Baccara Gold Band 2

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  • Erscheinungstag 26.01.2018
  • Bandnummer 0002
  • ISBN / Artikelnummer 9783733724580
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Gail Dayton, Sara Orwig, Tessa Radley

BACCARA GOLD BAND 2

1. KAPITEL

„Hey, Mike, an der Bar sitzt eine Blondine“, sagte der Barkeeper der Spätschicht im „La Jolie“, zu seinem Boss, der gerade die Treppe vom Büro herunterkam, um das mitternächtliche Chaos in seinem Club in Augenschein zu nehmen.

Micah Thomas Scott, meistens nur Mike genannt, lächelte. „An der Bar sitzt immer eine Blondine, Bruno. Warum sollte gerade diese mich interessieren?“

„Weil die Tagschicht sagte, dass sie seit Mittag da ist.“ Der schlanke junge Mann nahm sich einen Kasten Pils Royal Crown und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück.

„Ist sie angetrunken?“ Mike griff sich einen zweiten Bierkasten und folgte ihm. Die wohlhabenden ortsansässigen Gäste tranken das Zeug, als wäre es Wasser, wenn sie nicht gerade Champagner schlürften. Also musste man ständig für Nachschub sorgen.

„Das würde ich nicht sagen. Sie hatte nur ein Glas Weißwein, seit ich um sieben angefangen habe.“

Mike verstaute den Kasten unter der Bar und richtete sich stirnrunzelnd auf. „Wo ist sie?“

Bruno zeigte sie ihm. Die besagte Blondine saß allein am Ende der U-förmigen Bar, drehte den Stiel des Glases zwischen den Fingern und starrte vor sich hin. Ihr Haar fiel in lockeren Wellen auf ihre Schultern, und ihre natürliche Schönheit schien nicht durch Kosmetik betont. Oder sie benutzte Mittel, die weit teurer waren als die übliche Supermarktware.

„Hat sie es auf einen großzügigen Spender abgesehen?“ Davon ging Mike aus, und es ließ ihn kalt.

Hübsche junge Frauen, die nach Männern mit einer Midlife-Crisis Ausschau hielten, gab es in Palm Beach, Florida, scharenweise. Oder nach Männern im zweiten Frühling. Oder nach jungen Typen mit Geld. Kein Wunder, denn die meisten Einwohner der Stadt hatten mehr Geld als Verstand, was es denen mit mehr Verstand erleichterte, ihnen das Geld abzuknöpfen.

Mikes Club jedoch war erfolgreich, weil er seine Gäste vor Beutejägern bewahrte. Wer zu offensichtlich auf Goldsuche war, Mann oder Frau, wurde prompt vor die Tür gesetzt. Wenn jemand nach derartiger Begleitung suchte, konnte er oder sie in die „Leopard Lounge“ oder ins Chesterfield Hotel gehen. Im „La Jolie“, waren sie an der falschen Adresse.

„Ich weiß nicht, Boss.“ Nachdenklich mixte Bruno einen Champagnercocktail. „Vielleicht sucht sie so etwas, vielleicht auch nicht.“

Mike sah die Bestellungen durch und begann, den nächsten Drink zuzubereiten, einen schlichten Gin Tonic. „Wieso?“

Bruno zuckte mit den Schultern. „Sie kümmert sich um niemanden, sendet nicht die üblichen Signale. Sie starrt nur geradeaus.“ Er schob sein Haar aus der Stirn und blickte in dieselbe Richtung wie die Frau. „Ich glaube, sie sieht Ihren Fischen zu.“

Das große Aquarium in der Wand war das Markenzeichen eines jeden Restaurants, das Mike je besessen hatte. Er hatte ein Vermögen erwirtschaftet, indem er Lokale aufkaufte und mit Gewinn wieder verkaufte. Manchmal dachte er, dass er die Restaurants nur kaufte, um Bertha, den stattlichen südamerikanischen Zierfisch, der das Aquarium beherrschte, behalten zu können. In Mikes Wohnung war kein Platz für einen Behälter, der Berthas würdig gewesen wäre.

„Vielleicht gibt sie sich absichtlich spröde“, bemerkte Mike, „damit man sich umso mehr für sie interessiert.“

„Kann ich mir nicht vorstellen“, widersprach Bruno. „Mr. Rossiter wollte sie zu einem Drink einladen, und sie hat abgelehnt.“

„Rossiter ist verheiratet.“

„Als ob das etwas ausmachte, wenn sie es auf einen Sugar Daddy abgesehen hätte.“

„Da haben Sie vermutlich recht.“ Mike kannte eine Reihe von Frauen, denen das nichts ausmachen würde, solange der Mann spendabel war.

„Ich glaube, sie kannte ihn. Rossiter, meine ich“, fuhr Bruno fort. „Ich konnte nicht genau verstehen, was gesprochen wurde, aber es klang nicht nach der üblichen Anmache.“

Mike zog eine Augenbraue hoch. „Meinen Sie, sie wohnt hier?“

„Wer weiß? Ich habe sie noch nie bei uns gesehen, aber das will nichts heißen. Sie sitzt einfach nur da. Heute Abend ist nicht viel los, also nimmt sie niemandem den Platz weg. Ich hatte nur das Gefühl, ich müsste Sie darauf aufmerksam machen.“

„Klar. Danke, Bruno. Behalten Sie sie im Blick. Solange es keinen Ärger mit ihr gibt, kann sie von mir aus Bertha schöne Augen machen.“

Mike öffnete zwei Flaschen mexikanisches Bier für texanische Touristen, spießte Limonenscheiben auf die Gläserränder und stellte alles auf das Tablett für die Bedienung. Dann ging er durch den Türbogen in den soeben geschlossenen Essraum. Es war an der Zeit, die Tageseinnahmen zu zählen. Wenn er damit fertig war, würde auch die Bar schließen, und er würde nach Hause fahren.

Er hätte dafür einen Geschäftsführer einstellen können, aber Mike hatte seine Millionen nicht verdient, indem er wichtige Aufgaben delegierte. Anfangs hatte er alles selbst getan, er war es nicht anders gewohnt. Allerdings hatte er eine Managerin für die Tagesstunden. Mike erschien zur Spätschicht und brachte die Einnahmen eigenhändig zum Nachttresor.

Während er abrechnete, schaute er immer wieder durch das einseitig verspiegelte Fenster nach der einsamen Blondine an der Bar. Sie hatte sich nicht vom Fleck gerührt, spielte noch immer gedankenverloren mit dem fast leeren Glas. Zweimal hatte Bruno nachgefragt, ob er nachschenken sollte oder ob sie etwas essen wollte, bevor die Küche schloss. Beide Male hatte die Blondine mit einem flüchtigen Lächeln dankend abgelehnt.

Was wollte sie hier? Warum saß sie seit Stunden allein im Club? Wer war sie?

Warum kümmerte ihn das?

Nein, es kümmerte ihn nicht. Kopfschüttelnd machte Mike sich erneut an die Arbeit. Er wollte heute zu einer vernünftigen Zeit nach Hause fahren, jedenfalls nicht allzu lange nach zwei Uhr. Miss Weißwein da drüben ging ihn nichts an. Vielleicht war sie heute Abend nicht auf Begleitung aus, aber morgen war ja auch noch ein Tag.

Sherry Nyland starrte auf den letzten Schluck Wein in ihrem Glas und versuchte, sich zu klarem Denken zu zwingen. Dass sie so verwirrt war, lag nicht am Alkohol, obwohl es hieß, dessen Wirkung würde verstärkt, wenn man nichts gegessen hatte. Dennoch bezweifelte sie, dass zwei Gläser Weißwein in zwölf – sie schaute auf ihre Armbanduhr – in dreizehn Stunden für ihren Zustand verantwortlich waren, obwohl sie in all der Zeit nichts anderes zu sich genommen hatte.

Nein, Sherry war sicher, dass ihre Denklähmung auf Stress und Schock zurückzuführen war. Sie musste sich zusammenreißen, ihre nächsten Schritte planen. Sie wusste ja, was auf sie zukam.

Sie musste einen Job finden, eine Wohnung, ein neues Leben beginnen. Mit ihren vierundzwanzig Jahren hatte sie, wie die meisten Gleichaltrigen in ihren Kreisen, noch nichts Richtiges mit ihrem Leben angefangen. Ihr Vater hatte sie ermuntert, es wie ihre Freunde in Palm Beach zu halten. Immer wieder hatte er betont, dass sie keinen Job brauche, denn sie besaß einen Vermögensfonds, der ihr ein bequemes Auskommen garantierte. Und ihr Vater bestand darauf, dass sie zu Hause wohnen blieb. Kein Wunder also, dass sie nicht so recht wusste, wie man sein Leben allein organisierte. Sie hatte gedacht, ihr bliebe noch etwas Zeit, sich darauf vorzubereiten.

Wenn ihr Vater nur nicht auf die hirnverbrannte Idee gekommen wäre, seine Finanzen sanieren zu wollen. Sherry hatte geglaubt, die Zeiten verkaufter Bräute wären vorüber – und dass arrangierte Ehen einer vergangenen Ära angehörten.

Selbstverständlich hatte ihr Vater, Tug, sie nicht in ihrem Zimmer bei Wasser und trocken Brot eingesperrt, als sie sich weigerte, jenes fischmäulige Ekel mit dem mageren Hals und dem leeren Blick zu heiraten. Stattdessen hatte Tug sie tagelang abwechselnd angefleht, angeschrien und ihr alles Mögliche angedroht. Dann, als sie von einem Wochenende außerhalb nach Hause zurückkehrte, waren die Türschlösser ausgewechselt, und die Haushälterin durfte Sherry nicht mehr einlassen. Und während sie versuchte, sich Zugang zu verschaffen, wurde ihr Auto mitsamt ihrem Gepäck beschlagnahmt.

Jetzt besaß sie nichts als die Kleider am Leib und etwas über fünfzig Dollar in der Geldbörse. Zum Glück war ihr eingefallen, dass Tug im „La Jolie“ einen Kredit besaß, den er noch nicht für sie gesperrt hatte. Leider galt das nicht für ihre Kreditkarten.

Hätte der Barkeeper nicht alle fünf Minuten nachgefragt, ob sie noch etwas wünschte, hätte sie sich vielleicht in Ruhe einen Plan zurechtlegen können. Wahrscheinlich war der Mann verärgert, weil sie nicht genug konsumierte. Aber hätte sie jedes Mal einen neuen Drink bestellt, würde sie längst unterm Tresen liegen. Ich hätte etwas essen sollen, sagte sie sich. Aber sie würde nichts hinunterbekommen. Außerdem brauchte sie ihr Geld anderweitig.

„Verzeihung, Miss?“

Die tiefe männliche Stimme erschreckte sie so sehr, dass sie ihren restlichen Wein verschüttete. Sherry griff nach den Papierservietten, um die Flüssigkeit aufzutupfen, doch da geriet eine kräftige Männerhand mit schmalgliedrigen Fingern in ihr Blickfeld. Der Mann nahm ihr die Serviette ab.

„Lassen Sie nur.“

Sherry sah auf und in ein kantiges Gesicht mit freundlich zwinkernden grauen Augen und einem Lächeln auf den Lippen. Eine braune Locke hing dem Mann in die Stirn. Er trug ein schwarzes Jackett über einem makellosen weißen Hemd. Die rot gemusterte Krawatte hatte er gelockert und den obersten Hemdknopf aufgemacht. Vermutlich war er der Geschäftsführer.

„Bruno kann es wegwischen.“ Sein Ton war leicht belustigt. „Nehmen Sie ihm nicht die Arbeit weg.“

„Bruno?“, fragte Sherry verwirrt. Wenn Tug sie unbedingt an einen Mann verhökern musste, warum dann nicht an ein Prachtexemplar wie dieses?

Er wies auf den jungen schwarzhaarigen Barkeeper, den Fluch ihres Abends. Bruno grinste und winkte. Sherry wandte sich wieder dem Manager zu.

„Darf ich Ihnen ein Taxi rufen?“ Er hatte tatsächlich ein süßes Grübchen am Kinn.

„Ein Taxi?“ Wieso fiel ihr nichts weiter ein, als ständig seine Worte zu wiederholen? Es musste am Stress liegen.

„Nein danke“, gab sie schließlich zurück. „Ich fühle mich ganz wohl hier.“ Na bitte, ein vollständiger eigener Satz. Stirnrunzelnd betrachtete Sherry ihr leeres Glas. Konnte sie sich noch eins leisten? Sie war es nicht gewohnt zu rechnen.

Der Manager berührte ihre Schulter. „Hören Sie, Miss, wir schließen. Ich fürchte, ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen.“

Der Schreck stand Sherry ins Gesicht geschrieben. Wohin sollte sie gehen? Das hätte sie sich in den nutzlos verstrichenen Stunden überlegen sollen, anstatt ins Leere zu starren.

Nach Hause konnte sie nicht, so viel stand fest. Aber dies war Florida, und es war Mai. Sie würde nicht erfrieren, wenn sie am Strand schliefe. Vielleicht würde ihr die Lösung im Traum erscheinen.

„Also rufen wir Ihnen ein Taxi. Bruno …“ Der Mann gab dem Barkeeper ein Zeichen, der griff zum Telefon.

„Nein!“ Sherry glitt vom Barhocker und zwang sich zu einem Lächeln. „Wirklich, ich brauche kein Taxi.“

„Sind Sie sicher?“ Besorgt musterte der Manager sie.

„Ganz sicher.“

Sie nahm ihre Tasche vom Tresen, ein seidenes Nichts, in dem gerade eine Geldbörse, Schlüssel und ein Lippenstift Platz hatten. „Ich kann für mich selbst sorgen, müssen Sie wissen.“

Sie zwinkerte dem Mann zu und schlang sich den seidenen Tragegurt über die Schulter. Das Täschchen schlenkerte gegen ihre Hüfte, während sie scheinbar unbekümmert aus dem Lokal schlenderte.

Vielleicht hatte sie ein wenig übertrieben, aber von jetzt an würde sie für sich selbst sorgen. In den ersten zwölf Jahren ihres Lebens hatte sie um die Liebe ihrer Mutter gerungen, und in den nächsten zwölf hatte sie jeden Wunsch ihres Vaters erfüllt, damit er sie liebte. Und dies war nun das Ergebnis.

Sie überquerte die Straße zum Strand. Schluss damit, ständig anderen gefallen zu wollen. Jetzt würde sie tun, was ihr gefiel, und der Mensch werden, der sie sein wollte, sobald sie herausgefunden hatte, wie dieser Mensch aussah.

Auf jeden Fall wie jemand, der auf eigenen Füßen stand. Zwar wusste sie nicht, wie sie das anstellen sollte, aber sie war nicht dumm. Sie hatte das College besucht und einen Abschluss in Kunst vorzuweisen. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass Tug ihr ein weiteres Studium ausredete. Eine renommierte Hochschule hatte sie bereits angenommen, aber als Tug erklärte, er würde sich Sorgen machen, wenn sie so weit weg wäre, hatte sie nachgegeben. Allerdings hatte ihr Vater ihr dann auch nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet als vorher, aber die Chance war vertan.

Sherry bekam Sand in die Sandaletten und bückte sich, um sie auszuziehen. Sie blickte hoch zum Mond. Die fast volle Scheibe stand über dem Ozean. Obwohl Sherry sich ein wenig albern vorkam, blieb sie stehen, hob den Arm, an dem die Sandaletten baumelten, und flüsterte: „Ich schwöre, dass ich nie mehr zurückgehe.“

Gut, das war ziemlich vage. Aber sie wusste, was es bedeutete. Sie würde sich nie wieder von ihrem Vater beherrschen lassen, auch würde sie nicht zu einer Freundin ziehen und wie bisher gedankenlos dahinleben. Sie würde sich nicht mehr verbiegen, bloß damit sie geliebt wurde. Und wenn sie dann eben niemand liebte, würde sie es aushalten.

Juliana liebte sie. Da war sich Sherry sicher, obwohl sie erst seit dem Tod ihrer Mutter als Schwestern zusammengelebt hatten. Viele Menschen hatten überhaupt niemanden, der sie liebte. Sherry hatte 53,72 Dollar in der Tasche, einen Collegeabschluss und eine Schwester, die sie liebte. Das war eine ganze Menge. Jetzt musste sie nur noch einen Platz zum Schlafen finden.

War es richtig gewesen, sie einfach gehen zu lassen? Ungehalten schob Mike den Gedanken beiseite und versuchte, sich auf seine Papiere zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Er machte sich Sorgen um die Blondine aus der Bar.

Er hätte ihre Proteste ignorieren und ein Taxi rufen sollen. Eine Frau allein zu dieser Nachtstunde – selbst in einem so gut bewachten Ort wie Palm Beach – war gefährdet. Besonders eine so gut aussehende. Er hätte sich nicht von seinen Vorurteilen leiten lassen dürfen.

Also gut, sie war schön. Der Anblick ihrer winzigen schwarzen Tasche, die beim Hinausgehen gegen ihren süßen Po wippte, hatte ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben. Und wenn schon. Deshalb musste sie nicht auf Männerfang aus sein. Jedenfalls verdiente sie es nicht, allein da draußen in der Nacht zu sein und womöglich Ärger zu bekommen.

Dass jede Frau, mit der er sich bislang eingelassen hatte, mehr an seinem Geld als an ihm selbst interessiert war, konnte er nicht ihr zur Last legen. Wenn er sich zu ihr hingezogen fühlte, hieß das nicht automatisch, dass sie hinter seinem Geld her war.

Endlich hatte er die Abrechnung beendet, das Einzahlungsformular ausgefüllt und das Geld in die Hülle für die Bank gesteckt. Die Umsätze waren nicht schlecht für einen ruhigen Abend. Mike ging nach unten, überprüfte die Türschlösser und schaltete alle Lichter aus. Dass es so spät geworden war, lag nur an dieser Frau.

Er hätte sie zumindest zu ihrem Auto begleiten sollen. Verflixt, er hätte sich überzeugen müssen, ob sie überhaupt ein Auto dabeihatte. Vielleicht war sie zu Fuß gekommen. Das taten manche jungen Leute, besonders Touristen. Aber jetzt war es zu spät. Er musste mit seinem schlechten Gewissen leben.

Mike fuhr die wenigen Blocks zum Autoschalter der Bank, schob den Umschlag in den Nachttresor und machte sich auf den Heimweg. Er war hundemüde. Vielleicht würde er morgen etwas länger schlafen können.

Als er in den Ocean Boulevard einbog, der zu seinem Apartmenthaus führte, schaute er aufs Meer hinaus. Der Mond stand hoch am Himmel und schien auf die weißen Schaumkronen.

Und dann sah er die Frau am Strand entlangwandern. Ihr blondes Haar glänzte im Mondlicht. Um diese Nachtzeit kam kaum jemand an den Strand, zumindest nicht allein. Allerdings griff die Polizei manchmal Pärchen auf, die sich miteinander vergnügten. Was also wollte diese Frau da?

Womöglich war es gar die Blondine von vorhin? Mike verlangsamte und spähte angestrengt hinüber. Die Frau lief barfuß an der Wasserlinie über den harten Sand, die Schuhe in der Hand. Ja, sie ähnelte durchaus der Blondine.

Mike hielt nach einem Polizeiwagen Ausschau in der Hoffnung, die Angelegenheit auf die Ordnungshüter abwälzen zu können. Aber da hatte er Pech. Immerhin nahm er sich in Abwesenheit der Polizei die Freiheit, in der Gegenrichtung zu parken, um die Frau leichter abzufangen.

Er stieg aus und lief über den Strand auf sie zu. Sand rieselte ihm in die Schuhe. Wie unangenehm. Verantwortungsgefühl konnte ziemlich lästig sein. Obwohl er ihr Gesicht nicht deutlich sah, wusste er, dass es die Frau aus dem Club war. Mike erkannte die Tasche wieder. Und dazu den Po.

Als er nahe genug war, um nicht schreien zu müssen, sagte er: „Verzeihung, Miss.“

Mit einem Schrei fuhr sie herum. Im nächsten Moment flogen die Sandaletten auf ihn zu, weniger als Angriff denn aus Überraschung. Mike fing eine auf und bückte sich, um die andere hoch zu nehmen und den Sand abzuschütteln.

„Was fällt Ihnen ein?“ Unwillkürlich legte sie eine Hand auf die Brust. „Finden Sie das lustig, sich anzuschleichen und andere zu Tode zu erschrecken? Das ist heute schon das zweite Mal.“

Mike musste lächeln. Immerhin war ihre Benommenheit verflogen. Sie hatte sichtlich Angst, aber das zeigte sie nicht, sondern reagierte mit Wut. „Sagten Sie nicht, Sie könnten auf sich selbst aufpassen?“

„Geben Sie mir meine Schuhe zurück!“, fauchte sie.

„Laufen Sie hier herum, seit Sie den Club verlassen haben?“

„Was geht Sie das an? Geben Sie mir die Schuhe.“

Er behielt die Sandaletten fest in der Hand. „Ich will sichergehen, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist. Ich hätte Ihnen ein Taxi rufen sollen.“

„Ich wollte ein Stück laufen.“ Herausfordernd stemmte sie eine Hand in die Hüfte. „Geben Sie mir jetzt meine Schuhe, oder nicht?“

Mike schaute auf die Schuhe und wieder zu der Frau. „Das muss ich mir noch überlegen.“ Er streckte ihr die freie Hand hin. „Ich heiße übrigens Mike Scott.“

Sie starrte auf seine Hand wie auf eine Giftschlange. „Nichts da. Ich will meine Schuhe, Mr. Scott.“

Sein Lächeln wurde säuerlich, und er zog die Hand zurück. Er konnte ihr das Misstrauen nicht übel nehmen. „Darf ich Sie wenigstens nach Hause fahren?“

„Was ist auf einmal mit dem Taxi?“

„Ich habe kein Handy.“

Skeptisch hob sie die Augenbrauen. „Sie arbeiten in Palm Beach und haben kein Handy? Ist das ein neues Statusmerkmal?“

Er konnte nicht umhin zu lachen. „Ich habe ein Handy, nur trage ich es nicht bei mir. Ich wohne ganz in der Nähe und nehme es nicht mit zur Arbeit.“ Er wies auf sein Auto. „Kommen Sie, ich fahre Sie, wohin Sie möchten.“

„Nein danke. Geben Sie mir die Schuhe, und dann gehe ich weiter.“ Fordernd streckte sie die Hand aus.

Mike wusste nicht, weshalb er ihren Wunsch nicht erfüllte. „Warum darf ich Sie nicht nach Hause fahren?“

Ihr Blick sagte alles. „Sind Sie noch bei Trost? Ich kenne Sie doch gar nicht. Womöglich sind Sie ein Serienmörder, der meine Leiche im Sand verscharrt.“

„Wie gesagt, ich bin Mike Scott. Ich leite das ‚La Jolie‘. Dort bin ich jeden Abend, da können Sie jeden fragen. Ich bin kein Verbrecher.“ Warum konnte er nicht lockerlassen? Er verstand sich selbst nicht mehr.

„Und wen soll ich fragen, bitte schön?“ Sie breitete die Arme aus und zeigte auf den leeren Strand und die verlassenen Straßen.

Mike holte seine Brieftasche heraus und öffnete sie. „Hier, das ist meine Mom, dies sind meine Neffen.“ Er nannte die Namen der Söhne seiner Schwester und blätterte weiter. „Dies ist meine Nichte Elizabeth, das einzige Mädchen in der Horde, die Ärmste.“

„Auch Serienmörder haben Familie“, gab sie zurück, nicht mehr ganz so ungnädig.

Mike verlegte sich aufs Verhandeln. „Was muss ich tun, damit Sie einverstanden sind?“

„Überhaupt nichts.“ Noch immer hielt sie die Hand ausgestreckt.

„Warum nicht? Ich bin kein Serienmörder, ehrlich.“ Er versuchte, sein harmlosestes Gesicht aufzusetzen.

Sie seufzte. „Okay, ich glaube Ihnen, dass Sie ein netter Mann mit einer netten Familie sind. Und ich begreife nicht, weshalb Sie mit mir herumstreiten, anstatt zu Hause bei Ihrer Familie zu sein.“

„Ich bin nicht so verrückt, mit ihnen zusammenzuwohnen.“ Mike schüttelte sich theatralisch, um sie zum Lachen zu bringen. Es funktionierte nicht.

„Warum geben Sie mir nicht einfach meine Schuhe und lassen mich in Ruhe?“

„Aus Schuldgefühl.“ Es war die einzig wahre Antwort, und vermutlich keine gute. „Wenn Ihnen hier etwas passiert, fühle ich mich verantwortlich.“

Da war wieder dieser ungläubige Blick „Sind Sie nicht. Ich bin ganz allein für mich verantwortlich. Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

„Natürlich.“ Er nickte. „Aber jeder braucht hin und wieder ein wenig Hilfe.“ Das wusste er aus eigener Erfahrung. „Was wäre so schlimm daran, mein Angebot anzunehmen?“

Sie schaute ihn eine Weile stumm an. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich geb’s auf. Wer braucht schon Schuhe?“

Sie drehte sich um und ging. War er so abstoßend, dass sie lieber ein Paar sichtlich teure Schuhe aufgab, als in sein Auto zu steigen?

„Halt, warten Sie.“ Er lief hinter ihr her und wollte sie am Arm festhalten.

Doch er erwischte nur ihre Tasche.

Sie fuhr herum. „Geben Sie die Tasche her!“ Sie wollte sich auf ihn stürzen.

Mike hielt die Tasche hoch über seinen Kopf. „Was ist darin, das ich nicht sehen dürfte?“

„Alles!“ Sie griff danach, und der Inhalt fiel heraus.

„Schlüssel.“ Er hob sie auf und schob sie in die Handtasche.

„Lippenstift.“ Auch den legte er zurück.

„Brieftasche.“ Er klappte sie, nahm den Führerschein heraus und reichte ihr die Tasche. „Miss Sherry Eloise Nyland“, las er vor und machte eine leichte Verbeugung, während er sich rasch die Adresse merkte. „Es ist mir eine Ehre.“

„Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit, Sie Flegel.“ Sherry Nyland stopfte die Brieftasche in das Täschchen, machte kehrt und stapfte davon.

„Moment.“ Mike rannte ihr nach. „Brauchen Sie Ihren Führerschein nicht?“

„Nein.“

Aha. Sie wollte ihm also richtig Schuldgefühle machen. Wütend rief er: „Was haben Sie bloß? Ich will Ihnen doch nur helfen!“

„Das fragen Sie noch?“ Bebend vor Zorn wandte sie sich zu ihm um. „Ich habe Sie höflich gebeten, mir meine Sachen zurückzugeben und mich in Ruhe zu lassen, aber das will wohl nicht in Ihren Kopf. Sie stehlen meine Schuhe, packen meine Tasche und nehmen mir den Führerschein weg. Sind Sie nicht normal, oder was? Gehen Sie endlich.“

So gesehen, war sein Verhalten in der Tat unverzeihlich. Zwar hatte er ihr nur helfen wollen, aber das war gründlich schiefgelaufen.

„Es tut mir leid. Ich wollte nicht …“ Was sollte er ihr erklären? „Egal. Es tut mir leid.“

Mike stellte die Sandaletten auf den Boden und legte den Führerschein darauf. Dann ging er weg.

Regungslos sah Sherry ihm nach, bis er bei seinem Wagen war. Erst als er eingestiegen war und die Tür zugemacht hatte, nahm sie ihre Sachen an sich. Dann ging sie weiter den Strand hinunter. Mike startete und folgte ihr langsam. Als sie über die Schulter zurückblickte, hielt er an, um ihr nicht das Gefühl zu geben, dass er sie verfolgte. Aber er würde sie nicht aus den Augen lassen, bis er sie in Sicherheit wusste.

Sherry sah sich noch ein, zwei Mal nach ihm um. Plötzlich wechselte sie die Richtung und kam auf ihn zu. Mike kurbelte das Fenster herunter und wartete.

„Sie fahren auf der falschen Straßenseite“, warf sie ihm vor.

„Ich weiß. Aber hier ist ja niemand.“

„Warum tun Sie das?“ Sie hielt ihre Tasche fest umklammert.

„Ich möchte mich überzeugen, dass Ihnen nichts geschieht. Ich werde Sie nicht mehr belästigen.“

„Ihre pure Gegenwart ist eine Belästigung.“ Sherry verschränkte die Arme und sah ihn strafend an.

Mike erwiderte ihren Blick gelassen. „Das tut mir leid.“ Trotzdem würde er bleiben.

Schließlich seufzte sie. „Sie geben nicht auf.“ Es klang nicht wie eine Frage.

„Richtig. Erst, wenn ich weiß, dass Sie in Sicherheit sind.“ Gab sie endlich nach? Hoffnung keimte in ihm auf.

Mit einem noch tieferen Seufzer kam sie um das Auto herum und stieg ein. „Also gut, Sie haben gesiegt. Bringen Sie mich bitte nach Hause. Dann werden Sie ja sehen, was passiert.“

Er wollte erklären, dass es hier nicht um Siegen oder Verlieren ging, wusste aber nicht, wie. Daher fuhr er einfach los. „Wohin?“

„Das ist mir ganz egal.“

Was sollte das nun wieder heißen?

Mike warf Sherry einen besorgten Seitenblick zu, während er wendete und nach Norden fuhr zu der Adresse aus ihrem Führerschein. Nun, er würde sie einfach nach Hause bringen und fertig. Danach würde er sie nie wiedersehen. Es sei denn, sie käme noch einmal in seinen Club.

2. KAPITEL

Mike sah zu seiner Beifahrerin. Hier stimmte ganz entschieden etwas nicht. Sherry lehnte plötzlich völlig widerstandslos und schicksalsergeben an der Tür. Er sagte sich, dass er sich trotz allem richtig verhielt. Sie tat ihm leid, mit ihrem hängenden Kopf, die Hände kraftlos im Schoß, anstatt wie bisher die unsinnige kleine Tasche zu umklammern. Sie gehörte nach Hause.

Ein verwöhntes Mädchen wie Sherry Nyland nachts allein am Strand umherlaufen zu lassen wäre unverzeihlich.

Er fand die Adresse, die er sich gemerkt hatte, und bog in die Zufahrt ein. „Geben Sie mir Ihren Schlüssel.“ Mike streckte die Hand aus.

Gleichgültig und ganz ohne das Temperament, das sie am Strand gezeigt hatte, reichte sie ihm die Schlüssel. Mike stieg aus und hielt ihr die Beifahrertür auf. Sie rührte sich nicht. Er musste sie quasi aus dem Wagen und zur vorderen Veranda zerren. Dort steckte er den Schlüssel ins Schloss, doch es tat sich nichts.

Verwirrt betrachtete er den Schlüsselbund. Die anderen waren eindeutig Autoschlüssel. Erneut versuchte er es. Nichts.

„Sind Sie sicher, dass Sie hier wohnen?“ Er hielt ihr den Schlüsselbund hin.

Sie nahm ihn, ließ ihn jedoch auf den Boden fallen. „So steht es doch in meinem Führerschein, oder?“

Mike zog die Stirn kraus und läutete. Es war sehr spät, aber das war ihm allmählich egal. Er hörte das Echo in dem großen Haus. Wieder klingelte er, und wieder. Er würde so lange weitermachen, bis jemand kam.

„Ist überhaupt jemand zu Hause?“, fragte er Sherry.

Sie zuckte bloß die Achseln. Gerade als er noch einmal läuten wollte, wurde die Tür von einer zierlichen, mexikanisch aussehenden Frau im Morgenmantel einen Spaltbreit geöffnet.

Mike stellte sich vor und fügte hinzu: „Ich bringe Miss Nyland nach Hause.“

„Sie wohnt nicht mehr hier“, sagte die Frau, wobei sie es vermied, Sherry anzusehen.

„Aber diese Adresse steht in ihrem Führerschein.“ Mike wollte Sherry am liebsten an der Frau vorbei ins Haus schieben und seiner Wege gehen, doch er blieb vor der Tür stehen. Bei Sherry. Vielleicht war ihre Familie umgezogen. „Wo sind die Hausbesitzer? Ich möchte sie sprechen.“

„Sie sind nicht da.“ Die Stimme der Haushälterin zitterte, sie wirkte verängstigt.

„Schon gut, Leora“, ließ sich endlich Sherry vernehmen. „Ich will Ihnen keinen Ärger bereiten. Gehen Sie wieder schlafen.“

Jetzt sah die Frau auch Sherry an, mit Tränen in den Augen. „Es tut mir so leid, Miss Sherry. Es ist nicht richtig, dass Sie …“

„Machen Sie sich keine Vorwürfe, Leora. Ich gehe schon.“ Sie trat einen Schritt zurück, während Mike versuchte zu verstehen, was hier vorging.

„Warten Sie, ich bringe Ihnen Ihre Sachen.“ Leora huschte ins Haus und ließ die Tür angelehnt.

Sherry lehnte sich an eine Säule der Veranda. Mit schmalen Augen musterte Mike sie. Was bedeutete das alles?

„Mein Vater hat mich hinausgeworfen“, sagte Sherry niedergeschlagen.

„Weshalb? Drogen? Alkohol?“

Sie lachte bitter. „Das würde ihm nichts ausmachen. Ich könnte mein Leben verdämmern, ihm wäre es egal. Sie brauchen mir nicht zu glauben, aber ich nehme weder Drogen noch trinke ich. In den letzten vierzehn Stunden hatte ich gerade mal zwei Gläser Wein.“

„Das weiß ich. Aber dann … weshalb?“ Mike ahnte, er würde die Antwort nicht begreifen. Diese Leute – die von Geburt an Geld hatten – besaßen ihre eigene verschrobene Logik.

„Weil ich Vernon P. Griesgram III nicht heiraten wollte.“

„Wen?“

„So nenne ich ihn. Vernon Greeley. Er schwimmt im Geld. Geld regiert nämlich die Welt, müssen Sie wissen. Zumindest Tugs Welt.“

So verbittert redete Mike auch manchmal, wenn es um reiche Leute ging. „Augenblick mal. Ihr Dad hat Sie aus dem Haus geworfen, die Türschlösser ausgewechselt und der Haushälterin verboten, Sie hineinzulassen, weil Sie den Mann nicht heiraten wollten, den er für Sie vorgesehen hatte?“ Er hätte nicht geglaubt, dass so etwas heutzutage noch möglich war.

„So ist es.“

Leora erschien mit einer kleinen Sporttasche. „Ich habe mich nicht getraut, mehr einzupacken. Diese paar Sachen wird er nicht vermissen.“

Sherry umarmte die ältliche Frau. „Danke, Leora. Sie sind doch die Beste.“

„Ihre Schwester wird sich Sorgen machen“, bemerkte Leora.

„Ich rufe sie an. Ich will sie da nicht hineinziehen. Mir geht es prima.“ Sherry lächelte beruhigend, obwohl Mike annahm, dass sie alles andere empfand.

„Ich wünschte, ich könnte mehr für Sie tun“, sagte Leora noch einmal entschuldigend und verschwand im Haus.

Sherry nahm die Tasche und verließ die Veranda.

Mike folgte ihr. „Und was machen Sie jetzt?“

„Ich suche mir einen Job und eine Wohnung.“

„Ich meinte, jetzt. Heute Nacht.“

„Es ist ja schon Morgen.“

„Seien Sie nicht kindisch. Wohin wollen Sie?“

Sie zuckte die Schultern. „Mir fällt schon etwas ein.“

Mike holte tief Luft. Es war idiotisch, das wusste er genau. Kommen Sie.“ Er nahm sie beim Ellbogen und steuerte sie zu seinem Auto.

„Was ist? Lassen Sie mich los!“ Vergeblich versuchte Sherry, ihn abzuschütteln. „Reicht es nicht, dass ich mich dermaßen vor Ihnen blamiert habe?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin wirklich verrückt.“ Er öffnete seinen Kofferraum und stellte die Tasche hinein. „Aber ich nehme Sie mit zu mir.“

Sherry wich zurück. „Das kommt überhaupt nicht infrage. Geben Sie mir sofort meine Tasche zurück.“ Sie bereute bereits, mit ihm hierher gefahren zu sein.

„Seien Sie nicht albern. Wohin wollen Sie denn sonst?“ Er wedelte mit der Hand. „Steigen Sie ein.“

„Ich denke gar nicht daran.“ Sie wusste nichts von ihm, außer dass er heillos stur war und gebaut wie ein griechischer Gott. Er hatte niedliche Neffen, eine weißhaarige Mutter und arbeitete im „La Jolie“.

„Oh doch. Und jetzt hören Sie auf zu maulen, und steigen Sie ein.“ Er streckte die Hand nach ihr aus.

Sherry riss sich los. „Ist das wieder Ihr überentwickeltes Verantwortungsgefühl? Das können Sie sich sparen.“

Er stemmte die Hände in die Hüften, starrte auf die Betonplatten und seufzte entnervt. „Das würde ich wahrhaftig gern. Und viel lieber zu Hause im Bett liegen.“

Argwöhnisch zog sie die Brauen zusammen. Bislang war sie viel zu gutgläubig gewesen, das musste aufhören. Andererseits würde sie gern mit ihm gehen. Viel zu gern. Und genau deshalb durfte sie das nicht. Er konnte einfach nicht so nett sein, wie er wirkte. „Wenn ich ein Mann wäre, hätten Sie mir das nicht angeboten.“

„Wenn Sie ein Mann wären, könnten Sie sich selbst verteidigen.“

„Das kann ich so auch.“

„Klar. Ich hätte Sie ohne Weiteres vom Strand wegschleppen können, wenn ich gewollt hätte, anstatt nur …“ Leicht verlegen wies er auf ihre Handtasche. „Sie wissen schon.“

Sherry wurde rot. Das hatte es gar nicht gebraucht, sie war freiwillig mit ihm gegangen. „Dann hätte ich geschrien.“

„Und niemand hätte Sie gehört.“

Sie kamen vom Thema ab. „Also gut. Aber wenn ich vierzig wäre und übergewichtig, würden Sie mich auch dann mit nach Hause nehmen?“

„Wenn Sie keine Unterkunft hätten und hilflos wären, wie Sie sind? Ja. Das habe ich sogar schon getan. Es war allerdings ein Ehepaar. Sie wurden vor dem Club ausgeraubt und mussten sich von zu Hause Geld schicken lassen.“ Er sah sie fest an. „Wünschen Sie Beweise?“

„Bitte.“ Sie verstand ihn nicht. Sein Verhalten war überaus ungewöhnlich.

„Das ist um diese Zeit etwas schwierig.“

„Bitte erklären Sie mir, warum Sie das alles tun. Ich kann es einfach nicht einordnen.“ Sie wollte ihm ja glauben. Sein Angebot war viel reizvoller als ihre sonstigen Aussichten. Und der Reiz beruhte nicht auf seinen breiten Schultern. Oder doch?

Er schaute in die Ferne. Er begann zu sprechen, unterbrach sich, setzte erneut an. Es schien ihm schwerzufallen. „Mir ging es einmal wie Ihnen“, sagte er. „In Pensacola, vor Jahren. Ich saß auf der Straße, weil ich jemandem vertraut hatte – einem Geschäftspartner –, der sich mit meinem ganzen Besitz davongemacht hatte. Und da half mir jemand, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Daher weiß ich, wie das ist.“

Sherry spürte ihr Misstrauen schneller schwinden, als gut für sie war. „Ich kann am Strand schlafen“, wandte sie halbherzig ein.

„Können Sie nicht. Es ist gefährlich.“ Er seufzte. „Schauen Sie mal.“

Er legte die Hände auf die Hüften, und sie schaute hin – was ebenfalls nicht gut für sie war. „Es ist nur für heute Nacht. Meine Mutter wohnt bei mir nebenan. Ich würde Sie dort unterbringen, wenn es nicht so spät wäre. Sie ist nicht ganz gesund, ich möchte sie nicht wecken. Ich biete Ihnen nur ein Bad und einen Schlafplatz an. Wenn Sie wollen, auch Frühstück. Mehr nicht.“

Sie zögerte noch immer. „Sind Sie sicher?“

„Ja.“ Er wirkte erschöpft. „Kommen Sie jetzt mit? Oder muss ich wieder hinter Ihnen herlaufen?“

„Sind Sie es nicht langsam leid, hinter mir herzulaufen?“

„Ja. Sind Sie es noch nicht leid, wegzulaufen?“

Sherry sah zu Boden. „Ehrlich gesagt, ja.“ Sie war so vieles leid.

Er öffnete die Beifahrertür. „Morgen sieht alles vielleicht schon anders aus.“ Dann lächelte er.

Mike Scotts Lächeln sollte verboten werden, es konnte süchtig machen. Er bekam dabei feine Fältchen in den Augenwinkeln und ein Grübchen auf einer Seite. Nur eins, wohlgemerkt, und das war umso hinreißender.

Sherry stieg ein. Er startete und fuhr wieder weiter.

„Was sagt eigentlich Ihre Mutter zum Verhalten Ihres Vaters?“, wollte er wissen.

„Ich denke, sie hätte eine Menge zu sagen gehabt.“ Sherry lächelte in der Erinnerung. „Sie ist vor Jahren gestorben. Ich war fast zwölf. Es war ein Segelunfall. Da waren meine Eltern aber schon längst geschieden. Danach zog ich zu Tug und Bebe, das sind mein Vater und meine Stiefmutter.“

„Das tut mir leid für Sie.“

„Es ist lange her. Trotzdem danke.“

„Es ist hart, einen Elternteil zu verlieren.“

„Ich dachte, Ihre Mutter wäre …“

„Mein Vater starb vor zwei Jahren.“

„Ach so.“

Sie schwiegen eine Weile.

Schließlich sagte Sherry: „Mr. Scott …“

„Mike.“ Er warf ihr einen Seitenblick zu.

„Mike.“

Er lächelte wieder, nur leicht, aber Sherrys Reaktion war dieselbe. Sie war schlicht fasziniert.

„Was wolltest du sagen?“, fragte er.

„Ich hab’s vergessen.“ Das stimmte. Dieser Mann war ihrer Konzentration nicht zuträglich.

„Hast du Geschwister? Erwähnte die Haushälterin nicht eine Schwester?“

„Eine Halbschwester, Juliana. Sie wohnt in der Nähe. Sonst habe ich niemanden.“

„Hat Juliana denn nichts dazu gesagt? Wie alt ist sie?“

„Bald zweiundzwanzig. Aber sie weiß vermutlich gar nichts von der Sache. Tug und Bebe erzählen ihr nicht viel. Juliana ist ziemlich unselbständig.“ Sie lächelte Mike zu. „Ich dagegen komme gut allein klar.“

Mike erwiderte ihr Lächeln, sagte jedoch nichts. So fuhren sie durch die stillen, leeren Straßen. Sherry versuchte, gegen das Gefühl der Verlorenheit anzukämpfen, aber es gelang ihr nicht.

In der Parkgarage seiner Wohnanlage überlegte Mike, ob Sherry aufwachen würde, oder ob er sie ins Haus tragen musste. Er setzte seine Hoffnung auf Ersteres. Der Weg bis in den sechsten Stock war weit, auch mit Lift. Außerdem war er nicht sicher, ob er die Willenskraft besaß, sich nicht neben sie zu legen, nachdem er sie ins Bett gebracht hätte. Sie reizte ihn bereits viel zu sehr.

Sie sollte wach und widerspenstig sein, damit er einen kühlen Kopf behielt. Sie wirkte so zart und verletzlich, wie sie da zusammengerollt saß. Als würde sie hier hingehören, und das konnte nicht sein. Sie war aus Palm Beach, der Hochburg der Geldsüchtigen.

Das Klappen des Kofferraumdeckels brachte sie zu sich. Benommen öffnete sie die Tür, und Mike eilte herbei, um sie zu stützen.

„Sind wir schon da?“, murmelte sie.

„Ja.“ Er legte den Arm um ihre Mitte. Wie bezaubernd sie war, so verschlafen und unbeholfen, und der Druck ihres Arms tat ein Übriges. „Wir sind da.“

Mike brachte sie zum Lift und zu seiner Wohnung. Schon an der Tür roch er den Braten, und er fluchte leise.

Sherry zuckte zusammen und stieß sich an seinem Kinn.

„Vorsicht.“ Er führte sie zu einem Sessel und ging in die Küche, um den Herd auszuschalten. Erneut fluchte er.

„Was ist denn?“, fragte sie gähnend.

„Mom hat das Abendessen im Herd gelassen.“ Er nahm einen Topflappen und öffnete die Herdklappe. „Dabei habe ich es ihr extra verboten. Ich kann im Club essen, sie braucht nicht für mich zu kochen. Sie braucht Ruhe, verdammt. Aber nie hört sie auf mich.“

Er stellte die Auflaufform auf die Herdplatte und warf Sherry, die ihm in die Küche gefolgt war, einen Blick zu. Sie lächelte wissend. „Was gibt es da zu lachen?“

„Ich frage mich, wie oft deine Mom gesagt hat: ‚Nie hört er auf mich‘.“

Sein Unmut schmolz bei ihrem Anblick dahin. Sherry war ohnehin schön, aber wenn sie lächelte, raubte es ihm den Atem.

„Eine Million Mal, nehme ich an“, gab er zu. „Ich bin ziemlich hartnäckig.“

Sherry lachte, und ihm wurde schwindelig. „Gelinde gesagt. Ich würde dich stur nennen.“

„Kluges Kind.“

„Ich bin kein Kind mehr!“

Das sah er, und das war genau sein Problem.

Ihr Magen knurrte hörbar, und er fragte besorgt: „Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, holte er einen Teller aus dem Schrank und belud ihn mit Fleisch, Kartoffeln und Karotten.

„Da.“ Er setzte den Teller vor sie hin, dazu legte er Besteck. „Moms Aufläufe sind die besten. Und wenn niemand davon isst, wird sie gekränkt sein. Möchtest du eine Limonade dazu?“

„Danke. Warum isst du nichts, wenn es so gut schmeckt?“

Mike stellte ihr eine Dose hin, nahm sich ebenfalls eine und nahm ihr gegenüber Platz. Der Tisch zwischen Sherry und ihm bot einige Sicherheit, dachte er. Doch jetzt musste er sie ansehen, und das passte ihm auch wieder nicht, denn er tat es viel zu gern.

„Ich habe schon gegessen“, erklärte er. „Wie ich meiner Mutter sagte. Aber sie meint, sie muss mich dauernd umsorgen.“ Reden, befahl er sich, immer weiterreden. Dann merkte Sherry vielleicht nicht, wie es um ihn stand. „Ich bin der einzige Sohn. Meine beiden Schwestern sind älter als ich, sie haben keine Zeit, sich um Mom zu kümmern.“

Sherry aß mit Appetit, und er konnte keinen Blick von ihr wenden. Die Art, wie sie den Bissen von der Gabel zwischen die Lippen schob, in den Mund nahm, brachte ihn auf verbotene Gedanken. Und als sie sich mit ihrer rosigen Zungenspitze die Lippen leckte, war es fast um ihn geschehen.

„Mike.“ Sein Name klang aus ihrem Mund vollkommen vertraut.

„Ja?“ Er zwang sich, ihr in die Augen zu sehen, und nur dahin.

„Wo warst du vorhin mit deinen Gedanken?“

Er wurde rot. Dabei errötete er sonst nie. „Nirgends. Hier.“

„Komisch.“ Sie nahm einen weiteren Bissen, doch jetzt starrte er nicht hin. „Ich hätte wetten mögen, dass du ganz weit weg warst.“

„Das war wohl nur Müdigkeit.“ Er versuchte, erschöpft auszusehen. „Der Tag war lang.“

„Entschuldige.“ Ihre Wimpern warfen zarte Schatten auf ihre Wangen, als sie auf ihren Teller blickte.

„Weswegen?“

„Dass du nach deiner Arbeit noch hinter mit herlaufen musstest.“

„Ach so.“ Er war erleichtert. Er hatte schon gedacht, sie wollte sich wieder verabschieden oder sonst etwas Unüberlegtes tun. „Ich hätte es ja nicht tun müssen.“

„Es war nett von dir. Und ich bin dir dankbar dafür.“

„Nett? Ich habe mich benommen wie ein Rüpel. Ich habe dir deine Tasche entrissen.“

Sherry legte die Gabel hin. „Hör sofort auf damit. Wenn ich sage, du warst nett, dann war es so. Oder kratzt das an deinem großen Barkeeper-Ego? Du bist nett, und ich danke dir, und das wirst du gefälligst akzeptieren, okay?“

„Okay.“ Er hatte Mühe, ernst zu bleiben. Sie war hinreißend, wie ein fauchendes Kätzchen. Er wollte ihre Hand nehmen, aber er hatte ihr nichts als einen Schlafplatz versprochen. Außerdem hatte er sich geschworen, die Finger von hübschen Mädchen aus Palm Beach zu lassen. Händchenhalten war nicht erlaubt. Und mehr schon gar nicht.

„Ich halte mich eigentlich nicht für nett.“ Er trank seine Limonade aus. „Ich tue nur, was getan werden muss. Bist du fertig mit Essen?“

„Ja, danke. Es hat himmlisch geschmeckt.“

„Ich werde es Mom sagen.“ Er trug den Teller zur Spülmaschine. „Komm, ich zeige dir, wo du schlafen kannst.“

„Ich nehme die Couch“, erklärte Sherry, als er sie durchs Wohnzimmer in den hinteren Bereich der Wohnung führte. „Da passe ich besser hin als du.“

„Nicht nötig.“ Er öffnete die Tür zum kombinierten Arbeits-Gästezimmer. „Für die Matratze kann ich nicht garantieren, sie stammt von meiner Schwester. Aber besser als der Strand ist es allemal.“

„Danke.“ Sie schaute sich um und lächelte ihm zu. „Das ist wunderbar.“

Angesichts ihres Lächelns wusste Mike nichts weiter zu sagen als: „Schön, dass es dir gefällt. Dann gute Nacht.“

Hastig trat er den Rückzug an. Er musste Abstand wahren, ihr klarmachen, dass er für ihre Spielchen nicht zu haben war. Er hörte, wie ihre Tür zuging. Gut so.

Sherry erwachte aus einem Traum, in dem Mikes graue Augen sie musterten und ihr bis in die Seele schauten. Sie war so verwirrt, dass sie zunächst das Klopfen an der Wohnungstür mit dem Pochen ihres Herzens verwechselte.

Wo war Mike? Warum machte er nicht auf?

Sherry stand auf und öffnete ihre Zimmertür. Da vernahm sie Wasserrauschen. Offenbar duschte er gerade. Sie zog Shorts zu ihrem T-Shirt an, fuhr sich flüchtig durchs Haar und trat im selben Moment in den Flur wie der mit nichts als einem Handtuch bekleidete tropfnasse Mike.

Sie stieß fast mit der Nase gegen seine nasse nackte Brust. Das Brusthaar klebte ihm am Körper, und unwillkürlich folgte Sherrys Blick der dunklen Spur, die sich unter dem Rand des Handtuchs verlor. Das Tuch klaffte an der Seite auf und enthüllte die gebräunte, muskulöse Hüfte sowie einen Streifen helle Haut. Sherry konnte sich von dem Anblick nicht losreißen. Dies war das umwerfendste Exemplar der männlichen Rasse, das sie je zu Gesicht bekommen hatte.

Da ging die Tür auf, und eine zierliche weißhaarige Frau betrat langsam die Wohnung. Sie erblickte Sherry und Mike im Flur dicht voreinander stehend. Die Frau machte große Augen und setzte ein breites Lächeln auf.

„Ups.“ Wie bei einer Übeltat ertappt hielt sie sich die Hand vor den Mund. „Achtet nicht auf mich. Ich bin schon wieder weg.“ Sie drehte sich um und wollte wieder gehen.

Mike fluchte. Er lief seiner Mutter nach – denn das musste sie sein –, schaute jedoch an sich herunter. Noch einmal fluchte er, leiser dieses Mal.

„Lass sie nicht weg“, stieß er hervor und eilte in sein Zimmer.

„Warten Sie, Mrs. Scott.“ Sherry rannte hin und packte die Frau am Arm, der sich dünn und zerbrechlich anfühlte.

„Nein, nein, ich will nicht stören.“

„Aber Sie stören überhaupt nicht, Mrs. Scott.“ Sherry führte sie ins Wohnzimmer und zu einem der wuchtigen Ledersessel. „Höchstens Mike beim Duschen.“

„Verflixt.“ Mikes Mutter sah so enttäuscht aus, dass Sherry lachen musste. „Ich hoffte, er hätte ein nettes junges Ding für ein bisschen Jux und Tollerei mitgebracht.“

„Ich tolle seit Jahren nicht mehr herum.“ Mike zerrte sich ein blaues Polohemd über den Kopf, während er aus seinem Zimmer kam. Sherry hielt den Atem an, bis er seinen hinreißenden Brustkorb verhüllt hatte.

„Das solltest du aber nicht.“ Mrs. Scott drohte ihm mit dem Finger. „Sonst wirst du trübsinnig.“

„Ich bin übrigens kein nettes junges Ding“, warf Sherry ein. „Ich habe kein Zuhause, und er hat mich in der Bar aufgelesen.“

Bei dem Blick, den Mike ihr zuwarf, während er seiner Mutter einen Kuss auf die Wange gab, wurde ihr heiß.

„Du sollst doch nicht ohne deine Sauerstoffflasche aus der Wohnung gehen“, schalt er sie sanft.

„Unsinn. Die paar Meter kann ich ohne das Gerät auskommen.“

„Mom, das war ausgemacht.“

„Willst du mich nicht mit deiner heimatlosen Freundin bekannt machen?“ Sie ignorierte Mike und lächelte Sherry freundlich zu.

„Mom, das ist Sherry Nyland. Sherry – meine Mutter.“

„Freut mich sehr, Mrs. Scott.“ Sherry streckte die Hand aus, wobei sie sich in Nachtbekleidung ein wenig unpassend angezogen vorkam. Aber das gehörte wohl zu ihrem Abenteuer.

„Sagen Sie doch bitte Clara und du.“ Mikes Mutter nahm Sherrys Hand mit erstaunlich festem Griff und zog sie dann in den nebenstehenden Sessel. „Und was hältst du von meinem stattlichen Sohn?“

Sherry erwartete Protest von Mike, doch der verdrehte nur die Augen und verzog sich.

„Er ist in der Tat sehr ansehnlich“, gab Sherry zu, „und sehr nett. Übrigens, dein Auflauf war himmlisch. Mike hat mich damit gefüttert.“

„Den du gar nicht hättest machen sollen“, rief Mike aus der Küche.

„Und was hätte Sherry dann zu essen gehabt?“ Clara zwinkerte Sherry zu.

Mike streckte den Kopf herein. „Sandwiches.“

„Na bitte. Auflauf ist doch viel besser.“

Er knurrte und verschwand. Sherry versuchte, nicht zu lachen.

„Wo habt ihr zwei euch kennengelernt?“, wollte Clara jetzt wissen.

„Im ‚La Jolie‘. Er musste mich bei Geschäftsschluss hinauswerfen.“

„Nein, mal im Ernst.“

„Ich habe dich nicht hinausgeworfen“, erklärte Mike aus der Küche. „Ich sagte nur, dass wir schließen und es Zeit wäre, nach Hause zu gehen.“

Clara machte große Augen. „Bist du wirklich obdachlos? Das kann ich nicht glauben. Ein nettes Mädchen wie du?“

„Nur vorübergehend“, gab Sherry zu.

„Ihr Vater hat sie auf die Straße gesetzt“, warf Mike ein und beschrieb die Situation mit knappen Worten.

„Oh, du Ärmste.“ Clara drückte mitfühlend Sherrys Hand. „Dann ist es also abgemacht.“

„Was ist abgemacht?“ Mike erschien in der Tür. „Möchte jemand Frühstück?“

Überrascht sah Sherry auf. Er konnte sogar kochen? „Ich könnte durchaus etwas essen“, sagte sie und half Clara beim Aufstehen.

In der Küche verkündete Clara: „Sherry bleibt bei uns.“

„Das geht doch nicht“, widersprach Sherry. „Eine Nacht war wirklich genug.“

„Ich meine nicht bei Mike. Es sei denn, du willst das.“ Wieder zwinkerte Clara Sherry zu. „Du kannst nebenan bei mir wohnen, bis du etwas Eigenes findest.“

„Nein, nein, ich will mich nicht aufdrängen. Rede ihr das aus, Mike. Mike.“

Mike sah sie lange prüfend an, bis sie unruhig wurde. „Ich halte das für eine gute Idee.“

3. KAPITEL

Verblüfft starrte Sherry Mike an. Sie war der festen Überzeugung gewesen, dass er sie nur für eine Nacht beherbergen wollte. Wieso hatte er seine Meinung geändert?

Er schob Clara einen Stuhl hin.

„Hör auf, mich ständig zu umsorgen“, protestierte sie. „Ich bin nicht invalide.“

„Doch.“ Mike stemmte die Hände in die Hüften und sagte zu Sherry: „Es wäre gut, wenn jemand bei ihr wäre, während ich arbeite. Damit sie zum Beispiel nicht in meine Küche schleicht und mir einen Auflauf zubereitet.“

„Was soll ich denn den ganzen Tag anfangen?“, fragte Clara. „Untätig herumsitzen und versauern?“

„Ich muss mir einen Job suchen“, wandte Sherry ein. „Und eine Wohnung.“

„Wir sind im Club momentan unterbesetzt. Du kannst als Empfangsdame arbeiten, wenn du möchtest“, schlug Mike vor. „Am besten tagsüber, dann kannst du abends bei Mom sein.“

„Tu nicht, als wäre ich nicht da.“ Clara knuffte ihn am Arm und wandte sich dann an Sherry. „Du könntest bei mir wohnen. Wenn du ein Apartment mietest, verlangen sie Vermittlungsgebühr und Kaution und dein erstgeborenes Kind und …“

„Hey, ich bin aber nicht so schlimm“, verteidigte sich Mike. „Ich fordere kein Kind, sondern nur zwei Monatsmieten im Voraus.“

„Verwaltest du auch dieses Haus?“ Sherry war beeindruckt. Mike Scott war ein tüchtiger Mensch.

Er warf ihr einen langen Blick zu. „Ja. Der Besitzer gibt mir Ermäßigung auf die Miete, deshalb kann ich mir zwei Wohnungen leisten. Mom will nicht mit mir zusammenwohnen.“

„Männer brauchen Freiraum“, erklärte Clara entschieden. „Und Sherry braucht eine Unterkunft.“

„Okay, okay.“ Sherry lachte. „Jetzt weiß ich, woher dein Sohn seine Hartnäckigkeit hat.“

„Die braucht man bei meiner Mutter auch“, sagte Mike. „Und nun iss.“ Er stellte Clara eine Schale Müsli hin.

„Ich habe schon gefrühstückt.“ Dennoch nahm Clara einen Löffel und rührte in ihrem Müsli.

Für sich und Sherry servierte Mike Rührei und Toast. Dann goss er Kaffee ein.

„Da siehst du, wie er mich behandelt.“ Clara wies mit dem Löffel auf das Rührei. „Er lässt mich glatt verhungern. Nicht einmal ein schäbiges Ei gönnt er mir.“

„Eier sind schädlich für dich, das weißt du genau.“ Mit einer Handbewegung forderte Mike Sherry zum Hinsetzen auf. „Hör auf, dich zu beklagen.“

„Um auf mein einziges Vergnügen zu verzichten?“

Sherry begann zu essen. Das liebevolle Gezänk der beiden gefiel ihr. Im Haus der Nylands aß entweder jeder für sich, oder aber Tug und Bebe schrien sich an, bis etwas zu Bruch ging.

„Also“, begann Sherry. Sie hatten Clara ins Wohnzimmer gebracht, und Sherry half beim Aufräumen der Küche. „Wann fange ich an zu arbeiten?“

Mike öffnete die Spülmaschine. „Ich gehe meistens um sechs, folglich …“

„Ich meinte meine richtige Arbeit.“ Clara Gesellschaft zu leisten würde ihr Spaß machen. Aber dass es zu ihrer Selbstständigkeit beitrug, war fraglich. „Oder war das mit dem Job im Club nicht ernst gemeint?“

„Ich meine alles ernst, was ich sage.“ Mike sah hoch, offenbar ungehalten über ihre Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit. „Willst du wirklich heute schon anfangen? Gestern ist es reichlich spät geworden.“

„Jetzt bin ich hellwach und einsatzfähig. Oder muss ich mir erst eine Uniform kaufen?“ Hoffentlich würde ihr Geld reichen.

„Die Mitarbeiter tragen Bürokleidung.“ Er wandte sich wieder dem Geschirr zu. „Ich nehme auch Leute ohne Erfahrung und arbeite sie ein.“

„Wunderbar. Wann kann ich loslegen?“

„Sobald du etwas Anständiges angezogen hast. Wir öffnen um elf. Bis dahin kannst du dich ein bisschen mit den Gegebenheiten vertraut machen.“

Sherry schenkte ihrem neuen Boss ein strahlendes Lächeln. Die Aussichten standen gut. Auch die reichsten Milliardäre hatten klein angefangen, oder?

Mike erwiderte ihr Lächeln. „Wenn du so auf die Gäste zugehst, wirst du der Hit.“

Leora hatte für Sherry ein dunkelblaues Jerseyjackett mit einem rosafarbenen Kleid eingepackt, das würde als „Bürokleidung“ durchgehen. Mike fuhr sie zum Club und machte sie mit der Geschäftsführerin der Tagschicht bekannt.

Sherry war auf anzügliche Blicke der Kollegen gefasst, die womöglich „Jux und Tollerei“, wie Clara das nannte, zwischen ihr und dem Boss vermuteten. Doch nichts dergleichen geschah.

Mike verabredete nur mit ihr, sie nach der Arbeit abzuholen, und überließ sie ihrem Schicksal. Sherry füllte mehrere Anstellungsformulare aus, studierte das System der Platzierung der Gäste und bezog Posten an der Tür. Alice, die den Club tagsüber leitete, hatte versprochen, ihr notfalls zu helfen. Eigentlich sollte alles ohne größere Katastrophen zu bewältigen sein.

Das Lokal wurde geöffnet, und eine Schar hungriger Damen drang herein. Sherry dachte an Mikes Rat und lächelte. „Einen Vierertisch?“

Als Mike am Abend um die Straßenecke bog, wartete Sherry bereits auf ihn. Sie wirkte erschöpft, und ihre Haut glänzte von Schweiß. Er war beeindruckt. Die meisten Leute aus ihren Kreisen hätten nicht einen ganzen Tag körperlich arbeiten können. Sherry hatte durchgehalten.

Sie stieg ins Auto, streifte stöhnend die Schuhe ab und kuschelte sich in den Sitz, in dem sie am Abend zuvor eingeschlafen war. Wieso faszinierten ihn auf einmal ihre nackten Füße? Letzte Nacht war sie barfüßig gewesen, und am Morgen auch, als sie aus dem Gästezimmer kam.

Mike rieb sich über die Augen, um die Erinnerung an das Bild zu verscheuchen. Es ging nicht. Sherry saß neben ihm in ihrem ärmellosen rosafarbenen Kleid, das sich an jede Kurve ihres Körpers schmiegte. Das dunkelblaue Jackett lag auf ihrem Schoß. Er fuhr los.

„Wie ist es dir ergangen?“, erkundigte er sich.

„Ich schwöre, wenn mir noch einmal jemand die Hand tätschelt und mir erzählt, der Job sei ‚unter meiner Würde‘ und ich sollte nach Hause zu meinem Daddy und meinem Vermögensfonds gehen, fange ich an zu schreien.“ Sie blies sich eine Strähne aus der Stirn und raffte ihr Haar im Nacken zusammen. „Was meinst du, soll ich mein Haar hochstecken? Wäre das geschäftsmäßiger? Auf jeden Fall brächte es mehr Kühlung.“

Mike warf ihr einen Blick zu und zuckte die Schultern. „Ich verstehe nicht viel von Frisuren.“ So sah sie jünger, verletzlicher aus.

„Vielleicht sollte ich es abschneiden.“

„Wie du meinst.“ Er spürte ihren Blick, schaute jedoch angestrengt auf die Straße. Er musste sich Miss Nyland aus dem Sinn schlagen.

„Wie beruhigend. Die meisten Männer, die ich kenne, bekommen einen Anfall, wenn ich so etwas sage.“

„Es ist doch dein Haar.“

„Richtig.“ Sie seufzte und lehnte den Kopf an die Nackenstütze. „Ich hätte nicht gedacht, dass Empfangsdame zu sein so harte Arbeit ist.“

Mike wagte einen erneuten Blick in ihre Richtung. Sherry klang zutiefst niedergeschlagen. Er berührte tröstend ihre Hand. „Keine Sorge. Wenn dir der Job nicht liegt, hast du ja immer noch deinen Fonds.“

Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte Sherry ihn an. Er musste sich auf die Lippe beißen, um nicht zu lachen. Und dann überkam es sie. Sie setzte sich kerzengerade auf und stieß einen markerschütternden Schrei aus.

Als sie geendet hatte, steckte Mike sich den Finger ins Ohr und tat so, als müsse er sein Hörvermögen wiederherstellen. „Geht es dir jetzt besser?“

Nachdenklich legte sie den Kopf schräg. „In der Tat.“

Er grinste. „Das hast du bestimmt noch nie gemacht, wie?“

Sherry grinste zurück. „Stimmt. Mir sind Manieren eingeimpft worden. Man darf sich sinnlos betrinken, koksen bis zum Umfallen und mit dem Personal schlafen, aber niemals eine Szene machen.“ Sherry stützte die Füße aufs Armaturenbrett und wackelte mit den Zehen.

Mike heftete den Blick auf die Straße, aber erst, nachdem er ihre langen nackten Beine begutachtet hatte.

Natürlich kannte er ihre Beine. Sie hatte am Morgen Shorts getragen. Zuerst hatte er gedacht, dass sie nur das T-Shirt anhatte, bis es einmal an der Hüfte hochgerutscht war und er den Rand der weißen Shorts sah. Es waren sehr kurze Shorts und sehr lange Beine. Er schien allmählich süchtig nach diesen Beinen zu werden.

„Und, hast du?“, fragte er.

„Ob ich was habe?“ Ihre Füße standen wieder auf dem Boden, und Mike wusste nicht, ob er das begrüßen sollte.

„Mit dem Personal geschlafen.“

„Natürlich nicht!“

Er musste über ihre Entrüstung lachen, und sie boxte ihn in den Arm, genau, wie es seine Mutter immer tat.

„Oh!“ Entsetzt schlug sie sich auf den Mund. „Entschuldige. Ich wollte nicht … ich hätte nicht …“

Mikes Lachen erstarb. „Schon gut. Ich habe dich provoziert.“

„Das ist keine Rechtfertigung.“

„Du kannst mir gar nicht wehtun, egal, wie hart du zuschlägst.“

Sie warf ihm einen frechen Seitenblick zu, den er unglaublich aufregend fand. „Okay, vielleicht. Ein bisschen“, lenkte er ein. „Aber reg dich deshalb nicht auf. Mom boxt mich ständig, das hast du selbst gesehen.“

„Sie ist eine schwache alte Dame.“

„Ein tückisches Biest ist sie.“ Mike grinste. „Vielleicht solltest du lieber nicht bei ihr einziehen. Sie könnte einen schlechten Einfluss auf dich haben: Gewalttätigkeit, Einbruch, wiederholtes heimliches Kochen.“

„Du bist unmöglich.“ Aber als er in die Garage fuhr, lächelte sie.

„Ich habe deine Sachen schon bei meiner Mutter untergebracht“, erklärte er im Lift. In seiner Wohnung rief er: „Wir sind wieder da, Honey!“

Er schnupperte. Ein Glück, keine Essensgerüche. Vielleicht hatte Clara Vernunft angenommen. Sie ruhte im Liegesessel, die Augen geschlossen.

„Mom?“

Sie rührte sich nicht. Mike war unsicher, was er tun sollte. Wenn sie ihm wieder einen Streich spielte … Er eilte an ihre Seite. „Mom?“ Er nahm ihre Hand.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Sherry bang.

Unhörbar für Sherry raunte Mike seiner Mutter zu: „Wenn das wieder einer deiner Tricks ist, dann hör sofort damit auf, sonst bekommst du eine Woche lang nur Müsli.“ Keine Reaktion. Sie schien nicht einmal zu atmen. „Du wirst Sherry verschrecken, Mom. Sie denkt, dir ginge es wirklich schlecht.“

Da flatterten Claras Lider, und Mike atmete auf. Bei jedem dieser Spielchen fürchtete er, es sei echt.

Sie gähnte gekünstelt. „Meine Güte, ich bin eingeschlafen. Ihr seid schon wieder da? Sherry, Liebes, wie war dein erster Tag als Empfangsdame?“

„Ganz gut, Mrs. Scott.“

„Wie heißt das?“

Sherry lächelte strahlend, und Mike wünschte, es gälte ihm. Nein, das wünschte er nicht. Er wollte nichts weiter von ihr, als dass sie sich um seine Mutter kümmerte. Sollte sie doch die Gäste so anlächeln. Und seine Mutter.

„Clara.“

„So ist es besser.“ Sie tätschelte Sherrys Hand. „Mach dir keine Sorgen, alles wird sich einrenken.“

Sherrys Lächeln wurde noch herzlicher. „Danke, Clara.“

Mike verdrehte die Augen. „Da ihr euch so wunderbar versteht, kann ich ja zur Arbeit gehen.“

Die beiden wandten sich nicht einmal nach ihm um, als er ging.

Sherry genoss das Zusammensein mit Mikes Mutter wie schon lange nichts mehr. Jedenfalls, seit ihre Mutter gestorben war. Damals hatte sie oft gelacht, und jetzt ging es ihr genauso. Sie schauten miteinander alte Fotoalben an, und Clara erzählte von Mikes Jungenstreichen.

Schließlich legten sie die Alben auf den Teetisch. „Das war lustig“, sagte Clara. „Jetzt wird es ernst. Essenszeit.“

„Was möchtest du?“, fragte Sherry und griff zum Telefonbuch. Nachdem sie Mike mitgeteilt hatte, dass sie nicht kochen konnte, hatte er vorgeschlagen, etwas vom „La Jolie“ kommen zu lassen. Dort gab es nämlich auch Vollwertgerichte, was besonders wohlhabende ältere Gäste schätzten.

„Ich mag das Kaninchenfutter nicht“, erklärte Clara und mühte sich aus dem Sessel hoch. „Lass uns nachsehen, was die Küche hergibt.“

„Aber ich kann nicht kochen!“, rief Sherry ängstlich. „Das musste ich zu Hause nie.“

„Dann wird es Zeit, dass du es lernst.“ Clara setzte sich auf einen Stuhl in ihrer Küche. „Ich sage dir, was zu tun ist.“

Da Clara außer Atem war, lief Sherry ins Wohnzimmer zurück und holte den Sauerstoff.

„Danke, Liebes“, sagte Clara nach ein paar tiefen Atemzügen. „Abends fühle ich mich oft etwas angegriffen.“

„Ist wirklich alles in Ordnung?“ Sherry verspürte leichte Panik. Sie wollte nicht, dass Mikes Mutter etwas zustieß und ihre schöne Freundschaft endete, bevor sie begonnen hatte.

„Aber ja. Und jetzt schau nach, was wir im Gefrierfach haben.“

Während Sherry Claras Anweisungen befolgte, ein Fischfilet in der Mikrowelle auftaute und Wasser für den Reis aufsetzte, gelangte sie fast zu der Überzeugung, kochen zu können.

„Weißt du, ich will Mike nicht quälen, wenn ich so tue, als wäre ich tot“, sagte Clara plötzlich.

Überrascht sah Sherry auf. „Du hast gar nicht geschlafen?“

„Das Wasser kocht. Gib den Reis hinein, leg den Deckel auf und schalte die Hitze herunter. Ja, so ist es richtig.“ Dann seufzte Clara. „Es ist kein Spiel, sondern eine Art Übung für mich. Oder Hoffnung.“

Clara hatte Tränen in den Augen, und Sherry setzte sich neben sie.

„Ich bin es so leid“, fuhr Clara fort. „Und Roger fehlt mir so sehr. Ich möchte endlich wieder bei ihm sein. Aber ich kann Mike noch nicht allein lassen. Er ist sehr einsam.“

„Er liebt dich.“

„Ich weiß.“ Clara streichelte Sherrys Hand, als müsste sie sie trösten, und nicht umgekehrt. „Aber ich bin nur seine Mutter. Er braucht eine Frau, die ihn liebt.“

Sherry merkte, worauf Clara hinauswollte, und schüttelte den Kopf. „Die Frau bin ich nicht. Er kann mich kaum ausstehen.“

„Er mag dich, das weiß ich.“ Clara hob beschwichtigend die Hände. „Ja, ja, ich sollte mich nicht einmischen. Trotzdem, diesem verzogenen Gör könnte ich den Hals umdrehen.“ Sie machte eine entsprechende Geste. „Sie hat ihn ruiniert, musst du wissen. Und jetzt unternimmt er nicht einmal mehr einen Versuch.“

„Was ist denn passiert?“, fragte Sherry neugierig.

„Das soll er dir selbst erzählen.“ Clara winkte ab. „Sieh nach dem Fisch, er wird schnell gar.“

Sherry sagte sich, dass es sie nichts anginge, wer einst Mikes Herz gebrochen hatte. Auch seine angebliche Einsamkeit nicht. Zwar war sie ebenfalls oft einsam gewesen, doch das bedeutete nicht, dass sie mit Mike etwas gemeinsam hatte.

Das Essen schmeckte erstaunlich gut. Anschließend bettete Sherry Clara in den Fernsehsessel mit der Fernbedienung in Reichweite und räumte die Küche auf. Sie wusste nicht so recht, wie man die Spülmaschine belud. Es sah ein wenig seltsam aus, als sie fertig war, aber das Geschirr würde schon sauber werden. Clara war inzwischen über einer Comedy eingeschlafen.

Sherry blätterte gerade in einer Zeitschrift, als das Telefon klingelte. Vermutlich war es Mike, der sich nach dem Stand der Dinge erkundigen wollte.

„Bei Scott“, meldete sie sich kühl.

„Sherry? Bist du das?“ Es war nicht Mike.

„Juliana? Woher hast du diese Nummer?“ Warum rief ihre Schwester an? Sherry trug den Apparat in die Küche, um Clara nicht zu stören. „Was ist los? Hat Tug dich aufgefordert, mich zu …“

„Tug weiß nichts davon. Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht.“ Juliana klang besorgt, sie tat Sherry leid. Ihre Schwester war sanft und schüchtern und konnte an der Situation nichts ändern.

„Mir geht es gut. Woher hast du die Nummer?“

„Von einem Zettel auf Tugs Schreibtisch.“

Furcht überkam Sherry. „Und woher hat Tug die Nummer?“ Furcht überkam Sherry.

„Das weiß ich nicht. Ist das wichtig? Was ist passiert, Sherry? Warum bist du ausgezogen?“

„Ich will in der realen Welt leben, Mädchen. Findest du nicht, es wird langsam Zeit?“ Sie wechselte das Thema. „Und was machst du so?“

„Ich glaube, ich heirate.“

„Was? Wieso glaubst du das?“

„Es steht noch nicht ganz fest.“ Julianas Stimme klang verlegen. „Es ist eine von diesen arrangierten Ehen.“

Jetzt bekam Sherry wirklich Angst. Ob Tug mit Juliana ebenso verfahren wollte wie mit ihr? Juliana war zwar seine Lieblingstochter, aber sie würde ihm keinen Widerstand entgegensetzen. „Du lässt dich doch nicht etwa darauf ein?“

„Ich denke, doch. Wenn er es so will. Es handelt sich um Kurt Collier, Sherry. Zumindest würde ich gern eine Zeit lang mit ihm verlobt sein und die Zuneigung eines so tollen Mannes genießen. Falls er Zuneigung empfindet.“

Das war der Unterschied zwischen Tugs Töchtern – Juliana sollte mit dem gut aussehenden, eleganten Kurt Collier verheiratet werden, Sherry sollte den fischmäuligen, abstoßenden Vernon Griesgram bekommen.

„Sei vorsichtig, Julie. Pass auf, dass du nicht den Kopf verlierst.“

Sherry vernahm ein rauchiges Lachen. „Dafür ist es vielleicht schon zu spät. Hör mal, ich, mit so einem Mann? Da soll ich nicht den Kopf verlieren? Ich rede mir ja ständig ein, dass es nur ein Geschäft ist, aber …“

„Lass dich nicht von Tug und Bebe zu etwas zwingen. Du kannst bei mir wohnen, wenn es sein muss.“

„Danke, Sherry, aber das ist nicht nötig.“

„Und wie geht es unseren Eltern?“

„Tug war ziemlich wütend, dass du weggelaufen bist.“

Sherry war nicht direkt weggelaufen, aber sie wollte Juliana nicht mit der Wahrheit belasten. „Hat er sich inzwischen beruhigt?“

Juliana zögerte mit der Antwort. „Eigentlich nicht. Vorhin hörte ich ihn am Telefon mit jemandem über dich schimpfen. Er sagte, er wüsste, wo du bist. Deshalb habe ich mir deine Telefonnummer geholt. Wo wohnst du denn?“

„Bei einer sehr netten alten Dame, und es geht mir gut. Ehrlich.“

„Dann sieh zu, dass es so bleibt. Ruf mich mal an, ja? Schließlich bist du meine einzige Schwester.“

„Mache ich. Und du pass auf dich auf, Juliana, hörst du?“

„Du auch. Tug war furchtbar aufgebracht.“

„Ich versprech’s.“ Sherry legte auf.

Dass ihr Vater wusste, wo sie war, beunruhigte sie. Nein, es machte ihr regelrecht Angst.

Wenn Tug nun zu Claras Wohnung käme? Wenn er wütend war, konnte er fast rüpelhaft werden. Er war fähig, Clara einfach niederzurennen. Die alte Dame könnte fallen und sich etwas brechen. Außerdem hatte sie ein schwaches Herz. So ein Schreck konnte tödlich wirken. Obwohl Clara nicht leicht zu erschrecken war, wie Sherry fand. Eher würde sie vor Zorn einen Herzschlag bekommen.

Sherry musste dafür sorgen, dass Tug sie in Ruhe ließ. Sie könnte ausziehen, um Clara zu schonen, aber wie sollte sie das ohne Geld und ohne Auto machen? Wenn sie nur zunächst etwas Zeit gewinnen könnte!

In ein paar Monaten – in drei Monaten und sechzehn Tagen, genau gesagt – wurde sie fünfundzwanzig und erhielt damit Zugriff auf den Vermögensfonds von ihrer Mutter. Dann würde sie tun und lassen können, was ihr beliebte. Aber bei Tugs Unberechenbarkeit war sie nicht sicher, ob sie so lange durchhalten würde.

Die Streitigkeiten zwischen Tug und Bebe hatten in den letzten Monaten an Schärfe zugenommen. Sherry vermutete, dass es mit den dringlicher werdenden Forderungen von Gläubigern zusammenhing. Offenbar waren die beiden in Geldnot. Dennoch kauften sie weiter munter ein. Der Schein musste gewahrt bleiben. Daher war Tug wohl auf die brillante Idee gekommen, seine Tochter zu verhökern. Ein verzweifelter Versuch.

Trotzdem glaubte Sherry nicht, dass Tug zu körperlicher Gewalt greifen würde. Wenn er ihr etwas zufügte, konnte er sie nicht mehr vorteilhaft verheiraten. Mit dem Hinauswurf hatte er offenbar bezweckt, dass sie reumütig angelaufen kam und alles tat, was er wollte. Das war nicht geschehen. Welche Taktik würde er sich jetzt überlegen? Kidnapping?

Es war nicht damit zu rechnen, dass Tug seine Wahnsinnsidee aufgab. Es sei denn, Sherry wäre einfach nicht mehr erhältlich: Er könnte sie nicht mit Vernon verheiraten, wenn sie die Ehefrau eines anderen wäre.

4. KAPITEL

Kurz nach Mitternacht kam Mike nach Hause – früher als gewöhnlich, denn er wollte nach seiner Mutter und Miss Nyland schauen. Und Miss Nyland saß im Schneidersitz, in ihren winzigen weißen Shorts und einem winzigen blauen Top vor seiner Wohnungstür auf dem Boden. Hatte sie denn nichts Anständiges anzuziehen?

„Ist etwas mit Mom?“, fragte er, als er den Gang entlang auf sie zu eilte. „Ich habe dir doch Telefonnummern hinterlassen, die …“

„Ihr geht es bestens. Sie schläft wie ein Baby. Besser sogar, denn sie wacht nicht auf und schreit.“

Er ging langsamer. Einerseits wollte er so schnell wie möglich bei ihr sein, andererseits nahm er sich selbst diesen Wunsch übel. „Warum sitzt du dann hier draußen? Morgen musst du wieder arbeiten, und es ist spät, findest du nicht?“

„Nicht so spät wie letzte Nacht.“

„Stimmt.“ Mike blieb stehen und blickte auf Sherry herunter. Am liebsten hätte er sie hochgezogen, aber so hatte er mehr Abstand. „Wolltest du etwas von mir?“

Sherry holte tief Luft. Mike versagte es sich, die Bewegungen ihrer Brüste unter dem engen Top mit Blicken zu verfolgen.

„Ich muss mit dir reden“, sagte sie. „Ich möchte dir einen Vorschlag machen.“

„Das hört sich ja dramatisch an.“

Und sie sah hinreißend aus. Er wollte lächeln, aber dann hätte sie womöglich gedacht, er lache über sie. Und warum sollte er sie anlächeln? Sie war ein gut betuchtes Mädchen aus Palm Beach, das keine Ahnung vom wirklichen Leben hatte. Ihre Anwesenheit war nur vorübergehend, wie sie gesagt hatte. Eine Phase der Verwirrung, weil sie den Heiratskandidaten ihres Vaters nicht mochte. Sie würde sich einen anderen suchen, und Mike Scott wäre nicht einmal eine angenehme Erinnerung.

Aber er nahm etwas wie Angst in ihrem Blick wahr. „Na gut.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Lass uns hineingehen.“

Sherry ergriff seine Hand und ließ sich hochziehen. Er schloss auf und führte sie zum zweiten Mal in seine Junggesellenklause.

„Also, was ist los?“

„Mike?“ Nervös knetete sie ihre Hände.

„Ja?“ Was mochte sie nur quälen?

„Würdest du mich bitte heiraten?“

Mike verschlug es die Sprache. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. War dies eine verrückte Halluzination? Nein, Sherry stand noch immer da, rang die Hände und sah ihn kläglich an.

„Wie bitte?“ Er musste sich verhört haben.

„Würdest du mich heiraten?“ Sherry begann, auf und ab zu gehen. „Ich weiß, es klingt unsinnig, aber es ist die einzige Möglichkeit.“

„Um dich ins Irrenhaus zu bringen?“

„Rede nicht so mit mir.“

„Also hör mal, Honey …“

„Und nenne mich bitte nicht Honey.“

„Wieso nicht? Du hast mir gerade einen Heiratsantrag gemacht. Honey.“

Jetzt lief er auch ruhelos hin und her.

„Weil du es nicht wirklich meinst.“ Sie blieb stehen und beobachtete seine Wanderung. „Außerdem habe ich dir keinen richtigen Heiratsantrag gemacht.“

„Nicht? Komisch, für mich hat es sich so angehört. ‚Mike, würdest du mich bitte heiraten?‘ Ich wüsste nicht, wie man das sonst nennt.“

„Wenn du mir in Ruhe zuhören würdest, könnte ich dir erklären, dass es keine große Sache ist.“

„Für mich ist so etwas eine verdammt große Sache.“

„Mike, bitte …“

Ihr flehender Ton brachte ihn zur Besinnung. Er wandte sich ihr zu. Für einen so hirnverbrannten Vorschlag konnte es keine vernünftige Erklärung geben. Obwohl die Idee, sich jede Nacht an Miss Sherry Nylands reizvolle Kurven zu schmiegen, eine Menge für sich hatte.

Doch er würde ihr zuhören. Offensichtlich hatte sie ein Problem. „Gut, rede.“

„Vorhin hat Juliana mich bei deiner Mutter angerufen. Sie hatte die Nummer bei meinem Vater auf dem Schreibtisch gefunden. Ich weiß nicht, woher er sie hatte – vermutlich hat mich jemand im Club gesehen und es ihm gesagt. Trotzdem habe ich keine Ahnung, wie er an die Nummer deiner Mutter gekommen ist. Jedenfalls hat Tug die Nummer. Und die Adresse.“

Mike fluchte. Er kannte Sherrys Vater nicht, aber dass jemand, der seine Tochter auf die Straße setzte, Claras Adresse hatte, gefiel ihm ganz und gar nicht. „Was hat das damit zu tun, dass du mich heiraten willst? Ist es wegen des Geldes?“

Sherry zog die Stirn kraus. „Ich weiß nicht genau. Wahrscheinlich. So muss es sein. Weshalb sonst?“

„Warum weißt du das nicht? Entweder willst du Geld oder nicht.“ Aufgebracht trat er auf sie zu. Dieses reiche Jungvolk war doch immer gleich. Er verwünschte sie, weil sie es ihm soeben bewiesen hatte. Und er verwünschte sich, weil er sie dennoch begehrte.

Sherry wich ihm aus, wobei sie sich die Ohren zuhielt. „Du bringst mich total durcheinander. Sei still und lass es dir erklären, okay?“

Autor

Sara Orwig

Sara’s lebenslange Leidenschaft des Lesens zeigt schon ihre Garage, die nicht mit Autos sondern mit Büchern gefüllt ist. Diese Leidenschaft ging über in die Liebe zum Schreiben und mit 75 veröffentlichten Büchern die in 23 Sprachen übersetzt wurden, einem Master in Englisch, einer Tätigkeit als Lehrerin, Mutter von drei Kindern...

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