Baccara Exklusiv Band 178

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EINE VERBOTEN SCHÖNE FRAU von LINDSAY, YVONNE
Marcus Prices Herz schlägt schneller, als er vor Lovely Woman steht - dem berühmten Gemälde, dessen Verkauf der Gipfel seiner Karriere als Auktionator sein könnte. Raffiniert versucht er das Vertrauen der schönen Besitzerin zu gewinnen, damit sie ihm ihr Erbstück überlässt - und bekommt viel mehr …

KÖNIGREICH DER SÜßEN VERSUCHUNG von LEWIS, JENNIFER
König Jake ist unschlüssig, was er tun soll. Seine Assistentin hat das Gedächtnis verloren und glaubt, sie wäre seine Freundin. Wenn er sie heiraten würde, hätten die Spekulationen um die zukünftige Königin Ruthenias ein Ende! Doch was ist, wenn sie ihr Gedächtnis wiedererlangt?

SINNLICHE STUNDEN MIT DEM FREMDEN von DUNLOP, BARBARA
Sein Lächeln und seine Küsse versprechen sinnliche Stunden. Abigail will einfach nur eine Nacht mit diesem sexy Fremden genießen. Doch ihr wundervoller Liebhaber denkt gar nicht daran, am nächsten Morgen zu verschwinden, sondern stellt Abigail vor die schwerste Entscheidung ihres Lebens …


  • Erscheinungstag 08.03.2019
  • Bandnummer 0178
  • ISBN / Artikelnummer 9783733725723
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Yvonne Lindsay, Jennifer Lewis, Barbara Dunlop

BACCARA EXKLUSIV BAND 178

1. KAPITEL

„Miss Cullen empfängt niemanden!“

Avery zuckte beim wütenden Klang der Stimme ihrer Haushälterin zusammen und tunkte dabei versehentlich den Pinsel in Grün. Schnelle Schritte näherten sich auf dem alten, gepflasterten Weg hinter ihr. Sie seufzte und legte den Pinsel ab. Es war einer dieser bedeckten Londoner Herbsttage, und das Licht war ohnehin schon zu schwach zum Malen. Und auch ohne die Unterbrechung hätte sie zugeben müssen, dass ihr das Bild nicht wirklich gelang. Wenn doch nur die Leidenschaft für etwas das Fehlen von allem anderen ausgleichen würde, dachte sie und rieb sich die Hände mit einem in Leinöl getränkten Tuch sauber. Dann erst drehte sie sich um.

Ihre Haushälterin hatte sonst nie Probleme damit, Besucher an der Tür abzuwimmeln. Sie hatte einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, was Avery betraf, und respektierte ihren Wunsch nach Privatsphäre. Aber jetzt sah es ganz so aus, als hätte jemand Mrs. Jacksons sonst so effektive Verteidigungslinien durchbrochen. Der Mann, der ein paar Schritte vor der kräftigen Haushälterin auf sie zukam, hatte den Blick fest auf sein Ziel gerichtet: Avery.

Er war groß, und sein dunkelblondes kurzgeschnittenes Haar wirkte, als wäre er gerade erst aufgestanden. Zusammen mit dem leichten Bart sah er geradezu verrucht attraktiv aus. Und irgendwie vertraut. Aber das konnte nicht sein. An jemanden wie ihn hätte sie sich bestimmt erinnert. Nein, sie kannte ihn sicher nicht. Doch, du kennst ihn, flüsterte ihr eine innere Stimme zu. Ist das nicht der Typ, auf den Macy dich bei der Tarlington-Auktion in New York aufmerksam gemacht hat? Avery brachte die Stimme zum Schweigen, noch während ein undefinierbarer Schauer ihr über den Nacken lief. Es war keine Furcht. Auch keine Besorgnis angesichts des Fremden, der da auf sie zugestürmt kam. Seltsam.

Nein, das hier war etwas anderes. Etwas, was sie so wenig benennen konnte, wie es ihr gelang, die Schönheit des Gartens auf die Leinwand zu bannen. Was immer auch dieses Etwas war, es trieb ihr die Hitze in die Wangen und ließ ihren Puls schneller schlagen. Das liegt am Ärger über die Störung, sagte sie sich, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte.

„Es tut mir leid, Ms. Cullen, ich habe Mr. Price gesagt, dass Sie nicht gestört werden wollen, aber er hat sich einfach nicht aufhalten lassen.“ Missbilligung lag in jedem ihrer Worte und verstärkte noch den East Londoner Akzent der Haushälterin. Sie schnaufte empört. „Er behauptet, er hätte einen Termin.“ Mrs. Jacksons Wangen glühten noch röter als sonst angesichts dieses klaren Eindringens in die Privatsphäre ihrer Arbeitgeberin.

„Ist schon gut, Mrs. Jackson. Nun ist er eben hier.“ Avery bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall. Und dann berief sie sich auf die Gastfreundschaft, die ihr von frühester Kindheit an eingetrichtert worden war. „Vielleicht möchte unser Gast einen Tee auf der Terrasse trinken, bevor er uns wieder verlässt?“

„Kaffee, bitte, wenn Sie welchen haben“, sagte der Mann mit dem deutlichen Akzent der Bostoner Upperclass. Aber es war sein Name, der ihre Erinnerung wachrief. „Price? Dann sind Sie Marcus Price von Waverlys in New York?“

Waverlys war das Auktionshaus, in dem ihre Freundin Macy den Nachlass ihrer Mutter hatte versteigern lassen. Und nachdem Avery miterlebt hatte, was Macy dabei durchgemacht hatte, ließ sie nur umso entschlossener an den Schätzen festhalten, die ihre Vergangenheit ausmachten – ob sie diese nun mochte oder nicht. Wenigstens konnte sie sich im Gegensatz zu Macy den Luxus leisten, diese Erinnerungen nicht verkaufen zu müssen.

„Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie sich an meinen Namen erinnern.“ Er lächelte sie an, und ihr Magen schlug einen Salto.

„Dazu besteht kein Grund“, erwiderte sie so kühl, wie ihr möglich war, da er so nah vor ihr stand, dass Hitzewellen durch ihren Körper liefen. „Ich habe mich klar ausgedrückt, wie ich zum Verkauf der impressionistischen Sammlung meines Vaters stehe, als Sie mich zum ersten Mal kontaktiert haben. Sie haben also die lange Reise ganz umsonst gemacht.“

Er lächelte wieder, und ein Schauer der Erregung durchlief sie. Sofort versuchte sie, diese Regung zu unterdrücken. Wie attraktiv er auch sein mochte, sie kannte diesen Typ Mann nur zu gut. Verwegen, ungestüm, voller Selbstvertrauen. Er besaß alle Eigenschaften, über die sie nicht verfügte, aber er würde eine Enttäuschung erleben, wenn er meinte, er könnte sie zum Verkauf der heiß begehrten Sammlung ihres Vaters überreden.

„Jetzt, da ich Sie endlich persönlich treffe, weiß ich, dass meine Reise nicht ganz umsonst war.“ In seiner Stimme schwangen jede Menge versteckter Anspielungen mit ebenso wie die Sicherheit, dass er bekommen würde, wofür er nach London gekommen war.

„Sie können sich Ihre Schmeicheleien sparen, Mr. Price. Das haben schon ganz andere Männer versucht … und sind gescheitert.“

„Bitte, nennen Sie mich Marcus.“

Sie nickte kaum merklich. „Marcus. Das ändert auch nichts. Ich werde nicht verkaufen, und ich weiß wirklich nicht, was Sie hier wollen.“

„Ihr Assistent David Hurley hat mir den Termin gegeben, und ich habe selbstverständlich angenommen, dass Sie darüber informiert sind.“ Seine grünen Augen wurden schmal, als er ganz offensichtlich das Aufblitzen ihrer Wut wahrnahm. „Aber ich merke schon, dass er das versäumt hat. Es tut mir leid, Miss Cullen. Ich hatte angenommen, Sie wären offen für Verhandlungen.“

Oh, er war gut. Charmant, aufrichtig – fast könnte sie ihm glauben, wenn sie sich nicht gerade fragen würde, wie hoch die Summe war, mit der er David bestochen hatte. Eigentlich hätte sie David, der schon für ihren Vater gearbeitet hatte, nicht zugetraut, bestechlich zu sein, aber da hatte sie sich offenbar geirrt. Sie würde ihn dringend zur Rede stellen müssen. Er war noch immer in ihrer früheren Heimat Los Angeles – und trotz seiner jahrelangen Dienste für ihren Vater war sie bereit, ihn wegen dieser Angelegenheit zu entlassen, wenn er keine plausible Erklärung für sein Verhalten hatte.

„Ihr Kaffee ist sicherlich fertig. Wollen wir auf die Terrasse gehen?“ Sie würde ihm gegenüber sicherlich nicht über Davids Rolle in dieser Sache spekulieren.

„Danke, gern.“ Er bedeutete ihr mit einer Hand vorauszugehen.

Nur zu deutlich spürte sie seinen Blick im Rücken, merkte, wie er sie betrachtete und beurteilte, während sie vor ihm her zur Terrasse ging. Mit jeder Faser ihres Körpers wünschte sie sich, sie würde etwas mehr … nun, jedenfalls etwas anderes als alte Jeans und ein T-Shirt tragen. Sofort verfluchte sie den eitlen Gedanken. Sie wollte Marcus Price nicht beeindrucken. Sie hatte ihr Lehrgeld gezahlt und gelernt, Leute wie ihn zu erkennen, für die nichts als das eigene Vorankommen zählte. Und sie hatte keinen Zweifel daran, dass der Erwerb der Cullen-Sammlung von impressionistischen Gemälden, die ihr Vater über die letzten zwei Jahrzehnte hinweg gesammelt hatte, eine weitere Feder am Hut dieses Supertypen sein würde.

Sie traten auf die Terrasse, gerade als Mrs. Jackson den Kaffee brachte. Sie stellte die Tassen auf einen kleinen schmiedeeisernen Tisch. Und Avery lud Marcus ein, Platz zu nehmen.

„Sahne oder Milch?“ Sie setzte die silberne Kaffeekanne, auf der das Wappen ihrer britischen Familie mütterlicherseits prangte, wieder ab.

„Schwarz, danke.“

„Zucker?“ Avery hielt sich strikt an die Umgangsformen, die ihre Eltern von ihr erwartet hätten, wenn sie noch leben würden.

„Zwei Stückchen, bitte.“

Sie hob eine Augenbraue. „Zwei? Ah, ich verstehe.“

„Sie glauben, ich muss ein bisschen versüßt werden?“ Ein leichtes Lachen lag in seiner Stimme.

„Das haben Sie gesagt, nicht ich.“ Mit der Silberzange gab sie zwei Stückchen Zucker in seinen Kaffee.

„Danke.“ Er hielt die Tasse mit einer Hand und griff mit der anderen nach dem kleinen Löffel, um den Kaffee umzurühren.

Seine Hände mit den langen Fingern wirkten zugleich wie die eines Künstlers und die eines Mannes, der es gewohnt war zuzupacken. Die verräterische Wärme machte sich wieder in ihrem Körper breit. Ich muss wirklich mehr rauskommen, sagte sie sich und versuchte diese Gefühle für den attraktiven Mann ihr gegenüber zurückzudrängen. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie sich hier in ihrem Londoner Zuhause eingeschlossen. Ihr letzter größerer Ausflug war der nach New York gewesen, um Macy bei der Versteigerung des Nachlasses ihrer Mutter beizustehen. Ansonsten hatte sie alle sozialen Kontakte auf ein Minimum beschränkt. Vielleicht war es an der Zeit, das zu ändern. Und hatte Macy ihr nicht dazu geraten, Marcus zu treffen, und wenn es nur für den hübschen Anblick wäre?

Änderung hin oder her, Marcus Price war viel zu glatt für ihren Geschmack.

„Was die Cullen-Sammlung betrifft …“, setzte er an.

„Ich habe kein Interesse zu verkaufen. Und ich weiß nicht, wie ich mich noch klarer ausdrücken könnte.“

Sie verlor wirklich jegliche Geduld mit dieser Sache. Natürlich konnte sie von niemandem verlangen zu verstehen, warum sie so stur an den Gemälden festhielt. Sie taten nichts weiter, als in ihrem Familienanwesen in Los Angeles Staub anzusetzen. Früher oder später würde sie etwas unternehmen müssen – sie an ein Museum oder eine Galerie verleihen, an irgendwen, der sie mehr zu schätzen wusste als sie. Aber sie konnte sich noch nicht von ihnen trennen. Solange sie sich erinnern konnte, hatte ihr Vater die Gemälde leidenschaftlich zusammengetragen, und selbst als Kind hatte sie seine Freude beim Erwerb jedes einzelnen Bildes mitbekommen.

Forrest Cullen hatte jedes dieser Gemälde mit einer Hingabe geliebt, dass sie diese Bilder als Kind richtiggehend beneidet hatte. Sie wusste, dass ihr Vater sie auf seine eigene distanzierte Art und Weise geliebt hatte. Doch selbst nach dem Tod ihrer Mutter, damals war sie gerade fünf gewesen, hielt er diese Distanz. In seinem Leben hatte er zwei große Lieben gekannt: seine Frau und seine Gemäldesammlung. Und sie würde sich nicht von der einen Verbindung zu dem Mann trennen, den sie ihr ganzes Leben lang vergöttert hatte. Die Sammlung und der Garten hier in London, den er so geduldig gepflegt hatte, brachten ihn ihr näher – machten den Verlust erträglicher.

„Sicher sind Sie sich klar darüber, was die Sammlung mit den richtigen Käufern einbringen könnte“, unterbrach Marcus ihre Gedanken.

Avery lächelte zynisch. „Sehen Sie sich um, Marcus. Ich bin nicht gerade bedürftig.“

„Dann betrachten Sie es von einer anderen Seite. Diese Gemälde verdienen es, im Besitz von Menschen zu sein, die sie wirklich zu schätzen wissen.“

Sie erstarrte. Hatte David ihm etwa erzählt, dass sie die meisten Bilder der Sammlung nicht einmal mochte? Nein, das wusste er sicher nicht. „Unterstellen Sie etwa, dass ich die Gemälde nicht zu schätzen weiß? Das ist ganz schön anmaßend, meinen Sie nicht?“

Marcus Augen wurden schmal, während er sie musterte. Sie bekämpfte den Drang, die Haarsträhnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten, ordentlich zurückzustreichen. Die feinen Haare kitzelten sie an den Wangen.

„Sie haben sicher Ihre Gründe, aber ich glaube nun einmal fest daran, dass man jeden überzeugen kann, wenn man nur den richtigen Anreiz bietet.“

Sie lachte laut auf. Diese Dreistigkeit! „Anreize interessieren mich nicht, Mr. Price.“ Ganz bewusst nannte sie ihn wieder bei seinem Nachnamen. „Wenn Sie Ihren Kaffee ausgetrunken haben, dann bitte ich Mrs. Jackson, Sie hinauszubegleiten.“

„Gehen Sie wieder an Ihre Leinwand zurück?“ Er machte überhaupt keine Anstalten zu gehen.

„Ich habe Sie gerade gebeten zu gehen, Mr. Price.“

„Marcus. Und ja, das haben Sie. Sehr höflich, aber …“ Er beugte sich vor und fuhr mit einem Finger über einen Farbfleck auf ihrer rechten Hand. „… aber ich würde lieber weiter mit Ihnen über die Kunst und ihre vielfältigen Formen diskutieren.“

Für einen Moment war sie ganz und gar gefangen von dieser Berührung. Sie war so leicht und löste doch eine so tiefe Reaktion in ihr aus, dass es ihr fast den Atem nahm. Unter anderen Umständen hätte sie sich ebenfalls vorgebeugt und erforscht, ob er ebenso verführerisch schmeckte, wie seine Worte klangen.

Ein Vogel krächzte und brach den Bann, den Marcus ausgelöst hatte. Flüchtige Leidenschaften waren nicht ihr Ding, und mehr würde eine Affäre mit Marcus Price auch nicht sein. Eine Affäre. Das Leben war so viel mehr wert – sie war so viel mehr wert. Avery blickte demonstrativ auf seine Hand, bevor sie ihre unter seiner wegzog.

„Ich kann von mir leider nicht dasselbe sagen.“

Er ließ ein flüchtiges Lächeln aufblitzen. „Ich wette, dass Sie sich selbst jetzt fragen, was mit Ihrem Gemälde falsch läuft, warum Sie es nicht hinbekommen.“

Er hatte sie provoziert.

„Falsch?“ Sie hob die Augenbrauen.

„Ich bin so etwas wie ein anerkannter Kunstexperte, wie Sie wissen.“

„Im Verkauf von Kunst vielleicht.“

„Zu erkennen, was der Verkauf wert ist“, korrigierte er sie leichthin, aber in seiner Stimme lag eine gewisse Härte, die verriet, dass sie seinen Stolz ein bisschen angekratzt hatte.

„Nun, dann verraten Sie mir doch, was ich falsch mache.“ Keine Sekunde lang glaubte sie, er würde das besser können als sie.

„Es ist die Art, wie Sie das Licht eingefangen haben.“

„Das Licht?“ Oh Gott, sie klang wie die letzte Idiotin.

„Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“

Noch bevor sie etwas erwidern konnte, war er bereits aufgestanden und hatte nach ihrer Hand gegriffen. Die Wärme seiner Finger fühlte sich seltsam richtig an. Er hielt ihre Hand nur leicht in seiner, ließ aber keinerlei Anzeichen erkennen, dass er sie bald wieder loslassen wollte. Sie protestierte nicht, als er sie die flachen Stufen hinunter und den Weg zurück zu ihrer Staffelei mit dem halbfertigen Bild darauf führte.

„Eigentlich liegt es eher daran, wie Sie das Licht nicht eingefangen haben.“ Marcus deutete auf die getupfte Fläche aus satten frühherbstlichen Farbtönen. „Sehen Sie? Hier und hier. Wo sind das Licht, die Sonne, die Wärme? Woher kommt es? Wo ist dieser letzte Kuss des Sommers?“

Sie begriff sofort, was er meinte, und begann etwas Farbe auf der Palette zu mischen. Sie griff nach einem sauberen Pinsel und widmete sich dem Bild.

„So?“ Sie trat zurück.

„Ja, genau so. Sie kennen sich aus. Wie konnte Ihnen das entgehen?“

„Ich vermute, das Licht hat in meinem Leben jetzt lange Zeit gefehlt“, entgegnete sie, ohne nachzudenken. „Und ich habe aufgehört, danach zu suchen.“

2. KAPITEL

Marcus spürte ihre tiefe Trauer. Aber jetzt musste er seinen Vorteil ausnutzen. Er hatte monatelang darauf hingearbeitet, an Avery Cullens gut trainierten Wachhunden vorbeizukommen, und er würde seinen Vorteil jetzt nicht vertun.

Er war so nah dran. Wenn er das Recht bekommen würde, die Cullen-Sammlung bei Waverlys zu verkaufen, wäre sein Aufstieg zum Partner im Auktionshaus nur noch eine Formsache. Und noch wichtiger: Damit wäre er einen gewaltigen Schritt weiter darin, das zurückzugewinnen, was seiner Familie gehörte.

„Es ist hart, ein Elternteil zu verlieren.“ Er legte genau die richtige Dosis Mitgefühl in seine Stimme.

Sie nickte kurz, und er bemerkte, wie ihre blauen Augen feucht schimmerten, bevor sie den Kopf abwandte und dem Gemälde ein paar Pinselstriche hinzufügte. Das hier war falsch. Ein Gentleman würde ihre Trauer nicht so ausnutzen – aber er war kein Gentleman, wenigstens nicht von Geburt her. Und auch wenn er wusste, was das Richtige in dieser Situation war, so spürte er auch, wie nah er dem Sieg war. So nah, dass er ihn fast schon greifen konnte.

Ihre schmalen Schultern hoben und senkten sich wieder, als sie tief durchatmete. „Dieses Bild bedeutet mir so viel. Der Garten hier war der absolute Lieblingsort meines Vaters, besonders im Herbst. Er hat immer gesagt, dass er sich hier meiner Mutter nahe fühlte. Sie haben auch Ihren Vater oder Ihre Mutter verloren?“ Averys Stimme zitterte leicht.

„Beide.“

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er hatte seine Mutter verloren, noch bevor er sich erinnern konnte, aber sein Vater lebte noch – irgendwo. Der Mann hatte klar den Preis genannt, zu dem er sich von Marcus fernhalten würde – einen Preis, den Marcus’ Großvater gern gezahlt hatte. Und bis jetzt hatte er sein Versprechen überraschenderweise auch gehalten.

Mitgefühl stand in ihren Augen. „Das tut mir leid, Marcus.“

Und er wusste, sie meinte auch, was sie sagte. Er spürte ein leichtes Schuldgefühl, als er ihr Mitleid entgegennahm. Er hatte seine Eltern nie kennengelernt. Seine Mutter war drogenabhängig gewesen und hatte ihn im Gefängnis zur Welt gebracht. Als er zwei Jahre alt war, war sie an eben diesen Drogen gestorben. Und sein Vater war in der ganzen Welt umhergezogen und immer nur aufgetaucht, um noch mehr Geld aus Marcus’ Großvater herauszupressen im Austausch dafür, sich aus Marcus’ Leben herauszuhalten. Schließlich hatte der alte Mann seinen ihm teuersten Besitz verkauft, um den Partner seiner verstorbenen Tochter für immer loszuwerden. Und das hatte nun Marcus hierher in Averys Garten geführt.

Er zuckte mit den Schultern. Er konnte nichts daran ändern, wer seine Eltern gewesen waren. Aber er konnte wiedergutmachen, was sie seinem Großvater angetan hatten. Und das bedeutete, das Bild zurückzubekommen, zu dessen Verkauf sein Großvater nie hätte gezwungen werden dürfen.

„Das ist lange her. Aber danke.“ Er drückte sanft ihre Schulter.

Obwohl es eine leichte und kurze Berührung war, verbrannte ihn die Hitze ihres Körpers, die er durch ihr T-Shirt hindurch spürte. Er zwang sich, die Hand wegzuziehen und trat ein Stückchen zurück. Er hatte schon gemerkt, wie attraktiv sie ihn fand. Das Aufleuchten ihrer Augen hatte sie verraten, ebenso wie ihr Erröten und wie sie ihn fortwährend betrachtete, auch wenn sie versuchte, sich zurückzuhalten. Und ihm lag es ganz und gar nicht fern, das zu seinem Vorteil zu nutzen. Aber dass er sich nun auch zu ihr hingezogen fühlte, überraschte ihn.

Er musste auf sicheres Terrain zurück und wandte sich wieder ihrem Gemälde zu.

„Landschaften sind nicht wirklich Ihr Ding, oder?“, fragte er in plötzlicher Einsicht.

„Und wie kommen Sie darauf? Gefällt Ihnen das Bild nicht? Also, wenn Sie versuchen, sich gut mit mir zu stellen, dann gehen Sie das von der falschen Seite an.“

Er lachte leise auf angesichts ihres trockenen Humors. „Ich habe nicht gemeint, dass es nicht gut ist. Von der Technik her sind Sie perfekt, aber da wäre ein Foto ebenso gut.“

„Zum Teufel mit schwachen Lobpreisungen.“ Sie schloss den Deckel des Farbkästchens und packte die Malutensilien und den kleinen Klapptisch zusammen.

„Was ist Ihre Leidenschaft? Wobei fangen Sie wirklich Feuer?“

Sie hob den Kopf, und dieses Mal betrachtete sie ihn anders als noch zuvor. Nicht als Mann, sondern als potenzielles Subjekt.

„Porträts.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aktbilder.“

Begehren durchzuckte ihn. Aktbilder? Wie wäre es wohl, für sie Modell zu stehen? Schnell verdrängte er diesen Gedanken. Miss Avery Cullen wurde mit jeder Sekunde interessanter, aber er wollte sie keinesfalls verschrecken. Nicht, wo so viel für ihn auf dem Spiel stand.

„Wie Ihr Urgroßonkel?“

Sie nickte bedächtig. „Sie scheinen sich auszukennen.“

„Waverlys stellt keine Dummköpfe an.“

„Da bin ich sicher.“ Sie sammelte weiter ihr Zeug zusammen. „Sie kennen also die Arbeiten meines Onkels?“

„Ich habe mich am College damit befasst. Und Baxter Cullens Werke haben immer zu meinen Favoriten gezählt.“ Er ging hinüber zur Staffelei. „Hier, lassen Sie mich Ihnen damit helfen.“

Zu seiner Überraschung nahm sie das Angebot an. Sie gingen zum Haus zurück. „Malen Sie auch?“

„Das gehört nicht zu meinen Stärken, fürchte ich“, gab er ehrlich zu. „Aber gut ausgeführte Werke habe ich schon immer geschätzt.“

Sie blieb vor den Glastüren, die ins Haus führten, stehen. „Ich habe ein Baxter-Cullen-Gemälde hier. Würden Sie es gern sehen?“

Eine Sekunde lang setzte sein Herz aus. Meinte sie damit Lovely Woman – eben das Bild, das er seinem Großvater zurückgeben wollte? Er kämpfte darum, bloßes Interesse in seiner Stimme anklingen zu lassen statt des wilden Begehrens, das er verspürte.

„Das wäre wunderbar, wenn es Ihnen keine Umstände macht.“

„Natürlich nicht. Kommen Sie mit in mein Studio.“

Während er ihr in den zweiten Stock hinauf folgte, fragte er sich, wie viele Generationen von Cullens dieses Treppengeländer berührt hatten, wie sehr sie ihr Recht, hier zu leben, als gegeben hingenommen hatten. Er wäre jede Wette eingegangen, dass keiner der Cullens jemals etwas hatte verkaufen müssen, um Essen auf den Tisch zu bringen.

Du kannst einen Jungen in eine andere Umgebung stecken, aber er wird seine Wurzeln nicht verleugnen können, pflegte sein Großvater zu sagen. Tja, er hatte den größten Teil seines Lebens damit verbracht zu beweisen, dass er damit falsch lag. Eines Tages würde er ihm geben können, was sie beide verdienten. Und dank Avery Cullen schien dieser Tag nicht mehr in so weiter Ferne.

„Das hier war das Kinderzimmer, früher, als man Kinder zwar sehen, aber nicht hören wollte“, erzählte Avery, während sie ihm zeigte, wo er Staffelei und Malutensilien hinstellen sollte. Sie öffnete eine Schiebetür, hinter der sich ein Waschbecken verbarg.

Er schaute sich um, während sie die Pinsel ausspülte. Die hohen Wände reflektierten das kühle Licht, das durch die großen Fenster fiel. Er verstand, warum Avery diesen Raum als Studio nutzte. Doch dann wurde seine Aufmerksamkeit von dem Bild gefangen genommen, das er schon so lange gesucht hatte.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich dem kleinen, perfekt ausgeführten Aktbild einer jungen, badenden Frau näherte. Er versuchte ruhiger zu atmen. Vor dem Gemälde blieb er stehen und zählte langsam von hundert rückwärts. Er konnte sich einfach nicht sattsehen. Es war so gut wie perfekt. Fast kam er sich wie ein Voyeur vor. Als würde er Einblick in das Leben dieser Frau erhalten, in diesen intimen Moment, in dem sie ein Stückchen Stoff über ihre sanft gerundete Schulter zog.

Er wollte das Bild von der Wand reißen und damit aus dem Haus flüchten. Aber er unterdrückte dieses Verlangen. Er hatte zu lange auf diesen Moment hingearbeitet, um jetzt alles zu ruinieren. Aber es war härter, als er erwartet hatte, nun dieses Bild zu sehen, das sein Großvater vor fünfundzwanzig Jahren hatte verkaufen müssen.

„Es ist wunderschön, nicht wahr?“ Avery stand hinter ihm. „Offenbar war sie Dienstmädchen im Haushalt der Baxters gewesen. Das Bild hat damals einen kleinen Skandal ausgelöst. Baxters Frau Isobel hat dem Mädchen eine Affäre mit ihrem Mann unterstellt und sie entlassen. Außerdem wollte sie, dass ihr Mann das Bild vernichtet. Was er offensichtlich nicht getan hat. Es gab Gerüchte, dass er das Bild dem Mädchen geschickt hatte, aber wir haben keinerlei Beweise darüber, wohin das Bild kam, nachdem es Baxters Haus verlassen hat.“

„Interessant, dass sie ihrem Mann nicht übel genommen hat, ein Dienstmädchen ausgenutzt zu haben.“ So sehr er sich auch darum bemühte, die Spur von Bitterkeit in seiner Stimme konnte er nicht verbergen.

Avery zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Seine Frau war ganz offenbar eine starke Persönlichkeit. Was vermutlich notwendig war, da Baxter nichts außer seiner Arbeit wahrgenommen hat.“

„Und sein Modell, offensichtlich.“

Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen. „Ja. Obwohl ich mich frage, ob er sie jemals als etwas anderes als Farbtöne und Licht und Schatten gesehen hat.“

Marcus presste die Kiefer zusammen und hielt die Worte zurück, die ihm auf der Zunge lagen. Er durfte Avery nicht verraten, dass er keinerlei Zweifel daran hegte, dass Baxter Cullen sein Modell als viel, viel mehr als nur das gesehen hatte.

Immerhin war das Modell Marcus’ Urgroßmutter gewesen.

Er zwang sich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Zu wissen, dass er der Grund war, warum das Gemälde nicht länger im Wohnzimmer seines Großvaters hing, machte das Betrachten des Bildes emotionaler, als Marcus erwartet hatte. Und Marcus akzeptierte Gefühle nicht.

„Wie ist Ihr Vater denn in den Besitz des Gemäldes gelangt?“

„Über einen Kunsthändler, vermute ich. So ist er zu den meisten seiner Gemälde gekommen, auch wenn er ziemlich gut darin war, einen Schatz in Nachlässen oder beim Trödler zu entdecken. Aber er war immer ein Verfechter von fairen Preisen.“

„Ich bin überrascht, dass Sie das Bild hier im Studio hängen haben.“

„Es ist eine Inspiration.“

„Für Ihre Aktbilder?“

„Nicht nur für meine Arbeit – für alles. Es erinnert mich daran, in allem nach der Schönheit zu suchen.“

„Danach müssen Sie suchen? Sie sind hier doch umgeben von Schönheit.“ Er löste den Blick von dem Bild und drehte sich zu ihr um.

Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „Sie würden sich wundern, was mich so alles umgibt und was von mir erwartet wird.“

Er konnte den Schmerz hinter ihren Worten spüren, aber sicherlich war das Leben in ihrer Welt nicht allzu schmerzhaft. Irgendwo im Haus verkündete eine Standuhr die Zeit. Es war spät geworden. Zwar hätte er den Vorteil nutzen können, den ihre momentane Offenheit bot, aber er wusste auch, dass sie darunter vermutlich immer noch so scheu war wie ein Bieter auf seiner ersten Auktion.

„Ich mache mich besser auf den Weg“, sagte er. „Danke, dass Sie mir das Gemälde gezeigt haben.“

„Sehr gern. Warten Sie, ich begleite Sie nach unten.“

Sie ging voraus, die Treppe hinunter und durch die schwarzweiß geflieste Diele. An der Tür streckte Marcus ihr die Hand hin, und sie überraschte ihn, indem sie seine Hand mit ihrer umschloss.

„Ich werde nicht aufgeben“, warnte er sie und lächelte leicht.

„Aufgeben?“

„Sie zum Verkauf der Sammlung Ihres Vaters zu bringen.“

Avery lachte. „Das wird niemals passieren.“

„Für gewöhnlich bekomme ich, was ich will.“ Er ließ den Blick wie eine Liebkosung über ihr Gesicht gleiten und dann tiefer, dorthin, wo ihr Puls deutlich an ihrem Hals schlug.

Sie wurde rot, und der Druck ihrer Finger um seine verstärkte sich fast unmerklich. Dann zog sie die Hand zurück.

„Vielleicht ist es an der Zeit, dass Sie lernen mit Enttäuschungen umzugehen.“ Ihre Stimme klang leicht heiser.

„Glauben Sie wirklich, ich wurde noch nie enttäuscht?“ Er legte einen neckenden Tonfall in seine Stimme.

Sie errötete wieder. „Das kann ich nicht wissen.“

„Ich hatte genug davon. Und Sie haben mich nur umso entschlossener darin gemacht, genau das vom Leben zu bekommen, was ich will.“

„Und dazu gehört die Cullen-Sammlung?“ Sie reckte das Kinn.

„Die steht im Moment ganz oben auf meiner Liste.“ Er lächelte. „Aber es gibt da noch andere Dinge, die ich will.“

„Sie haben meine Neugier geweckt.“ Avery trat einen Schritt zurück, als könnte etwas Distanz sie vor ihrer Neugier bewahren. „Vielleicht möchten Sie mir heute Abend beim Essen verraten, warum Ihnen die Sammlung meines Vaters so wichtig ist? Wir essen hier um acht.“

Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Das war ja so leicht, wie einem Baby Süßigkeiten wegzunehmen. Aus ihrem resoluten Nein war Interesse geworden, wenn auch erst ein vages. Das war der entscheidende erste Schritt. Jetzt musste er sie nur noch genug in Sicherheit wiegen, dass sie seiner Bitte nachgab.

„Ich würde mich sehr gerne weiter mit Ihnen unterhalten. Aber nicht hier. Würden Sie denn meine Einladung annehmen? Ich muss noch in mein Hotel einchecken, aber ich könnte Sie hier in …“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. „… zwei Stunden abholen. Passt Ihnen das?“

Einen Moment lang sah es so aus, als wollte sie ablehnen, aber dann lächelte sie ihn an. „Ich bin viel zu lange nicht mehr ausgegangen, also, ja, das würde mir gefallen. Dann also bis um sieben?“

„Ich werde hier sein.“

Während Marcus die Stufen hinunterging, die zur Straße führten, kämpfte er gegen den Drang an, die Faust triumphierend in die Luft zu strecken. Jedes Wort, jede Sekunde brachten ihn dem Erfolg näher. Schon sah er die Tinte auf dem Partnerschaftsvertrag trocknen.

3. KAPITEL

Avery schloss die Tür und lehnte sich von drinnen dagegen. Sie konnte nicht glauben, dass sie ihn erst hierher zum Essen eingeladen und dann seine Einladung zum Ausgehen angenommen hatte. Der Blick aus seinen grünen Augen verunsicherte sie ebenso wie der Grund für seine Reise nach London. Gleichzeitig weckte er ihr Interesse, was ihr schon lange nicht mehr passiert war. Und sie war neugierig zu erfahren, warum er so sehr an der Sammlung ihres Vaters interessiert war.

Sicher würde es nicht schaden, noch ein paar weitere Stunden mit ihm zu verbringen.

Zwei Stunden. Ihr blieben zwei Stunden, um sich fürs Ausgehen zurechtzumachen. Im Kopf ging sie die Optionen in ihrem Kleiderschrank durch. Die meisten ihrer Ausgehkleider hatte sie in Los Angeles gelassen, aber ein paar Outfits, die für heute Abend passen könnten, waren auch noch hier.

Sie seufzte. Wem wollte sie etwas vormachen? Er hatte sie schließlich nicht eingeladen, weil er sie attraktiv fand. Für ihn war vermutlich nur die Provision attraktiv, die er bekommen würde, sollte er sie zum Verkauf der Sammlung überreden. Himmel, nur daran zu denken, rief den Schmerz in ihrer Brust wieder wach.

Sie würde die Sammlung nicht verkaufen, aber sie würde das Beste aus Marcus Prices Gesellschaft machen. Er schien ziemlich bewandert zu sein, was Kunst anging, und seine Reaktion auf die Lovely Woman hatte sie überrascht und neugierig gemacht. Er war ziemlich begeistert vom Werk ihres Vorfahren gewesen. Nun, Baxter Cullen war einer der am meisten verehrten Künstler des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in Amerika gewesen, daher war es nur logisch, dass Marcus über ihn am College gehört hatte. Und doch spürte sie, dass hinter seiner Faszination für das Gemälde mehr steckte.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Er hatte das Bild ebenso begierig angestarrt wie zuvor sie im Garten. Als wäre er absolut entschlossen, dieses eine Ding, oder in ihrem Fall diese eine Person, in Besitz zu nehmen.

Wieder spürte sie diesen Schauer auf dem Rücken. Aber dieses Mal hatte er nichts mit Vorsicht oder Unbehagen zu tun, sondern war ausschließlich ihre Reaktion auf einen unmissverständlichen Alpha-Mann. Seit langer Zeit hatte sie sich zu niemandem mehr so hingezogen gefühlt. Es war beängstigend und aufregend zugleich. Viel zu lange hatte sie sich keine Gefühle mehr erlaubt. Nach der plötzlichen Erkrankung ihres Vaters – er hatte seine Krebsdiagnose fast neun Monate lang für sich behalten – und seinem Tod hatte sie alle Gefühle in sich verschlossen. All ihre Energie war darauf gerichtet gewesen, ihrem Vater in seinen letzten Monaten hier in London beizustehen. Und alles andere in ihrem Leben hatte warten müssen.

In dieser Zeit hatte sie viel verloren. Zum einen ihren Vater, der vom Krebs aufgezehrt wurde und bald nicht einmal mehr seine Umgebung oder seine Tochter erkannt hatte. Und zum anderen ihren Freundeskreis – Freunde, auf die die Bezeichnung Kriecher vermutlich besser passte, da sie nur darauf bedacht waren, was es ihnen brachte, mit ihr befreundet zu sein. Sie alle hatten sich von ihr zurückgezogen. Hatten sie nicht einen Moment lang unterstützt, als sie sie am meisten gebraucht hätte. Alle bis auf Macy, ihre einzige wahre Freundin. Aber es gab Grenzen in dem, was eine Freundin tun konnte, wenn ein ganzer Ozean zwischen ihnen lag.

Dieser Rückzug ihrer Freunde hatte ihr gezeigt, wie allein sie war. Sicher, ein paar von ihnen hatten sich gemeldet, nachdem der Nachruf auf ihren Vater veröffentlicht worden war. Allerdings nicht, um ihr Beileid auszudrücken. Vielmehr wollten sie erfahren, wann sie wieder mitmischen würde, denn ohne sie mussten sie sich mit den schlechteren Tischen in Restaurants begnügen, in Taxis statt in Limousinen fahren, Sekt statt Champagner trinken. Sie hatten ihr schmerzhaft deutlich gezeigt, dass es nicht um sie, sondern um ihr Geld und den Namen Cullen ging. Avery hatte begriffen, dass sie sich hatte benutzen lassen im Austausch für das Gefühl, dabei zu sein.

Nachdem ihr die Augen geöffnet worden waren, hatte sie einen kritischen Blick auf sich selbst geworfen. Sie hatte das alles zugelassen, hatte erlaubt, dass man sie ausnutzte und ihre Gesellschaft nicht ihretwegen gesucht hatte. In den Wochen nach der Beerdigung ihres Vaters hatte sie sich eines fest versprochen: Sie würde nie wieder zulassen, so benutzt zu werden. Sie hatte sich zurückgezogen und sich in ihrer Trauer vergraben. Schließlich hatte sie sich in die Arbeit mit den Kunststiftungen gestürzt, die ihre Familie schon immer gefördert hatte und sogar mit der Idee gespielt, selbst eine zu gründen. Eine Stiftung zur Förderung von Kindern, die sich in den Künsten ausprobieren wollten.

Avery ging zur Treppe. Bei Marcus Price wusste sie wenigstens ganz genau, woran sie war. Er wollte die Cullen-Sammlung und sonst nichts. Sicherlich würde er ihr ein paar Komplimente machen, sie dazu bringen, sich wie eine attraktive Frau zu fühlen, aber das war es dann auch schon. Er hatte ein Ziel. Und sie war sicher vor Verletzungen, solange sie mit offenen Augen zu dieser Verabredung ging – und sie würde ihre Augen weit offen halten.

Marcus hielt mit dem Jaguar, den er gemietet hatte, in der Auffahrt des Cullen-Hauses. Er war gespannt auf die nächsten Stunden mit Avery Cullen. Sie war wachsam, und das mit gutem Grund. Und er würde mit extremer Vorsicht vorgehen müssen, damit er sein Ziel erreichte. Aber er war sich seines Erfolgs sicher. Und den Abend mit ihr zu verbringen war ein eindeutiges Plus. Ihre kühle, nordische Schönheit ließ sie wie eine Eisprinzessin wirken. Zweifellos das Erbe ihrer nordischen Wurzeln mütterlicherseits. Eine Eisprinzessin kurz vor der Schmelze. Er musste über diesen Gedanken grinsen, während er die Stufen hinaufsprang.

Die Frau, die ihm die Tür öffnete, war alles andere als kühl, und ihm wurde heiß, als er die Verwandlung bewunderte. Sie trug ein leuchtend rotes Kleid, das jede Kurve ihres Körpers betonte. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem losen Knoten aufgesteckt. Und das I-Tüpfelchen war der sinnliche Farbton ihres Lippenstifts. Sie sah ganz und gar nicht mehr aus wie die zerbrechliche, verletzte Frau, die er heute in ihrem Garten getroffen hatte.

Er gönnte sich einen Moment, um sie in ihrer ganzen Schönheit zu betrachten. Von Kopf bis Fuß bot sie das volle Programm – eines, das einen Schock reinen Begehrens in ihm auslöste.

„Sie sehen umwerfend aus“, entfuhr es ihm mit der Gewandtheit eines Zwölftklässlers auf dem Weg zum Abschlussball.

„Danke.“ Sie lächelte verführerisch. „Sie sehen auch nicht schlecht aus.“

Er bot ihr einen Arm an. „Wollen wir los?“

Die Berührung ihrer Finger verbrannte ihn, als sie eine Hand leicht auf den dargebotenen Arm legte. „Und wo gehen wir hin?“

Er nannte ihr ein Restaurant, das offenbar ihre Zustimmung fand.

„Sehr schön, da war ich schon lange nicht mehr.“ Sie nickte.

Normalerweise musste man lange warten, um einen Tisch in diesem exzellenten Restaurant zu bekommen, aber er hatte sich nicht von einem Stipendium zum nächsten gearbeitet und die besten Privatschulen und Colleges in Boston besucht, ohne den ein oder anderen Trick aufzuschnappen. Ein Telefonanruf bei einem alten Bekannten, und die Warteliste hatte keine Rolle mehr gespielt.

Marcus half Avery ins Auto und setzte sich dann hinters Steuer.

„Der Linksverkehr macht Ihnen auch nichts aus?“

„Ich bin ohne Unfall hier angekommen, oder?“ Er lächelte. „Nein, im Ernst, ich bin oft genug in Großbritannien, Sie sind sicher bei mir.“

Zumindest im Auto, dachte er bei sich. Was während des Essens und hoffentlich danach geschah, stand auf einem anderen Blatt. Und schon spürte er wieder dieses Verlangen nach ihr durch seine Adern schießen – und durch andere Körperteile. Körperteile, die er ignorieren wollte, die sich aber nicht einfach so ausblenden ließen. Sein ganzer Körper vibrierte in ihrer Gegenwart, und er wollte unbedingt herausfinden, ob sie so süß schmeckte, wie sie duftete. Marcus klammerte sich ans Steuer und riss sich zusammen. Es würde noch genug Zeit bleiben, sich dem Genuss dieser Gefühle hinzugeben. Jetzt musste er dafür sorgen, dass sie offen für Verhandlungen war. Er würde nicht zulassen, dass sein Verlangen ihm in die Quere kam und gar noch den bedeutendsten Kauf seiner Karriere verhinderte.

Als sie das Restaurant betraten, begrüßte der Maître sie beide mit Namen, und alle Gäste drehten sich zu ihnen um. Ein unerwarteter Beschützerinstinkt stieg in ihm auf, als sich alle diese Köpfe wieder abwandten und der Lärmpegel anstieg.

„Sieht aus, als wären Sie gerade zum Hauptgesprächsthema geworden“, flüsterte Marcus seiner Begleiterin ins Ohr.

„Manche Leute haben eben nichts Besseres zu tun.“

Auch wenn sie das Geschehen so leichthin abtat, verriet sie doch die leichte Bitterkeit in ihrer Stimme, und er begriff, welche Qual es ihr bereitete, an den Tischen vorbeizugehen. Und er spürte ihre Erleichterung, als sie zu einem Tisch in einem Erker geführt wurden, der ihnen ausreichend Privatsphäre bot.

„Der Reaktion nach zu schließen, haben Sie sich einige Zeit nicht sehen lassen“, bemerkte er vorsichtig, nachdem sie Platz genommen und die Speisekarten bekommen hatten.

„Es war bei Weitem nicht so schlimm, wie ich angenommen hatte, mich eine Weile lang zurückzuziehen.“

Er strich ihr sanft über den Arm. „Danke, dass Sie heute für mich eine Ausnahme machen.“

Er spürte, wie sie unter seiner Berührung eine leichte Gänsehaut bekam, so als hätte sie ein sanfter Schauer erfasst. Ihr Blick traf den seinen, und in ihren Augen sah er die Sinnlichkeit des Moments aufschimmern. Dann erstickte sie offensichtlich das Gefühl, als wäre sie mit eisigem Wasser übergossen worden.

Marcus beschloss, ihre Reaktion auf ihn vorerst nicht weiterzuverfolgen. Das würde ihn seinem Ziel nicht näher bringen, und sie schien von ihrer eigenen Reaktion verstört. Er war sich nicht sicher, was ihn mehr bewegte – sein Verlangen danach, sich die Cullen-Sammlung zu sichern oder das fast schon überwältigende Bedürfnis, diese sinnliche Spannung zwischen ihnen weiter zu erkunden.

„Es war schön, eingeladen zu werden“, sagte sie und kämpfte darum, Haltung zu wahren.

Sie war geschockt, dass eine solch schlichte Geste so einen Tumult in ihr auslöste. Seine Berührung war nur leicht gewesen, fast schon unpersönlich, und schon war sie wie elektrisiert. Seine Augen wirkten im gedämpften Licht des Restaurants dunkler und erinnerten sie an das faszinierende Leuchten eines Smaragds.

Marcus Price war gefährlich. Er stellte nicht nur eine Bedrohung für ihr inneres Gleichgewicht dar, er war auch zweifellos ein Mann mit einer Mission. Sie konnte sich nicht erlauben, in ihrer Wachsamkeit nachzulassen, sonst würde er sie zu wer weiß was überreden können.

Würde Marcus anders sein als ihre früheren oberflächlichen Freunde, die immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht gewesen waren? Erwartete er, dass sie heute ganz selbstverständlich die Rechnung übernahm? Nun, sie konnte nichts tun als abwarten. Er hatte von Anfang an gesagt, warum er zu ihr gekommen war, und trotz ihrer heftigen Reaktion auf ihn, wusste sie doch ganz genau, woran sie war. Auf Marcus Price wartete eine Überraschung, wenn er meinte, sie zu irgendetwas überreden zu können, was sie nicht wollte.

Er war ein unerwartet angenehmer Begleiter, und Avery war von seinen scharfsinnigen Beobachtungen der Kunstwelt beeindruckt. Seine Stimme verriet Leidenschaft für seinen Beruf, ebenso wie seinen unbedingten Willen, erfolgreich darin zu sein. Doch neben seinem Drang, die Karriereleiter bei Waverlys aufzusteigen, liebte und schätzte er die Kunstwerke, mit denen er zu tun hatte, wirklich. Seine Wertschätzung zeigte sich in jedem seiner Worte. Und in seiner Leidenschaft für die Kunst in Kombination mit seinem untrüglichen Geschäftssinn ähnelte er ihrem Vater.

Und im Gegensatz zu ihren sonstigen Begleitern trank er nur ein Glas Wein zum Essen und nötigte sie keinesfalls zum Weitertrinken. Seine Aufmerksamkeit überraschte sie. Nach den Anrufen über die letzten Monate und seinen Mails hatte sie ihn als aufdringlich und hartnäckig eingeschätzt. Doch heute Abend war er nichts von dem gewesen.

Als Marcus beim Kellner die Rechnung erbat, ertappte sie sich bei dem Wunsch, ihn unter anderen Umständen kennengelernt zu haben. Umstände, bei denen es nicht um den Erwerb der Cullen-Sammlung ging. Kaum war ihr dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, erkannte sie, dass sie sich hatte von der Atmosphäre des Abends einlullen lassen, bis sie meinte, das hier könnte zu mehr führen. Streng rief sie sich zur Ordnung. Die Marcus Prices dieser Welt verfolgten immer ein Ziel. Sie war für ihn nur ein Mittel zum Zweck. Darüber machte sie sich keine Illusionen.

Der Kellner legte die Lederhülle mit der Rechnung diskret auf den Tisch zwischen ihnen, und aus reiner Gewohnheit streckte sie die Hand danach aus. Sogleich spürte sie Marcus’ Hand auf ihrer.

„Was machen Sie da?“ Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Verwirrung und verletztem männlichem Stolz.

„Wonach sieht es denn aus? Ich übernehme natürlich die Rechnung.“

„Nein, das tun Sie nicht.“ Mit einer entschiedenen Geste schob er ihre Hand beiseite. „Ich kann nicht fassen, dass Sie wirklich glauben, ich lade Sie zum Essen ein und würde dann erwarten, Sie würden zahlen.“

„Wir können gern die Rechnung teilen. Ich habe den Abend sehr genossen.“

„Avery, ich habe Sie gebeten, mein Gast zu sein. Selbst wenn ich das nicht getan hätte, würde ich keineswegs erwarten, dass Sie zahlen.“ Er steckte seine Kreditkarte in die Lederhülle und nickte dem zurückgekehrten Kellner zu.

„Natürlich.“ Sie nickte. „Das sind ja Spesen für Sie.“

Dieses Mal stand ihm die Verärgerung deutlich ins Gesicht geschrieben. „Das denken Sie also?“

„Liege ich etwa falsch?“

Er schaute keine Sekunde lang weg. „Zu Anfang mag es das gewesen sein“, gab er zu.

Hoffnung flammte in Avery auf. Zu Anfang? Wo standen sie dann jetzt? Fühlte er sich so zu ihr hingezogen wie sie sich zu ihm? Der Kellner kam zurück und verhinderte, dass Marcus noch mehr sagte. Er unterschrieb die Rechnung und gab dem Kellner noch etwas Trinkgeld.

„Kommen Sie.“ Er stand auf. „Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.“

Sie hatte ihn gekränkt. Zwar legte er ihr die Hand leicht auf den Rücken, als sie das Restaurant verließen und draußen auf den Wagen warteten, aber er sagte nichts. Auch die Fahrt zurück verlief schweigend.

Als er vor ihrem Haus hielt, löste sie ihren Gurt und wandte sich Marcus zu. „Es tut mir leid. Wirklich, ich wollte Sie keineswegs beleidigen.“

Er blickte sie an, und sie konnte den exakten Moment bestimmen, in dem seine Verärgerung ihn verließ. Er berührte sacht ihre Wange und ließ sie mit dem Verlangen nach mehr, nach ihm, zurück.

„Nein, es war mein Fehler“, sagte er. „Sie hatten recht. Ich hatte Hintergedanken bei meiner Einladung. Ich habe einfach nicht erwartet, dass sich das zu etwas anderem entwickeln würde. Das ist alles.“

„Zu … etwas anderem?“

„Ja.“ Er beugte sich zu ihr. „Zu dem hier.“

Seine Hand glitt zu ihrem Nacken, und dann berührten seine Lippen sanft ihren Mund. Sein Kuss war zart und fast schon vorüber, bevor er begann, aber er ließ sie atemlos und voller Verlangen zurück.

„Ich will dich wiedersehen, Avery.“ Er lehnte seine Stirn gegen ihre, und seine warme Hand ruhte immer noch auf ihrem Nacken und massierte ihre empfindsame Haut.

Alles in ihr schrie Ja! Aber ihre Vorsicht riet ihr zu einem Nein. Sie dachte darüber nach, wie Marcus beim Essen gewesen war. Unterhaltsam, aufmerksam, sogar liebenswürdig. Aufdringlich? Nein. Nicht einmal wegen der Gemälde hatte er sie bedrängt. Vielleicht war er anders als die anderen. Vielleicht wollte er wirklich sie. Hoffentlich so sehr, wie sie ihn wollte – wie sie ihn vom ersten Moment an gewollt hatte. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Doch hatte sie den Mut, dieses Wagnis einzugehen?

Zitternd atmete Avery ein und wieder aus. „Das würde mir gefallen. Morgen?“

„Gern, dann also morgen. Ich muss am Vormittag noch bei einigen Galerien vorbeischauen. Aber wie wäre es, wenn ich nach dem Mittagessen zu dir komme?“

„Perfekt. Ich werde hier sein.“

Er wartete, bis sie die Stufen zur Eingangstür hinaufgegangen war und winkte ihr noch kurz zu, als sie sich umdrehte. Dann ließ er den Motor an und fuhr davon. Avery fragte sich, ob sie das Richtige getan hatte. Würde sich das alles als ein großer Misserfolg herausstellen – oder würde er das Beste sein, was ihr seit langer, langer Zeit passiert war?

4. KAPITEL

Sie konnte die ganze Nacht lang nicht schlafen, und so war Avery erleichtert, als sich endlich die ersten Sonnenstrahlen zeigten. Sie schlüpfte in ihren Badeanzug und ging hinunter an den Pool. Ein paar Runden würden ihr einen klaren Kopf verschaffen und vielleicht auch die nervöse Anspannung aus ihrem Körper vertreiben, die sie in der Nacht wach gehalten hatte.

Was hatte sie sich bloß gedacht gestern Abend? Sie hatte nur ein Glas Wein getrunken – ein Glas! –, und doch war sie Wachs in Marcus Price Händen gewesen. Schlimmer noch, sie hatte genau das gewollt.

Sie schwamm mit kraftvollen Zügen eine Bahn, machte am anderen Ende des Pools eine elegante Wende und schwamm zurück. Wieder und wieder, bis ihre Muskeln um Gnade flehten. Und selbst dann zwang sie sich, noch vier weitere Bahnen zu schwimmen, bevor sie aus dem Wasser stieg. Sie blieb am Rande des Pools liegen und atmete heftig. Langsam kam ihr Körper zur Ruhe, aber ihre Gedanken taten ihr diesen Gefallen nicht. Sie bekam Marcus Price immer noch nicht aus dem Kopf, und sobald sie an ihn dachte, kehrte die Anspannung der letzten Nacht zurück.

Sie schnappte sich ein Handtuch und wickelte sich darin ein, bevor sie ins Schlafzimmer zurückging, um sich zu duschen und anzuziehen. In Jeans und T-Shirt eilte sie ins Atelier hinauf und suchte ihre Malutensilien zusammen. Der Tag zeigte sich klar und hell, und sie war entschlossen, das Licht auszunutzen, von dem Marcus gemeint hatte, dass es in ihrem Bild fehlte. Mrs. Jackson wusste, dass sie nie frühstückte und würde ihr später Kaffee und einen Muffin bringen, und bis dahin wollte sie schon gut etwas geschafft haben.

Nach dem vergangenen trüben Tag waren Sonne und Wärme eine Wohltat, und Avery war voller Elan. Der neue Gärtner war bereits bei der Arbeit und dünnte die verblühten Rosen aus. Auch der Fortschritt, den er beim Unkrautjäten gemacht hatte, war deutlich zu sehen. Allmählich ähnelte der Garten ihres Vaters wieder seinen früheren Glanzzeiten, und darüber freute sich Avery, auch wenn ihr Vater seinen Lieblingsort nicht wirklich mit ihr geteilt hatte.

Die liebste Erinnerung an diesen Garten war ihr eine kleine, aber perfekte Engelsstatue aus Marmor. Ihr hatte sie als Kind das Herz ausgeschüttet, während ihre Mutter immer unerreichbarer wurde. Sybil Cullen hatte während ihrer Schwangerschaft die Krebsdiagnose erhalten und jede Behandlung abgelehnt, bis ihre Tochter geboren worden war. Erst dann hatte sie jede mögliche medizinische Hilfe akzeptiert. Und so waren ihr fünf Jahre mit der geliebten Tochter geblieben, und Avery verband die Statue immer mit ihrer Mutter. Ein paar Wochen nach der Beerdigung ihrer Mutter war Avery in diesen Garten gekommen, nur um zu entdecken, dass der Engel verschwunden war. Sie war völlig verzweifelt gewesen.

Ihr Vater hatte die Statue verkauft, denn offenbar erinnerte sie ihn in seiner Trauer zu sehr an seine Frau. Doch nachdem er seine untröstliche Tochter im Garten gesehen hatte, versuchte er alles, um die Statue zurückzubekommen. Aber die schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Erst kürzlich hatte Avery über ein Internetforum ein Board eingerichtet, um sie vielleicht doch noch zu finden. Sie würde jeden Preis dafür zahlen.

Seltsam wie das Leben so spielte, denn über dieses Forum hatte sie ihren neuen Gärtner gefunden. Als er sie kontaktierte, arbeitete er noch in den Staaten auf einer Ranch. Und erst nachdem sie Fotos vom Garten aus der Zeit ihrer Mutter ins Netz gestellt hatte, erwähnte er, dass er nach London kommen wollte und bot ihr an, ihr für einige Wochen mit dem Garten zu helfen.

Und sie stellte ihn ohne weitere Fragen ein. Von allem, was sie bisher gesehen hatte, konnte sie sagen, dass sein einziger Fehler wohl darin bestand, in der Welt umherzuziehen und sich nirgendwo fest niederzulassen. Aber das war ja auch nicht jedermanns Sache.

Avery stellte ihre Staffelei auf und machte sich an die Arbeit. Sie begann zu malen und summte leise vor sich hin.

„Sie klingen glücklich“, sagte plötzlich eine tiefe Männerstimme aus dem Gebüsch. „Das ist immer schön anzuhören.“

Ihr neuester Angestellter richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Ein Blick aus erstaunlich blauen Augen traf sie unter der Krempe eines schäbigen Hutes hervor, den vermutlich der Zoll hätte einziehen sollen. Der Gärtner war bestimmt um die sechzig und hatte den Körperbau eines Mannes, der harte, körperliche Arbeit gewöhnt war.

Er wischte sich die Hände an den abgetragenen Jeans ab und hob den Hut zum Gruß. „Guten Morgen, Miss Cullen. Wunderschöner Tag, nicht wahr?“

„Ihnen auch einen guten Morgen, Mr. Wells. Scheint, als wären Sie schon ein gutes Stück vorangekommen.“

„Bitte, nennen Sie mich Ted.“ Sein Lächeln erinnerte sie an das der Filmstars aus den Fünfzigern. Strahlend, attraktiv und mit dieser verführerischen Sorglosigkeit gemischt. „Macht Ihre Arbeit Sie immer so glücklich?“ Er wippte auf den Fersen vor und zurück.

Es ging ihn zwar im Grunde nichts an, aber aus irgendeinem Grund spürte sie das Bedürfnis, sich ihm anzuvertrauen. Sie hatte ja sonst niemanden. Und Macy wollte sie sich bestimmt nicht aufdrängen. Die hatte genug mit der Planung ihrer Hochzeit zu tun – und mit der Eröffnung ihrer Schauspielschule. Nein, Macy sollte sich nicht auch noch Gedanken darüber machen müssen, ob sich zwischen Avery und Marcus etwas entwickelte oder nicht. Und ihr neuer Gärtner schien ihr jemand zu sein, der Vertrauliches für sich behalten konnte.

„Ich habe jemanden kennengelernt.“ Sie spürte die Hitze in ihren Wangen. „Und ich weiß nicht, ob daraus etwas werden wird.“

„Und, was ist er für einer? Vertrauen Sie ihm?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Gute Frage. Ich kenne ihn kaum. Bislang kann ich nur sagen, dass er hartnäckig ist.“

„Das kann etwas Gutes sein.“

„Und etwas Schlechtes. Er will mich zum Verkauf der Kunstsammlung meines Vaters überreden und mein Nein einfach nicht akzeptieren.“

Ted schob seinen Hut zurück. „Sie haben die Sammlung hier?“

„Nein, sie ist noch in L. A.“

„Und gibt es einen speziellen Grund, warum Sie nicht verkaufen wollen? Fürchten Sie, er würde seinen Job nicht gut machen?“

Avery presste die Lippen zusammen. Warum glaubte eigentlich jeder, sie sollte die Sammlung einfach so loslassen? Verstand denn niemand, was sie ihrem Vater bedeutet hatte?

„Er arbeitet bei Waverlys. Ich habe keinerlei Zweifel an deren Professionalität, aber meine Gründe, nicht zu verkaufen, sind persönlich.“ Sie bemühte sich gar nicht erst, ihren Ärger zu verbergen.

Ted Wells ließ ein schiefes Lächeln aufblitzen. „Persönlich ist gut genug. Ich habe von Waverlys gehört, sie scheinen wirklich zu wissen, was sie tun. Wenn dieser Typ für die arbeitet, sollten Sie ihn vielleicht bitten, Ihnen bei der Suche nach dieser Statue zu helfen. Mit seinen Kontakten kann er vermutlich mehr herausfinden als Sie. Und wenn er bereit ist zu helfen, zeigt das auch, ob er einen ehrlichen Charakter hat.“

So altmodisch er sich ausdrückte, könnte Ted doch auch richtig liegen. Plötzlich bedauerte sie, dass sie gerade eben noch ihren Ärger gezeigt hatte.

„Tut mir leid, wenn ich unhöflich geklungen habe.“

„Kein Problem. Sie wollen sich nicht von der Sammlung trennen, das ist verständlich.“

„Manchmal kommt es mir so vor, als wäre mir das alles, was mir von meinem Vater geblieben ist. Er hat diese Bilder so geliebt.“

Mitgefühl stand in den Augen des Gärtners. „Und Sie glauben, er hat Sie weniger geliebt?“

Sicher, manchmal hatte sie sich ungeliebt gefühlt. Aber welches Kind tat das nicht in der ein oder anderen Phase seines Lebens? Vielleicht hatte ihr Vater es ihr nicht immer so gezeigt, wie sie es sich gewünscht hätte, ja, er war distanziert gewesen, aber eben auch ihr Vater. Tief in sich wusste sie, dass er sie geliebt hatte.

Ted bückte sich und entfernte Unkraut aus einer Blumenrabatte. „Bilder sind nur Gegenstände. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Liebe Ihres Vaters mehr war als das. Ich habe nie das Glück gehabt, Vater zu werden. Aber für den Fall hätte ich doch immer gehofft, dass meine Kinder wüssten, was auch immer geschehen würde, meine Liebe zu ihnen wäre etwas, was für immer in ihren Herzen und Gedanken bewahrt bliebe. So ist das mit der Liebe, nicht wahr?“

In Teds Worten steckte mehr als ein Körnchen Wahrheit. „Sie meinen also, ich sollte mich von der Sammlung trennen?“

Ted zuckte mit den Schultern und griff nach der Schere an seinem Gürtel. Er ließ sich mit der Antwort Zeit und beschnitt die welken Stängel einer Hortensie. „Das steht mir nicht zu. Von dem, was Sie mir erzählt haben, würde ich mal schließen, dass Ihr Vater unglücklich wäre, wenn die Bilder nicht von Leuten betrachtet werden könnten, die sie zu schätzen wissen. So, wie er es getan hat.“

Etwas Tröstendes lag in seiner bedächtigen Art zu sprechen. Avery fühlte sich, als wäre er schon immer da gewesen. Sie seufzte. „Vermutlich haben Sie recht. Aber ich weiß einfach nicht, ob ich schon dazu bereit bin.“

Ted nickte. „Sie werden es merken, wenn die Zeit reif ist. Waverlys hat einen verdammt guten Ruf. Wenn Sie sich also zum Verkauf entschließen, wird die Sammlung in den richtigen Händen sein. In der Zwischenzeit bringen Sie erst einmal Ihren jungen Mann dazu, diese Engelsstatue für Sie zu finden.“

„Er ist nicht mein junger Mann“, protestierte sie. Zumindest noch nicht, flüsterte ihr eine kleine Stimme zu. „Aber ich werde über Ihren Vorschlag nachdenken. Danke.“

„Jederzeit.“ Er lud das Unkraut und die welken Stängel in eine Schubkarre. „Wenn Sie mich brauchen, ich arbeite die nächsten Stunden im Vorgarten.“

Als er gegangen war, betrachtete Avery kritisch ihr Bild. Marcus hatte die Fehler daran absolut richtig erkannt. Mal ganz abgesehen von seiner Beobachtung, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war. Sie blickte zu der Stelle des Gartens, wo einst die Engelsstatue gestanden hatte und sah sie so deutlich vor sich, als wäre sie nicht seit neunzehn Jahren verschwunden. Die weiche, fast schon hautfarbene Tönung des Marmors, der grazile Schwung der Engelsflügel, die Art, wie er die Arme nach oben ausgestreckt hatte, als wollte er etwas Unsichtbares vom Himmel holen.

Sie griff nach ihrer Palette und begann die Farben zu mischen. Zeit verlor jede Bedeutung, als sie zu malen begann, und dem Garten wieder hinzufügte, was nie hätte verschwinden dürfen. Ganz am Rande nahm sie wahr, wie Mrs. Jackson verkündete, ihr Frühstück stünde jetzt auf der Terrasse bereit, aber sie blieb in ihrer Arbeit an dem Bild versunken.

Marcus folgte dem Weg am Haus vorbei in den Garten. Laut der Haushälterin war Avery dort und hatte seit dem Morgen an ihrem Bild gearbeitet. Nicht mal gegessen habe sie, hatte Mrs. Jackson sich beschwert – und er hatte eine Verbündete in ihr gewonnen, als er ihr versprach, dafür zu sorgen, dass Avery bestimmt zum Mittagessen hereinkäme.

Der Garten machte ihm die Jahreszeiten und die Vergänglichkeit bewusst, mehr als sein geschäftiges Leben in New York das zuließ. Manche der Pflanzen hatten das Ende ihres Zyklus erreicht, während andere das ganze Jahr über grün blieben.

Solch philosophischen Gedanken gab er sich sonst nicht hin, und sie erinnerten ihn daran, dass nichts für immer gleich blieb. Wenn man das Leben nach den Jahreszeiten einteilte, dann wäre sein Großvater jetzt in seinem Herbst. Und das bedeutete, dass Marcus nicht mehr viel Zeit hatte, ihm die Lovely Woman wiederzubeschaffen.

Was er Avery gestern gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Er hatte den Abend mit einer bestimmten Absicht begonnen und diese aus den Augen verloren, als er gemerkt hatte, wie sehr er ihre Gesellschaft genoss. Aber er konnte es sich nicht leisten, sich weiterhin so ablenken zu lassen.

Avery trat einen Schritt von ihrem Bild zurück und betrachtete es kritisch, während er sich näherte. Sie bemerkte ihn nicht, so vertieft war sie in ihre Arbeit. Er erkannte das Bild und sah ihr Talent in den Fortschritten, die sie damit gemacht hatte.

„Das sieht fantastisch aus“, sagte er und blieb neben ihr stehen.

Ein glückliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Jetzt fühlt es sich richtig an. Danke für deine Vorschläge von gestern.“

„An den hier kann ich mich gar nicht erinnern.“ Er deutete auf eine Engelsstatue, die jetzt den Mittelpunkt des Bildes bildete. „Auch wenn sie nicht hier im Garten steht, so scheint sie doch genau dort hinzugehören.“

Sie seufzte. „Das ist genau der Punkt. Sie gehört hierher.“

Sie blickte so wehmütig drein, dass sein Beschützerinstinkt sofort wieder geweckt wurde. „Und warum macht dich das so traurig?“

„Die Statue war ein Hochzeitsgeschenk an meine Eltern. Von der Familie meiner Mutter. Ich weiß nicht, wie alt die Statue wirklich war oder wo sie ursprünglich herkam. Mein Vater hat sie nach dem Tod meiner Mutter verkauft. Ich vermute, für ihn hingen zu viele schmerzliche Erinnerungen daran. Ich war damals fünf und wirklich verzweifelt, als die Statue verschwunden war.“

„Ungewöhnlich, dass einer Fünfjährigen der Verlust einer Statue so viel bedeutet.“ Ihre plötzliche Verwundbarkeit berührte ihn.

Sie zuckte mit den Schultern. „Vermutlich war ich ein ungewöhnliches Kind. Jedenfalls war ich ein einsames Kind, nur eben nicht hier draußen im Garten, da hatte ich meine Fantasie zur Gesellschaft. Meine Mutter ist fast die ganze Zeit über krank gewesen, und das letzte halbe Jahr, bevor sie starb, war ich meist ganz mir selbst überlassen.“

Seine Empörung musste sich auf seinem Gesicht gezeigt haben, denn sie redete schnell weiter.

„Versteh mich nicht falsch. Es gab genug Personal, das auf mich geachtet hat. Ich hatte ein Kindermädchen, und auch Mrs. Jackson war damals schon hier angestellt und hat immer ein Auge auf mich gehabt.“

„Und dein Vater?“

„Er hat so viel Zeit wie nur möglich mit meiner Mutter verbracht. Sie haben sich sehr geliebt.“

Marcus wandte sich ab. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass ein Paar sich so liebte, dass es darüber sein einziges Kind vergaß. Auch nicht viel besser als seine Eltern, die den Drogen so sehr verfallen waren, dass sein Großvater sich um ihn hatte kümmern müssen.

„Du hast also viel Zeit hier im Garten verbracht?“, zwang er sich zu fragen.

Avery lächelte und nickte. „Das hier war mein Wunderland. Ich habe mich mit meinen Pinseln und Farben da drüben unter dem Baum versteckt. Und wenn ich jemanden zum Reden gebraucht habe, war immer der Engel da und hat mir zugehört.“

Plötzlich verstand er, warum sie so verzweifelt über das Verschwinden der Statue gewesen war. Sie war ein Einzelkind und offenbar ein sehr einsames. Und der Engel war ihr Freund gewesen.

„Was ist denn mit der Statue geschehen?“

„Dad hat sie seinem Händler übergeben, und der hat sofort einen Käufer dafür gefunden. Und nachdem er gemerkt hat, wie traurig mich der Verlust machte, war die Statue längst wieder in anderen Händen. Und der Verkäufer hatte keine Kontaktdaten von dem, der sie gekauft hat. Ich habe keine Ahnung, wo sie jetzt ist, oder ob es sie überhaupt noch gibt.“

Sie legte Palette und Pinsel beiseite und streckte sich, ließ die Schultern kreisen, als müsste sie die verspannten Muskeln lockern. Er hätte sie am liebsten berührt, um sie zu massieren und ihre Anspannung mit etwas anderem ersetzt. Er ballte die Hände zu Fäusten und steckte sie in die Hosentaschen.

„Hast du danach gesucht?“

„Oh ja.“ Sie nickte heftig. „Dad hat die Rechnungen für alle seine Verkäufe aufgehoben, zusammen mit detaillierten Beschreibungen der verkauften Kunstwerke. Aber selbst mit sämtlichen Kopien davon und alten Fotos habe ich sie nicht aufspüren können. Ich habe Nachrichten in Internetforen hinterlassen, die sich auf Kunst und Antiquitäten spezialisiert haben, aber auch da hatte ich bislang kein Glück.“ Sie lachte. „Nur einen neuen Gärtner hab ich darüber gefunden.“

„Gärtner?“

„Ach, das ist eine lange Geschichte.“ Sie winkte ab. „Ich habe heute Morgen mit ihm über die Statue gesprochen. Und über dich.“

„Über mich?“

„Ja, Ted meinte, du wärst doch vielleicht bereit, deine Kontakte zu nutzen, um mir bei der Suche zu helfen. Ich würde jeden Preis zahlen, wenn ich sie nur wiederbekomme.“

Marcus lachte laut auf. „Regel Nummer eins bei Verhandlungen, Avery: Sag niemals, was du bereit bist zu zahlen.“

Sie wurde rot und verdrehte die Augen. „Das weiß ich, Marcus. Einem potenziellen Verkäufer würde ich das auch niemals sagen.“ Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst. „Wirst du mir helfen, meinen Engel zu finden?“

Marcus brauchte für seine Entscheidung keine drei Sekunden. Er wollte, dass sie ihm einen Gefallen schuldig war. Einen großen. Wenn sie meinte, ihm etwas zu schulden, wenn sie ihm vertraute, würde sie sich von der Kunstsammlung ihres Vaters trennen. Und er würde die Lovely Woman zurückkaufen können. Er konnte das Gesicht seines Großvaters förmlich vor sich sehen, wenn er das Bild wieder an dessen Wohnzimmerwand hängte, wo es hingehörte. Das wäre seine Art aus tiefstem Herzen danke zu sagen, für all das, was sein Großvater für ihn aufgegeben hatte. Dafür würde er alles tun, ganz egal, wie lange es dauern würde. Und da er Avery so attraktiv fand, genoss er die Aussicht darauf, all diese Zeit mit ihr zu verbringen.

„Natürlich helfe ich dir.“ Er nahm ihre Hände in seine. „Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“

Und als ihre Augen feucht aufschimmerten, voller Freude und Erleichterung, drängte er die Gewissensbisse zurück, die ihm sagten, was für ein herzloser und skrupelloser Bastard er doch war.

„Du hilfst mir? Wirklich? Oh, du weißt ja gar nicht, wie dankbar ich dir bin“, sprudelte sie hervor, während ihr Tränen über die Wangen liefen.

Er wischte die Tränen mit seinen Daumen fort und redete sich ein, dass in diesem Fall der Zweck die Mittel rechtfertigte. Sie würde ihre geliebte Statue zurückbekommen. Irgendwie. Und seine Familie bekäme das zurück, was rechtmäßig ihr gehörte.

5. KAPITEL

„Wann kannst du anfangen?“ Averys Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen.

Er lachte leise. Sie liebte es schon, wie sein Gesicht sich veränderte, wenn er lächelte, aber wenn er lachte, ließ sie das bis in die Zehenspitzen wohlig erschauern.

„Wie wäre es mit sofort?“

„Wirklich? Du hast sofort Zeit?“ Avery konnte es kaum glauben.

„Sicher. Aber wenn dein Vater schon mal kurz nach seinem Verkauf Nachforschungen angestellt und nichts herausgefunden hat, habe ich nicht allzu viel Hoffnung.“

„Ich weiß.“ Averys Aufregung bekam einen Dämpfer. „Aber vielleicht findest du ja etwas Neues heraus?“ Sie konnte die Verzweiflung in ihrer Stimme hören.

„Ich werde tun, was ich kann. Warum gehen wir nicht rein, und essen etwas zu Mittag, bevor Mrs. Jackson noch böse wird – und danach zeigst du mir die Unterlagen deines Vaters.“

„Die sind alle in seinem Arbeitszimmer. Ich kann dich gleich …“

„Avery, ich habe Mrs. Jackson versprochen, dass du etwas isst.“

„Ich habe …“ Das laute Grummeln ihres Magens unterbrach sie. Sie musste lachen. „Okay, vielleicht brauche ich doch ein Mittagessen.“

„Glaubst du?“ Er ließ sein umwerfendes Lächeln sehen und bot ihr einen Arm an. „Na, dann komm, bevor Mrs. Jackson jemanden anheuert, um mich umzubringen, weil ich nicht gut genug auf dich geachtet habe.“

Avery lachte und hakte sich bei ihm ein.

Nach dem Essen unter den strengen Blicken von Mrs. Jackson führte sie Marcus ins Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie trat an den Schreibtisch und fuhr den Computer hoch, bevor sie eine Schublade aufzog und einen mit Papieren vollgestopften Ordner auf den Tisch legte.

„Hier, das ist alles, was ich bisher gefunden habe.“ Sie deutete auf den Ordner und dann auf den altmodischen Drehstuhl ihres Vaters, damit Marcus Platz nahm. Sie öffnete die Seite des Forums, wo sie ihre Anfrage hinterlassen hatte. „Und hier ist meine Onlinesuche.“

„Du warst ja ganz schön eifrig.“ Er blätterte durch den Ordner. „Und du bist nicht weitergekommen?“

„Nein. Es ist verdammt frustrierend. Eine Weile lang habe ich geglaubt, ich hätte sie bei einem Sammler am Comer See entdeckt. Aber dann hat sich herausgestellt, dass es eine andere Statue von demselben Bildhauer war.“

„Hast du diese Infos auch im Computer?“

„Das Meiste davon. Auf jeden Fall die Beschreibungen der Statue.“ Sie beugte sich über ihn, um nach der Computermaus zu greifen, und ihre Brust berührte seinen Arm. Sie war wie elektrisiert. Ihre Haut begann zu prickeln, und ihre Brustspitzen wurden hart. Und in ihr wurde ein Verlangen wach nach … irgendetwas, irgendjemandem, nach ihm. Sie unterband den Kontakt, aber das Verlangen ließ sich nicht vertreiben. Ihre Finger zitterten, als sie nach der Maus griff und die Dateien öffnete. Dann trat sie zurück und erklärte ihm alles aus sicherer Entfernung.

Zum Glück merkte man ihrer Stimme nicht an, wie sehr sie aus dem Gleichgewicht geraten war. Was hatte dieser Kerl nur an sich, dass sie auf jede Berührung derart ansprach?

Marcus’ Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. „Ist es dir recht, wenn ich mir diese Daten kopiere? Mit meinem Laptop bin ich bei Waverlys eingeloggt und kann so vermutlich einige der Daten einfacher vergleichen und gleich im Hotel damit weiterarbeiten.“

Avery biss sich zwar auf die Lippe, konnte aber die Worte nicht zurückhalten, die sie vielleicht später noch bedauern würde. „Warum kommst du nicht mit deinem Computer hierher? Ich meine, ich weiß ja nicht, wie lange du in London bleiben willst, aber ich habe mehr als genug Zimmer und wüsste etwas Gesellschaft zu schätzen. Und immerhin hilfst du mir ja.“

Er zögerte mit einer Antwort, und Avery fühlte sich so linkisch wie ein Schuldmädchen, das seinem großen Schwarm zum ersten Mal gegenüberstand. Sie hatte idiotisch übereifrig geklungen. Und hatte sie nicht all diese Monate versucht, diesem Kerl aus dem Weg zu gehen? Und jetzt lud sie ihn zu sich ein?

„Gerne.“

Ihr Herz machte einen Satz. „Wirklich?“

Er sah sie an, und sein Blick nahm sie gefangen. „Ja, gerne.“ Er lächelte. „Ich habe zwar ein paar Meetings, aber ich habe auch noch etwas Urlaub. Und warum soll ich den nicht jetzt und hier verbringen? Lass mich das noch mit dem Büro abklären, aber in der Zwischenzeit könnte ich schon mal meine Sachen herbringen. Passt dir morgen Vormittag?“

Ob ihr das passte? Sie spürte eine Mischung aus Vorfreude und ängstlicher Erwartung. Und ob ihr das passte. Und wenn er ihr dabei helfen konnte, die Engelsstatue wiederzufinden, würde es ihr noch viel mehr passen.

Als er am nächsten Morgen wieder bei Avery auftauchte, brachte er noch einen weiteren Auftrag mit. Einen ganz persönlichen und von niemand Geringerem als Ann Richardson, der Geschäftsführerin von Waverlys.

Roark Black, einer von Waverlys Schatzjägern, war in Dubai auf den Spuren einer Sammlung, die etliche Millionen einbringen würde. Darunter war eine antike Statue aus purem Gold, die allein schon gut zweihundert Millionen Dollar wert war. Über genau diese sollte er weitere Nachforschungen anstellen und die Ergebnisse nur an Ann Richardson persönlich weiterleiten.

„Bist du sicher, dass es okay ist, wenn ich dir bei dieser Suche helfe?“, fragte Avery später am Abend, als sie im Arbeitszimmer ihres Vaters saßen.

„Das habe ich mit Ann geklärt. Und nachdem ich die Ressourcen erwähnt habe, auf die du hier Zugriff hast, war sie mehr als einverstanden. Und wer kennt das Ablagesystems deines Vaters besser als du? Wir haben wirklich Glück, dass er so viel Referenzmaterial gesammelt hat.“

Avery nickte vorsichtig, aber er konnte immer noch einen Rest von Besorgnis auf ihrem Gesicht erkennen. Konnte sie den Druck spüren, unter dem er stand? Oder seine Erleichterung, dass sie die Suche nicht öffentlich machen mussten?

„Es ist okay“, betonte er wieder. Für sich selbst ebenso sehr wie für sie.

„Aber was, wenn ich vollkommen unfähig bin?“

Trotz all ihres Geldes, trotz ihrer Stellung fehlte ihr doch jegliches Selbstbewusstsein.

„Ernsthaft. Ich meine, ich kümmere mich um ein paar Stiftungen und kleckse ein bisschen auf Leinwänden herum, aber ich bin keine Recherche-Assistentin.“

„Verkauf dich nicht unter Wert. Du bist talentiert und tust weit mehr als herumklecksen. Und selbst ich habe gehört, was du mit deinen Stiftungen schon alles erreicht hast. Du bist genau die, die ich brauche.“

Er ließ die Doppeldeutigkeit seiner letzten Worte nachhallen und merkte sofort, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

„Tja.“ Sie atmete tief durch. „Wie kann ich da ablehnen?“

Er setzte sich an den Schreibtisch, während Avery sich dem ausführlichen Katalog ihres Vaters widmete und ihn nach einem Hinweis auf die Goldherz-Statuen durchsuchte. Es dauerte nicht lange, bis sie Verweise auf einige Bücher in seinen Regalen gefunden hatte. Sie nahm sie heraus und setzte sich auf die gepolsterte Fensterbank, um sie durchzublättern. Marcus suchte derweil weiter im Internet. Sie arbeiteten gut eine Stunde in vollständigem Schweigen, bis ein leiser Laut von ihr seine Aufmerksamkeit vom Bildschirm ablenkte.

„Hast du etwas entdeckt?“

„Na ja, hier steht jede Menge über die Statuen, und wie sie aussehen und so. Aber hast du gewusst, dass auch eine Legende zu ihnen gehört?“

Marcus stand auf und setzte sich neben sie auf die Fensterbank. Sogleich hüllte ihr süßer Duft ihn ein. Und so sehr ihn auch interessierte, was sie über die Statuen herausgefunden hatte, so wollte er im Moment doch nur das Gesicht in ihren Haaren vergraben und ihren Duft einatmen.

„Lass hören.“ Er zwang sich stillzuhalten, obwohl er sie so dringend berühren wollte. Er wollte ihr über das seidige Haar streichen, wollte ihre Lippen kosten und erforschen, ob sie noch genauso köstlich waren wie Samstagnacht.

„Das Buch hier enthält die meisten Informationen über die Statuen von Rayas. Der Herrscher über das Land hat drei Statuen in Auftrag gegeben. Klingt, als wären sie wirklich wunderschön gewesen. Schau mal, hier ist ein Foto von einer.“

Sie drehte das Buch zu ihm und beugte sich dabei ein wenig in seine Richtung. Da schien es nur natürlich, den Arm um sie zu legen. Das passte perfekt, zu perfekt. Marcus musste sich auf die Seite in dem Buch konzentrieren. Auch wenn das Bild ein Farbfoto war, wurde es der Statue vermutlich nicht gerecht.

Die Figur stand auf einem Sockel aus purem Gold, und auf ihrer Brust prangte ein goldenes Herz. Die Statue der Frau war knapp siebzig Zentimeter groß und einfach atemberaubend.

„Glaubst du, dafür hat eine echte Frau Modell gestanden?“

„Und wenn, dann war sie umwerfend schön. Wenn auch ein bisschen klein für meinen Geschmack“, neckte er sie.

Avery stieß ihm spielerisch einen Ellbogen in die Seite. „Hör auf. Das ist respektlos. Ich dachte, du musst diese ganze Sache ernst nehmen.“

Selbst als sie mit ihm schimpfte, konnte er das gerade noch zurückgehaltene Lächeln auf ihren bezaubernden Lippen wahrnehmen. Und sie hatte recht. Das hier war sehr ernst. Ann war von einem Scheich von Rayas beschuldigt worden, gestohlene Ware zu verkaufen – Ware, die ihm gestohlen worden war. Falls die Statue, die Roark Black beschafft hatte, Diebesgut war, dann würde das auf alle, die mit ihm zu tun hatten, ein sehr schlechtes Licht werfen. Waverlys – und somit Ann Richardson – wäre ruiniert.

„Okay, okay, tut mir leid. Erzähl mir mehr.“

„Die Statuen wurden ursprünglich für die drei Töchter des Königs geschaffen. Sie sollten ihnen Glück in der Liebe bringen, solange die Statuen in ihren jeweiligen Palästen standen. Und der Legende nach hatten alle Königstöchter Glück in der Liebe, ebenso wie etliche Generationen nach ihnen. Dann, vor wohl einem Jahrhundert, ist eine der Statuen verschwunden – manche behaupten, sie wäre mit der Titanic im Meer versunken, aber dafür kann ich keinen Beweis finden. Mit dem Verlust der Statue erlitt dieser Zweig der Familie jede Menge Unglück – in der Liebe wie in Gelddingen. Es wird behauptet, dieser gesamte Familienzweig sei ausgestorben. Ist das nicht unglaublich traurig?“

„Ganz schön schwer zu glauben, dass dein gesamtes Lebensglück von dem Besitz einer einzigen Statue abhängt“, sagte Marcus, dem wieder einfiel, dass Avery unbedingt die Engelsstatue ihrer Kindheit zurückbekommen wollte.

Glaubte sie, ein aus Marmor geformter Engel hinge irgendwie mit ihrem Glück und Wohlergehen zusammen? Doch sicher nicht. Aber er wusste nur zu gut, was es bedeutete, ein Familienerbstück zu verlieren, und was so ein Verlust in einer Familie anrichten konnte. Vielleicht reichte die alte Legende über die Grenzen von Rayas hinaus.

6. KAPITEL

Draußen zeigten sich die ersten Sonnenstrahlen, als er aufwachte. Er hatte nur schwer in den Schlaf gefunden – aus zwei Gründen. Der eine war, dass drei Zimmer weiter Avery Cullen schlief, allein.

Der andere war, dass sie trotz weiterer intensiver Suche immer nur auf neue Sackgassen gestoßen waren.

Nachdem sie es für diesen Abend hatten gut sein lassen, hatte er noch Ann Richardson angerufen. Sie schlug vor, er sollte doch direkt mit Prinz Raif sprechen, dem Prinz von Rayas, der sie beschuldigte, mit den gestohlenen Antiquitäten zu handeln. Falls jemand die Antworten kannte, dann war es der Prinz, doch Marcus bezweifelte, dass er ihn mit offenen Armen empfangen würde, falls er überhaupt mit ihm sprechen wollte.

Zwischen Rayas und London waren nur drei Stunden Zeitunterschied, was bedeutete, er hatte gerade noch Zeit für eine kurze Dusche, bevor er den Prinzen anrufen konnte.

Ein paar Minuten später saß er im Arbeitszimmer und wählte die Nummer, die Ann ihm am Abend zuvor gegeben hatte. Es dauerte eine Weile, während er von einem Personal zum nächsten weitergereicht wurde, aber schließlich hatte er den Prinzen am Apparat.

„Guten Morgen, Hoheit. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch nehmen.“

„Sie müssen mir nicht danken, Mr. Price. Obwohl Sie sich sicher denken können, dass Waverlys zurzeit nicht mein liebstes Thema ist.“

Die klare Aussprache des Mannes deutete auf eine höhere Schulbildung, möglicherweise im Ausland und vielleicht sogar hier in Großbritannien.

„Das verstehe ich gut, glauben Sie mir. Und doch meine ich, dass Ihre Anschuldigungen unbegründet sind. Ich schaue mir die Sachlage gerade näher an und …“

„Unbegründet? Ich denke nicht. Die Goldherz-Statue meiner Familie wurde gestohlen. Und nur wenige Monate später findet Ihre Firma auf wundersame Weise ein Goldherz und will es verscherbeln. Das ist ein bisschen zu viel Zufall, finden Sie nicht? Lassen Sie mich eins ganz klar sagen: Ich bin nicht sehr beeindruckt von der Moral Ihres Arbeitgebers.“

Autor

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