prüfstand zu stehen. Claire wünschte, sie könnte dasselbe von sich behaupten. Sie mochte seine Angst zu versagen ein wenig gemildert haben, aber ihre eigene leider nicht.

In ihrem Wunsch, ihn zu entspannen, hatte sie nicht bedacht, wie der liebliche Duft der Rosen ihrer Mutter auf sie wirken würde. Hier gab es keine staubigen Bücher und keinen langen Tisch, der sie zu einem gewissen Abstand voneinander zwang. Stattdessen gingen sie Seite an Seite, ihre Hand lag auf seinem Arm, und seit fast einer Stunde schlenderten sie gemeinsam durch den schönen Garten.

Sei vorsichtig, was du dir wünschst, dachte sie trocken. Sie wusste sehr wohl, dass sie sich vor einigen Tagen in Mays Salon nach genau so einer Situation gesehnt hatte – an Jonathons Seite zu sein und die Hand auf seinen Arm zu legen. Und sie machte sich auch nichts vor, sie genoss die Gelegenheit, ihm so nahe zu sein, und noch dazu für eine so lange Zeitspanne. Nur leider fiel es ihr auch schwer, sich auf irgendetwas außer ihn zu konzentrieren. Dennoch stellte sie sich recht gut an. Der Garten – le jardin – gab jede Menge Anlässe zu einem Gespräch und dem Gebrauch vieler nützlicher Vokabeln. Von Worten wie l’arbre bis zu Sätzen wie ouvrez la porte.

„Ich kann mir vorstellen, wie das Wort auf Papier aussieht“, sagte Jonathon lachend, während sie den letzten Satz übten. „Ouvrez. Was für ein Wort.“ Heute war er wieder der Jonathon, den sie kannte, voller Gelächter und Sorglosigkeit und einfach vollkommen. Nichts war mehr zu erkennen von dem kalten, gefährlich aufregenden Mann in der Bibliothek.

„Ein französisches, und stellen Sie es sich bitte nicht vor. Ich denke, das ist gerade Ihr Problem. Sie sehen die Worte mit den Augen eines Engländers.“ Sehr attraktive Augen, aber eben doch die eines Engländers.

Er lächelte liebenswert. Kleine Fältchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln, und sein ganzes Gesicht erhellte sich. Claire ging dieses Lächeln durch und durch. „Hoffentlich habe ich bewiesen, dass ich kein völliger Tölpel bin.“

Sie begriff, dass er Bestätigung brauchte. Wie seltsam, dass ausgerechnet Jonathon Lashley Bestätigung brauchte, noch dazu von ihr. Jeder bewunderte ihn. Jeder fand ihn hinreißend. Claire erwiderte das Lächeln und gab ihm die Versicherung, die er suchte. „Das habe ich nie von Ihnen gedacht.“ Weit entfernt davon. Wenn er wüsste. „Jetzt, da wir wissen, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben, wird es nur besser werden.“

„Alles hängt davon ab.“ Sie erreichten das Ende des Pfades, ihre Schritte führten sie zum Zaun am Rand des Besitzes. Jonathon hielt inne, als sie sich umwandten, und sie spürte sein Zögern. „Aber offensichtlich wissen Sie das. Darf ich fragen, wie das kommt? Gestern erwähnten Sie schon den Posten in Wien.“ Er runzelte die Stirn. „Es ist nicht allgemein bekannt, zumindest nicht die Tatsache, dass ich die Sprache beherrschen muss.“

Claire nagte an ihrer Unterlippe. Sie hatte keine gute Erklärung dafür. „Ich wollte Sie nicht kränken.“ Sie hatte sich vorgenommen, heute brav zu sein. Gegen jede Erwartung hatte sie eine zweite Chance bekommen, also würde sie keine Flecken an ihm trocken reiben und keine Tür verstellen. Nichts, was einer Dame nicht würdig war.

„Nein“, entgegnete er schnell. „Ich bin nicht gekränkt, nur erstaunt, dass Sie es wussten.“

„Die Stellung ist wichtig für Sie?“, fragte Claire, um nicht direkt antworten zu müssen. Sie wollte May nicht in Schwierigkeiten bringen. Sie gingen weiter auf das Haus zu, diesmal langsamer. Jonathon hatte seine andere Hand auf ihre gelegt. Wahrscheinlich hatte er dieselbe Geste schon Hunderte von Malen bei anderen Damen gemacht und war sich dessen wahrscheinlich nicht einmal bewusst. Claire war sich klar, dass es nichts bedeutete, und doch konnte sie kaum etwas anderes wahrnehmen als diese Berührung – und die Bewegung ihrer Röcke gegen sein Bein, während sie weitergingen. Als ob sie ein wirkliches Paar wären, als ob sie zusammengehörten. Es war so leicht, sich vorzustellen, es wäre so.

Er nickte. „Sie bedeutet mir alles. Die Berufung ist die Gelegenheit, etwas Gutes zu tun in der Welt. Den Krieg zu beenden, Frieden zu schließen, einen Kontinent wieder aufzubauen. Es ist die Gelegenheit, Dinge zum Besseren zu verändern.“

Verblüfft sah sie ihn an. Seine sonst so fröhlichen blauen Augen waren sehr ernst. Einen Moment sagte sie nichts, während sie versuchte, seine Worte zu begreifen. „Ich finde das sehr edel.“ Seine Beweggründe beeindruckten sie. Der Posten war ihm nicht wichtig, um zu Ruhm zu gelangen, sondern weil er etwas Gutes für die Menschheit bewirken wollte. „Sie haben sich ein hehres Ziel gesetzt. Das wusste ich nicht.“ Ihr wurde bewusst, wie wenig sie über ihn wusste. Diese Tage hatte sie erkannt, dass er eine Tiefe hatte, die weit über sein attraktives Äußeres und sein hinreißendes Lächeln hinausging.

„Das können Sie ja auch nicht. Das ist kein Thema, das man eben mal kurz während des Walzers oder der Quadrille anschlagen würde.“ Jonathon lächelte, aber ihr entging nicht, dass er versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

Claire warf ihm unter der Krempe ihres Hutes einen nachdenklichen Blick zu. „Sie haben sich eine sehr schwierige Aufgabe gestellt. Imperien gedeihen durch die Kriege, die sie führen, wie es scheint. Es braucht einen Krieg, um sie zu erbauen, und Kriege folgen unweigerlich, wenn sie untergehen, und hinterlassen nichts als Leid.“

„Ich fürchte, wir stehen im Begriff zu erleben, wie ein weiteres Imperium sich auflöst, doch es geschieht zu früh. Die Osmanen können nicht durchhalten. Doch wir dürfen nicht zulassen, sie an Napoleon zu verlieren, wenn sie ihren Untergang auch selbst zu verschulden haben. Noch herrscht eine zu große Instabilität. Seit 1814 sind erst sieben Jahre vergangen. Ich möchte mir nicht vorstellen, welchen Landraub es zur Folge haben könnte. Wenn wir nicht bald handeln, werden überall in Zentraleuropa Unruhen ausbrechen.“

Sie hörte aufmerksam zu, während Jonathon ihr seine Gedanken näher ausführte und von den slawischen Staaten und deren Nationalismus erzählte, von Phanarioten und den christlichen Glaubensgemeinschaften im Osmanischen Reich. Wie war es nur möglich, dass sie diese Seite an ihm nicht gekannt hatte? Aber andererseits, wie hätte sie es auch wissen sollen? Sie war nie in seine Nähe gekommen, hatte ihn immer nur aus der Ferne bewundert. Kannte allerdings irgendjemand diese Seite? Ein Stich unerwarteter Eifersucht überraschte sie. Claire war plötzlich eifersüchtig auf jeden seiner Freunde, die ihm nah genug waren, um mit seinen Gedanken und Leidenschaften vertraut zu sein. „Und Miss Northam? Teilt sie diese Ansichten?“ Vielleicht war es ja das, was ihn zu der blonden Schönheit hinzog.

Sie sah ihn unverwandt an. Jonathon fürchtete einen Moment, dass sie ganz benommen war von seinem ständigen Gerede. Gewöhnlich achtete er darauf, die Menschen nicht mit seinen Ansichten zu überwältigen, aber Claire schien fasziniert zu sein. Sie war eine so gute Zuhörerin. Nachdem er erst einmal angefangen hatte, konnte er nicht aufhören. Erst als sie ihm ihre Frage stellte, wurde ihm bewusst, dass er ohne Punkt und Komma geredet haben musste. „Miss Northam? Oh, nein. Wir haben uns nie länger darüber unterhalten. Sie zieht es vor, über Mode und die Gesellschaft zu reden.“ Jonathon sprach in einem Ton, als fände er Cecilias Vorlieben vollkommen natürlich.

„Selbstverständlich“, sagte Claire knapp, und er erkannte seinen Fehler. Für einen fähigen Diplomaten gelang es ihm ein wenig zu oft, Claires Gefühle zu verletzen. Sie interessierte sich sicherlich für alles, was in der Welt vor sich ging, immerhin hatte sie Türkisch gelernt. Ihm hätte klar sein müssen, dass sie seine Antwort als versteckten Vorwurf auslegen musste.

Ich finde eine wohlbelesene Frau allerdings sehr erfrischend. Es muss sich nicht alles um Mode und Klatsch drehen“, beeilte er sich, seine unbeabsichtigte Beleidigung wiedergutzumachen.

Claire lächelte trocken. „Das brauchen Sie nicht zu sagen. Ich weiß sehr wohl, wie wenig attraktiv viele Männer meinen Wissensdurst finden. Niemals würde ich von Ihnen verlangen, dass Sie mir etwas vormachen.“ Die leichte Bitterkeit in ihrer Stimme gefiel ihm ganz und gar nicht. Hatte sie eine derartige Ablehnung auf schmerzliche Weise erfahren? Noch etwas, das er nicht über sie wusste. Ebenso wenig wusste er, ob ihr schon jemand den Hof gemacht hatte und ob dieser jemand von ihrer Klugheit verscheucht worden war. Allerdings gefiel ihm nicht, dass sie glaubte, er könnte fähig sein, sie zu täuschen.

„Ich gebe nie etwas vor, das nicht der Wahrheit entspricht“, sagte er ernst. „Sie etwa? Haben Sie mir nur vorgespielt, meine Rede über das Osmanische Reich hätte Sie interessiert?“

„Aber nein, ich …“ Ihr Protest wurde von seinem liebenswerten Lächeln im Keim erstickt.

„Dann verstehen wir uns ja. Wir können ehrlich zueinander sein.“ Er betrachtete sie versonnen. „Allerdings muss ich sagen, dass Sie überhaupt nicht so sind, wie ich erwartet habe. Sie sind ganz anders, als Sie zu sein scheinen.“ Jetzt wagte er sich ein wenig zu nah an die Grenzen der Schicklichkeit. Er sollte aufhören. Und was er sagen wollte, um seine Bemerkung zu rechtfertigen, schickte sich ebenfalls nicht.

Sie kniff leicht die schönen cognacbraunen Augen zusammen. „Inwiefern anders?“

„Früher hatte ich immer den Eindruck, dass Sie nicht bemerkt werden wollten.“ Und außerdem sind Ihre Kleider eindeutig sehr viel reizvoller geworden.

„Ihnen kann nicht entgangen sein, dass ich ein Blaustrumpf bin, Mr. Lashley. Männer begrüßen die Gesellschaft einer solchen Frau üblicherweise nicht.“ Sie antwortete höflich, aber kühl. Inzwischen hatten sie die hintere Terrasse erreicht, von wo aus sie gestartet waren – eine günstige Gelegenheit für Jonathon, sich zu verabschieden. Was ihm allerdings widerstrebte.

„Haben Sie sich deswegen bis jetzt abgesondert?“, hakte er nach, und plötzlich kam ihm ein Verdacht. Hatte sie es vorgezogen, für ihre Bücher zu leben, statt ihren Wissensdurst sich den Gesetzen der Gesellschaft beugend zu zügeln? Wenn ja, dann hatte sie einen hohen Preis dafür bezahlt. Sie musste doch gewusst haben, dass sie riskierte, unverheiratet zu bleiben und schließlich allein. Ihre bescheidenen Kleider und ihr zurückhaltendes Wesen hätten jeden Mann in die Flucht geschlagen. Doch in dieser Saison hatte sich eindeutig etwas geändert. Die Kleider, die sie jetzt trug, waren gewiss nicht dazu entworfen worden, irgendjemanden abzustoßen, am allerwenigsten einen Mann.

„Bis jetzt?“ Sie runzelte die Stirn.

„Darf ich fragen, ob es jemanden gibt, an dem Sie interessiert sind? Haben Sie einen Bewunderer?“ Er war überzeugt davon, dass eine Frau sich schön machte, weil sie jemanden beeindrucken wollte. Also ging es um einen Mann.

Sie senkte unbehaglich den Blick. Eigentlich hätte er sich abermals entschuldigen müssen, aber Jonathon konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Also habe ich recht. Es gibt da jemanden. Darf ich fragen, wer es ist?“ Vielleicht könnte er in dieser Angelegenheit helfen. Er könnte den Mann ermutigen, wenn er dem Burschen in einem seiner Klubs begegnete. Mit ihrer gelegentlich scharfen Zunge und dem noch schärferen Verstand konnte Claire ein wenig distanziert wirken. Und der Gentleman, um den es ging, wusste womöglich gar nicht, dass er ihr Interesse geweckt hatte. Es war das Mindeste, was Jonathon für sie tun konnte. Sie half ihm immerhin auch, also würde er sich freuen, wenn er sich auf diese Weise bei ihr revanchieren könnte. Schließlich konnte er sie nicht gut bezahlen, wie er es bei einem Lehrer getan hätte.

Doch sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Er weiß nichts von meinen Gefühlen“, erwiderte sie unsicher.

Er holte seine Taschenuhr hervor, erstaunt zu sehen, dass es bereits auf halb zwei zuging. Er war viel länger geblieben, als sich gehörte. „Vielleicht sollten wir ihn darauf aufmerksam machen. Werden Sie heute Abend bei Lady Griffin sein? Sie könnten einen Tanz für mich reservieren.“ Am schnellsten fiel das Augenmerk eines Mannes auf eine Frau, wenn sie mit einem anderen Mann tanzte. Ohne sich allzu viel darauf einzubilden, wusste er doch, dass man die Frauen beachtete, die mit ihm tanzten, weil er beachtet wurde.

„Oh, nein! Das könnte ich auf keinen Fall.“ Sie war wirklich bestürzt.

Aber er ließ sich nicht so leicht abwimmeln. „Kommen Sie, ich schlage Ihnen doch nicht vor, dass wir ihn aus dem Haus schleppen und ihm Vernunft einbläuen.“ Wenn es vielleicht auch keine so schlechte Idee gewesen wäre.

„Nun, wenn Sie es so ausdrücken, je ne demande pas mieux.“ Sie knickste knapp. „Nichts würde mir größere Freude bereiten.“

Ihm kamen einige Dinge in den Sinn, die ihm größere Freude bereiten würden als ein Tanz. Vielleicht ein Kuss. Der Gedanke schoss ihm völlig unerwartet durch den Kopf. Er wollte Claire Welton küssen? Gewiss, immer noch harmloser als die gestrige Idee mit Stühlen und Fesseln, und trotzdem … was war nur plötzlich mit ihm los?

Wahrscheinlich war es nichts als männliche Neugier. Jetzt, da ein anderer Mann mit im Spiel war, wollte er wohl herausfinden, was ihm entging. Es gab allerdings einen Unterschied zwischen Neugier und Begehren. Reine Neugier war objektiv, Begehren nicht. Und dann war da noch das Kleid. Heute trug sie ein gelbes Kleid, das ihre makellose Haut und das dunkle Haar wundervoll zur Geltung brachte. Sie sah ausgesprochen verlockend aus. Jonathon atmete tief ein. Er war ein gesunder junger Mann, da war es nur natürlich, wenn er sich zu einem hübschen Mädchen hingezogen fühlte.

Eine Locke hatte sich aus ihrer Frisur gelöst und kitzelte sie an der Wange. Ohne zu überlegen, strich Jonathon sie ihr hinters Ohr. „Bis heute Abend also. Ich freue mich auf unseren Tanz. Wer immer der Mann ist, er ist ein Dummkopf, wenn er Sie nicht beachtet.“

Zu seiner Überraschung freute sie sich nicht über sein Kompliment. „Glauben Sie also, mich nach einigen Tagen Bekanntschaft so gut zu kennen?“

„Ich kenne Sie bereits viel länger“, entgegnete er heftig, da er ahnte, dass ein Streit bevorstand. Wenn das Thema auf sie kam, wurde sie sofort kratzbürstig, als müsste sie sich verteidigen. „Wir haben als Kinder schon zusammen gespielt.“

Das ließ sie erröten. „Bitte, erinnern Sie mich nicht daran. Wir sind Ihnen und Preston ständig hinterhergelaufen. Wir müssen sehr lästige kleine Mädchen gewesen sein, fürchte ich. Diese flüchtige Bekanntschaft in der Vergangenheit verpflichtet Sie nicht dazu, Dinge zu sagen, die Sie nicht ernst meinen.“

Woher wissen Sie, dass ich sie nicht ernst meine? Er war versucht, die Worte laut auszusprechen, doch er befürchtete, einen weiteren Fehler zu machen. Anders als andere Frauen würde Claire nur gekränkt sein. Sie war zu intelligent für derlei nichtssagendes Geplänkel, und leere Schmeicheleien würde sie rundheraus als solche entlarven.

Also verbeugte er sich. „Denken Sie, was Ihnen beliebt, Miss Welton. Ich freue mich dennoch darauf, Sie heute Abend wiederzusehen.“

6. KAPITEL

Jonathon hatte sie um einen Tanz gebeten! Nicht einmal der Gedanke, dass er es nur getan hatte, weil er ihr helfen wollte, konnte Claires gute Laune trüben. Sie stand mit ihren Freundinnen am Rand des großen Ballsaals der Griffins und zitterte förmlich vor Energie. Heute kam sie sich in Evies jüngster Kreation sehr hübsch vor – einem eleganten olivgrünen Seidenkleid, das mit seinem tiefen Dekolleté und der neuen hellen Spitze sehr viel aufsehenerregender war als vorher mit der schwarzen Spitze und dem allzu braven Ausschnitt.

Der Ball war bereits in vollem Gange. Die meisten Gentlemen bemühten sich um ihre auserwählten Damen und schrieben ihre Namen in die kleinen Tanzkarten, die am zarten Handgelenk der jeweiligen Schönen hingen. Nur die Karten der Freundinnen waren noch immer leer, wenn man von den üblichen Tanzpartnern absah. Preston hatte seinen Namen für einen obligatorischen Ländler auf die Karte gekritzelt. Mays Bruder erfüllte immer seine Pflicht, doch das war nichts im Vergleich zu dem Anklang den Cecilia und ihr Zirkel auserwählter junger Damen fanden, von denen jede als das Feinste vom Feinen des ton in dieser Saison galt. Claire musste zugeben, dass sie ein wenig neidisch war. Wie mochte es sein, so umworben zu werden?

„Miss Welton, Sie sehen heute Abend ganz besonders hinreißend aus.“ Plötzlich war Jonathon da und beugte sich über ihre Hand, elegant wie immer in seinem dunklen Abendanzug, ein herzliches Lächeln um die Lippen. Eine Locke fiel ihm in die Stirn, was ihn nur noch attraktiver aussehen ließ.

„Mr. Lashley, guten Abend.“ In ihrer Erleichterung strahlte sie ihn regelrecht an. Er hatte sie also wirklich nicht vergessen.

„Ich hätte gern die Ehre eines Tanzes mit Ihnen. Das heißt, wenn Sie noch Platz auf Ihrer Karte haben.“

„Natürlich. Es wäre mir ein Vergnügen.“ Sie sah, dass er seinen Namen neben den fünften Tanz setzte, einen Walzer, und versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl sie innerlich vor Aufregung zitterte. Jonathon würde den Walzer mit ihr tanzen! Allein das war es schon wert gewesen, dass sie es noch einmal mit der guten Gesellschaft versuchte.

„Ist Ihr junger Mann heute anwesend?“, fragte er verschwörerisch nah neben ihrem Ohr, sodass sie den Sandelholzduft seines Eau de Toilette wahrnehmen konnte. Einen Moment war sie verwirrt, doch dann erinnerte sie sich wieder.

„Äh … ja.“ Er steht sogar genau vor mir, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Dann sollten wir vor unserem Tanz vielleicht ein wenig im Ballsaal herumschlendern.“ Er lächelte, bot ihr seinen Arm und zwinkerte ihr freundlich zu. „Wir können ja unser Französisch üben.“

„Das war eine sehr gute Idee, Mr. Lashley“, sagte Claire, als sie ihre Runde durch den Saal beendeten. Sie hatte sich entspannt, während sie in die ihr vertraute Rolle als Lehrerin geschlüpft war.

Jonathon lachte. „Ich bin dafür bekannt, gelegentlich gute Ideen zu haben.“

„In Ihrem natürlichen Lebensraum haben Sie sich großartig angestellt und deutliche Fortschritte in Ihrem Französisch gemacht“, lobte sie ihn.

„Mein natürlicher Lebensraum? Das klingt ja, als würde ich mich nur in einem Ballsaal wohlfühlen“, sagte er neckend.

„Nein, das meinte ich nicht so. Tatsächlich glaube ich nicht, je gesehen zu haben, dass Ihnen unbehaglich zumute wäre, in welcher Umgebung auch immer.“ Die Worte waren heraus, bevor Claire klar wurde, dass sie ein wenig zu forsch waren. Irgendwie brachte er es fertig, dass sie in seiner Gegenwart allzu leicht die Grenzen der Schicklichkeit vergaß.

Jonathon nickte nur und wurde plötzlich kühler. „Sie sind zu freundlich. Es stimmt wohl, dass die Ballsäle des ton zurzeit wirklich mein natürlicher Lebensraum sind. Ich verbringe ja Zeit genug in ihnen.“ Sie fragte sich, ob er noch mehr gesagt hätte, wenn das Orchester nicht in diesem Moment zum fünften Tanz aufgespielt hätte. „Ich glaube, das ist unser Stichwort, Miss Welton.“ Sein Blick wurde wieder freundlich, während er sie auf die Tanzfläche und in deren Mitte stehen blieb.

Claire schluckte unwohl. „Alle können uns sehen.“

„Das ist ja auch der Zweck, oder?“ Sein Lächeln war ansteckend. Die Hand fest und selbstbewusst auf ihrem Rücken, brachte er Claire in die richtige Position.

Angst stieg in ihr auf. „Es ist eine Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal einen Walzer getanzt habe.“ Seit ihrem allerersten Ball, wenn sie ehrlich war. Wenn sie nun stolperte oder ihm auf die Zehen trat? Oder wenn sie die Schritte vergessen hatte?

„Sie denken zu viel“, meinte er lachend, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Ich lasse Sie schon nicht fallen.“

„Sie haben leicht reden!“, flüsterte sie ängstlich. „Sie tanzen den Walzer jeden Abend.“

„Das könnten Sie auch.“ Er hob vielsagend die Augenbrauen, als die Musik begann. Und er gab ihr mit einem leichten Druck seiner Hand zu verstehen, in welche Richtung sie sich bewegen sollte. Zögernd folgten ihre Füße ihm, und schon bald hatte sie sich dem Rhythmus angepasst. Jonathon machte es ihr leicht, sich wieder an alles zu erinnern. Er war ein perfekter Tänzer, bewegte sich ohne Mühe und voller Eleganz.

„Großartig, Sie sind eine wunderbare Tänzerin“, sagte er anerkennend bei ihrer ersten Drehung. „Warum tanzen Sie nicht öfter?“

Das war eine gute Frage. Und es fiel ihr schwer, sich an den Grund zu entsinnen, wenn sie in Jonathons Armen nur so dahinschwebte. Das Tanzen fühlte sich wundervoll befreiend an, als würde sie fliegen. Doch mit Jonathon war es sogar besser als fliegen, es war ein stetes Emporsteigen. „Ich weiß nicht. Ich habe einfach aufgehört.“

Seine Augen funkelten amüsiert. „Dann ist es vielleicht Zeit, einfach wieder anzufangen.“

Vielleicht hatte er recht, aber zum Tanzen brauchte sie einen Partner, würde also ihn für sich gewinnen müssen. Claire hatte schon vor Jahren aufgegeben, jemanden für sich zu interessieren. Es war zu riskant. Also würde sie sich damit begnügen, diesen Moment zu genießen, so lange er anhielt, weil sie nicht damit rechnen konnte, dass er sich jemals wiederholen würde.

Jonathon war in jeder Hinsicht ein hervorragender Partner. Kein einziges Mal nahm er den Blick von ihr, ließ die Unterhaltung stocken oder lockerte den Griff. Er blieb die ganze Zeit auf sie fixiert. Obwohl der Saal gedrängt voll war mit Menschen, fühlte sich dieser Augenblick seltsamerweise fast intim an. Als wären sie allein.

Nur war der Tanz leider viel zu schnell vorüber. Claire fiel keine List ein, mit der sie Jonathon länger an ihrer Seite hätte behalten können. Er hatte bereits einen kleinen Spaziergang mit ihr gemacht und mit ihr getanzt. Jetzt führte er sie wieder an den Rand der Tanzfläche und verabschiedete sich mit dem Versprechen, sie am nächsten Tag aufzusuchen. Ein weiteres umwerfendes Lächeln, und er war fort. So, wie es sich gehörte. Schließlich wartete Cecilia auf ihn, und auch andere Verpflichtungen forderten seine Anwesenheit. Für einen ehrgeizigen Mann wie ihn bedeuteten diese Abende nicht nur Vergnügen, sondern auch Arbeit. Er musste wichtige Leute treffen und beeindrucken. Er musste Europa retten. Claire lächelte. Wie viele Leute außer ihr wussten wohl von seinen Träumen? Es war ein schönes Gefühl zu denken, dass sie für eine kleine Weile vielleicht etwas von ihm wusste, dass sonst niemand ahnte.

May zupfte an ihrer Hand. „Du strahlst wie noch nie, also muss es so gut gewesen sein, wie es den Eindruck gemacht hat. Komm in die Damentoilette und erzähl uns alles.“

Die Mädchen stolperten fast übereinander in ihrer Aufregung auf dem Weg den Korridor hinunter. „Du hast wunderschön ausgesehen, Claire. Niemand konnte den Blick von euch beiden wenden!“, rief Evie.

„Nicht einmal Cecilia“, betonte May. „Sie hat den Saal mittendrin verlassen.“

„Aber auch Lashley nicht. Die ganze Zeit hat er nur dich angesehen.“ Beatrice klang wehmütig.

„Das ist so seine Art. Er weiß, wie er einem das Gefühl geben kann, etwas Besonderes zu sein, nicht nur mir“, stellte Claire richtig. So gern sie auch an die romantische Fantasie geglaubt hätte, die ihre Freundinnen heraufbeschworen, musste sie realistisch bleiben. „Es war nur ein Tanz.“

„Sie hat recht, wisst ihr.“ An der Tür zur Damentoilette erschien Cecilia, ihre getreuen Debütantinnen im Kielwasser, schwebte herein, nahm an einem der Schminktische Platz und prüfte ihre makellose Frisur. „Guten Abend, Claire. Es ist schön zu sehen, dass wenigstens eine von euch noch über einen Hauch von Vernunft verfügt.“ Sie holte einen kleinen Kamm aus ihrem Retikül. „Mein liebster Lashley ist immer so freundlich zu den Leuten. Er kann jeden verzaubern.“ Ihr Lächeln deutete an, dass es sich lediglich um ein zwangloses Gespräch zwischen Freundinnen handelte, doch der Blick, mit dem sie Claire jetzt musterte, war alles andere als freundlich. „Olivgrün steht dir sehr viel besser als Rosa, so viel ruhiger. Dein Stil scheint sich tatsächlich zu bessern.“

Claire errötete. Mit nur wenigen Worten war es Cecilia gelungen, alles wieder in ihr wachzurufen – die Demütigung, den Hohn, das Gelächter, fast als wäre es erst gestern geschehen und nicht vor drei Jahren.

„Zugegeben, du sahst heute großartig aus mit Lashley, aber er kann jeden gut aussehen lassen.“ Cecilia wandte sich an ihre Anhängerinnen, um sich zu vergewissern, dass sie ihre Aufmerksamkeit hatte. „Ich trage Lashley ungemein gern. Er ist meine neue Lieblingsfarbe.“ Sie hielt inne, damit die Mädchen über ihren Scherz kichern konnten. „Gut gemacht, Claire“, fügte sie herablassend hinzu. „Wenn ich nur ein einziges Mal an einem Abend tanzen könnte, würde ich auch ihn wählen.“

Dann lachte sie geziert. „Was sage ich denn da? Ich tanze so viele Tänze ich will und kann dennoch auch mit ihm tanzen.“

Claire errötete erneut. Sie wusste, was Cecilia ihr sagen wollte. Ich werde immer über einen Blaustrumpf vom Land triumphieren. Ich sah in Rosa besser aus, und ich sehe an Jonathons Arm besser aus.

Cecilias Freundinnen gackerten, und sie beugte sich scheinbar vertraulich flüsternd zu Claire. „Wir würden jeden Tanz zusammen tanzen, wenn die Regeln es erlauben würden. Aber so wie die Dinge stehen, muss ich mich mit nur zweien zufriedengeben, bis es offiziell ist.“ Sie seufzte dramatisch, und die Mädchen seufzten ebenfalls mitfühlend.

Leise Übelkeit stieg in Claire auf. Die falsche Lieblichkeit war unerträglich. Noch schlimmer war die Art, mit der Cecilia Jonathon zu einer bloßen Sache erniedrigte, als wäre er ein Preis, den es zu gewinnen galt, ein hübsches Schmuckstück und nicht mehr.

Ein Mädchen gluckste. „Du hast so ein Glück, dass du ihn heiraten wirst. Ich wünschte, mein Vater würde einen solchen Mann für mich finden und keinen gichtkranken alten Baron.“

Ihn heiraten? War es also bereits endgültig? Die Worte trafen Claire wie ein Messer mitten ins Herz.

„Aber das ist unmöglich, Lizzie“, meinte Cecilia neckend. „Es gibt keinen anderen Mann wie Lashley.“ Cecilia schenkte Claire ein höhnisches Lächeln. „Nicht wahr, Claire?“

Claire wusste keine Antwort. Sie war noch ganz benommen von der Neuigkeit. Es war eine Sache zu vermuten, dass Cecilia und Jonathon heiraten würden. Aber eine ganz andere, den Verdacht aus dem Mund derjenigen zu hören, die es wissen musste. Damit wurde es Wirklichkeit und war kein Klatsch mehr. Ein Schlag in die Magengrube hätte Claire nicht weniger außer Gefecht setzen können als diese vernichtenden Worte.

„Warum hältst du nicht einfach einmal den Mund?“ Beatrice trat entschlossen vor, die Augen funkelnd vor Wut, jeder Zoll das Abbild einer zornigen Rachegöttin. Man hörte, wie alle im Raum den Atem anhielten. Niemand sprach so mit Cecilia Northam! Ein Wort von ihr, und sie konnte einem die Saison ruinieren. Claire war der lebendige Beweis dafür, und dabei war sie es gar nicht gewesen, die das Kleid damals kopiert hatte, sondern Cecilia selbst.

„Was hast du zu mir gesagt?“ Cecilia erhob sich langsam von ihrem Stuhl, die Augen drohend zusammengekniffen.

„Ich sagte, du sollst den Mund halten.“ Beatrice ließ sich nicht beirren. „Hat er also um deine Hand angehalten? Dann muss ich die Anzeige in der ‚Times‘ übersehen haben“, fuhr sie in gespielter Verwirrung fort. „In welcher Ausgabe steht es denn?“

Claire atmete insgeheim erleichtert auf, als Cecilia zögerte. Sie war aber auch ein wenig neidisch auf Beatrice, die mutig genug war, Cecilia Paroli zu bieten. Beatrice hatte sie entlarvt, und Cecilia wagte es nicht, offen zu lügen.

„Jeder weiß, dass es lediglich eine Frage der Zeit ist.“

Jeder weiß es? Ich nicht. Und ich glaube vielmehr, dass Lashley überhaupt nicht um dich anhalten wird. Denn ich kann mir schon vorstellen, was du in ihm siehst, aber nicht, was er in dir sieht.“ Beatrice machte noch einen Schritt auf Cecilia zu, sodass sie sich direkt gegenüberstanden.

„Jeder, auf den es ankommt, weiß es“, zischte Cecilia, und in ihrer Wut wurde ihr hübsches Gesicht fast hässlich.

„Wer soll das denn sein? Dein Vater?“, spottete Beatrice. „Wird er dir einen Mann kaufen, so wie er dir ein Pony gekauft hat? Du bist nichts ohne sein Geld und seinen Titel“, warf sie ihr noch an den Kopf.

Cecilia atmete heftig, die Hände ohnmächtig zu Fäusten geballt. Doch dann warf sie Claire einen Blick zu, trat zurück und strich den Rock ihres veilchenblauen Kleides glatt. „Es ist mir gleichgültig, was du glaubst, Beatrice Penrose. Claire kennt die Wahrheit. Sie weiß, was der Tanz heute war, nämlich nicht mehr als eine gute Tat aus Mitleid. Lashley erfüllte seine Pflicht, mehr nicht. Obwohl, warum er glaubt, er könne dir etwas schuldig sein, ist mir schleierhaft.“ Sie ließ ihren Fächer aufschnappen und ging auf die Tür zu. „Kommen Sie, meine Damen. Ich glaube, unsere Tanzkarten sind voll, und die Gentlemen warten auf uns.“

„Was für eine Hexe!“, stieß May hervor und ließ sich erleichtert in einen der Stühle sinken, nachdem Cecilia und ihre Anhängerinnen verschwunden waren. „Lieber Himmel, Beatrice, ich dachte schon, sie würde dich gleich schlagen.“ Sie kicherte. „Du hast sie vertrieben, Bea. Sie kann ja ruhig so tun, als wäre sie freiwillig gegangen, aber sie musste sich geschlagen geben und den Rückzug antreten.“

„Das hättest du nicht tun dürfen“, tadelte Claire sanft. „Sie wird dir das Leben schwer machen.“

Beatrice schnaubte undamenhaft. „Ich bin schwanger und unverheiratet. Wie viel schwieriger kann das Leben denn noch werden? Mir bleiben noch genau zwei Monate, bevor ich irgendwo in die Wildnis geschickt werde, damit meine Familie vergessen kann, dass ich einen Bastard auf die Welt bringen werde.“

„Oh, Bea.“ Claire kniete sich neben ihren Stuhl und nahm ihre Hände. „Wir werden nicht zulassen, dass sie dich wegschicken.“

„Wir gehen mit dir, wenn es sein muss“, warf Evie ein.

Beatrice lächelte, wenn auch ein wenig zu unbesorgt. „Lasst uns nicht von mir reden. Sprechen wir lieber über Lashley und Claire und was jetzt als Nächstes kommen muss.“

Abrupt stand Claire auf, plötzlich unendlich müde. „Vielleicht später. Ich glaube, ich möchte gern nach Hause.“ Sie hatte mit Jonathon getanzt, hatte mit ihm geredet, und dann hatte Beatrice der verhassten Cecilia ihre Meinung gesagt. Das alles war Grund genug für eine Feier, und dennoch war ein großer Teil ihrer Freude an dem heutigen Abend erloschen.

7. KAPITEL

Die Kutsche wartete bereits auf Claire. Der Kutscher der Weltons kannte ihre Gewohnheiten. Sie blieb nie lange auf einem Ball, und er parkte so dicht am Haus, dass sie schnell flüchten konnte.

Sie lehnte sich in die Polster zurück, legte sich eine Decke über die Beine – eher um sich zu trösten, denn an diesem schönen Frühlingsabend war es nicht kalt. Es war immer eine Flucht. Die vergangenen drei Jahre hatten aus einer Flucht nach der anderen bestanden, wie sie sich eingestehen musste. Am Anfang war es ihre einzige Lösung gewesen, aber inzwischen stellte es eher ein Problem dar. Im Nachhinein konnte Claire das Muster erkennen. Um sich zu schützen, zog sie sich zurück, aber dieses Verhalten war schließlich der Grund dafür gewesen, weswegen sie allmählich begonnen hatte, sich zu verlieren.

Was hatte Jonathon noch gesagt? Sie sind überhaupt nicht, wie ich erwartet habe. Er hielt sie für still, unterwürfig und zurückhaltend. Aber von Natur aus war sie nichts davon, hatte sich nur langsam so sehr verändert, dass sie selbst nicht mehr sicher sagen konnte, wer sie war. War sie die stille Claire, die vom Rand des Geschehens aus den Paaren beim Tanzen zuschaute, oder war sie die kühne Claire, die neue Kleider trug?

Sie wusste es einfach nicht mehr. Allerdings wusste sie, wer sie sein wollte. Sie wollte eine Frau sein, die für alles kämpfte, was ihr wichtig war, und die nicht wegen eines einzigen Augenblicks tiefer Demütigung vor vielen Jahren vor Cecilia zurückschreckte. Auch Jonathon würde eine solche Frau bemerken.

Claire schloss die Augen und überließ sich dem Rhythmus der Kutsche, während sie über die dunklen Straßen Londons rumpelte. Obwohl es sie schmerzte, zwang Claire sich, den fürchterlichen Abend von damals heraufzubeschwören. Er hatte so angenehm begonnen, die Saison noch frisch und neu, der Ballsaal glitzernd und wunderschön, junge Männer, die sich um sie drängten, um einen Tanz von ihr zu bekommen. Sie hatte das Haar zu einer eleganten Frisur hochgesteckt, trug die Perlen ihrer Großmutter und das blassrosafarbene Kleid, das am Nachmittag in einer weißen Schachtel von der Schneiderin geliefert worden war.

Claire war überglücklich gewesen. Ihr erstes Ballkleid, das nicht weiß sein musste. Sie hatte sich wie eine Prinzessin darin gefühlt. Im nächsten Moment war es plötzlich still um sie herum geworden. Die Menge der vielen Gäste teilte sich, und am anderen Ende stand Cecilia Northam, blond und majestätisch in einem Kleid, das in Schnitt und Farbe mit ihrem identisch war – ein anderes Mädchen trug ihr Traumkleid! Und nicht irgendein Mädchen, sondern ein Diamant erster Güte, wie es überall hieß. Jetzt stand dieses Mädchen einige Armlängen von ihr entfernt und sie sahen sich an – fast so wie zwei Duellanten.

„Sehr hübsch, Claire, aber mir steht es wirklich besser. Rosa passt besser zu mir als zu dir.“

Cecilia hatte als Erste das Wort ergriffen, und ihre Bemerkung war tödlich. Alle hatten gelacht, man war zurückgewichen, damit sie Cecilia die Stirn bieten konnte. Nur hatte sie es nicht getan. Noch sehr jung und völlig unerfahren, hatte Claire sich überrumpeln lassen und war geflohen.

Jetzt öffnete sie wieder die Augen. Wohl zum tausendsten Mal bedauerte sie, dass sie sich damals so entschieden hatte. Jener Abend musste rückgängig gemacht werden, wenn es auch nicht leicht sein würde, denn er hatte ihr Wesen verändert.

Sie hatte sich von der Gesellschaft zurückgezogen, und wenn sie jetzt wieder Zugang zu ihr finden wollte, musste sie sich ihren Ängsten, und damit Cecilia, stellen. Der Weg zurück, also der Weg zu Jonathon, führte über Cecilia Northam. Auch heute hätte sie standhaft bleiben sollen.

Aber würde es ihr gelingen, wieder zu werden, wie sie einmal gewesen war? Sie wünschte von ganzem Herzen, sie hätte damals nicht den Ballsaal verlassen.

Claire war nicht in den Ballsaal zurückgekehrt. Jonathon hatte lange genug nach ihr Ausschau gehalten, um am Ende zu dem Schluss zu kommen, dass sie gegangen sein musste. Die Erkenntnis nahm dem Abend ein wenig von seinem Glanz. Jonathon entschuldigte sich bei der Gruppe, mit der er sich unterhalten hatte, und suchte die relative Ruhe der Halle auf. Hier war jeder zu sehr mit seinen eigenen Belangen beschäftigt, um ihn zu beachten, und das passte ihm sehr gut. Im Moment war er keine sehr gute Gesellschaft. Er fühlte sich auf einmal rastlos und unzufrieden.

Warum war es ihm so wichtig, dass Claire nicht zurückgekommen war? Er hatte mit ihr getanzt und damit seine selbst auferlegte Pflicht erfüllt. Aber war es überhaupt eine Pflicht, wenn man sie sich selbst auferlegte? Niemand hatte ihn dazu gezwungen, mit ihr zu tanzen. Er hatte es gewollt. Er hatte es ihr angeboten, und er hatte es genossen. Mehr als das sogar. Claire hatte ihn beim Tanzen angeblickt, statt ständig über seine Schulter zu schauen, um zu sehen, wer sie beobachtete.

Cecilia sah sich beim Tanzen ständig im Saal um und flüsterte ihm ihre Kommentare über Dinge und Leute ins Ohr, die allein ihr wichtig waren. Der Vergleich war nicht fair, aber er zog ihn nicht zum ersten Mal. Er hatte Cecilia schon neulich im Garten mit Claire verglichen. Cecilia Northam war all das, was angeblich an einer Frau begehrenswert war. Sie war schön, wenn Schönheit bedeutete, dass man blond und blauäugig sein musste. Sie hatte gesellschaftlichen Schliff und war wahrscheinlich die bestinformierte junge Dame im Ballsaal. Cecilia wusste, wer um wen warb, wer Erfolg haben würde und wer nicht, und sie wusste, was man zu welcher Gelegenheit trug, wenn man als modisch gelten wollte. Niemals würde sie ihn in Verlegenheit bringen oder ihm gar in aller Öffentlichkeit widersprechen, ganz im Gegenteil zu einer gewissen jungen Dame mit cognacbraunen Augen.

Wenn sie allerdings allein waren, konnte sie launisch sein. Man hatte ihm beigebracht, dass Launenhaftigkeit zur Natur der Frauen gehörte. Sein Vater hatte ihm seufzend zu verstehen gegeben, dass es der Preis war, den ein Mann nun einmal für die Frau zahlen musste, die seinen Haushalt führen und ihm Kinder gebären sollte. Im Ausgleich dafür bot der Mann ihr ein Zuhause, seinen Titel, sein Geld, seinen Namen, seine Geduld – und das für den Rest seines Lebens. Jonathon konnte sich Claire in einer solchen Rolle nicht vorstellen. Sie würde vielmehr Einfühlsamkeit zeigen, ihm aufmerksam zuhören, aber auch nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg halten. Er musste lachen. Wie schnell würde sein Vater ihm klarzumachen versuchen, dass er sich da nur etwas vormachte.

Eine Ehe in ihren Kreisen war nun einmal nicht so harmonisch. Im ton bedeutete die Ehe einen ständigen Kompromiss, einen Austausch von Aufgaben und Gütern. Besonders interessant allerdings war, welche Punkte nicht auf dieser Liste standen. Es war nie die Rede von Ergebenheit, Treue, Zuneigung, Hingabe oder Fürsorge. Wieder regte sich in ihm eine Frage, die er sich immer wieder hartnäckig stellte: Sollte eine Ehe nicht sehr viel mehr sein? In letzter Zeit dachte er wieder öfter darüber nach. Wahrscheinlich lag es an dem gesellschaftlichen Druck, unter dem er stand.

Lord Belvoir war gestern im Klub an ihn herangetreten, um ihn dezent auf Cecilia und seine Versetzung nach Wien anzusprechen. Ein Diplomat im Ausland musste eine Gattin haben, ganz besonders in einer Stadt wie Wien, wo der gesellschaftliche Erfolg sich als Schlüssel zum politischen Erfolg erweisen konnte.

Bis zum August musste er verheiratet sein und darüber hinaus perfekt Französisch sprechen können. Wie unpersönlich es klang, wenn er so daran dachte. Während sein Kammerdiener damit beschäftigt sein würde, die Koffer seines Herrn zu packen, würde Jonathon sich bemühen, Französisch zu lernen und eine Frau zu finden – sa femme. Claire wäre stolz darauf gewesen, dass er auf Französisch dachte.

„Lashley, da sind Sie ja!“ Cecilia durchquerte die Halle und hängte sich an seinen Arm, ein breites Lächeln um die Lippen. „Der Tanz vor dem Essen fängt gleich an, und ich wollte ihn nicht verpassen.“ Sie senkte verschwörerisch die Stimme. „Es ist die schönste Stunde, weil ich Sie dann ganz für mich allein habe.“ Er erinnerte sich, wie es sich einmal angefühlt hatte, wenn sie solche Worte zu ihm sagte und ihn dabei mit ihren schönen Augen ansah – so als hätte er einen Preis gewonnen. Heute Abend empfand er jedoch eher Unruhe und Ungeduld.

Seit wann weckte Cecilia solche Gefühle in ihm? Wahrscheinlich seit er sie mit den Worten „für immer und ewig“ und „Ehe“ verband. Er zwang sich dazu, ihr Lächeln zu erwidern. „Meinen Sie, es gibt Hummerpastete?“

Sie lachte ein wenig unsicher, da sie nicht wusste, wie sie seine Bemerkung verstehen sollte. Wörtlich genommen, war es die Frage eines Idioten. Als sarkastischer Scherz, als die sie wohl auch gedacht gewesen war, war es ein Kommentar darüber, dass jeder Abend war wie der andere. „Es gibt immer Hummerpastete.“ Cecilia verbarg ihre Unsicherheit hinter einem strahlenden Lächeln.

Genau. Auf jeder Gesellschaft seit Beginn der Saison wurde diese Delikatesse serviert. Alles wiederholte sich – jeder Abend, jeder Tag, immer die gleiche Routine. Nur diese Woche hatte es endlich einen Riss in seinem alltäglichen Allerlei gegeben: Wien und Claire. Er war eindeutig schlechter Laune, und es war unfair, seine üble Stimmung an Cecilia auszulassen.

Vielmehr sollte er sich daran erinnern, dass Cecilia Teil seines Traums war. Er brauchte sie an seiner Seite, um in Wien Erfolg zu haben. Sie würde die einflussreichen Gäste in ihrem Haus in Wien willkommen heißen, den Haushalt und das Personal auf ihre makellose Weise führen. Außerdem besaß sie durch ihren Vater gute Verbindungen zu allen politischen Entscheidungsträgern in England. Jonathon würde all das und noch viel mehr brauchen. Mit seiner Arbeit in Wien wollte er Europa den Frieden erhalten, aber mehr noch als das. Er würde endlich die Gelegenheit erhalten, herauszubekommen, was seinem Bruder zugestoßen war. Zum ersten Mal würde er über die Autorität und die Mittel verfügen, die letzten Schritte seines Bruders zurückzuverfolgen.

Er nahm Cecilias Hand und schenkte ihr sein freundlichstes Lächeln, um sie zu besänftigen. „Kannst du mir vergeben? Ich bin heute Abend keine gute Gesellschaft. Es gibt da einige Dokumente, die ich für morgen früh durchgehen muss, also werde ich mich zeitig zurückziehen, meine Liebe.“ Und damit löste er sich von ihr und ging, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Sein natürlicher Lebensraum konnte eine Weile auch ohne ihn zurechtkommen.

8. KAPITEL

Sie haben den Ball früh verlassen. Nicht lange nach unserem Walzer.“ Die Worte ließen Claire innehalten, sodass auch Jonathon neben ihr stehen blieb. Nachdem sie die ganze Stunde über Französisch gesprochen hatten, erschien Claire der Klang englischer Worte seltsam fehl am Platz, ja, fast schrill. Vielleicht war es aber auch eher das Thema, das ihr missfiel. Sie hatten ein Gespräch über Blumen geführt, damit Jonathan Farben und Adjektive üben konnte. Und dieses neue Thema kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

„Ich bin überrascht, dass es Ihnen aufgefallen ist.“ Sie strich gedankenverloren über die weichen Blütenblätter einer Rose und wich Jonathons Blick aus. Es fiel ihr heute schwer, ihn anzusehen, da sie sich noch so deutlich an ihren gemeinsamen Tanz erinnerte, an das wundervolle Gefühl seiner Hand auf ihrem Rücken. Und dann erinnerte sie sich auch an Cecilias grausame Worte, die die Freude über den wundervollsten Tanz zerstört hatten, den Claire jemals erlebt hatte.

„Keine Sorge, ich bin auch früh gegangen. Bitte verraten Sie es niemandem“, fügte er scherzend hinzu. „Ihre Freundinnen kamen bald zurück von wo immer Sie alle gewesen sind, aber Sie waren nicht dabei.“ Er zwinkerte ihr neckend zu. „Darf man hoffen, dass unser Tanz Früchte getragen hat?“

Wenn Sie saure Zitronen dazuzählen. Ihre Verlobte in spe hat mir verraten, dass unser Tanz nichts weiter war als reine Pflichterfüllung. Aber das meinte er ja gewiss nicht. Sie brauchte einen Moment, bevor sie begriff. Natürlich, er sprach von dem „Bewunderer“, den sie zu beeindrucken suchte.

Er runzelte die Stirn, als er sie zögern sah. „Ich hoffe, Ihr Gentleman war nicht verärgert?“

„Nein, nein.“

Ihre Antwort schien ihn zu verblüffen. „Hat er uns tanzen sehen? Und trotzdem wollte er Sie nicht auf die Terrasse entführen, um seine Ansprüche geltend zu machen, bevor er Sie an einen anderen verliert?“

Die Vorstellung war so absurd, dass Claire lachte. „Du meine Güte, was glauben Sie eigentlich, wie mein Leben aussieht? Es scharen sich gewiss keine eifersüchtigen Bewunderer um mich und wetteifern um meine Aufmerksamkeit.“

„Sind Sie sicher, dass er uns gesehen hat?“

„Ja.“ Was nicht gelogen war, aber auch nicht völlig der Wahrheit entsprach. Claire wusste genau, dass er ihre Antwort missverstehen würde, und ließ den Blick noch immer verlegen auf der Rose ruhen.

„Nun gut“, fuhr Jonathon fort, offenbar entschlossen, positiv zu bleiben. „Vielleicht muss Ihr vergesslicher Verehrer es einfach noch einmal sehen. Zum Beispiel heute Abend bei Lady Rosedale.“

Ein weiterer Tanz, eine weitere Gelegenheit, sich wie im Himmel zu fühlen. Nur dieses Mal wusste Claire, dass sie einen Preis dafür zahlen musste. Sie täuschte ihn, indem sie ihn glauben ließ, dass sich ein Mann für sie interessierte. Und sich selbst täuschte sie auch. Es konnte nichts Gutes dabei herauskommen, wenn sie sich noch mehr Tänze von ihm erschwindelte. Der Plan war gewesen, sein Herz zu erobern, indem sie ihm Französisch beibrachte und nicht, indem sie mit ihm tanzte. „Ich will Ihr Mitleid nicht, Mr. Lashley. Und ich werde schon allein mit meinen Affären fertig.“ Eine etwas unglückliche Wortwahl, dachte sie kläglich.

Sie spürte, wie er sich anspannte. „Ach, Mitleid? Geben Sie mir diese Französischstunden etwa aus Mitleid? Vielleicht habe ich die Natur unserer Begegnungen missverstanden.“

„Nein, nicht aus Mitleid. S…sie sind zu mir gekommen und haben um meine Hilfe gebeten“, brachte sie stotternd hervor. Sie erkannte, worauf er hinauswollte, und leider kam ihr kein gutes Argument in den Sinn. Zwar beherrschte sie vier Sprachen, konnte aber mit diesem attraktiven Mann nicht einmal auf Englisch ein halbwegs vernünftiges Gespräch führen.

Er lächelte nur zufrieden. „Sehen Sie, ich tanze mit Ihnen aus demselben Grund, aus dem Sie mir Französischunterricht erteilen: Wir sind zwei Freunde, die einander helfen wollen.“ Er sah sie nachdenklich an. „Wir sind doch Freunde, oder?“

Der Gedanke war verführerisch und erfüllte sie mit Wärme, aber sie musste praktisch bleiben. „Ich bin für eine Weile Ihre Französischlehrerin. Mehr nicht.“ Lieber Himmel, Beatrice hätte ihr gegen das Schienbein getreten, wenn sie hier gewesen wäre.

Wieder musterte er sie nachdenklich. „Ist es das, was Sie tun? Die Leute von sich stoßen, indem Sie ihnen sagen, wie unbedeutend Sie doch sind?“, fragte er gedehnt. „Zweifellos eine sehr wirkungsvolle Strategie. Leider muss ich Ihnen sagen, dass sie bei mir nicht funktioniert.“ Er nickte nachdrücklich. „Sie bewirkt eher das genaue Gegenteil. Sie faszinieren mich. Was verbergen Sie, das so lautstark beschützt werden muss?“ Er lächelte breit. „Claire Welton, haben Sie Geheimnisse?“

Ich bin verrückt nach dir, seit ich neun Jahre alt war. „Ich bedaure, Sie enttäuschen zu müssen, aber eigentlich bin ich wie ein offenes Buch.“ Ihr blieben die Worte fast im Hals stecken.

Jonathon lachte. „Sie sind eine sehr schlechte Lügnerin, Claire. Versuchen Sie sich bitte nie als Spionin.“ Er wackelte gespielt dramatisch mit den Augenbrauen. „Jeder hat Geheimnisse.“

„Selbst Sie?“ Sie konnte nicht widerstehen. Es machte so viel Spaß, ihn zu necken und sich von ihm necken zu lassen. Jonathon war ein Mensch, in dessen Gegenwart man sich gefährlich schnell wohlfühlte. Aber sie hatte es ja gewusst, von Anfang an war das einer der Hauptgründe gewesen, weswegen sie sich zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Mehr als nur ein gut aussehender Mann, war Jonathon vor allem die amüsanteste Gesellschaft, die eine Frau sich wünschen konnte.

Er legte sich eine Hand in gespieltem Schmerz aufs Herz. „Moi? Aber, Miss Welton, was für eine Frage! Wollen Sie etwa andeuten, mein Ruf als Gentleman sei nicht makellos?“

Seine unbekümmerte Art ermutigte sie dazu, ein wenig mit ihm zu flirten. „Und? Ist er makellos?“ Plötzlich überkam sie der Wunsch, seine Geheimnisse zu erfahren, etwas von ihm zu wissen, was sonst keiner kannte. Ihr schoss ein Gedanke durch den Kopf. „Was wissen Sie überhaupt von Spionage, Mr. Lashley?“, zog sie ihn auf.

„Wenn ich auch nur die geringste Ahnung hätte, würde ich es Ihnen gewiss nicht verraten. Es würde ja auch völlig seinen Zweck verfehlen, nicht wahr?“ Sein Ton war noch immer leicht, aber das belustigte Lächeln um seine Lippen war verschwunden. Vielleicht hatte sie sich zu viel herausgenommen.

„Ich vergesse manchmal, dass Sie im Krieg gewesen sind“, sagte sie und hoffte, er begriff, dass sie sich entschuldigen wollte. Wie unglücklich sie gewesen war, all die Zeit seiner Abwesenheit. „Es fällt mir nur ein wenig schwer, Sie mir als Soldaten vorzustellen.“ Sein Lächeln, die auf den Leib geschneiderte Kleidung, der makellose Aufzug, all das wies eher auf den eleganten Erben hin, nicht auf den Soldaten.

„Gut.“ Er lächelte wieder amüsiert. „Dann hatte ich ja Erfolg.“ Er pflückte eine Rose von einem Strauch. „Man sollte nicht ständig an den Krieg erinnert werden. Erlauben Sie mir?“ Er steckte die Rose in ihr Haar, wobei seine Fingerspitzen leicht ihr Ohr streiften. Die flüchtige Berührung ließ Claire erschauern. Wie viele Gegensätze er doch in sich verband – den Krieger, den Gentleman, perfekte Manieren, Wagemut. Die eine Seite an ihm flößte einem Vertrauen ein. Man wusste, man war bei ihm sicher. Doch die andere war gefährlich, denn sie gehörte zu einem Mann, der unaussprechliche Dinge gesehen und wohl auch selbst getan hatte, und der diese Dinge vielleicht sogar ihr antun könnte. Wieder erschauerte sie. Wenn es der Gentleman in ihm nur zuließe.

„Jetzt kennen Sie eins meiner Geheimnisse, Claire. Sie müssen mir jetzt erlauben, eins von Ihren zu erraten.“ Jonathon tippte sich mit der Fingerspitze gegen das Kinn und musterte sie.

„Aber ich habe keine“, protestierte sie verlegen. Würde er es erraten? Wie demütigend das wäre! Natürlich würde sie es leugnen müssen. Er war nicht zurückgetreten, nachdem er ihr die Rose ins Haar gesteckt hatte, sondern stand noch immer viel zu dicht vor ihr, den dunklen Kopf leicht geneigt. Claire wagte es kaum zu atmen.

„Ich weiß“, sagte er nach einer Weile. „Sind Sie jemals geküsst worden, Claire?“

Das war fast noch peinlicher. Vielleicht hätte er doch besser fragen sollen, ob er ihr geheimer Schwarm war. „Das kann ich unmöglich beantworten. Eine Dame spricht nicht über so etwas“, versuchte sie, sich herauszureden.

„Wenn ich Sie korrigieren darf.“ Jonathon lehnte sich mit dem Arm auf einen tief hängenden Ast, nach außen hin ganz gelassen – und viel zu nah. „Eine Dame spricht nicht mit jedem über so etwas. Sie könnte aber in Betracht ziehen, es einem Freund anzuvertrauen.“

Claire schluckte mühsam. Wie waren sie nur von französischen Vokabeln auf dieses viel zu heikle Thema gekommen? „Ich habe einmal einen Heiratsantrag bekommen.“ Es gab einfach keine gute Antwort auf so eine Frage. Wenn sie Nein sagte, würde er sie für prüde und langweilig halten. Wenn sie Ja sagte, hielt er sie womöglich für eine lockere Person.

Er drohte ihr mit dem Finger. „Na, na, Claire. Danach habe ich nicht gefragt. Sind. Sie. Jemals. Geküsst. Worden.“ Seine blauen Augen funkelten frech.

Claire wollte zurückweichen, aber sie war gefangen. Errötend senkte sie den Blick. Wenn sie verneinte, würde er sie dann küssen, um sozusagen Abhilfe zu schaffen? Sie hoffte nicht. Ebenso wenig wie sie gewollt hatte, dass er mit ihr tanzte, weil er Mitleid mit ihr hatte, wollte sie, dass er sie aus Mitleid küsste. Und dennoch wünschte sie sich nichts sehnlicher, als von ihm geküsst zu werden. Nur nicht so.

„Aha“, sagte er leise. „Ich glaube, ich habe meine Antwort. Keine Sorge, Claire. Es wird geschehen, wenn es geschehen soll.“ Er dämpfte die Stimme. „Und jetzt, da wir unsere Geheimnisse kennen, sind wir wirklich Freunde geworden.“

Eigentlich hätte sie es dabei belassen sollen, aber Claire konnte nicht an sich halten. „Männer und Frauen? Können sie wirklich Freunde sein, Mr. Lashley?“

Sie setzten ihren Weg fort, und Claire atmete insgeheim erleichtert auf. „Die Gesellschaft scheint es ja nicht zu glauben, sonst würde es nicht so viele Regeln geben, die nur darauf ausgerichtet sind, Männer und Frauen voneinander zu trennen, bis sie verheiratet sind.“ Sie wusste, dass ihre nächste Frage recht gewagt war, auch wenn sie die Antwort schon ahnte. „Weiß Miss Northam zum Beispiel, dass Sie mich täglich besuchen, um im Französischen unterrichtet zu werden?“ So. Das würde endgültig dafür sorgen, dass ihr Gespräch nicht wieder auf gefährliche Abwege geriet. Selbstverständlich wusste Cecilia nichts. Von einem Mauerblümchen, einem wahren Blaustrumpf, unterrichtet zu werden, musste Jonathon ziemlich peinlich sein. „Was würde Miss Northam empfinden, wenn sie es wüsste?“ Wieder eine rhetorische Frage. „Sie würde in mir eine Rivalin sehen.“

„Aber das ist ja lächerlich!“, erwiderte er impulsiv, und Claire gab sich alle Mühe, nicht gekränkt zu sein.

„Ich denke, wir sollten ihnen das Gegenteil beweisen“, fuhr Jonathon fort und streckte die Hand aus. „Wir sollten zu unserer Freundschaft stehen, und am besten beginnen wir damit, dass wir mit dem lästigen ‚Mr. Lashley‘ aufhören. Ich bin Jonathon, und Sie sind Claire“, sagte er mit einer Feierlichkeit, die Claire ein Lächeln entlockte.

Sie begegnete seinem liebenswürdigen Blick und wusste doch, dass jede Hoffnung umsonst war. Er gehörte Cecilia. Wenn Claire sich etwas anderes einredete, würde es ihr über kurz oder lang das Herz brechen, und doch konnte sie nicht anders. Einen winzigen Augenblick erlaubte sie sich, an das Unmögliche zu glauben. Immerhin hatte sie ihm gefehlt. Er hatte bemerkt, dass sie den Ball verlassen hatte und hatte sich kurz danach ebenfalls verabschiedet. Und er hatte gesagt, dass sie ihn faszinierte. Mit diesen Worten würde sie sich ein Leben lang trösten müssen.

Was zum Henker dachte er sich nur dabei, ein Mädchen wie Claire Welton um ihre Freundschaft zu bitten, wenn er doch wusste, wie unmöglich so etwas war? Jonathon grübelte noch immer über diese Frage nach, während er am Nachmittag die Bond Street entlangschlenderte.

Eine solche Freundschaft war nicht nur gesellschaftlich verpönt. Insgeheim musste er Claire recht geben. Ein Mann konnte mit einer jungen, unverheirateten Dame aus vornehmer Familie nicht einfach so befreundet sein, ganz besonders wenn besagter Mann bereits einer anderen versprochen war.

Nun, darüber ließ sich allerdings streiten. Streng genommen war er Cecilia nicht wirklich versprochen. Schon während er das dachte, fühlte er sich schuldig. Jetzt betrieb er Haarspalterei. Aber wer hätte es ihm schon verdenken können? Claire hatte ihn völlig überwältigt – sie in seinen Armen, während sie tanzten, die schönen cognacbraunen Augen, all ihre Intelligenz und Unschuld bewundernd auf ihn gerichtet. Es war eine wirklich berauschende Kombination gewesen dort auf der Tanzfläche. Aber nach einer Woche Unterricht mit ihr fühlte sich ihre Nähe überall berauschend an, ob nun im Garten, im Ballsaal oder in der Bibliothek. Für naiv hielt er sie allerdings nicht, dafür war sie zu klug. Sie war lediglich unerfahren und hatte ihre Träume und Begierden noch nicht ausleben können.

Aber sie ist mehr als bereit, sie auszuprobieren. Die Antwort enthüllte sich ihm so plötzlich, dass er fast über einen Stein auf der Straße gestolpert wäre. Ihre neuen Kleider, der Wunsch, aktiv ihren heimlichen Verehrer zu gewinnen, alles wies darauf hin. Sie war bereit, aus ihrem selbst auferlegten Exil auszubrechen. Sie war wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft, noch ein wenig zerbrechlich und sich noch nicht ganz der Kraft und Schönheit seiner Flügel sicher.

Jonathon blieb vor dem Schaufenster des Floristen stehen, den er frequentierte, um Cecilia regelmäßig ein Bouquet blassrosafarbener Rosen zu schicken, und betrachtete die Lilien in der Auslage. Er könnte Claire bei ihrer Metamorphose auch noch auf andere Weise helfen als nur mit einem Tanz. Kurz entschlossen betrat er das exklusive Bond-Street-Blumengeschäft. Er lächelte zufrieden, als er sich Claires Überraschung vorstellte, wenn ihr die Blumen überbracht wurden. Vor allem aber auch die Überraschung ihres Verehrers, wenn er erkannte, dass er sich ihrer Zuneigung nicht mehr sicher sein konnte und dass es womöglich einen weiteren Wolf im Gehege gab, der es auf sie abgesehen hatte. Seltsamerweise verließ ihn jedoch das Gefühl der Zufriedenheit schon bald, obwohl er doch gerade etwas getan hatte, um einer Freundin zu helfen. Warum kam er sich plötzlich eher wie ein Neidhammel als wie ein Wolf auf der Pirsch vor?

9. KAPITEL

Er war gut vorbereitet zu dem Rosedale-Ball gegangen. Zuerst hatte er seinen Namen nicht nur für einen Tanz, sondern gleich für zwei in ihre Tanzkarte geschrieben. Außerdem hatte er dafür gesorgt, dass der zweite Tanz erst recht spät am Abend an der Reihe war, um sicherzugehen, dass sie bleiben würde.

Ihr erster Tanz fand fast ganz am Anfang des Abends statt, ein lebhafter Ländler, nach dem beide atemlos und lachend wieder zum Rand der Tanzfläche zurückkehrten. „Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr so getanzt!“, brachte Claire nur mühsam hervor. Es war wunderbar gewesen. Falls Jonathon geglaubt und gehofft hatte, dass der Walzer eine Ausnahme gewesen war und er sich nach einem harmlosen Ländler unmöglich so fühlen konnte wie nach jenem Walzer, hatte er sich geirrt. Unglaublich, aber wahr – er fühlte sich jetzt sogar noch lebendiger. Wenn er mit Claire zusammen war, schien sein Leben ihn plötzlich nicht mehr so zu ersticken.

„Ich brauche ein wenig frische Luft. Möchten Sie mit mir auf die Terrasse kommen?“, fragte Jonathon, selbst noch ganz atemlos. Sie waren schwungvoll im Kreis herumgewirbelt – seine Hand fest auf ihrer Taille, ihr strahlendes Gesicht ihm zugewendet – und für einige Minuten hatte er aufgehört, sich Sorgen zu machen wegen seiner Französischkenntnisse, wegen Wien und wegen Cecilia.

Auch Claire schien unbeschwert gewesen zu sein. Es fiel ihm auf, weil er diese Unbeschwertheit sofort vermisste, sobald sie nach draußen traten. Hier war sie wieder angespannt. „Tu es nerveuse?“, fragte er leise, während sie gemeinsam die niedrigen Steinstufen in den Garten der Rosedales hinuntergingen.

„Vielleicht. Ich bin noch nie während eines Balls auf die Terrasse oder in den Garten gegangen.“ Sie lachte verlegen, um ihre Bemerkung wie einen Scherz klingen zu lassen.

Autor

Bronwyn Scott
Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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