Baccara Collection Band 468

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WAS SICH RÄCHT, DAS LIEBT SICH von BRENDA JACKSON

Nie hat Charm dem berühmten Musiker Dylan verziehen, dass er ihre Liebe verriet. Als sie ihn in einem Luxusresort in Cancún wiedersieht, schmiedet sie einen Plan: Diesmal wird sie ihn verführen und dann abweisen! Nur wie, wenn ihr Verlangen nach jedem Kuss heißer brennt?

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  • Erscheinungstag 24.02.2024
  • Bandnummer 468
  • ISBN / Artikelnummer 9783751523066
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Brenda Jackson, Martha Kennerson, Susannah Erwin

BACCARA COLLECTION BAND 468

1. KAPITEL

„Charm Outlaw ist da! Jetzt kann die Party richtig losgehen.“ Charm drehte eine Runde durch den Raum und begrüßte alle Anwesenden auf der Junggesellinnenparty. Frauen, die sie seit dem College kannte, oder andere weibliche Bekannte, die sie durch die Braut, Lacey Kilgore, kennengelernt hatte. Sie alle waren gekommen, um Laceys Hochzeit im luxuriösen Fünf-Sterne-Resort Crystalline in Cancún zu feiern.

Charm brauchte nicht lange für ihren Rundgang. Sie umarmte jede, die sie kannte, und lernte die kennen, die sie noch nicht kannte. Es störte sie nicht im Geringsten, dass einige sie für ein Partygirl hielten, obwohl deren Wahrnehmung weit von der Wahrheit entfernt war. Sicher, sie amüsierte sich gern, aber sie wusste, wann, wo und wie sie die Grenze ziehen musste. Sie nahm keine Drogen, besuchte keine Nachtclubs und hatte auch keinen Sex mit x-beliebigen Männern. Die meisten würde es überraschen, wenn sie wüssten, dass sie mit ihren achtundzwanzig Jahren nur mit einem einzigen Mann geschlafen hatte.

Sie schnappte sich einen Drink vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners, während sie den weiblichen Verwandten von Laceys Verlobtem Vernon Lamont vorgestellt wurde. Dann ging sie ans Buffet.

„Ich kann die Hochzeit morgen kaum erwarten“, sagte Ola Cunningham, die sich zu Charm gesellte.

Ola, Lacey, Charm und Piper Akron hatten während des Studiums an der University of Alaska in Anchorage zusammengewohnt. Charm lächelte Ola an. Als sie zusammenzogen, war sich Charm nicht sicher gewesen, wie sie mit der immer gut gelaunten, freundlichen und liebenswerten Ola umgehen sollte. Später stellte sie fest, dass Olas positive Einstellung zum Leben ansteckend war.

„Ich auch nicht. Ich habe gerade eine SMS von Garth bekommen. Er und Regan werden morgen früh ankommen.“ Charm hatte fünf ältere Brüder. Garth war der Älteste, Regan seine Frau.

„Kommen auch deine anderen Brüder?“, fragte Piper, die sich zu ihnen gesellte.

Charm konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Als sie noch zusammengewohnt hatten, hatten sich Lacey, Piper und Ola immer auf die Besuche von Charms Brüdern gefreut. Damals waren alle fünf noch ledig gewesen. Jetzt waren sie glücklich verheiratet.

Maverick, der an derselben Universität in Anchorage studiert hatte, hätte ebenfalls ein Mitbewohner sein sollen. Das zumindest war der Plan ihres Vaters Bart Outlaw gewesen, als er anlässlich der beschleunigten Zulassung seiner Tochter zum Studium das dreigeschossige Haus mit fünf Schlafzimmern gekauft hatte. Er hatte nicht gewollt, dass seine Sechzehnjährige auf dem Campus wohnte. Wie könnte man Charm besser beschützen, als wenn einer ihrer Brüder mit ihr unter einem Dach wohnte? Bart wusste jedoch nicht, dass Maverick nach dem ersten Monat Betten fand, in denen er lieber schlief.

Manche fanden es erstaunlich, dass die sechs Outlaw-Geschwister so eng miteinander verbunden waren, wenn man bedenkt, dass jedes von ihnen eine andere Mutter hatte. Charms Mutter, Claudia Dermotte, war die einzige Frau, die Bart jemals geliebt hatte, und die Einzige, die er nicht geheiratet hatte … aber nicht, weil er es nicht versucht hatte. Charm musste bei dem Gedanken lächeln, dass ihr Vater es jetzt, neunundzwanzig Jahre später, immer noch versuchte.

Als Teenager hatte Charm angefangen, die Schule zu schwänzen und alle möglichen Dummheiten zu begehen. Damals wandte sich Claudia, die mit ihrem Latein am Ende gewesen war, an Charms Vater, der nichts von der Existenz seiner Tochter wusste. Im Alter von vierzehn Jahren stand sie neben ihrer Mutter an der Tür eines monströsen Hauses in Fairbanks und sah sich ihrem Vater, Bart Outlaw, gegenüber. Ihre Mutter hatte zu ihm gesagt: „Das ist deine Tochter Charm. Ich kann ihr freches Mundwerk nicht mehr ertragen. Jetzt kümmerst du dich um sie.“

Charm lächelte, als sie daran dachte, wie Bart sie behandelt hatte. Er verwöhnte sie nach Strich und Faden, was alles nur noch schlimmer machte. Ihre fünf Brüder hatten es schließlich geschafft, dass sie ihr Verhalten änderte.

„Charm?“

Sie merkte, dass sie so in Gedanken versunken gewesen war, dass sie Pipers Frage noch nicht beantwortet hatte. „Garth kommt als Einziger zu der Hochzeit. Die anderen schaffen es nicht. Sie sind jetzt alle verheiratet und werden von ihren Frauen auf Trab gehalten. Oder sollte ich besser sagen, sie halten ihre Ehefrauen auf Trab? Cashs Frau Brianna ist wieder schwanger, und Sloan ist Anfang des Monates Vater geworden. Er und Leslie haben Dad das erste Enkelkind geschenkt, und ich bin ganz verrückt nach meiner süßen Nichte.“

„Wie heißt sie?“

„Cassidy.“

„Oh, was für ein schöner Name. Was ist mit Maverick? Seine Frau ist doch auch schwanger, oder?“

„Ja. Maverick und Phire bekommen nächsten Monat einen Jungen.“

Kurz darauf kam Brittany, eine von Vernons jüngeren Schwestern, ganz aufgeregt zu Charm. „Stimmt es, dass du Dylan Emanuel kennst?“

Charm hatte nicht damit gerechnet, nach dem Mann gefragt zu werden, der ihr mit achtzehn das Herz gebrochen hatte. Sie atmete tief durch, trank einen Schluck Wein und setzte dann ein Lächeln auf. „Ja, ich kenne Dylan. Wir haben uns vor langer Zeit kennengelernt, als er die Summer Music Academy der University of Alaska in Fairbanks besuchte.“

„Wow! Das ist so cool“, sagte Brittany voller Bewunderung. Es war nicht zu übersehen, dass die junge Frau zu den Dylan-Fans gehörte.

Bevor Brittany noch weitere Fragen stellen konnte, griff Piper nach Brittanys Hand und sagte: „Ich brauche Hilfe beim ersten Spiel heute Abend.“

„Klar.“

Als Charm und Ola wieder allein waren, beugte Ola sich zu ihr. „Ich hätte dich warnen sollen, dass so etwas passieren kann. Als gestern Abend in der Bar einer von Dylans Songs gespielt wurde, hat Lacey verraten, dass ihr euch kennt.“

Charm trank noch einen Schluck. „Kein Problem. Wie ich Brittany schon sagte, ist es lange her. Ich hatte die Sache fast vergessen.“

„Lügnerin.“

Ja, sie hatte gelogen. Aber sie gab nur ungern zu, dass sie sich jedes Mal, wenn sie einen von Dylans Songs hörte, an den Sommer erinnerte, in dem sie sich kennengelernt hatten, und an die zweijährige Fernbeziehung. Für sie war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Damals, mit sechzehn, war sie davon überzeugt gewesen, dass der langhaarige, supersüße Dylan Emanuel ihr Seelenverwandter war.

„Alles in Ordnung, Charm?“

Charm rang sich ein Lächeln ab, als sie Olas besorgten Blick sah. „Ja, Ola, alles okay. Die Erinnerungen sind manchmal nur schwer zu verdrängen. Das Einzige, was ich an der Zeit mit Dylan schätze, ist, dass wir Bart in jenem Sommer ein Schnippchen geschlagen haben.“

Ihr Vater war ein Tyrann. Von ihren Brüdern hatte sie früh gelernt, Bart nie die Oberhand gewinnen zu lassen. Aber ihn in dem Glauben zu lassen, er hätte sie. Es hatte nicht lange gedauert, bis Bart ihr Interesse an Dylan bemerkte. Als er sie nach Dylan fragte, hatte sie keinen Grund gesehen zu lügen, und ihm gesagt, dass sie in Dylan verliebt sei.

Bart überraschte sie mit dem Vorschlag, Dylan zum Essen einzuladen, damit er ihre Familie kennenlernen konnte. Sie hätte wissen müssen, dass ihr Vater nichts Gutes im Schilde führte, aber sie hatte gehofft, dass er sich wenigstens einmal wie ein anständiger Mensch benehmen würde. Beim Abendessen erklärte Bart Dylan jedoch unmissverständlich, dass Charm zu jung für einen Freund sei. Als ihr Vater setzte er der aufkeimenden Romanze ein offizielles Ende. Er nannte es Teenager-Unsinn und erklärte, dass seine Zukunftspläne für Charm eine gute Ehe vorsahen und keine Beziehung mit einem zweitklassigen Gitarristen, aus dem nie etwas werden würde.

Um sicherzugehen, dass sie sich nicht mehr mit Dylan traf, beendete Bart die Klavierstunden, die sie zusammengebracht hatten. Sie und Dylan trafen sich trotzdem. Sie waren sich einig, dass sie sich von Bart nicht in ihre „aufkeimende Romanze“ reinreden lassen wollten. Sie waren verliebt und entschlossen, auf jeden Fall zusammenzubleiben. Es würde nicht einfach werden, da Dylan in New York zur Schule ging und sie in Anchorage, mehr als viertausend Meilen entfernt. Aber sie fanden einen Weg, ihre Romanze geheim zu halten. Zwei Jahre lang.

„Charm?“

Sie blickte zu Ola hinüber. „Ja?“

„Bleibst du wirklich noch eine Woche nach der Hochzeit hier?“

„Das ist der Plan.“

Ola lachte. „Es muss schön sein, einen Job im Familienunternehmen zu haben, bei dem du dir freinehmen kannst, wann immer du willst.“

„Wie man’s nimmt.“

„Komm. Ich glaube, die Spiele beginnen.“

Charm hakte sich bei Ola ein. „Ja, es ist Zeit, dass der Spaß beginnt.“

Dylan Emanuel lächelte, als er den Worten des Schlagzeugers seiner Band lauschte. Er und Graham Ives waren beste Freunde, seit die Familie Ives in seine Nachbarschaft in Memphis gezogen war, als sie noch Teenager waren. Nachdem sie ihre gemeinsame Leidenschaft für Musik entdeckt hatten, schlossen sie sich zusammen.

Graham und die anderen Bandmitglieder genossen die Tourneepause in Dublin, Irland, während Dylan die Zeit in Cancún nutzte, um einige Songs für ihr nächstes Album zu schreiben. Gestern Abend war er damit fertig geworden.

„Wir haben eine tolle Zeit, Dyl. Groupies, die man einfach lieben muss. Jetzt, wo du mit der Arbeit fertig bist, könntest du doch in einen Flieger steigen und zu uns kommen.“

„Eigentlich gern, aber du weißt, was ich meinen Großeltern versprochen habe. Von hier fliege ich nach Idaho. Ren hat schon angerufen, um sicherzugehen, dass ich komme.“

Renshaw Burgess war der Vorarbeiter auf der Rinderfarm seiner Familie in Davenport. Dylan hatte die sechzig Hektar große Ranch von seinen Großeltern geerbt. Und er hatte ihnen versprochen, die Red Flame Ranch zu seinem Hauptwohnsitz zu machen und nach dem Rechten zu sehen, wenn er nicht auf Tour war.

„Du fliegst heute nach Idaho?“, fragte Graham.

„Nein. Da ich für eine weitere Woche in diesem Resort gebucht bin, will ich auch bleiben, die Zeit genießen und entspannen.“

Bisher hatte er die Nobelhütte, die zur Hotelanlage gehörte, nur morgens und abends verlassen, um am Strand zu joggen. Die Mahlzeiten hatte ihm der Zimmerservice gebracht. Jetzt hatte er keinen Grund mehr, sich einzuschließen, und er war bereit, rauszugehen und sich zu amüsieren, wobei er seine Identität so weit wie möglich geheim halten wollte. Er liebte seine Fans, aber sie konnten sehr aufdringlich sein, wenn es um seine Privatsphäre ging.

Dylan hörte Musik und wollte wissen, woher sie kam. Deshalb sagte er Graham, dass er sich später noch einmal melden würde. Er öffnete die Glastür zu dem Balkon in der oberen Etage und trat hinaus. Am Strand fand offensichtlich eine Hochzeit statt.

Dylan musste zugeben, dass der Sonnenuntergang und das Meer eine schöne Kulisse für eine Hochzeit abgaben … wenn man denn heiraten wollte. Er wollte es nicht. Seine erste Verliebtheitserfahrung war auch seine letzte gewesen. Musik war seine einzige große Liebe und würde es auch bleiben. Sie würde ihn nicht verlassen. Nicht so, wie es eine gewisse Frau getan hatte.

Dylan wollte sich gerade umdrehen und wieder hineingehen, als sein Blick auf eine der Brautjungfern fiel. Obwohl es zehn Jahre her war, dass er sie gesehen hatte, erkannte er sie sofort.

Charm Outlaw.

Er war sich sicher, dass sie es war. Natürlich war sie älter geworden, aber sie war noch so schön wie damals. War es Zufall? Noch vor wenigen Sekunden hatte er an das eine Mal gedacht, als er sich verliebt hatte, und an die Frau, die ihn verlassen hatte. Und jetzt war sie ausgerechnet hier und nahm an einer Hochzeit teil.

Sein Blick blieb an der Frau hängen, die ihm so viel Leid zugefügt hatte, als er noch zu jung gewesen war, um es besser zu wissen. Sein Vater und sein Großvater hatten ihn gewarnt, dass ein Emanuel die Frau, die dazu bestimmt war, sein Leben mit ihm zu teilen, sofort erkennen würde, wenn er sie sah. Seine Eltern, Großeltern und auch Urgroßeltern hatten sich an der Highschool kennen- und lieben gelernt. Trotz aller Herausforderungen – seine Eltern waren sogar an unterschiedlichen Colleges gewesen – hatte ihre Liebe zueinander überlebt, weil sie entschlossen waren, es zu schaffen. Langjährige Ehen gehörten zur Familiengeschichte.

Dylan hatte keinen Grund gesehen, warum eine Fernbeziehung nicht auch für ihn und Charm funktionieren sollte. Vom ersten Moment an hatte sie sein Herz erobert, und er war überzeugt gewesen, dass sie die Richtige war. Die, die er heiraten würde. Die seine Kinder bekommen würde. Die sein Leben teilen und mit ihm alt werden würde. Die ihn bis an sein Lebensende lieben würde.

Die Erinnerung an jenen Sommer in Alaska kehrte mit lebhafter Klarheit zurück. Es war wenige Wochen vor seinem achtzehnten Geburtstag gewesen, und Musik war seine einzige Liebe. Bis er Charm gesehen hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Einige der anderen Musikstudenten hatten ihn gewarnt, sie sei die verwöhnte Tochter eines der skrupellosesten Geschäftsleute Alaskas und es sei klüger, sich nicht mit ihr einzulassen. Er hatte die Warnung in den Wind geschlagen. Jetzt wünschte er, er hätte es nicht getan. Er bezweifelte, dass er eine andere Frau so lieben könnte, wie er sie geliebt hatte.

Nach zwei Jahren beendete sie die Beziehung mit der Begründung, sie wolle keine Fernbeziehung mehr. Er hatte es nicht kommen sehen.

Dylan seufzte. Es verspürte Wut, als er die Erinnerungen wieder durchlebte, die auch nach zehn Jahren noch schmerzten. Plötzlich, als wüsste Charm, dass er da war, sah sie auf und begegnete seinem Blick.

Dylan!

Charm Outlaw atmete scharf ein und umklammerte ihren Strauß. Sie brach den Blickkontakt mit ihm ab und schaute nach vorne, wo Ola und Piper bereits standen. Obwohl sie immer noch lächelte, konnte sie an den Gesichtern ihrer beiden Freundinnen erkennen, dass diese ahnten, dass etwas nicht stimmte. Was hatte sie verraten?

Als sie die beiden erreichte, warf sie ihnen als Antwort auf die fragenden Blicke einen „Ihr werdet es nicht glauben“-Blick zu. Sie hatte sich auf keinen Fall geirrt. Der Mann, den sie gesehen hatte, war Dylan. Dessen war sie sicher. Seine Augen hatten ihn verraten. Sie waren dunkel, verführerisch und schon immer die schönsten gewesen, die sie je gesehen hatte.

Er sah älter aus, reifer, und er war unglaublich attraktiv. Im Laufe der Jahre hatte sie ihn im Fernsehen gesehen, Fotos von ihm zierten die Titelseiten von Magazinen, und gerade diese Woche, als sie in Cancún angekommen waren, hatte sie ein sexy Bild von ihm als Model für Herrenunterwäsche auf einer riesigen Plakatwand gesehen. Er hatte sich wirklich einen Namen gemacht und war definitiv nicht der zweitklassige Gitarrist, der es nie zu etwas bringen würde, wie ihr Vater gemeint hatte. Dylan war ein sehr erfolgreicher und renommierter Jazzgitarrist und – sänger mit zahlreichen Auszeichnungen in der Tasche und einer riesigen Fangemeinde.

Sie versuchte, Dylan aus ihren Gedanken zu verbannen, während sie die Trauung verfolgte. Aber sie konnte nicht anders, als sich an den Sommer zu erinnern, in dem sie und Dylan sich kennengelernt hatten.

2. KAPITEL

Fairbanks, Alaska, vor zwölf Jahren

„Regan, warum hast du es so eilig, zum Unterricht zu kommen? Es wird wieder die gleiche langweilige Klavierstunde“, sagte Charm, als sie aus der Limousine ausstiegen, die ihr Vater Bart gemietet hatte, um sie jeden Mittwoch und Freitag zum Unterricht bringen zu lassen.

Sosehr sie sich auch beschwerte, dass sie zweimal in der Woche Klavierunterricht nehmen musste, ihr Gejammer stieß auf taube Ohren. In manchen Dingen konnte sie sich bei Bart durchsetzen, aber aus irgendeinem Grund war er fest entschlossen, sie zu diesem Unterricht zu zwingen. Sie vermutete, dass ihre Brüder dahintersteckten. Wahrscheinlich sahen sie darin eine Möglichkeit, ihre sechzehnjährige Nervensäge von Schwester für zumindest vier Stunden in der Woche loszuwerden.

„Ich liebe meine Klavierstunden, Charm. Das würdest du auch, wenn du dir etwas Mühe geben würdest.“

„Du hast gut reden, du bist talentiert.“ Sie meinte es ernst. Regan war ein musikalisches Naturtalent. Außerdem hatte sie schon viel länger Unterricht als Charm. Regan war in der Fortgeschrittenenklasse, Charm noch in der Anfängerklasse.

Sie betraten das Musikgebäude der University of Alaska Fairbanks. Ihre Wege würden sich jetzt für zwei Stunden trennen. Sie mochte Regan, und trotz des Altersunterschieds von drei Jahren war sie so etwas wie die beste Freundin. Regans Vater war der Firmenpilot der Outlaws, und das schon seit Jahren.

„Wir sehen uns in ein paar Stunden“, sagte Regan und eilte den Gang hinunter. In diesem Moment bemerkte Charm, dass im Gebäude mehr Betrieb herrschte als sonst. Was war los? Es war der Beginn des Sommers.

Da fiel ihr ein, dass die Universität jedes Jahr eine Sommer-Musikakademie veranstaltete. Sie vergab mehr als fünfzig Stipendien an musikalisch begabte Studenten aus dem ganzen Land, die für den Sommer nach Fairbanks kamen, um bei renommierten Musikdozenten zu studieren. Ihr Klavierlehrer, Professor Jovanovich, war einer davon.

Eine halbe Stunde zu früh erreichte Charm ihren Musikraum. Leise ging sie hinein und sah, dass der Student vor ihr bereits fertig war und gerade seine Gitarre zurück in den Koffer legte. Offensichtlich war sie doch nicht so lautlos gewesen, wie sie gedacht hatte, denn der Student und Professor Jovanovich drehten sich in ihre Richtung.

Ihr Blick wanderte vom Professor zu dem Studenten. Sofort begann ihr Herz zu klopfen. Wer um alles in der Welt war dieser große, gut aussehende Typ mit der mandelbraunen Haut, den markanten Gesichtszügen und einer Masse glatter, schulterlanger schwarzer Haare? Er war so groß wie ihre Brüder und trug Jeans und ein Hemd, was ihm gut stand. Sie vermutete, dass er hier an der Universität studierte.

„Miss Outlaw?“

Sie blinzelte, als sie realisierte, dass Professor Jovanovich ihren Namen mit Nachdruck ausgesprochen hatte. Hieß das, er nannte ihn schon zum zweiten Mal, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen? Wie auch immer, geschafft hatte er es nicht. Zumindest nicht ganz, denn ihr Blick war noch auf diesen Kerl gerichtet.

„Ja, Professor Jovanovich?“, fragte sie, ohne den Blickkontakt mit dem Studenten zu unterbrechen. Sie verstand nicht, warum sie die Augen nicht von ihm abwenden konnte. Aber es schien, als könnte er auch nicht wegschauen.

„Wenn Sie näher treten, Miss Outlaw, mache ich Sie gern miteinander bekannt“, sagte der Professor, der von ihr zu dem Mann und dann wieder zu ihr sah.

Charm spürte, wie sich ihre Füße bewegten. Es war wirklich seltsam, auf diese Weise gefesselt zu sein. Sie sah ständig gut aussehende Männer. Ihre fünf Brüder waren attraktiv und so auch die Typen, mit denen sie herumhingen. Typen, die den meisten Mädchen den Kopf verdrehen würden. Ihr nicht. Auch jetzt war das nicht der Fall. Etwas viel Subtileres fand gerade statt. Es war etwas, was sie nicht erklären oder definieren konnte, denn sie hatte keine Ahnung, was es war.

Als sie vor den beiden stehen blieb, sagte Professor Jovanovich: „Miss Outlaw, darf ich Ihnen Dylan Emanuel vorstellen. Dylan ist einer unserer Sommerstipendiaten. Er ist Gitarrist und Sänger.“ Dann: „Dylan, das ist Charm Outlaw, eine meiner Klavierschülerinnen.“

Dylan lächelte und reichte ihr die Hand. „Hallo, Charm. Freut mich, dich kennenzulernen.“

Sie nahm seine Hand. Sie fühlte sich warm, sanft und doch fest an. Und die Grübchen in seinen Wangen, wenn er lachte, waren unwiderstehlich. „Hallo, Dylan. Freut mich auch.“

Erst als Professor Jovanovich sich laut räusperte, ließ Dylan ihre Hand los. Und Charm unterbrach endlich den Blickkontakt mit Dylan und holte tief Luft. Sie musste sich zusammenreißen.

Sie schluckte und fragte: „Wollen wir anfangen, Professor Jovanovich?“

„Nein. Tatsächlich muss ich an einer dringenden Vorstandssitzung teilnehmen, die aber nicht länger als dreißig Minuten dauern sollte. Ich muss also kurz weg. Ich gehe davon aus, Sie haben Ihr Stück für heute geübt.“

Es war eine Feststellung, keine Frage. Sie würde ihm auf keinen Fall sagen, dass er sich irrte. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie, nachdem Dylan ihre Hand berührt hatte, überhaupt noch einmal Klaviertasten berühren wollte. Oder ob ihre Hand überhaupt noch einmal mit irgendetwas in Berührung kommen sollte.

„Bedeutet Ihr Schweigen, dass ich falschliege?“

Sie musste nicht lügen, denn er würde die Wahrheit kennen, sobald sie sich ans Klavier setzte. „Ja, Sie liegen falsch.“

Professor Jovanovich schüttelte den Kopf, so wie er es immer tat, wenn er sich über sie ärgerte, und fragte sich vermutlich, warum ihr Vater so viel für Privatstunden zahlte, die sie ganz offensichtlich nicht nehmen wollte.

Er sah Dylan an. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit Charm das Stück zu üben, während ich an dem Meeting teilnehme?“

Dylan lächelte. „Das mache ich gern, Professor Jovanovich.“

„Ich dachte, du spielst Gitarre“, sagte sie.

„Ich spiele mehrere Instrumente, darunter Klavier, Keyboard, Geige, Schlagzeug, Harfe und Saxofon.“

„Wow.“ Sie war beeindruckt.

„Nun, wenn Sie mich dann entschuldigen würden. Ich bin in einer halben Stunde zurück. Das gibt Ihnen genug Zeit, das Stück zu üben, Miss Outlaw.“

Ohne ein weiteres Wort nahm der Professor seine Unterlagen und ging.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, sah Charm Dylan an. „Tut mir leid, dass du mir bei etwas helfen sollst, was ich eigentlich zu Hause hätte tun sollen.“

„Und warum hast du es nicht?“

Sie wollte gerade etwas nicht so Nettes sagen, als sich sein Mund zu einem Lächeln verzog, das ihr den Atem raubte. Charm konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern.

„Ich sollte das nicht zu jemandem sagen, der so viele Instrumente spielt, aber ich habe einfach keine Lust dazu.“

Er legte den Kopf zurück und lachte. Er lachte tatsächlich. Der Klang war so voll, herzlich und warm. Es war die Wärme, die sie mehr als alles andere hörte und spürte. „Dann werde ich dafür sorgen, dass sich das ändert. Bis ich Alaska verlasse, wirst du Lust dazu haben, Charm Outlaw.“

Sie war sich dessen nicht so sicher und weigerte sich, irgendwelche Versprechungen abzugeben. Stattdessen holte sie ihre Noten aus dem Rucksack und setzte sich an eins der Klaviere. „Ich habe wirklich keine Entschuldigung dafür, dass ich nicht übe. Mein Vater hat mir ein schönes Klavier vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt.“

„Aber der Wunsch zu spielen muss hier drin sein“, sagte Dylan und klopfte sich auf die Brust, dort, wo das Herz war. „Ich vermute, dass es nicht deine Idee war, Klavierspielen zu lernen.“

„Aber nein. Es war die meiner fünf Brüder.“

„Du hast fünf Brüder?“

„Ja, und sie sind alle älter als ich. Ich glaube, ich gehe ihnen manchmal auf die Nerven, und sie haben deshalb meinen Vater auf die Idee gebracht, dass ich Klavierunterricht nehmen sollte. Er stimmte zu, weil Regan Unterricht nimmt und er sie ein paarmal hat spielen hören.“

„Wer ist Regan?“

„Sie ist meine Freundin. Drei Jahre älter als ich.“

„Und wie alt bist du?“

„Sechzehn.“

„Du bist also keine Studentin hier.“

„Nein.“

„Dann bist du noch auf der Highschool?“

„Nein.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Nein?“

„Nein. Ich habe letzten Monat die Highschool abgeschlossen.“

„Mit sechzehn?“

„Ja. Ich hatte jahrelang Hausunterricht, und als ich in die normale Schule kam, habe ich einen Einstufungstest absolviert und ein paar Stufen übersprungen.“

„Gehst du an die Uni?“

„Ja, aber nicht an diese. Sie ist zu nah an meinem Zuhause. Ich werde an die University of Alaska Anchorage gehen. Dad ist nicht begeistert davon, er hätte es lieber, ich bliebe hier, aber zum Glück unterstützen mich meine Brüder. Mein Bruder Maverick wird auch an die Uni in Anchorage gehen. Und mit ihm zusammen ist es für meinen Dad okay.“

Sie setzte sich ans Klavier, und da er ihr Fragen gestellt hatte, hielt sie es für angebracht, ihm jetzt auch ein paar zu stellen. „Also, woher kommst du, Dylan Emanuel.“

„Memphis.“

„Kein Wunder, dass du Musik liebst.“

„Ja, ich war immer umgeben von Musik.“

„Deine Eltern sind Musiker?“

„Nein. Dad ist Anwalt und auf die Unterhaltungsindustrie spezialisiert. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Musikverträgen. Meine Mom ist Finanzberaterin.“

„Sind deine Eltern zusammen?“

„Ja. Deine nicht?“

„Nein.“

Mehr wollte sie nicht sagen. Er musste nicht wissen, dass ihre Eltern nie verheiratet gewesen waren. Sie wechselte das Thema. „Du musst dein musikalisches Talent von jemandem geerbt haben. Was ist mit deinen Großeltern?“

Er lachte. „Die Eltern meines Vaters sind Rancher in Idaho, und die Eltern meiner Mutter auch.“

„Aber von irgendjemandem musst du es haben.“

Er zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, mein Vater ist als Anwalt in der Branche tätig. Bei uns im Haus waren oft Musiker, ich habe mein Interesse an Musik wohl von ihnen übernommen.“

Sie sagte einen Moment lang nichts und fragte dann: „Wie alt bist du, Dylan?“

„Siebzehn. In zwei Wochen werde ich achtzehn.“

Sie wusste nicht warum, aber sie speicherte diese Information sofort in ihrem Kopf ab. Sie hatte vor, diesen Geburtstag zu etwas Besonderem für ihn zu machen, vor allem, weil er so weit weg von zu Hause war. „Wirst du ans College gehen?“

„Ja. An die Juilliard School in New York.“

Selbst sie wusste, dass Juilliard eine der besten Schulen für darstellende Künste im ganzen Land war. Sie hatte herausragende Künstler hervorgebracht, und es war nicht leicht, dort angenommen zu werden. „Das ist wunderbar, Dylan. Gratuliere.“

„Danke.“ Er sah auf seine Uhr. „Professor Jovanovich wird in weniger als zwanzig Minuten zurück sein, also schlage ich vor, dass du anfängst zu üben.“

„Okay.“

Charm gefiel es gar nicht, dass er sie spielen hören würde. Wenn sie zu Hause übte, sorgten ihre Brüder dafür, dass sie nicht da waren. Ihr Vater blieb immer und behauptete sogar, sie sei gut. Lange Zeit hatte sie es ihm geglaubt, bis sie ihn eines Tages dabei erwischte, wie er seine Ohrstöpsel herausnahm.

Nach dem ersten Stück sah sie zu ihm hinüber. „Und?“

„Ich würde sagen, du musst häufiger üben. Übung macht den Meister, das weißt du doch.“

Ja, das hatte sie mehr als einmal zu hören bekommen, ohne dass es etwas bei ihr bewirkt hätte. Jetzt könnte er der Grund sein, dass sich das änderte. „Wie lange bleibst du in Alaska, Dylan?“

„Den ganzen Sommer. Kurz vor Beginn des Studiums an der Juilliard kehre ich nach Memphis zurück, um zu packen. Normalerweise verbringe ich den Sommer auf der Ranch meiner Großeltern in Idaho, aber in diesem Jahr nicht.“

Zu wissen, dass er den ganzen Sommer in Alaska verbringen würde, erhellte ihren Tag. „Und wie oft bist du hier, um Unterricht zu nehmen?“

„Jeden Tag außer freitags und den Wochenenden. Die Universität hat ein spezielles Wohnheim für alle Stipendiaten, und dort werde ich wohnen.“

„Ich hoffe, Sie haben fleißig geübt, während ich weg war, Miss Outlaw.“

Sie drehten sich beide um. Das Einzige, woran Charm gearbeitet hatte, war, Dylan Emanuel besser kennenzulernen. Als sich ihre und Dylans Blick trafen und sie sein warmes Lächeln sah, war sie überzeugt, dass sie sich, so unwahrscheinlich es auch klingen mochte, in dem Moment in Dylan verliebt hatte, als sie in seine schönen dunklen Augen geblickt hatte.

3. KAPITEL

Zurück in die Gegenwart …

Piper fiel die Kinnlade runter. „Bist du sicher, dass es Dylan Emanuel war, Charm?“

Der Hochzeitsempfang war vorüber, und alle warteten auf das Brautpaar, das sich jetzt in die Flitterwochen verabschieden würde.

Charm trank einen Schluck Champagner. „Er war es, Piper. Auch wenn er unrasiert war, habe ich ihn erkannt.“

„Bist du wirklich sicher?“, mischte sich Ola ein. „Vielleicht hast du an Dylan gedacht, weil sein Name gestern Abend gefallen ist.“

Charm runzelte die Stirn. „Ich soll noch an ihn denken? Ganz im Ernst, Ola, ich bin über Dylan Emanuel hinweg, und das schon seit Jahren. Ich denke höchstens mal an ihn, wenn ich seine Musik höre.“

Piper sah Charm neugierig an. „Willst du damit sagen, dass du nicht einmal eins seiner Alben gekauft hast? Keine Songs runtergeladen? Keine gestreamt?“

„Nein, nein und noch mal nein. Und ich verspüre auch nicht den Wunsch, es zu tun.“

„Dann bist du also nicht die Frau, die er in seinem ersten großen Hit ‚Never Again‘ besungen hat?“ Hör dir den Text mal an. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich in eine Frau verliebt, verletzt wird und sich schwört, sich nie wieder zu verlieben.

Charm verdrehte die Augen. Natürlich hatte sie das Lied gehört. Wer nicht? „Nein, in dem Song ging es nicht um mich. Muss eine andere Frau gewesen sein. Ein Mann ist nicht verliebt in eine Frau und serviert sie dann ab.“

Ola beugte sich zu ihr, um sicher zu sein, dass kein anderer sie hörte. „Er hat dich nicht wirklich abserviert, Charm. Er bekam die Chance seines Lebens, in jenem Sommer in England zu performen. Hättest du gewollt, dass er sich das entgehen lässt?“

„Nein, ganz sicher nicht, aber es wäre anständig gewesen, mich wie geplant zum Mittagessen zu treffen und es mir persönlich zu sagen. Und mir nicht einfach auf dem Weg zum Flughafen eine SMS zu schicken.“

Sie schauderte jedes Mal, wenn sie sich daran erinnerte, was in der SMS gestanden hatte.

Bin auf dem Weg zum Flughafen. Bin engagiert worden, den ganzen Sommer in einem Pub in England zu spielen. Eine zu gute Gelegenheit, um sie zu verpassen. Die letzte Nacht war übrigens sehr schön. Melde mich, wenn ich mich dort eingelebt habe.

„Du hast uns die SMS gezeigt, und ich gebe zu, dass es bescheuert von ihm war“, sagte Piper. „Zumal wir vier nur deshalb nach New York gereist sind, damit du ihn treffen kannst.“

Charm nickte. Ihre drei Mitbewohnerinnen waren ihre Tarnung gewesen. Sie hatte ihrem Vater und ihren Brüdern erzählt, dass es sich um einen Mädelsausflug zu Laceys Geburtstag handelte. „Und obwohl er versprochen hat, sich bei mir zu melden, habe ich nie wieder von ihm gehört.“ Sie erinnerte sich, wie wütend und verletzt sie damals gewesen war. „Ich kann nicht verstehen, dass die zwei Jahre, die wir zusammen waren und in denen wir dafür gekämpft haben, dass unsere Fernbeziehung funktioniert, ihm nichts bedeutet haben. Er hat alles weggeworfen für eine Chance, die in seinen Augen zu gut war, um sie zu verpassen.“

Als sie wochenlang nichts von ihm hörte, dachte sie, etwas Schreckliches wäre passiert. Da entdeckte sie, dass er ihre Nummer blockiert hatte. Als sie seine Social-Media-Seite checkte, sah sie, dass er sich in England großartig ohne sie amüsierte.

Was sie mehr als alles andere verletzte, war, dass sie gerade zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Sie hatte ihm ihre Jungfräulichkeit geschenkt und nicht damit gerechnet, so mies behandelt zu werden.

„Wenn der Typ tatsächlich Dylan war, bedeutet das, dass er hier in diesem Resort ist. Willst du wirklich noch eine Woche bleiben, wenn du weißt, dass du ihm über den Weg laufen könntest?“, fragte Piper.

Charm hatte sich genau darüber auch Gedanken gemacht. Sie war nicht diejenige gewesen, die die Beziehung beendet hatte. Dylan hatte es getan. Es gab keinen Grund, sich von ihm ihre Pläne durchkreuzen zu lassen. „Ich habe keinen Grund abzureisen, Piper.“

„Vielleicht wäre es gut, wenn ihr beide euch trefft und über die Vergangenheit sprecht. Es könnte alles ein großes Missverständnis gewesen sein.“ Ola versuchte, positiv zu klingen.

Charm verdrehte erneut die Augen. „Es war kein Missverständnis. Selbst wenn sich unsere Wege kreuzen sollten, wäre Dylan der Letzte, dem ich erzählen würde, wie sehr er mich verletzt hat. Vielleicht erinnert er sich nicht einmal mehr an mich, weil er nach mir so viele Frauen hatte. Ich war kaum achtzehn, und er war gerade zwanzig geworden. Das alles ist zehn Jahre her.“

In dem Moment setzten Jubel und Applaus ein. Sie schauten sich um und sahen Vernon und Lacey. Sie kamen in Reisekleidung zurück, um sich von allen zu verabschieden. Charm freute sich sehr für ihre Freunde und bewunderte ihre liebevolle Beziehung. Eine Beziehung, wie sie für sich selbst und Dylan erhofft hatte.

Sie holte tief Luft. Wie sie Piper und Ola gesagt hatte, gab es keinen Grund, nicht wie geplant noch eine Woche zu bleiben. Das Resort war groß, und wenn sich ihre und Dylans Wege kreuzten, dann war es eben so. Er bedeutete ihr nichts mehr. Gar nichts.

Am nächsten Morgen ging Dylan in aller Frühe am Strand joggen. Er hatte nicht gut geschlafen und machte Charm dafür verantwortlich. Sie wiederzusehen hatte ihn zutiefst erschüttert, ungeachtet der Tatsache, dass es zehn Jahre her war, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

Natürlich war sie älter geworden, aber sie war noch so hübsch wie damals. Das kurze Brautjungfernkleid hatte ein Paar wunderschöne Beine gezeigt. Sie hatte immer eine Sanduhr-Figur gehabt, aber jetzt war sie noch kurviger.

Als sie ihn auf dem Balkon sah, hatten sich ihre Blicke wie bei der ersten Begegnung getroffen. Damals hatte er gedacht, die ganze Welt würde sich um sie drehen. Er hatte gedacht, jener Sommer in Alaska wäre der Wendepunkt in seinem Leben gewesen. Es war der Sommer, in dem er etwas gefunden hatte, das ihm wichtiger war als die Musik. Er hatte Charm gefunden.

Er erinnerte sich an seine zweite Reise nach Alaska im folgenden Sommer. Er hatte das ganze Geld, das er zum Geburtstag bekommen hatte, für diese Reise ausgegeben. Die Gewissheit, sie wiederzusehen, hatte ihn in diesem ersten Jahr an der Juilliard School angetrieben.

Der Zeitpunkt für seine Reise nach Alaska war perfekt, da ihr Vater und ihre Brüder geschäftlich unterwegs waren. Er und Charm waren beide älter geworden. Sie war siebzehn, er neunzehn. Sie hatten das erste Jahr am College und die Herausforderung einer Fernbeziehung hinter sich. Trotz der Schwierigkeiten hatten sie es geschafft und konnten es kaum erwarten, Zeit miteinander zu verbringen. Aus ihren Textnachrichten und Anrufen ging hervor, dass sie sich genauso auf seinen Besuch freute wie er.

Auch wenn er in jenem Sommer versucht gewesen war, mit ihr zu schlafen, hatte es nicht mehr als heiße Küsse gegeben. Eine ungeplante Schwangerschaft war etwas, was sie beide nicht gebrauchen konnten.

Dylan kehrte in seinen Bungalow zurück. Während er unter der Dusche stand, erinnerte er sich, dass sein zweites Jahr am College noch schwerer gewesen war als das erste. Das Studium und die vielen Bandproben waren herausfordernd, und er und Charm sprachen nicht mehr so viel miteinander wie zuvor. Wenn sie es taten, waren die Gespräche kurz und die Textnachrichten eilig getippt. Er hatte sie sehen wollen und sich auf den Sommer gefreut, wenn er sie wieder in Alaska besuchen würde.

Dann hatte er ihr die Nachricht überbringen müssen, dass seine Band den ganzen Juni über in einem Coffeeshop spielen würde und dass sie, wenn ihre Musik den Gästen gefiel, auch im Juli und August bleiben würden. Trotzdem war er fest entschlossen gewesen, irgendwann im Sommer nach Alaska zu reisen, und wenn es nur für ein paar Tage war.

Nie würde er jenen Juliabend vergessen, als sie das Café betrat, in dem er und seine Band spielten. Er war überrascht und erfreut zugleich gewesen, sie zu sehen. Kaum hatte er seinen Auftritt beendet, hatte er die Bühne verlassen, sie in seine Arme gezogen und geküsst. Dann hatte er sie Graham und den anderen Bandmitgliedern vorgestellt.

Als der Coffeeshop schloss, waren er und Charm über den Times Square geschlendert. Seiner Meinung nach gab es nichts Schöneres als New York bei Nacht. Sie hatte nicht gewusst, dass er Zeit schinden wollte, damit Graham in die gemeinsame Wohnung eilen, sie vorzeigbar machen und dann für die Nacht verschwinden konnte.

Kaum hatte er sie in der Intimität seiner Wohnung, folgte ein Kuss auf den anderen. Unfähig, das Verlangen nach der langen Trennung zurückzuhalten, schliefen sie das erste Mal miteinander. Dylan war froh, dass er wusste, wo Graham seinen Vorrat an Kondomen aufbewahrte.

Diese Nacht war die schönste seines Lebens gewesen. Für ihn war es nicht nur Sex gewesen, sondern Liebe.

Morgens hatte er sie in ein Taxi zu dem Hotel gesetzt, in dem sie und ihre Freundinnen wohnten. Er und Charm hatten sich zu einem Mittagessen in einem Restaurant mit Blick auf den Hudson River verabredet.

Während er sich für die Verabredung fertig machte, erhielt er eine SMS, in der sie das Date cancelte.

Die letzte Nacht war ein Fehler, Dylan. Ich bin nur nach New York gekommen, um mich von dir zu trennen. Ich wollte nicht, dass die Dinge aus dem Ruder laufen. Es ist das Beste, wenn wir keinen Kontakt mehr zueinander haben. Ich will keine Fernbeziehung mehr.

Nachdem er diese SMS gelesen hatte, war er stinksauer gewesen. Und als er versuchte, sie anzurufen, stellte er fest, dass sie seine Nummer blockiert hatte. Da er nicht hinnehmen wollte, dass sie mit einer verdammten SMS mit ihm Schluss machte, fuhr er zu ihrem Hotel, wo zwei Schlägertypen am Eingang auf ihn warteten, als hätten sie gewusst, dass er auftauchen würde.

Sie hatten ihn bedroht. Behauptet, Charms persönliche Bodyguards zu sein, und wiederholt, was in der SMS stand. Dass Charm nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Sie warnten ihn, dass sie ihn verfolgen und ihm die Finger brechen würden, wenn er noch einmal versuchte, Kontakt zu ihr aufzunehmen, sodass er nie wieder ein Instrument spielen könne. Diese Drohung in ihrem Namen machte ihn fertig. Es war idiotisch von ihm gewesen zu glauben, dass Charm und er ihre eigene jugendliche Liebesgeschichte mit einem Happy End haben würden.

Das einzig Gute, das bei all dem Herzschmerz geschah, war der Anruf eines Promoters ein paar Tage später, der ihre Musik gehört hatte, sie mochte und sie für den Sommer in einem Club in England buchen wollte. Die Strafe für den Vertragsbruch mit dem Coffeeshop würde bezahlt, die Flugkosten für die gesamte Band übernommen, und die Gage für ihre Auftritte wäre dreimal so hoch wie im Coffeeshop. Darüber hinaus bezahlten sie auch die Unterkunft. Das Angebot war zu schön, um wahr zu sein, und in weniger als einer Woche waren er und seine Band auf dem Weg über den großen Teich.

Da er nicht mehr über diese Zeit in seinem Leben nachdenken wollte, trat er aus der Dusche, trocknete sich ab und zog sich an. Dann bestellte er Frühstück. Während er aß, sah er sich die Aktivitäten des Resorts für diesen Tag an. Nichts interessierte ihn. Er beschloss, sich seinen Mietwagen bringen zu lassen, um zu den Ruinen von Chichén Itzá zu fahren.

Er hatte gerade den Wagen bestellt, da klingelte sein Handy. Er erkannte den Klingelton und nahm ab. „Wenn du wieder nur anrufst, um mir zu sagen, wie viel Spaß du gerade hast, Graham, dann solltest du es besser lassen.“

Graham lachte. „Nein, das ist es nicht. Ich rufe an, um dich vor etwas zu warnen.“

„Vor was?“

„Elise ist gestern Abend hier aufgetaucht. Ich schätze, die gerichtliche Verfügung, sich von dir fernzuhalten, ist abgelaufen. Diese zwei Jahre sind verdammt schnell vergangen.“

„Woher weiß sie, dass ihr in Irland seid?“

„Vermutlich aus den Medien. Wir haben viel gefeiert, seit wir hier sind. Jedenfalls dachte sie, du wärst bei uns. Sie meint, du nimmst sie zurück.“

Dylans Kiefer spannte sich an. „Nachdem sie versucht hat, mein Auto zu demolieren? Keine Chance.“

Er hatte Elise ein paar Jahre nach seiner Trennung von Charm kennengelernt. Obwohl er ihr unzählige Male gesagt hatte, dass er nicht an einer ernsthaften Beziehung interessiert war, sondern nur an Sex, hatte sie sich geweigert, ihn beim Wort zu nehmen. Als er ihr schließlich sagte, dass er sie nicht mehr sehen wollte, hatte sie sich gerächt, indem sie seine Reifen aufschlitzte, die Autoscheiben mit einem Hammer einschlug und den Wagen mit Farbe besprühte.

„Wovor willst du mich warnen, Graham?“

„Elise war bei Jimmi B, als er gerade in heikler Stimmung war, und er hat ihr verraten, wo du bist.“

Dylan fluchte laut. Jimmi Bs „heikle Stimmung“ bedeutete, dass er betrunken gewesen war. Der Keyboarder der Band würde die Kombination seines Safes verraten, wenn man ihm im Zustand der Trunkenheit danach fragte. „Ich werde an der Rezeption Bescheid sagen. Ich weiß nicht, ob ich sie gänzlich vom Resort fernhalten kann, aber ich kann dafür sorgen, dass sie nicht in die Nähe meines Bungalows kommt. Ich kann mich jetzt nicht mit Elise befassen, zumal ich gerade Charm gesehen habe.“

„Charm? Du hast Charm gesehen?“

4. KAPITEL

„Ja, gestern, aber nur ganz kurz und aus der Ferne, von meinem Balkon aus. Gestern fand am Strand eine Hochzeit statt, und sie war eine der Brautjungfern.“

„Bist du sicher, dass sie es war?“

„Sie war es.“

„Hat sie dich gesehen?“

Dylan stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ja, hat sie. Ich glaube, sie war genauso überrascht wie ich.“

„Das glaube ich gern. Ich bin froh, dass du sie erst gesehen hast, als du mit deinem Projekt fertig warst.“

Dylan wusste, warum Graham das sagte. Nachdem Charm mit ihm Schluss gemacht hatte, hatte er in England zwar gut performt, aber er hatte keine neuen Songs schreiben können. Als er sich endlich von seinem Songwriting-Tief erholt hatte, schrieb er seinen Hit „Never Again“. Es war seine Art, den Schmerz zu verarbeiten, den Charm ihm zugefügt hatte.

„Glaubst du, sie ist noch in Cancún? In dem Resort?“, fragte Graham.

„Wenn sie zur Hochzeit hier war, ist sie vermutlich schon weg.“

„Und wenn nicht? Ich habe dir doch gesagt, was ich von der ganzen Sache halte.“

Ja, das hatte er. Graham, der bei der ersten Begegnung mit Charm auf ihre überzeugend charmante Art hereingefallen war, glaubte, dass hinter der Trennung mehr steckte als das, was Charm in ihrer SMS geschrieben hatte. Graham vermutete, dass sie von ihrem Vater gezwungen worden war, die SMS zu verschicken.

„Bart Outlaw hatte nichts damit zu tun, Graham. Charm und ich waren vorsichtig, und ihr Vater konnte nicht herausgefunden haben, dass wir noch zusammen sind.“

„Bist du dir da absolut sicher, Dylan?“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich zu ihrem Hotel gefahren bin, nachdem ich die SMS erhalten hatte. Ich habe dir auch von den Schlägertypen erzählt. Sie kannten Charms SMS und wiederholten, was sie darin geschrieben hatte. Sie haben mir gedroht, und ich hatte keine Zweifel, dass sie es mit der Drohung ernst meinten.“

Was er niemandem erzählt hatte, nicht einmal Graham, war, dass er nach dem Sommer in England nicht zu seinen Großeltern nach Idaho geflogen war, wie er allen gesagt hatte, sondern einen Flug nach Alaska genommen hatte, entschlossen, Charm trotz aller Drohungen zu sehen.

In Anchorage angekommen, fuhr er direkt zu dem Haus in der Nähe des Campus, das sie mit drei anderen Frauen teilte. Es war ein Samstagmorgen, und niemand war zu Hause. Eine der Nachbarinnen hatte ihm freundlicherweise gesagt, dass Charm und ihre Freundinnen vermutlich in dem Coffeeshop um die Ecke waren.

Dylan hatte sie und ihre Freundinnen dort gefunden. Als er hereinkam, bewunderten sie gerade einen Ring an Charms Finger. Er blieb abrupt stehen, als eine der Frauen Charm ein Kompliment machte, was für ein schöner Verlobungsring das sei.

Ein Verlobungsring … Hatte sie jemanden kennengelernt und war bereits mit ihm verlobt? Der Gedanke hatte sich wie die schlimmste Art von Verrat angefühlt. Statt die kleine Zusammenkunft zu stören und die Wahrheit zu verlangen, hatte er den Coffeeshop verlassen, ohne dass Charm überhaupt gemerkt hatte, dass er da gewesen war.

„Nun, ich hoffe für dich, dass Charm das Resort verlassen hat, wie du glaubst.“

„Warum?“

„Weil sie dir wehgetan hat, und ich bin mir nicht sicher, dass du wirklich über sie hinweg bist.“

Dylan machte ein finsteres Gesicht. „Wie kommst du darauf?“

„Du hast sie so sehr geliebt. Sie war deine erste Freundin, und du hast sie mehr als deine Musik geliebt. Die erste Woche an der Juilliard hast du nur von ihr gesprochen. Sogar im Schlaf. Und dann ist da noch etwas.“

„Was?“

„Seit Charm Outlaw hattest du keine ernsthafte Beziehung mehr. Das ist eine lange Zeit, um an der ersten Liebe festzuhalten.“

„Moment. Ich hatte im Laufe der Jahre eine Menge Frauen.“

„Ja, aber es war nie etwas Ernsthaftes. Du hast nie eine mit nach Hause genommen, damit sie deine Familie kennenlernt.“

Natürlich hatte er das nicht getan. Keine der Frauen, mit denen er sich eingelassen hatte, hätte er mit nach Hause nehmen wollen. Charm war die Einzige gewesen. Er hatte sich auf den Tag gefreut, an dem er sie seinen Eltern und Großeltern vorstellen konnte.

„Irgendwann musst du dein Herz wieder für die Liebe öffnen. Ich bin sicher, dass es da draußen eine ganz besondere Frau für dich gibt.“

„Das musst ausgerechnet du sagen. Du hast bisher auch keine Frau mit zu deinen Eltern genommen.“

„Natürlich nicht. Aber ich wollte auch nie etwas anderes sein als das, was ich bin.“

Dylan hörte ein Klopfen an der Tür. „Ich muss Schluss machen. Das ist vermutlich der Page mit dem Schlüssel für meinen Mietwagen. Ich will zu den Ruinen fahren.“

„Viel Spaß, und falls Charm doch noch da ist und du ihr über den Weg läufst, dann solltest du an etwas denken.“

„Was?“

„Aller guten Dinge sind zwei.“

Nach mehreren Outdoor-Aktivitäten, zu denen auch ein Einkaufsbummel in der Stadt gehörte, kehrte Charm zum Resort zurück. Sie zog ihren Badeanzug an und machte sich auf den Weg zu dem Innenpool des Resorts im fünften Stock, wo sich auch das Spa befand. Ihr gefiel die Privatsphäre dort und die Tatsache, dass es sich um einen Innenpool handelte.

Auf der anderen Seite des Resorts fand ein Feuerwerk zum Auftakt des mexikanischen Fronleichnamsfestes statt. Während die meisten Gäste des Resorts dort waren, genoss sie hier ihre private Zeit. Diese Ruhe wurde nur von dem Barkeeper unterbrochen, der fragte, ob er ihr noch etwas zu trinken bringen dürfte.

Morgens hatte sie sich mit einer herzlichen Umarmung von Ola und Piper verabschiedet. Dann hatte sie mit Garth und Regan gebruncht, bevor auch diese aufbrachen. Abgesehen von Laceys und Vernons Eltern und ein paar anderen Familienmitgliedern waren alle, die zur Hochzeit nach Cancún gekommen waren, abgereist.

Charm schwamm einige Runden im Pool und entspannte dann im Liegestuhl bei einer Margarita und einem Roman ihres Cousins Stone Westmoreland alias Rock Mason. Sie blätterte gerade eine Seite um, als eine tiefe, männliche Stimme sagte: „Hallo, Charm.“

5. KAPITEL

Charm erstarrte. Als sie wieder zu atmen begann, richtete sie den Blick auf den Mann, der auf der anderen Seite des Raumes stand. Der Mann, dessen Stimme heiserer war, als sie in Erinnerung hatte.

Und er lächelte.

Warum lächelte er, als freute er sich, sie zu sehen, nachdem er ihr das Herz gebrochen hatte? Und warum sah sie auf seinen Mund und erinnerte sich nicht nur an den ersten Kuss, sondern auch an alle weiteren? Er war derjenige gewesen, der ihr beigebracht hatte, wie man küsste.

Wegen des hellen Lichts im Poolraum und seiner Nähe sah sie jetzt mehr von ihm als gestern. Er trug ein Paar abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt. Er war nicht mehr der schlaksige Teenager. Er wirkte größer, die Arme waren muskulöser, seine Brust breiter, die Taille schmaler und die Schenkel straffer. Und mit dem Dreitagebart war Dylan Emanuel ein sexy Mann. Kein Wunder, dass die Frauen für ihn schwärmten.

Sie sah in seine herrlich dunklen Augen, und sein Blick zwang sie, nicht wegzusehen. Also tat sie es nicht. Für einen atemlosen Moment wurde sie zurückversetzt in die Zeit, als sie sich in dem Musikraum zum ersten Mal gesehen hatten. Es war, als wären sie an jenem Tag wie hypnotisiert gewesen.

Heute lagen die Dinge anders. Mit sechzehn war sie jung, naiv und leicht zu beindrucken gewesen. Jetzt war sie eine achtundzwanzigjährige Frau, die Liebeskummer der schlimmsten Sorte erlebt hatte, und das alles nur wegen des Mannes, der sie jetzt anstarrte. Sein Lächeln offenbarte wunderbar weiße Zähne und ein Grübchen am Kinn, das mit den Jahren noch verführerischer geworden war.

Auch wenn es ihr schwerfiel, sie setzte ein Lächeln auf, das so breit war wie seins, und antwortete mit fröhlicher Stimme: „Hi, Dylan. Also habe ich gestern wirklich dich gesehen. Ich war mir nicht sicher.“

Sie legte ihr Buch beiseite und fragte: „Und, was hast du in all den Jahren gemacht?“ Natürlich wusste sie es, aber es konnte nicht schaden, so zu tun, als wüsste sie es nicht. Und warum nervte es sie, wie er sie ansah? Der Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, sollte eigentlich jede Reaktion auf ihn im Keim ersticken.

Ihr Herz schlug schnell, als er sich auf sie zubewegte. Sein Gang war so verführerisch wie eh und je. Als er näher kam, betrachtete sie sein Gesicht. Er war älter geworden. Reifer. Und noch attraktiver. Das Kinn war kantiger, die dunkelbraunen Augen so schön wie damals, aber unleserlich.

Der Diamantohrstecker verlieh ihm einen Bad-Boy-Appeal. Sein Haar war länger. Sie erinnerte sich, dass er es am liebsten zu einem Pferdeschwanz gebunden getragen hatte. Jetzt fiel es locker um seine Schultern. Der Schnurrbart und die Stoppeln am Kinn unterstrichen seine Gesichtszüge und ließen ihn männlich aussehen.

Je näher er kam, desto schwieriger wurde es zu atmen. Erst als er sich rittlings auf den Stuhl ihr gegenüber setzte, begann sie wieder normal zu atmen. „Meine Musik hat mich auf Trab gehalten. Was ist mit dir, Charm? Ich bin sicher, das Leben war gut zu dir.“

Sicher, das Leben war gut zu mir, nachdem ich über dich hinweg war, wollte sie sagen. Aber sie verkniff sich die Worte. Sie kämpfte auch gegen den Drang an, ihn zu fragen, warum ihm seine Musik wichtiger gewesen war als sie, nachdem er behauptet hatte, sie so sehr zu lieben.

„Ja, das Leben war gut zu mir“, sagte sie. „Ich habe das College mit Auszeichnung abgeschlossen und meinen MBA gemacht. Danach bin ich viel durch die Welt gereist, bevor ich eine Stelle als Koordinatorin für Öffentlichkeitsarbeit im Unternehmen meiner Familie angenommen habe.“

„Gratuliere.“

„Danke, und dir auch herzlichen Glückwunsch zu deinem Erfolg, Dylan. Meine Schwägerinnen hören deine Musik.“ Sie hoffte, dass er aus ihrer Aussage schloss, dass sie es nicht tat.

„Schwägerinnen?“

„Ja. All meine Brüder sind jetzt verheiratet. Sie sind sogar Väter, mit Ausnahme von Maverick und Jess. Maverick wird allerdings demnächst Vater.“ Sie hielt inne, dann fragte sie: „Was ist mit dir? Verheiratet? Kinder?“

„Weder noch.“

Sie fragte sich, ob das bedeutete, dass es keine besondere Person in seinem Leben gab, ungeachtet dessen, was die Boulevardpresse schrieb.

„Was ist mit dir?“, fragte er. „Verheiratet? Kinder?“

„Nein.“ Charm versuchte, nicht daran zu denken, wie oft sie darüber gesprochen hatten, eines Tages zu heiraten und Kinder zu haben.

„Wessen Hochzeit war das gestern?“

„Die meiner Freundin Lacey. Sie war damals eine meiner Mitbewohnerinnen.“

Er nickte. „Ich erinnere mich.“ Ich habe sie zwar nie kennengelernt, aber du hast oft über sie gesprochen.

Sie unterdrückte wiederum den Drang zu sagen, was sie dachte. Dass er sie während ihrer Reise nach New York kennengelernt hätte, wenn er dortgeblieben wäre, statt nach England zu jetten. Wie konnte er hier sitzen und eine höfliche Unterhaltung führen, als würde er sich nicht daran erinnern, was er getan hatte? Offensichtlich war ihm der Erfolg nicht nur zu Kopf gestiegen, sondern hatte auch einen Teil seines Gedächtnisses zerstört.

Als er sich auf seinem Stuhl bewegte, bemerkte sie ein Tattoo auf seinem Oberarm – eine wunderschöne, feuerrote Flamme. Sie schien im Licht zu funkeln. Er hatte das Tattoo noch nicht gehabt, als sie zusammen waren. „Hat dein Tattoo etwas mit der Ranch deiner Großeltern zu tun? Der Red Flame Ranch?“

Ihr entging die Traurigkeit nicht, die in seinen Augen aufblitzte. „Ja. Ich habe es zum Gedenken an sie stechen lassen.“

„Im Gedenken an sie?“

„Ja. Meine Großeltern sind vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“

„Oh, nein, Dylan. Das tut mir leid.“

Sie meinte es ernst. Sie hatte seine Großeltern zwar nie kennengelernt, wusste aber, wie nah sich die drei gestanden hatten. Einmal hatte sie mit ihnen telefoniert, Dylan hatte sie als „sein Mädchen“ vorgestellt. Er hatte versprochen, sie eines Tages zu seinen Großeltern mitzunehmen und ihr die Ranch zu zeigen. Der Tag war jedoch nie gekommen.

Sie dachte an ihre eigene Familie und die Veränderungen, die im Laufe der Jahre stattgefunden hatten. Sie hatte sich um eine Reihe von Westmorelands Cousins und Cousinen vergrößert, von denen sie bis vor acht Jahren nichts gewusst hatte, die Ehepartnerinnen ihrer Brüder und die Outlaw-Babys, die zur Welt gekommen waren. Vom Verlust seiner Großeltern zu hören, traf sie sehr. Sie erinnerte sich an den Verlust ihrer eigenen Großmutter mütterlicherseits, als sie zwölf Jahre alt gewesen war, und wie sehr sie gelitten hatte. Sie war aufsässig geworden, nicht mehr zu bändigen. Als im Jahr darauf ihr Großvater starb, vermutlich an gebrochenem Herzen, hatte sich ihr Verhalten noch verschlimmert, was ihre Mutter dazu gebracht hatte, sie zu Bart zu bringen.

Ein Teil von ihr wollte Dylan umarmen. Aber ein anderer Teil, der, der sich immer noch darüber ärgerte, welchen Schmerz er ihr zugefügt hatte, meinte, dass eine Beileidsbekundung ausreichte.

„Danke“, sagte er schließlich. „Sie zu verlieren, war für meine Eltern und mich sehr schwer.“

Dylan hatte auf den Boden geschaut, doch plötzlich sah er auf, und ihre Blicke trafen sich. In diesem Moment spürte sie die sexuelle Chemie zwischen ihnen. Wann hatte sie das letzte Mal in Gegenwart eines Mannes ein heißes Kribbeln zwischen den Schenkeln verspürt? Noch nie. Das war ihr ein Zeichen, dieses kleine Gespräch zu beenden.

Charm erhob sich aus ihrem Liegestuhl, wobei sie bemerkte, dass sein Blick ihrer Bewegung folgte. Selbst jetzt starrte er auf ihren bikinibekleideten Körper, was das Kribbeln noch verstärkte.

„Als du zum Schwimmen hierhergekommen bist, hast du sicher erwartet, den Pool für dich allein zu haben, also überlasse ich ihn dir.“ Sie schlüpfte in ihr Bikini-Cover-up.

„Du musst wegen mir nicht gehen, Charm.“

„Das tue ich auch nicht. Ich wollte sowieso gerade gehen“, log sie. Die Hitze und sein Blick machten ihr zu schaffen. „Es war schön dich zu sehen, Dylan.“ Wieder eine Lüge.

„Wie lange bleibst du in dem Resort?“, fragte er.

„Noch den Rest der Woche. Und du?“

„Ebenso.“

Charm nickte, während sie ihr Buch und ihren Drink vom Tisch nahm. „Na dann, viel Spaß noch.“

„Dir auch.“ Noch immer sah er sie unverwandt an.

Sie drehte sich um und wollte zur Tür gehen, als er rief. „Charm?“

Sie blickte über die Schulter. „Ja?“

„Lass uns morgen zusammen lunchen.“

Lunch mit ihm? Das konnte nicht sein Ernst sein. Hielt er sie immer noch für das naive Mädchen, das vor Liebe blind gewesen war? Oder noch schlimmer, glaubte er, sie würde beim Klang seiner Stimme dahinschmelzen? Soweit es Charm betraf, war Dylan Emanuel nicht Freund, sondern Feind. Offensichtlich war es diesem arroganten Arschloch jedoch egal, wie sehr er sie verletzt hatte, denn er saß da und verhielt sich, als wäre es nie passiert.

„Tut mir leid, aber ich habe morgen einen Wellness-Termin.“ Das war nicht gelogen.

„Wie wäre es stattdessen mit einem Abendessen?“

„Abendessen?“

„Ja, ich würde dich gern zum Dinner einladen.“

Sie wollte ihm gerade sagen, wohin er sich seine Einladung stecken konnte, aber etwas hielt sie davon ab. Sie war Bart Outlaws Tochter, und von ihrem Vater hatte sie gelernt, ihre Emotionen im Zaum zu halten, wenn sie es mit einem Gegner zu tun hatte. Sie würde keine Anzeichen von Wut oder Verletzlichkeit zeigen.

Was sie noch gelernt hatte, war, dass man sich rächen sollte, wenn sich einem die Gelegenheit bot. Und sie hatte vor, sich zu rächen.

„Dinner wäre nett, Dylan.“

„Wunderbar. Ich bin gespannt darauf, was du so getrieben hast, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Es ist ungefähr zehn Jahre her, nicht wahr?“

Ungefähr. „Ja.“ Wenn sie sich gefragt hatte, ob ihm die einzige gemeinsame Nacht denn gar nichts bedeutet hatte, so kannte sie jetzt die Antwort.

„Ich kümmere mich um alles“, sagte er. „Isst du immer noch gern thailändisch?“

Charm war überrascht, dass er sich daran erinnerte. „Ja.“

„Großartig. Nicht weit von hier soll es ein sehr gutes Thai-Restaurant geben. Welche Nummer hat deine Suite?“

Das würde sie ihm auf keinen Fall verraten. „Wir treffen uns in der Lobby des Resorts. Wann?“

„Sieben Uhr?“

„Passt. Bis morgen, Dylan.“

Sie ging und war froh, dass er ihr Lächeln nicht sah. Was sie vorhatte, nannte man Vergeltung üben. Es war eine Lektion, die er lernen musste, und sie war genau die Richtige, um sie ihm beizubringen.

Dylan saß da, den Blick immer noch auf die Tür gerichtet, durch die Charm vor wenigen Minuten hinausgegangen war. Er hatte sich oft gefragt, wie er reagieren würde, sollte er sie jemals wiedersehen. Dass er sich immer noch zu ihr hingezogen fühlen könnte, stand nicht auf der Liste.

Nach zehn Jahren sollte er seine Gefühle ihr gegenüber unter Kontrolle haben, aber dem war offensichtlich nicht so. Trotz der Bitterkeit, des Grolls und der Wut, die er empfand, nahm er sie immer noch sehr intensiv wahr. Es hatte keinen Sinn, sich etwas anderes vorzumachen.

Aus der Nähe war sie noch schöner als mit sechzehn, siebzehn und achtzehn Jahren. Sie hatte nicht mehr die Gesichtszüge und den Körper eines Teenagers, sondern die einer Frau. Sie war zu einem wunderschönen Wesen herangereift, das ihm den Atem raubte. Und er entdeckte ein gewisses Maß an Kultiviertheit, was vorher nicht da gewesen war.

Während der zwei Jahre, die sie ein Paar gewesen waren, hatte sie noch versucht, sich ihren Platz in der Familie Outlaw zu erobern. Sie war frech und rebellisch und lebte in einem Haus, das von Männern dominiert wurde. Er erinnerte sich, dass sie darum gekämpft hatte, so akzeptiert zu werden, wie sie war. Schließlich hatten sie es auch geschafft.

Einiges war anders an ihr, einiges war gleich geblieben. Ihr Haar war nicht mehr lang und glatt, sondern kürzer und lockig. Aber es war immer noch braun und betonte ihren hellbraune Hautfarbe. Ihre Augen waren wunderschön, der Blick scharf. Und seit wann hatte sie diese Kurven?

Und warum schlug sein Herz so schnell? Das Herz, das sie mit Füßen getreten hatte. Glaubte sie wirklich, dass er den Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte, vergessen konnte? Den Verrat?

Und doch hatte er sie zum Essen eingeladen. Warum?

Es musste einen Grund für diese Verrücktheit geben, aber welchen? Warum hatte er sich nicht umgedreht und war gegangen, als er sie gesehen hatte? Warum war er so freundlich zu ihr gewesen? Zumal sie dagesessen und so getan hatte, als hätten ihr die zwei Jahre, die sie zusammen gewesen waren, nichts bedeutet. Als wäre sie ihm nach all den Jahren keine Erklärung schuldig.

Und was war mit dem Mann passiert, mit dem sie sich nach ihm eingelassen hatte? Derjenige, der ihr den Verlobungsring geschenkt hatte? Sie war allein hier; bedeutete das, dass sie Single war? Sie hätte seine Einladung ablehnen können, wenn sie mit jemandem liiert wäre, aber das hatte sie nicht getan.

„Möchten Sie etwas trinken, Sir?“

Er blickte zu dem Kellner auf, der den Poolraum betreten hatte. „Ja, einen Scotch, bitte.“

Kurze Zeit später war Dylan einige Bahnen geschwommen, doch noch immer musste er an Charm denken. Vielleicht war es an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Immerhin war nach dem Liebeskummer seine Karriere dank des Sommers, den er in Großbritannien verbracht hatte, in die Höhe geschnellt, und das verdankte er im Grunde genommen ihr.

Es w...

Autor

Brenda Jackson
Brenda ist eine eingefleischte Romantikerin, die vor 30 Jahren ihre Sandkastenliebe geheiratet hat und immer noch stolz den Ring trägt, den ihr Freund ihr ansteckte, als sie 15 Jahre alt war. Weil sie sehr früh begann, an die Kraft von Liebe und Romantik zu glauben, verwendet sie ihre ganze Energie...
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Martha Kennerson
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Susannah Erwin
Seit jeher liebt Susannah Erwin gute Geschichten. Sie arbeitete für bekannte Filmstudios, bevor sie ihren ersten Roman veröffentlichte, der den Golden Heart Award der Romance Writers of America gewonnen hat. Mit ihrem Mann sowie ihrer eigensinnigen und liebenswerten Katze lebt sie in Nordkalifornien.
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