Bianca Exklusiv Band 296

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WENN DAS HERZ ENTSCHEIDEN MUSS von GREEN, CRYSTAL
Allaire wehrt sich mit allen Kräften gegen die Gefühle, die der attraktive D.J. in ihr hervorruft. Denn schon einmal wurde sie bitter enttäuscht. Und außerdem kann sie sich als Lehrerin in einer Kleinstadt eine Affäre nicht leisten - schon gar nicht mit dem Bruder ihres Exmannes …

FINDE TROST IN MEINEN ARMEN von PADE, VICTORIA
Verzweifelt bangt die erfolgreiche Innenarchitektin Ally um das Leben ihrer Mutter. Doch zum ersten Mal muss sie nicht allein mit allem fertig werden. Liebevoll steht Dr. Jake Fox ihr zur Seite. Und als er sie tröstend im Arm hält, wünscht Ally sich, dass er sie nie mehr loslässt.

BABY, LIEBE, GLÜCK ... von HARLEN, BRENDA
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  • Erscheinungstag 27.04.2018
  • Bandnummer 0296
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733889
  • Seitenanzahl 236
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Crystal Green, Victoria Pade, Brenda Harlen

BIANCA EXKLUSIV BAND 296

1. KAPITEL

Allaire Traub hatte den Mann auf dem Parkplatz gar nicht bemerkt. Es war Tori Jones, Allaires Freundin und Lehrer-Kollegin, die ihn entdeckte, als sie gemeinsam über den Schulhof der Thunder Canyon Highschool gingen. Beide trugen Schulbücher und Stapel von Heften und hatten vom kühlen Septemberwind gerötete Wangen.

„Bitte lass das den Vater einer meiner Schüler sein, der in meine Sprechstunde kommen will“, sagte Tori hoffnungsvoll.

Allaire strich sich eine blonde Haarsträhne aus den Augen und sah einen Mann von hinten, der interessiert verfolgte, wie sich die Schulband auf dem benachbarten Sportplatz zum Üben aufstellte. Er trug einen mit Fell abgesetzten Wildledermantel, der seine breiten Schultern betonte, und sein dunkelbraunes Haar war vom Wind zerzaust.

Ganz unbewusst ließ sie den Blick weiter wandern. Gut sitzende Jeans, muskulöse Beine. Er stand lässig da, wirkte selbstbewusst. Sofort meldete sich die Kunstlehrerin in ihr – zu gern hätte sie diesen gut gebauten männlichen Körper in Ton geformt und dann ihre Hände darüber gleiten lassen. Oder direkt über das Original …

Doch sie verwarf den Gedanken sofort wieder, denn eigentlich hatte sie genug von Männern. Sich zu verabreden, auszugehen, sich auf jemanden einzulassen – das kostete alles viel zu viel Energie, die sie seit ihrer Scheidung vor vier Jahren einfach nicht mehr aufbrachte.

Außerdem hatte sie sich daran gewöhnt, als Single zu leben, und es gefiel ihr gar nicht so schlecht.

Meistens.

Sie nickte Tori aufmunternd zu. „Dann hoff mal gleich mit, dass er nicht der Vater eines Problemschülers ist, sonst wird es nicht sehr spaßig.“

Ihre rotblonde Freundin zog die Nase kraus, als sie zurücklächelte. Ihre Sommersprossen und das kurze, stufig geschnittene Haar ließen sie jünger wirken als dreißig, und sie war immer topmodisch gekleidet. Man sah ihr sofort an, dass sie aus der Großstadt Denver hierher gezogen war. „Ich trenne strikt zwischen Arbeit und Vergnügen. Nur ansehen, nicht anfassen. Jedenfalls, wenn dieses Bild von einem Mann nicht direkt zu mir ins Büro marschiert und mir die Hand schütteln will.“

„Na, dann mal los …“, begann Allaire, unterbrach sich aber, als der Mann sich umdrehte.

Es war, als hätte er ihre Anwesenheit gespürt und sofort gemerkt, als sie näherkam. Aber so war es zwischen ihnen immer schon gewesen.

Wie Zwillinge, dachte Allaire, als der Mann sie anlächelte. „D. J.?“, flüsterte sie.

Lässig kam er auf sie zu.

„Wer ist D. J.?“, fragte Tori.

Gute Frage, dachte Allaire. Wer war Dalton James Traub? Sie hatte immer gedacht, sie wüsste die Antwort – als sie noch zusammen auf der Highschool und beste Freunde waren. Und auch später, als er bei ihrer Hochzeit mit seinem älteren Bruder Dax ihr Treuzeuge gewesen war.

Nach kurzem Zögern antwortete sie: „Ein Freund von mir. Einer, den ich sehr, sehr lange nicht gesehen habe.“

„Dann lass ich euch jetzt allein“, sagte Tori sofort. „Ich muss sowieso noch einen Stapel Aufsätze benoten. Ich kann es kaum abwarten, mir die ganzen Stilblüten zu notieren. Das wird ein unterhaltsamer Nachmittag.“

Allaire hatte gerade noch Zeit zu nicken, bevor ihre Freundin zu ihrem Kleinwagen eilte und sie mit D. J. allein ließ.

Nicht nur, dass sie ihn ewig nicht gesehen hatte – sie hatten auch seit zehn Jahren nicht mehr miteinander geredet. Nach der Highschool hatte er sich für ein College an der Ostküste entschieden und war aus Thunder Canyon weggezogen. Nur zu Allaires Hochzeit war er kurz zu Besuch gekommen, aber da gab es kaum Gelegenheit, ein paar persönliche Worte zu wechseln.

Nach dem College hatte er Thunder Canyon endgültig verlassen und war nur ein einziges Mal zurückgekehrt – vor fünf Jahren, zur Beerdigung seines Vaters. Das war kurz vor ihrer Scheidung von Dax gewesen. Aber auch bei diesem Anlass hatte Allaire ihn nur in der Kirche gesehen, und er war sofort danach wieder abgereist.

Dass D. J. ihr so offensichtlich aus dem Weg ging, verletzte sie, und so hatte sie nie Kontakt zu ihm aufgenommen. Insgeheim hatte sie immer gedacht, dass er für Dax Partei ergriff und ihr die Schuld am Scheitern ihrer Ehe gab, obwohl sich die beiden Brüder sonst nicht sehr nahestanden. Aber Blut war nun mal dicker als Wasser. Sie hatte sich nie bei ihm gemeldet, denn eine offene Zurückweisung von ihm hätte ihr zu wehgetan.

Als er jetzt auf sie zukam, wurde er immer langsamer, und auch seine Selbstsicherheit schien mit jedem Schritt zu schwinden.

War er wegen ihrer Scheidung befangen? Oder lag es daran, dass er – genau wie sie – nicht wusste, wie sie sich nach all den Jahren begrüßen sollten?

Je näher er kam, desto schneller schlug ihr Herz. Das war neu, und sie hatte keine Ahnung, warum sie plötzlich so auf ihn reagierte. Vielleicht war sie ja einfach nur nervös? Schließlich fiel es ihr nicht leicht, auf Menschen zuzugehen. Nachdem sie so jung geheiratet hatte, war sie ganz in der Ehe aufgegangen und hatte keine neuen Freundschaften geschlossen. Und wenn Tori sich nicht immer wieder um sie bemüht hätte, wären sie sicherlich auch nicht so schnell Freundinnen geworden.

Als D. J. vor ihr stehen blieb, sah sie sofort, dass seine Augen so wunderbar schokoladenbraun waren wie früher, dass seine Wangen sich bei Kälte immer noch röteten, und dass sein widerspenstiges dunkles Haar nach wie vor jedem Kamm widerstand.

Trotzdem war irgendetwas anders an ihm. Entscheidend anders. Er wirkte erwachsener, sein Gesicht war schmaler und hatte ausgeprägtere Züge – hohe Wangenknochen, ein markantes Kinn mit Grübchen.

Schon wieder spürte sie ihren aufgeregten Herzschlag.

„Dachte ich mir doch, dass du es bist“, sagte er. Auch seine Stimme klang tiefer und männlicher als früher. War ihr das entgangen, als sie sich bei der Beerdigung kurz begrüßt hatten?

Sein Tonfall rief ein wohliges Kribbeln in ihr hervor, das Allaire aber sofort im Keim erstickte. D. J. war der Bruder ihres Exmannes – da lief ja wohl gar nichts.

„Du bist also wieder in der Stadt.“ Na toll, etwas Schlaueres fiel ihr wohl nicht ein? Jeder hier wusste, dass Grant Clifton, der Manager des Thunder Canyon Resorts, D. J. angeboten hatte, eines seiner berühmten Steakhäuser in der luxuriösen Hotelanlage zu eröffnen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, D. J. ausgerechnet auf dem Schulparkplatz über den Weg zu laufen. Bestimmt hatte er doch jede Menge zu tun?

„Ich dachte, ich könnte mich hier mal wieder blicken lassen“, erwiderte er. „Und diesmal etwas länger als beim letzten Mal.“

Ihre Blicke trafen sich. Nach einer Weile, als sie es nicht mehr aushielt, sah Allaire schnell weg und drückte ihre Bücher fester an die Brust. Den Ausdruck in D. J.s Augen konnte sie nicht deuten. Er hatte eine Intensität, die ihr durch und durch ging. War das schon immer so gewesen?

Doch dann reichte D. J. ihr die Hand, als wären sie nur Bekannte. Die Geste wirkte viel weniger intim als der Blickkontakt. Hatte sie sich alles nur eingebildet?

Sie schüttelte seine Hand, fragte sich aber gleichzeitig, warum sie sich zur Begrüßung nicht einfach umarmten wie früher. Doch eigentlich kannte sie die Antwort schon. In all den Jahren und über die große Entfernung war die früher so selbstverständliche Vertrautheit zwischen ihnen wohl verloren gegangen.

Seine Hand war groß und rau, obwohl er eigentlich nicht körperlich arbeiten musste. Er hatte mit seiner Steakhauskette Rib Shack ein Vermögen verdient und verbrachte wahrscheinlich mehr Zeit am Schreibtisch als in der Küche.

Ein erfolgreicher Geschäftsmann also – ihr D. J., der Musterschüler, der damals zu schüchtern gewesen war, um ein Mädchen zum Abschlussball einzuladen. Daran sieht man schon, wie sehr sich die Dinge geändert haben, dachte Allaire.

Doch als er ihre Hand weiter festhielt und sie die Wärme spürte, breitete sich das Kribbeln erneut in ihr aus. Nicht nur ihre Finger schienen plötzlich zu glühen, sondern auch andere Körperregionen, an die sie schon lange keinen Gedanken mehr verschwendet hatte.

Völlig überrascht von ihrer Reaktion beschloss sie, sich wie die patente Siebenundzwanzigjährige zu benehmen, die alle Leute in der Stadt so schätzten. Obwohl sie sich selbst kaum noch an das fröhliche und optimistische Mädchen erinnerte, das sie mal gewesen war, bemühte sie sich doch ständig, diese Rolle für die Welt zu spielen.

„Dalton James Traub“, sagte sie, um unverfänglichen Smalltalk bemüht. „Was führt dich zu unserer hoch angesehenen Schule?“

D. J. hob eine Augenbraue, als ob er ihren plötzlichen Stimmungswandel durchschaute. „Am besten komme ich gleich zur Sache.“

„Tut mir leid, es ist nur, dass ich einfach nicht damit gerechnet habe … Ich dachte, du wärst im Resort drüben und hättest alle Hände voll mit dem Umbau zu tun.“

„Du musst doch gewusst haben, dass wir uns sehen, wenn ich zurückkomme.“

„Ehrlich gesagt war ich nicht sicher, dass ich dich jemals wiedersehe.“

Auf einmal wirkte er schuldbewusst, und an seinem Kiefer zuckte ein Muskel. Doch jetzt fing die Schulband mit einem besonders lauten Stück an, und man verstand sein eigenes Wort nicht mehr. D. J. machte eine Kopfbewegung in Richtung Park und nahm Allaire die Bücher ab.

Aus alter Gewohnheit fiel sie mit ihm in Gleichschritt, und auch er schien nicht vergessen zu haben, dass er neben ihr kleinere Schritte machen musste, weil sie ihm gerade mal bis zur Schulter reichte.

Sie gingen einen Hügel hinunter, hinter dem die Musik nur noch leise zu hören war. Eigentlich hätte D. J. jetzt auf ihre vorige Bemerkung reagieren können, doch er schwieg. Schon früher hatte er ihr immer aufmerksam zugehört und wunderbare philosophische Diskussionen mit ihr geführt, doch persönliche Dinge hatte er auch damals immer vor ihr verborgen gehalten.

Wie jetzt.

„Ich bin hier, um dich um einen Gefallen zu bitten“, sagte er schließlich. „Oder anders ausgedrückt, ich möchte dir ein Angebot machen.“

Da war es schon wieder, dieses Kribbeln, das sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete und Schmetterlinge in ihrem Bauch zum Flattern brachte. Hastig verschränkte sie die Arme vor der Brust, um diese Gefühle zu unterdrücken.

„Ein Angebot?“ Sie warf D. J. einen Seitenblick zu. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, warum er sich all die Jahre nie bei ihr gemeldet hatte. Andererseits kannte sie ihn gut genug – irgendwann würde er auf dieses Thema zu sprechen kommen. Wenn er überhaupt je darüber reden wollte. Jedenfalls brachte es gar nichts, ihn mit Vorhaltungen unter Druck zu setzen. Außerdem war es viel zu schön, ihn wieder in der Nähe zu haben.

Jetzt wirkte er wieder selbstbewusst, und er lächelte in sich hinein. „Es geht um Folgendes: Ich habe die Kulissen gesehen, die du für dieses Dinner-Theater gemalt hast – wie heißt die Show doch gleich?“

„Thunder Canyon Cowboys.“

Allaire wurde rot, als sie an die Touristen-Attraktion dachte, die gleich zu Beginn des Goldrausches Premiere gehabt hatte. Wie so viele Dinge, die sich in Thunder Canyon geändert hatten, seit hier in einer verlassenen Mine Gold entdeckt worden war, gab es auch zu dieser harmlosen Dinner-Show geteilte Meinungen. Die Touristen strömten nach wie vor herbei, und das Stück lief schon seit Jahren erfolgreich, aber es war kitschig und albern.

„Hast du sie gesehen?“, fragte sie verlegen.

„Ich habe mal reingeschaut.“ Sein Lächeln verriet ihr, dass er nicht lange geblieben war. „Und dabei habe ich erfahren, dass du die Kulissen gemalt hast, die definitiv das Beste an der ganzen Show sind. Wirklich beeindruckend, Allaire. Aber das wusste ich ja vorher schon.“

Jetzt war sie tatsächlich ein bisschen stolz. Sie hatte an den Kulissen hart gearbeitet. In letzter Zeit fiel es ihr schwer, so viel Zeit und Mühe in ein künstlerisches Projekt zu stecken. Früher, als sie noch Träume gehabt hatte, war das einfacher gewesen.

„Und darum geht es bei meinem Angebot“, fuhr D. J. fort. „Ich habe mich gefragt, ob du ein Wandbild für das Rib Shack malen würdest.“

Überrascht blieb sie stehen – aber nicht wegen seines Angebots, sondern weil er trotz ihrer gescheiterten Ehe mit seinem Bruder immer noch mit ihr zu tun haben wollte. Sollte er sich nicht von ihr fernhalten, wo sie es doch nicht geschafft hatte, Dax glücklich zu machen?

„Natürlich würde ich dich gut dafür bezahlen“, fügte er hinzu. „Und mir ist auch klar, dass du es nur in deiner Freizeit machen könntest.“

„Ich …“ Allaire fehlten die Worte. Während sie noch nach einer Antwort suchte, joggte das Footballteam vorbei. Die Spieler grüßten sie im Laufen, und sie sah, wie einige ihr zuzwinkerten, als sie D. J. neben ihr bemerkten.

Verlegen wandte sie sich ab. Die Reaktion der Footballer zeigte ihr nur zu deutlich, wie man über sie reden würde, weil sie hier mit einem Mann im Park stand. Schon jetzt gab es wegen ihrer gescheiterten Ehe reichlich Klatsch über sie. Was für eine Schande die Scheidung für sie gewesen war. Und dass man ausgerechnet von ihr mehr erwartet hatte.

Auf keinen Fall durfte sie für noch mehr Klatsch sorgen, indem sie sich mit dem Bruder ihres Exmannes einließ. Sonst würden alle Leute sofort sagen, dass sie es jetzt mit dem zweiten Traub versuchte, nachdem sie schon den Bruder unglücklich gemacht hatte.

Sie konnte es förmlich hören: Das Mädchen lässt einfach nicht locker. Es muss wohl unbedingt ein Traub sein …

Natürlich war ihr klar, dass D. J. ihr nur einen Job anbot, aber darum ging es ja gar nicht. Sie wollte den Klatschmäulern erst gar keinen Anlass bieten, die Gerüchteküche anzuheizen. Ihr Leben verlief in letzter Zeit angenehm und friedlich; warum sollte sie das aufs Spiel setzen?

„Ich kann dein Angebot leider nicht annehmen“, antwortete sie, obwohl es ihr einen Stich versetzte. „Danke, dass du an mich gedacht hast, aber du musst wohl jemand anderen finden.“

Als sie sah, wie D. J. daraufhin die Schultern hängen ließ, hätte sie ihm gern erklärt, warum. Schließlich war er jahrelang ihr bester Freund gewesen. Aber sie fand einfach nicht die richtigen Worte.

D. J. fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Verdammt, er hatte so gehofft, dass das Wiedersehen mit Allaire anders verlaufen würde. Sein halbes Leben lang war er vor seiner unerfüllten Liebe zu ihr geflüchtet – und er hatte wirklich geglaubt, jetzt endlich über sie hinweg zu sein.

Doch als er Allaire auf dem Parkplatz gesehen hatte, schien die Zeit stehen geblieben zu sein … Seine große Liebe war noch immer so schön. Das lange Haar hatte sie zu einem kunstvollen Knoten aufgesteckt, in dem zwei kleine Pinsel steckten. Wie damals war sie schlank, auch wenn sie ihre Figur jetzt unter einer langen, bunten Strickjacke versteckte, zu der sie einen schwarzen Rollkragenpullover, dunklen Rock und Stiefel trug. Und wie früher nahmen ihm ihre tiefblauen Augen und ihr heller Teint den Atem.

Sie sah aus, wie er sie in Erinnerung hatte – nur dass ihr Blick nicht mehr so strahlend war. Und er wusste auch, warum. Sein verdammter Bruder hatte sie verletzt.

Natürlich ahnte Allaire nicht, wie sehr D. J. seinen Bruder verachtete – für die Scheidung und für alles, was dazu geführt hatte.

Er und Allaire waren befreundet, seit sie in der Grundschule eine Klasse übersprungen und sich zu Beginn des neuen Schuljahres neben ihn gesetzt hatte. Seitdem waren sie unzertrennlich gewesen, und er hatte sich jedes Jahr mehr in sie verliebt.

Doch er ließ sich nie etwas anmerken – denn schließlich war sie seine beste Freundin, und diese Freundschaft wollte er auf keinen Fall aufs Spiel setzen, falls sie seine Liebe zurückwies.

Und dann bemerkte Dax, der in die Klasse über ihnen ging, was für ein wundervolles Mädchen sie war. Und bevor D. J. es richtig mitbekam, wickelte Dax sie mit seinem Charme ein, und es war zu spät, ihr seine Gefühle zu gestehen.

Die beiden wurden das Traumpaar der Schule. Nur D. J. stand immer in Bereitschaft, um für Allaire da zu sein, wenn der notorische Frauenheld Dax ihr das Herz brach und sie wegen einer anderen sitzen ließ. Doch erstaunlicherweise blieben die beiden zusammen und verlobten sich sogar, als Dax mit der Schule fertig war.

D. J. war am Boden zerstört, und er dachte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen. Doch dann bat Allaire ihn, bei der Hochzeit mit Dax ihr Trauzeuge zu sein.

Normalerweise hätte er ihr nie etwas abgeschlagen, aber das war zu viel verlangt. Er versuchte, sich mit einer taktvollen Ausrede aus der Affäre zu ziehen, doch Allaire ließ nicht locker. Schließlich gab er nach – was hätte er auch sonst tun sollen? Und noch immer schaffte er es nicht, ihr seine Gefühle zu gestehen. Während der Trauung lächelte er stoisch und spielte den glücklichen Schwager. Sofort danach fuhr er zurück nach Atlanta aufs College. Dort versuchte er, sein gebrochenes Herz zu kurieren und sich ein Leben aufzubauen, in dem sein Bruder und seine Schwägerin nicht vorkamen.

Zuerst stellte er sich immer noch vor, dass er für Allaire da sein und sie trösten würde, wenn sein Bruder sie fallen ließ, und rechnete damit, dann endgültig nach Hause zurückzukehren. Doch die Ehe hatte erstaunlicherweise recht lange gehalten – und damit war sein Traum von einem Leben in Thunder Canyon endgültig vorbei.

Also war D. J. in Atlanta geblieben und hatte seinen Abschluss gemacht. Um sich etwas dazuzuverdienen, hatte er in einem Steakrestaurant gearbeitet. Dort war er auf die Idee gekommen, eine neue Barbecue-Soße zu kreieren. Und nun, sechs Jahre später, besaß er bereits seine eigene Restaurant-Kette.

Jetzt war er zurückgekehrt, besser gestellt und selbstbewusster als damals. Und doch, wie die erneute Zurückweisung von Allaire bewies, noch immer nicht gut genug.

Aber du hast dich ja auch nicht mir ihr getroffen, um sie zurückzugewinnen, du Idiot. Du wolltest, dass sie die Wände im Rib Shack bemalt. Also nimm ihre Ablehnung nicht persönlich.

Als ihm klar wurde, dass Allaire immer noch vor ihm stand und ihn fragend ansah, weil er so lange schwieg, setzte er schnell ein Lächeln auf. „Schade, dass du es nicht machen kannst. Du warst meine erste Wahl.“

Und das, seit ich denken kann.

Sie malte mit der Schuhspitze kleine Kreise ins Gras. „Ich möchte schon, es ist nur, dass …“ Seufzend sah sie ihm in die Augen.

„Handelt es sich um Dax?“, fragte er sanft und versuchte, sich den Ärger über seinen älteren Bruder nicht anmerken zu lassen. „Du fragst dich, was er dazu sagen würde?“

„Es geht nicht darum, was er sagt, sondern darum, dass ich … dass wir … Es könnte merkwürdig wirken, wenn wir beide viel Zeit miteinander verbringen, wo ich doch mit Dax kaum noch rede.“

Dass zwischen Allaire und Dax Funkstille herrschte, hatten seine alten Freunde Grant, Marshall, Mitchell und Russ ihm auch schon erzählt. Seltsam, dass Menschen sich einfach ignorierten, wenn es zwischen ihnen nicht mehr gut lief – ganz gleich, ob sie mal ein Paar oder Freunde gewesen waren.

„Ich sehe ihn manchmal im Supermarkt oder auf der Straße“, fuhr Allaire fort. „Er ist nicht mehr der Alte, D. J., und ich will es nicht noch schlimmer machen.“

Die Ironie blieb D. J. nicht verborgen: Während er selbst in Atlanta als erfolgreicher Geschäftsmann das Selbstvertrauen gewonnen hatte, das ihm immer gefehlt hatte, schien es für Dax genau umgekehrt gelaufen zu sein.

Doch darüber konnte er sich nicht freuen. Schon früher hatte er ein schlechtes Gewissen gehabt, dass er Dax um sein gutes Aussehen und sein Charisma beneidete. „Ich kann verstehen, dass du Rücksicht auf Dax nehmen willst“, sagte er.

„Ehrlich?“

„Natürlich. Du hattest immer schon ein Gespür dafür, wie andere Menschen sich fühlen. Aber Dax kann gut auf sich selbst aufpassen. Ich glaube nicht, dass er sich ständig fragt, wie du darüber denkst, was er tut.“

Als sich ihr Blick verdüsterte, hätte D. J. sich am liebsten geohrfeigt. Er hatte nicht gemeint, dass Dax keinen Gedanken mehr an sie verschwendete. Niemand konnte Allaire einfach so vergessen. „Ich wollte damit sagen, dass er wahrscheinlich versucht, sein eigenes Leben zu leben“, verbesserte er sich hastig.

Sie lachte kurz auf. „Du brauchst nichts zu beschönigen. Er ist über mich hinweg – und ich über ihn. Ich hätte der Scheidung niemals zugestimmt, wenn ich ihn noch so lieben würde, wie es sich für eine Ehefrau gehört.“

D. J. atmete erleichtert auf. Lieber Himmel, er sollte besser aufhören, sich über solche Dinge Gedanken zu machen.

Vorsichtshalber steckte er seine freie Hand in die Manteltasche. Er hätte so gern Allaires Wange gestreichelt oder ihr die Haarsträhne hinters Ohr gestrichen, die im Wind flatterte. Verdammt, das bedeutete wohl, dass er immer noch etwas für sie empfand. Und nach wie vor hatte sie nicht die leiseste Ahnung.

Wollte er das alles wirklich noch einmal durchmachen? War er nach Thunder Canyon zurückgekehrt, nur um wieder der gute Freund zu werden, der niemandem auf die Füße trat und sich nie das nahm, was er wirklich wollte?

Natürlich nicht. Jetzt war er schließlich ein erfolgreicher Geschäftsmann. Und in wenigen Augenblicken würde er sich auch wieder so fühlen.

Als er weiter schwieg, lächelte Allaire ihn an, und all seine guten Vorsätze lösten sich in Luft auf. Verdammt.

„Ich habe dich wirklich vermisst“, gestand sie. „Dich und unsere endlosen Gespräche. Und dass wir stundenlang einfach so nebeneinander sitzen konnten, ohne zu reden. Du hast mir gefehlt.“

„Du hast mir auch gefehlt.“

Die Untertreibung des Jahrhunderts.

Ihr Lächeln vertiefte sich. „Na ja, wenn ich schon nicht stundenlang bei dir im Restaurant sein kann, hättest du dann vielleicht Lust, mich nach dem Tag der offenen Tür morgen in der Schule abzuholen? Ich will doch wissen, wie es dir in all den Jahren ergangen ist.“

Ein unverfängliches Treffen, dachte er. Wie nett.

„Am liebsten würde ich dich gleich heute sehen, aber ich muss vor der nächsten Vorstellung noch ein paar Stellen in den Kulissen vom Dinner-Theater ausbessern und danach dringend Arbeiten korrigieren. Aber passt dir morgen?“

„Ich hole dich ab“, versprach er. Wie früher konnte er ihr einfach nichts abschlagen.

Wie es sich eben für einen besten Freund gehörte.

Auf dem Weg zum Parkplatz sprachen sie darüber, wie es Allaires Eltern ging, wie sich Thunder Canyon durch den Goldrausch verändert hatte und über ihre Arbeit.

Und die ganze Zeit über ärgerte sich D. J. darüber, dass er sich so völlig selbstverständlich wieder in seine alte Rolle als stiller – und heimlicher – Verehrer einfand. Zwischen ihm und Allaire hatte sich nichts geändert.

Er brachte sie zu ihrem Wagen und stieg dann in seinen eigenen. Doch als er in den Rückspiegel blickte, besserte sich seine Stimmung etwas. Allaire stand noch immer neben ihrem Auto und sah in seine Richtung. Und was sich dabei auf ihrem Gesicht spiegelte, hatte er noch nie an ihr gesehen – ein nachdenkliches, sinnliches Lächeln, das man als weibliches Interesse interpretieren konnte.

Gab es vielleicht doch noch Hoffnung?

2. KAPITEL

„Es war so … merkwürdig“, erzählte Allaire, während sie einige abgeplatzte Stellen an den Kulissen ausbesserte.

Tori war es mit ihren Aufsätzen zu langweilig geworden, und sie hatte sich zu ihrer Freundin in den noch leeren Theaterraum gesellt. „Was meinst du mit merkwürdig?“, hakte sie nach.

„Na ja, ich kann es noch gar nicht so richtig einordnen“, erklärte Allaire, trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk kritisch. „D. J. war so anders als früher. Und trotzdem hat er sich kaum verändert. Verstehst du, was ich meine?“

„Nein.“

Allaire drehte sich zu Tori um, die an einem der runden Tische saß und ein Sandwich aß.

Doch bevor sie etwas sagen konnte, schüttelte ihre Freundin seufzend den Kopf. „Allaire, Allaire …“

„Was denn?“

Ungläubig hob Tori die Hände. „Ich kann es einfach nicht begreifen. Hast du wirklich nicht gemerkt, was da heute Nachmittag lief? Liebe Güte. Dabei habe ich mich extra so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht, als ich mitbekam, wie es zwischen euch knistert. Das war doch eindeutig.“

Allaire wurde klar, dass dies ein entscheidender Moment in ihrem Leben war: Entweder hörte sie Tori weiter zu – und bekam wahrscheinlich zu hören, was sie selbst schon wusste, aber nicht zugeben wollte – oder sie malte einfach weiter und tat so, als wäre sie damit zufrieden, wie die letzten Jahre ihres Lebens verlaufen waren. „Eindeutig?“, fragte sie.

„Ihr seid doch keine Kinder mehr. Und das wisst ihr beide auch – aber es kommt euch undenkbar vor … oder was weiß ich. Jedenfalls seid ihr nicht mehr das füreinander, was ihr früher mal wart, aber ihr habt Angst davor, euch mit anderen Augen zu sehen.“

Das stimmte nicht ganz. Allaire hatte auf dem Parkplatz sehr wohl gemerkt, wie breit D. J.s Schultern und wie kantig und ausdrucksstark seine Züge geworden waren. Und wie erfahren er wirkte.

Allein der Gedanke ließ es in ihrem Magen wieder kribbeln, und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Was würden die Leute denken, wenn sie wüssten, dass sie sich in D. J. verguckt hatte? Ein Traub war wohl nicht genug?

Und außerdem konnte sie geradezu hören, was ihre ältere Schwester Arianna dazu zu sagen hätte: „Wozu die Mühe? Die Liebe endet sowieso immer, ganz gleich, wie vielversprechend sie anfängt.“

Und am allerschlimmsten war der Gedanke an ihre Eltern. Mit dem Kleinstadt-Tratsch wurden sie schon fertig, aber Allaire hatte immer das Gefühl, ihnen vom Gesicht abzulesen, was sie dachten: Was war nur schiefgelaufen bei ihrer kleinen Tochter, auf die sie immer so stolz gewesen waren? In der Schule hatte sie geglänzt, aber eine glückliche Ehe brachte sie nicht zustande. Und obwohl sie nie ein Wort sagten, wusste Allaire doch ganz genau, wie enttäuscht sie von ihr waren.

„Also“, unterbrach Tori ihre Gedanken, „tu erst gar nicht so, als hättest du es nicht auch gemerkt. Wach auf, und schnuppere an den Rosen.“

„An den Rosen?“

„Oder was auch immer. Versuch nicht, das Thema zu wechseln. Es ist doch nicht schlimm, wenn man sich für jemanden interessiert. Dass du geschieden bist, macht dich nicht zu einer Versagerin, für die du dich offensichtlich hältst.“

„Aber es stimmt schon, was die Leute sagen.“

„Wieso denn? Verlangen sie etwa ausgerechnet von dir, perfekt zu sein? Dann wärst du der einzige Mensch auf der Welt.“ Tori steckte ihr Sandwich in die Papiertüte zurück. „Du darfst nicht zulassen, dass andere Menschen über dein Leben bestimmen.“

„Tu ich ja auch nicht.“ Doch leider hatte Tori genau den wunden Punkt getroffen. Allaire war in Thunder Canyon geboren und aufgewachsen – hier kannte sie jeder. Und alle hatten Erwartungen in sie gesteckt. Früher war ihr das egal gewesen – schließlich hatte sie geglaubt, alle Ansprüche erfüllen zu können. Doch seit ihrer Scheidung hatte ihr Selbstbewusstsein einen Knacks bekommen.

Sie legte ihren Pinsel weg, sprang von der Bühne, setzte sich zu Tori an den Tisch und zog ihre Patchworktasche auf den Schoß.

„D. J. war mein bester Freund.“ Nach kurzem Suchen förderte sie ein kleines Fotoalbum zutage. Gleich auf der ersten Doppelseite lachten D. J. und Dax sie von ihren Schulabschlussbildern an. Beide trugen festliche Anzüge, doch es war deutlich zu sehen, dass Dax sich in seinem sehr wohlfühlte, während D. J. am liebsten die Krawatte gelockert und sich aus dem Bild geduckt hätte.

„Wow. Das ist dein Ex?“, fragte Tori und zeigte auf Dax.

Kein Wunder, dass sie damals auf den älteren Bruder geflogen war. Neben Dax hatte D. J. immer unscheinbar gewirkt.

Was also war jetzt anders? War er einfach über die Jahre reifer geworden, dass er jetzt so viel Männlichkeit ausstrahlte?

„Ja, das ist Dax“, erklärte Allaire. „Ihm gehört der Motorradladen in der Nähe des Friseursalons. Früher ist er mal Rennen gefahren. Er sieht auch ganz wie ein Rennfahrer aus, was?“

„Du hast einen guten Geschmack.“

Allaire zuckte die Schultern, doch Tori studierte bereits D. J.s Foto.

„Ah“, sagte sie. „Der Junge von nebenan.“

Ihre Bemerkung stimmte Allaire etwas wehmütig. Sie und D. J. hatten so viel verloren, und sie wünschte es sich von ganzem Herzen zurück. Freunde wie er wuchsen schließlich nicht auf Bäumen.

Aber vielleicht gab es ja eine Möglichkeit, ihre Freundschaft wieder aufleben zu lassen. Heute hatten sie doch schon einen ganz guten Anfang gemacht. Konnte es nicht wieder so werden wie früher – trotz allem, was inzwischen passiert war?

„Tja, scheint mir ganz so, als hättest du endgültig mit Dax abgeschlossen und heute zu D. J. gefunden“, bemerkte Tori lapidar.

Erschrocken zuckte Allaire zusammen – als hätte die Wahrheit ihr einen elektrischen Schlag versetzt. Dennoch widersprach sie. „Falsch. Und selbst wenn du recht hättest – ich würde nie mit dem Bruder meines Exmannes ausgehen. Das wäre schon ziemlich seltsam, oder?“

„Liebst du Dax etwa doch noch? Bisher hast du mir nämlich immer das Gegenteil erzählt.“

Allaire schüttelte den Kopf. „Nein, ich liebe ihn nicht mehr – jedenfalls nicht so. Aber trotzdem empfinde ich etwas für ihn. Wir hassen uns nicht. Wir waren ja nicht mal richtig sauer aufeinander. Unsere Ehe war einfach wie eines dieser Lieder, die kein richtiges Ende haben. Am Schluss wiederholten sich die letzten paar Takte, bis es dann immer leiser wurde und aufhörte.“

„Du hast mir noch nie richtig davon erzählt.“

„Dax und ich sind schon auf der Highschool miteinander gegangen, und wir haben uns damals wirklich geliebt. Du weißt ja, wie das ist. Man ist noch jung und hat keine Ahnung vom tatsächlichen Leben. Man musste noch keine großen Kompromisse machen. Wir sind erst nach der Hochzeit zusammengezogen, das war kurz nach meinem Abschluss. Ich habe alles aufgegeben, wovon ich geträumt hatte – zum Beispiel auf die Kunsthochschule zu gehen oder in Europa zu studieren. Aber ich habe es freiwillig aufgegeben. Das hat damals einfach keine Rolle mehr gespielt. Ich hatte Dax, und das reichte mir.“

„Aber schließlich hast du es ihm doch übel genommen.“

„Nicht so direkt. Es war mehr Bedauern, denke ich. Wenn man so jung heiratet, vergeht die Liebe manchmal eher, als dass sie wächst. Als junges Mädchen war ich eine Träumerin, und die Leute dachten oft, sie müssten mich beschützen. Und als sich herausstellte, dass ich eine ziemlich rebellische Ader habe – von der ich vorher selbst nichts wusste –, war Dax alles andere als begeistert. Das kann ich ihm nicht mal vorwerfen. Er hatte erwartet, dass seine Frau ihn zu den Rennen im ganzen Land begleitet. Aber das wurde mir, ehrlich gesagt, ziemlich schnell zu langweilig.“

„Kann ich verstehen. Hast du dann wenigstens deine eigenen Pläne verfolgt, während er unterwegs war? Hast du ein paar Kunstkurse in Europa belegt?“

„Schön wär’s.“ Stattdessen hatte sie allein zu Hause gesessen. „Aber immerhin bin ich doch noch aufs College gegangen und habe Kunstpädagogik studiert. So konnte ich meine Träume wenigstens über meine Schüler ausleben. Als Lehrerin kann ich andere Menschen mit meiner Begeisterung anstecken und habe noch Zeit, selbst zu malen. Aber das sah Dax leider anders. Er wollte, dass ich bei jedem Rennen an der Strecke stehe und ihm zujubele. Eines Abends warf er mir vor, ich hätte mich völlig verändert – weil ich ihn früher ja auch immer angefeuert hätte. Und da habe ich ihn gefragt, ob er ernsthaft glaubt, dass ich immer derselbe verträumte Teenager bleibe wie auf der Highschool.“

Noch immer war Allaire überrascht, wie plötzlich sie diese Erkenntnis damals getroffen hatte. Und trotzdem hatte sich vieles nicht verändert – sie ließ sich noch immer zu sehr von der Meinung anderer beeinflussen, und obwohl sie vernünftiger geworden war, blieb sie im Herzen eine Träumerin.

Deshalb hatte sie neben dem Lehrerberuf so viele freie Kunstprojekte übernommen. Es war eine Möglichkeit, die Fantasie zu leben und der Wirklichkeit zu entfliehen.

Tori legte ihr eine Hand auf den Arm. „Wenn du mich fragst, schlägt unter der zerbrechlichen Schale das Herz einer Löwin.“

Obwohl Allaire das Kompliment lächelnd hinnahm, fragte sie sich, ob es wirklich zutraf. In die Kulissen für die Theatershow hatte sie jedenfalls nicht viel Herzblut hineingesteckt, so viel stand fest.

Am nächsten Abend schloss D. J. alle Besprechungen mit den Handwerkern zeitig ab, um die Baustelle pünktlich kurz vor acht Uhr verlassen zu können. Als er seinen Wagen auf dem Schulparkplatz abstellte, versuchte er, keine allzu hohen Erwartungen in den Abend zu setzen.

Zum einen würden sie nicht allein sein, denn schließlich hatte die Schule ihren Tag der offenen Tür. Und zum anderen würde Allaire wohl nicht plötzlich erkennen, dass ihre Hochzeit mit Dax ein Fehler gewesen war, und stattdessen ihm in die Arme sinken. Dafür kannte er seine ehemals beste Freundin zu gut. Dax würde immer zwischen ihnen stehen, ganz gleich, wie sehr D. J. sich wünschte, dass es anders wäre.

Er nahm den Seiteneingang und hatte trotz einiger Umbauten und Renovierungen keine Mühe, sich zurechtzufinden. Allaire hatte ihm gesagt, dass sie in Mr. Richards Klassenzimmer sein würde – dort, wo sie früher zusammen Kunst gehabt hatten.

Als er um eine Ecke bog, sah er sie an einer Wand lehnen und mit einer Kollegin reden. Fast wäre er gestolpert, und sein Herz schlug plötzlich schneller.

Sie hatte das Haar wieder zu einem Knoten aufgesteckt, und sie trug einen beigefarbenen Hosenanzug mit schwarzen Paspeln, der ihn an die viktorianische Zeit erinnerte. Sogar ihre schwarzen, geknöpften Stiefeletten passten perfekt dazu. Es war seine Traumfrau, die da vor ihm stand – und noch immer wusste er nicht, ob er sie je für sich gewinnen konnte.

Doch deshalb war er ja auch gar nicht nach Thunder Canyon zurückgekehrt. Ganz abgesehen davon, dass es seinem Bruder gegenüber wirklich schäbig wäre, sich an dessen Exfrau heranzumachen. Immerhin waren sie miteinander verwandt, auch wenn sie schon seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen hatten und Dax ihm wie ein Fremder vorkam.

Als Allaire ihn entdeckte, trafen sich ihre Blicke, und einen Moment lang glaubte D. J., sie empfinde genau wie er. Doch dann stieß sie sich von der Wand ab und lächelte ihn unverbindlich an. Vielleicht hatte er es sich doch nur eingebildet.

Er nickte der älteren Frau neben Allaire zu und sagte: „Ich hatte ganz vergessen, wie es hier riecht.“

Die Kollegin lachte. „Tja, eine einzigartige Mischung: Teenagerschweiß, billiges Parfum und Rebellion.“

„Und Rauch“, fügte er hinzu.

„Das kommt von den Toiletten“, erklärte Allaire und deutete den Flur hinunter. „Wir tun unser Bestes, um es zu unterbinden, aber das reicht nicht immer.“

Sie stellte ihn ihrer Kollegin vor; danach verabschiedete sich die Ältere, und Allaire ging mit ihm den Flur entlang.

„Es sind nicht mehr viele Menschen hier“, bemerkte er, als er die leeren Klassenzimmer sah.

„Gegen sechs war eine Menge los, aber jetzt wollen die meisten Leute wohl wieder zu Hause sein.“

Allaire bemühte sich um einen unverfänglichen Tonfall, doch er spürte trotzdem bei jedem Wort den Geist der alten Zeiten.

„Führst du mich jetzt herum?“, fragte er. Es fiel ihm schwer, die Hände bei sich zu behalten. Wie gern hätte er ihr Haar berührt – nur ein einziges Mal. Ob es immer noch so seidig war wie früher, als sie es mit Lavendelshampoo gewaschen hatte? Jetzt allerdings duftete es etwas anders – und noch verführerischer als früher.

„Ja, das hatte ich vor.“ Sie lächelte strahlend, und er fühlte sich wie damals, als er mit ihr zum Physiklabor oder zum Musikraum gelaufen war. „Du hast unsere neue Cafeteria noch nicht gesehen. Sie ist unser ganzer Stolz.“

„Das ist bestimmt seltsam, wenn man so direkt mitbekommt, wie sich alles verändert, oder? Es ist ja schon für mich ziemlich komisch. Waren die Stühle und Tische früher auch schon so klein?“

„Das ist eine Frage der Perspektive. Natürlich sieht jetzt für dich alles anders aus, wo du als Millionär hierher zurückkommst.“

Die Bezeichnung war ihm unangenehm. „Das kannst du so nicht sagen.“

Verwundert sah sie ihn an. „Wieso nicht? Wenn du kein klassisches Beispiel für die ‚Vom Tellerwäscher zum Millionär‘-Erfolgsstory bist, dann weiß ich es auch nicht.“

Ihm selbst kam sein unglaublicher Erfolg eher ein bisschen lächerlich vor. Niemals hätte er gedacht, dass man Spaß bei der Arbeit haben und gleichzeitig so viel Geld damit verdienen konnte. Aber er hatte auch einen hohen Preis dafür bezahlt und den Kontakt zu der Frau verloren, die ihm am meisten bedeutete. „Ehrlich gesagt habe ich mich selbst noch nicht so ganz daran gewöhnt“, gab er zu.

Sie lächelte in sich hinein. „Das überrascht mich nicht. Du warst nie ein Angeber.“

Nicht wie Dax.

Obwohl sie es beide nicht aussprachen, wussten sie, dass sie dasselbe dachten.

Schnell wechselte sie das Thema. „Du musst dich bestimmt öfter mal kneifen, um dich daran zu erinnern, dass du dir alles leisten kannst, was?“

Damit traf sie den Nagel auf den Kopf – wie immer. D. J. war nie einem anderen Menschen begegnet, der ihn so intuitiv verstand wie Allaire. Trotzdem würde sie niemals auf die Idee kommen, dass er sein ganzes Geld am liebsten verwendet hätte, um ihre Träume zu erfüllen. Die Träume, die sie auf der Highschool gehabt hatte: Nach Paris zu ziehen und in aller Ruhe die Gemälde im Louvre zu analysieren oder die Staffelei am Seine-Ufer aufzustellen und den Sonnenuntergang zu malen.

Aber all das spielte jetzt keine Rolle mehr. Selbst wenn er den Mut aufbrachte und ihr seine Gefühle gestand – oder zumindest die Gefühle, die er früher für sie gehabt hatte –, würde er sich ja doch immer fragen, ob sie ihn nicht nur als schlechten Ersatz für Dax ansah.

Und er wollte auf keinen Fall ihr Trostpreis sein – zumal er schon sein Leben lang immer nur an zweiter Stelle nach seinem Bruder gekommen war. Bei Allaire und bei seinem eigenen Vater.

Als sie die Cafeteria erreichten, die über Nacht geschlossen hatte, trat Allaire an die Fensterfront und blickte hinein.

„Komm her“, sagte sie und winkte ihn heran.

Nach kurzem Zögern gehorchte er. Ihr wunderbarer Duft machte ihn ganz schwindlig.

„Es gibt jetzt eine Salat- und Nachtischbar“, erklärte sie. „Die hätten wir früher auch gern gehabt, oder?“

D. J. war die Cafeteria vollkommen egal.

Als er nicht gleich antwortete, sah Allaire zu ihm auf und setzte zu einer Frage an, schwieg dann aber doch und rückte ein Stück von ihm ab.

Und das nicht nur körperlich, sondern auch emotional, wie D. J. nur zu schmerzlich spürte.

„Ich wünschte, du wärst nicht nach Atlanta gegangen“, bemerkte sie schließlich.

Was sollte er dazu sagen? Ich habe Thunder Canyon verlassen, weil ich bei deiner Hochzeit am liebsten gestorben wäre? Ich konnte es kaum ertragen zuzusehen, wie du Dax ewige Treue geschworen hast, wenn stattdessen ich mit dir vor dem Altar hätte stehen sollen?

Es hätte niemandem geholfen, diese Gedanken auszusprechen. Außerdem gab es noch einen zweiten Grund, warum er gegangen war – einen, von dem er Allaire ebenfalls nie erzählt hatte. Vielleicht war jetzt eine gute Gelegenheit dazu.

„Ich hatte einfach genug von Thunder Canyon“, erklärte er. „Genug von vielen Dingen.“

„Zum Beispiel?“

„Du hast ja wahrscheinlich gemerkt, dass Dax und ich uns nie sehr nahestanden – selbst, als wir noch Kinder waren. Nach eurer Hochzeit wurde es wohl noch deutlicher.“

Allaire drehte sich um und lehnte sich an die Fensterfront, achtete aber darauf, genügend Abstand zu ihm zu halten.

„Ja, man hat immer gemerkt, dass zwischen euch irgendetwas nicht stimmt. Aber du hast mir nie erzählt, warum. Eure Mutter ist doch so früh gestorben, da wäre es eher logisch gewesen, dass ihr näher zusammenrückt.“

Bei anderen Brüdern vielleicht. Als ihre Mutter bei einem Autounfall umgekommen war, war Dax elf gewesen und er selbst zehn.

„Aber es ist genau das Gegenteil passiert“, sagte er, selbst überrascht, dass seine Stimme nach all der Zeit immer noch so verletzt klang. Vielleicht hatte er die Vergangenheit doch nicht so gut weggesteckt, wie er dachte?

„Anstatt uns gegenseitig Halt zu geben, haben wir uns voneinander abgeschottet. Ich fing an, wie wild zu lernen, um mich abzulenken, und Dax fing an, sich wie Dad für Motorräder zu interessieren. Die beiden haben nächtelang zusammen in der Garage gewerkelt. Geredet haben sie dabei kaum, aber man merkte trotzdem, dass es ihnen guttat. Es hat sie irgendwie getröstet.“

„Und du warst davon ausgeschlossen. Oh, D. J., das tut mir leid. Das war mir gar nicht so bewusst.“

„Ich habe ja auch nie darüber geredet. Außerdem ist das alles längst Vergangenheit.“

Noch während er die Worte aussprach, wurde ihm klar, dass er über die Einsamkeit von damals nie richtig hinweggekommen war. Es hatte tiefe Spuren in ihm hinterlassen, von seinem Vater und Bruder so ignoriert zu werden. Doch er würde vor Allaire nicht zugeben, wie neidisch er auf seinen Bruder gewesen war. Er konnte es ja nicht einmal sich selbst eingestehen. Und gerade weil er immer alles verdrängt hatte, war sein Ärger immer größer geworden. Gleichzeitig hatte er sich dafür gehasst, dass er zu feige war einzufordern, was er wollte: die Aufmerksamkeit seines Vaters – und Allaire.

Natürlich trug er ganz allein die Schuld daran – und deshalb war er fortgegangen. Er hatte ein neuer Mensch werden wollen – ein Mensch, der auf sich selbst stolz sein konnte.

Allaire wartete geduldig, ob D. J. noch etwas sagen würde. Sie sah ihm an, wie aufgewühlt er war. An seinem Kiefer zuckte ein Muskel. Seine Augen jedoch verrieten nicht, was er dachte.

Seltsam, dass er sich ihr nicht anvertraute.

„Ich kann mir vorstellen, dass es schwer war, danach wieder Zugang zu Dax zu finden“, sagte sie schließlich. „Es muss schlimm gewesen sein, sich in so einer schweren Zeit auch noch ausgeschlossen zu fühlen – vor allem in der eigenen Familie. Aber ich denke, dass sie das nicht bewusst gemacht haben.“

„Da hast du recht.“

D. J. klang müde, aber nicht bitter – als hätte er sich das auch schon gesagt und sich damit abgefunden. Als er seufzte und ein paar Schritte weiterging, fragte Allaire sich, was er ihr damals noch alles nicht erzählt hatte. Vielleicht kannte sie ihren besten Freund gar nicht so gut, wie sie immer gedacht hatte?

Doch jetzt war wohl nicht der richtige Zeitpunkt, um aus D. J. die ganze Wahrheit herauszubekommen. Sie beeilte sich, ihn einzuholen, und stupste ihn mit dem Ellenbogen an, um ihm zu zeigen, dass es für sie in Ordnung war, das Thema fallen zu lassen.

Trotz der vielen Schichten Stoff zwischen ihnen löste die Berührung erneut ein Feuerwerk der Gefühle in ihr aus. Hastig verschränkte sie die Arme vor der Brust und wünschte sich, das würde aufhören. Oder auch nicht.

Nach kurzer Zeit kamen sie zur Sporthalle, die ebenfalls für die Nacht abgeschlossen war. Wieder sah sie durchs Fenster hinein, was zwar albern war, sie aber immerhin von der Frage ablenkte, warum D. J.s Nähe sie so durcheinanderbrachte.

Als er sich hinter sie stellte, spürte sie seine Wärme und seinen Atem in ihrem Nacken.

„Der alte Mr. Ozzel“, bemerkte sie und deutete auf den Hausmeister, der den Sporthallenboden wischte. „Erinnerst du dich noch an ihn?“

D. J.s leises Lachen so dicht an ihrem Ohr verursachte ihr eine wohlige Gänsehaut, und ihre ganze Haut begann zu kribbeln. Was war nur los mit ihr?

„Wie könnte man den alten Kauz vergessen? Weißt du noch – der Abend, wo wir länger geblieben sind, weil wir ein Referat fertig bekommen mussten? Ozzel dachte, wir wollten Blödsinn machen, hat sich in einem Schrank versteckt, ist dann vor uns rausgesprungen und hat gebrüllt, wir sollten verschwinden, oder er würde uns zur Rede stellen.“

Allaire lachte, obwohl sie damals Angst gehabt hatte, tatsächlich Schwierigkeiten zu bekommen. Sie war immer so ein braves Mädchen gewesen.

„Ich hatte keine Ahnung, dass es Mr. Ozzel war, also bin ich weggerannt. Du kamst hinter mir her, weil ich alles schlimmer machte. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er wild mit dem Wischmopp gewedelt hat … Er hätte uns aber nicht gekriegt, wenn du dann nicht doch stehen geblieben wärst, um ihm alles zu erklären.“

Wieder lachte sie. „Du warst immer so höflich und zuvorkommend – sogar im dicksten Schlamassel.“

Oh ja, sie erinnerte sich gut daran. D. J., der Vermittler, der jede noch so verfahrene Situation ausbügelte. Außer in seiner eigenen Familie, wie es schien …

„An dem Abend hast du Mr. Ozzel vollkommen für dich eingenommen, weil du dich verhalten hast wie ein … was hat er noch genau gesagt?“

„… wie ein weiser Zauberer, der einen feuerspeienden Drachen beruhigt. Liest er eigentlich immer noch so viele Fantasy-Romane?“

„Oh ja. Ständig.“ Lächelnd blickte sie durchs Fenster zu dem alten Hausmeister, weil sie D. J. bei ihren nächsten Worten auf keinen Fall ansehen konnte. „Ich glaube, er wollte dich gern mit seiner Tochter verkuppeln, weil du so eine gute Partie warst. Eine Menge Mädchen waren hinter dir her. In Atlanta bestimmt auch. Wie hast du es geschafft, ihren Fängen zu entgehen?“

Sie hörte seinen kurzen, überraschten Atemzug, ihr wurde noch heißer. Ohne ihn anzusehen, sagte sie: „Du bist doch auch hier mit Mädchen ausgegangen.“

Eigentlich ging sie das ja gar nichts an, aber sie wollte es trotzdem wissen, auch wenn ihr nicht ganz klar war, warum.

Er räusperte sich. „Dasselbe könnte ich dich fragen.“

„Na schön.“ Kein Problem. „Seit der Scheidung hatte ich keine große Lust, ‚mich wieder auf den Markt zu werfen‘, wie Tori immer so schön sagt.“

Als er schwieg, fuhr sie fort: „Ich weiß. Irgendwann muss ich wieder auf die Männer zugehen, aber im Moment habe ich wirklich keine große Lust dazu.“

Noch immer sagte er nichts, als erwartete er, dass sie fortfuhr. Aber mehr gab es zu dem Thema nun wirklich nicht zu sagen.

„Und was ist mit dir, Romeo?“

„Ich bin auch in Atlanta mit Frauen ausgegangen“, erwiderte er leise. „Aber es war nie die Richtige dabei.“

„Die Richtige?“ Halt den Mund, Allaire. Das geht dich wirklich nichts an.

„Na ja, was soll ich sagen?“ Er lachte, doch es klang etwas zu fröhlich. „Es war einfach keine Frau so wie du, Allaire.“

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, und ihr wurde leicht schwindlig. Aber lag das daran, dass sie eine so direkte Antwort nicht erwartet hatte? Oder dass sie im Gegenteil darauf gehofft hatte?

Als D. J. wieder lachte, diesmal etwas weniger gezwungen, drehte sie sich ganz zu ihm um und hob den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen und herauszufinden, ob er wirklich Witze machte.

Auf einmal schien die Zeit stehen zu bleiben. In seinen Augen blitzte etwas auf, und er öffnete den Mund, als wolle er noch etwas hinzufügen.

Unwillkürlich hielt Allaire den Atem an. Irgendetwas sagte ihr, dass ihre Welt sich gleich grundlegend ändern würde – und sie wusste nicht, ob sie das wollte. Nicht, nachdem ihre erste Ehe gescheitert war und Allaire ihre Familie enttäuscht hatte.

Außerdem war das D. J., der da vor ihr stand. Ihr D. J., ihr guter Freund.

Als könne er ihre Gedanken lesen, presste er die Lippen aufeinander, steckte die Hände in die Hosentaschen und trat ein paar Schritte zurück.

Allaire konnte sich einen Moment lang kaum rühren. Was war da gerade passiert? Wollte sie das überhaupt wissen?

Nein, eigentlich nicht. Mehr als alles andere wollte sie ihren Freund zurück. Sie hatte diese Freundschaft so vermisst – und nun konnte es vielleicht endlich wieder so werden wie früher.

Wortlos ging D. J. zurück in Richtung ihres Klassenzimmers. Auf dem Weg begegneten sie zwei Kolleginnen, die mit ihrer fröhlichen Verabschiedung die angespannte Stille unterbrachen.

Als sie vor dem Kunstraum standen, schien alles wieder zu sein wie vorher. Jedenfalls, wenn es nach D. J.s Lächeln ging, das so warmherzig war wie sonst.

Wahrscheinlich hatte sie sich diesen Moment vor der Sporthalle nur eingebildet.

„Jetzt will ich aber auch sehen, was du in der Zwischenzeit gemalt hast“, brach D. J. das Schweigen. „Zeigst du es mir?“

Etwas schüchtern ging sie um ihn herum und schloss auf. Als sie ihn dabei streifte, stieg erneut Wärme in ihr auf. „Du hast es so gewollt“, sagte sie und stieß die Tür auf. „Betreten auf eigene Gefahr.“

Gespannt beobachtete sie sein Gesicht und hoffte, wie immer, wenn sie ihre Arbeiten zeigte, auf Wohlwollen. Doch mit D. J. war es noch etwas anderes – als würde sie ihn zu einem besonders schönen Aussichtspunkt führen oder ihm ein Gedicht vorlesen, das sie berührt hatte. Dieser Kunstraum bedeutete ihr mehr als ein Klassenzimmer. Er war der Ort, an dem sie und ihre Schüler ihren Träumen freien Lauf ließen und sie in Kunst verwandelten.

Ihr wurde wieder einmal bewusst, wie wichtig ihr D. J.s Meinung war. Eigentlich hatte sie immer für D. J. gemalt, obwohl sie so lange keinen Kontakt zu ihm gehabt hatte.

Er trat ein und betrachtete schweigend die Ansammlung von halb fertigen Bildern, Collagen, Zeichnungen und Skulpturen.

„Verdammt“, stieß er schließlich hervor.

Doch sein bewundernder Blick zeigte, wie sehr ihn beeindruckte, was er sah.

„Die Kinder haben sehr viel Talent.“ Allaire beugte sich über ein Blatt Papier auf ihrem Tisch, um D. J. nicht merken zu lassen, wie viel ihr seine Reaktion bedeutete.

Zielstrebig ging er auf eine Leinwand zu, die am Fenster stand und mit Tuch verhängt war. Nur eine kleine Ecke blau-grauer Fläche schaute hervor. Vorsichtig zog D. J. das Tuch weg – und Allaire hielt den Atem an.

Er hatte das Bild entdeckt, an dem sie seit Beginn des Schuljahres arbeitete. Es zeigte den Blick auf ein nächtliches Paris vom kleinen Balkon eines bescheidenen Hotels. Oder besser gesagt, wie sie sich diesen Blick vorstellte – denn sie war ja nie dort gewesen. Das Bild war ein Ersatz für ihre unerfüllten Träume.

„Allaire“, sagte er leise, und sie wusste sofort, dass er die Bedeutung des Bildes erkannt hatte. Schließlich hatte sie ihm oft genug von ihren Träumen erzählt.

Traurigkeit stieg in ihr auf – oder vielleicht war es auch Glück, weil er sie noch immer so gut kannte? Jedenfalls blinzelte sie die Tränen weg, die ihr in die Augen stiegen. Nichts war so schlimm, dass es sie zum Weinen brachte.

„So tobe ich mich aus“, sagte sie leise. „Damit und mit den Kulissen für das Dinner-Theater.“

„Aber das hier …“ Noch immer starrte D. J. das Bild an, das noch lange nicht fertig war. „Du hast dich weiterentwickelt. Ich wusste immer, dass du Talent hast – jeder wusste das –, aber verdammt, Allaire, warum unterrichtest du an einer Highschool?“

Autsch.

Entschuldigend sah er sie an. „So habe ich das nicht gemeint. Ich bewundere Lehrer. Es sollte ein Kompliment sein. Du könntest mit deinem Talent so viel mehr anfangen.“

Wie immer fiel es ihr schwer, damit umzugehen. Lob hatte sie seit jeher beunruhigt. Mit Kritik kam sie viel besser klar – immerhin konnte man hinterher versuchen, sich zu verbessern. Der typische Fluch all derer, die es stets allen Menschen recht machen wollten.

Mit ihren nächsten Worten versuchte sie, weitere Komplimente im Keim zu ersticken. „Dax fand immer, es wäre besser, Kunst zu unterrichten als selbst ein Kunststudium anzufangen. Ich meine, er hat mir schon gesagt, dass ich gut bin, aber ich glaube, er hat sich nie genug mit meinen Bildern befasst, um sie wirklich zu verstehen …“

Als sie seinen Bruder erwähnte, richtete sich D. J. auf und hängte das Tuch wieder über ihr Bild.

Na wunderbar. Wieso erwähnte sie immer wieder Dax, wo doch D. J. ganz offensichtlich nicht über ihn reden wollte? Vielleicht machte ihr Unterbewusstsein das sogar absichtlich?

Zum Glück schien D. J. es ihr nicht übel zu nehmen. Ihr wunderbarer, immer ausgeglichener D. J.

„Ich wünschte, du würdest dir mein Angebot mit der Wandmalerei noch einmal überlegen“, sagte er. „Und nicht nur, weil wir alte Freunde sind. Mit einem Bild von dir hätte mein Restaurant etwas Besonderes. Schönheit und Charakter.“

Nachdenklich kaute Allaire auf ihrer Unterlippe. Vielleicht war es doch möglich? Sie könnten den neuen Abschnitt ihrer Freundschaft mit einem neuen Projekt beginnen. Aber dann musste es feste Regeln geben.

„Könnte ich denn allein arbeiten?“

„Falls du dir Sorgen machst, dass es Gerede gibt, wenn du mit mir allein im Restaurant bist – das ist kein Problem. Ich kann es so einrichten, dass immer Handwerker dort sind. Sie müssten natürlich leise sein.“

Allaire lachte. „Nicht unbedingt. Ich bin es gewohnt, von plappernden Schülern umringt zu sein. Sie arbeiten schließlich auch hier an ihren Projekten.“

Kaum hatte sie sich auf den Gedanken eingelassen, kamen ihr schon jede Menge Ideen für das Wandbild. Vielleicht würde das ihr bestes Bild überhaupt werden. Aber das dachte sie jedes Mal, wenn sie ein neues Werk anfing.

„Dann sagst du Ja? Wunderbar.“ D. J. strahlte geradezu. „Und als ausführende Künstlerin musst du natürlich zur Eröffnung kommen. Halt dir den Termin unbedingt frei. Du bist mein Ehrengast.“

Allaire musste an seine Worte vor der Sporthalle denken, und sie fragte sich sofort, ob er es als Date betrachtete, wenn sie zu seiner Eröffnung kam. Aber das war natürlich Unsinn, also vergaß sie es sofort wieder. „Sag mir einfach, wann es anfängt, dann bin ich zum großen Abend meines besten Freundes natürlich zur Stelle“, lachte sie.

Als sein Lächeln daraufhin erlosch, machte sie sich sofort wieder Vorwürfe. War sie in ihrem Bemühen, klare Grenzen zu setzen, zu weit gegangen? Doch im nächsten Moment hatte D. J. wieder sein freundliches Lächeln aufgesetzt.

„Zum großen Abend deines besten Freundes“, bestätigte er, und Allaire atmete erleichtert aus. Oder doch ein bisschen enttäuscht?

Verflixt, jetzt wusste sie schon selbst nicht mehr, was in ihr vorging …

3. KAPITEL

Eine Woche später war das neue Rib Shack fast schon fertig, und D. J. sah der Eröffnung in zehn Tagen relativ gelassen entgegen. Ein Vorteil lag darin, dass in den Räumen sowieso ein Restaurant geplant gewesen war, sodass die Küche bereits eingerichtet war. Die restlichen Möbel würden bald geliefert werden, und mithilfe seines alten Schulkameraden Grant, dem Resort-Manager, hatte D. J. sein Personal gefunden, das von erfahrenen Köchen anderer Rib Shacks eingearbeitet wurde.

Im Moment stand er an der langen Theke, die eine Seite des Raums einnahm, und war dabei, ein historisches Foto von Thunder Canyon zu rahmen. Doch immer wieder sah er dabei zu Allaire hinüber, die die Stirnseite des Speiseraums bemalte.

Jede ihrer Bewegungen hatte für ihn etwas Magisches. Wenn sie den Kopf schräg legte, um eine Farbe auszuwählen oder einen Akzent zu setzen … Vielleicht lag es daran, dass er die Gedanken nachempfinden konnte, die sie mit jedem Pinselstrich ausdrückte. Oder daran, dass er einfach nie genug von ihrem Anblick bekam …

Verdammt, D. J. musste es sich wohl langsam eingestehen: Er liebte Allaire immer noch. Hatte nie aufgehört, sie zu lieben.

Und wie würde er diesmal damit umgehen? Würde er wieder schweigen, so wie damals? Er wollte sie glücklich machen, das allein zählte. Aber war es dann wirklich das Beste, sie nicht merken zu lassen, was er für sie empfand?

Über Dax war sie hinweg, das spürte er, und das hatte auch seine alte Clique von der Highschool bestätigt. Die Ehe war einfach im Sande verlaufen – und dass sie überhaupt so lange gehalten hatte, lag wohl daran, dass weder Allaire noch Dax so leicht aufgaben. Allaire nicht, weil es ihr so wichtig war, was andere Menschen über sie dachten – und Dax nicht, weil er immer gewinnen wollte. Und eine Scheidung empfand er als persönliche Niederlage.

Aber vielleicht war das auch ungerecht. D. J. hätte gern gehört, was Dax selbst dazu sagte, aber es gab nach wie vor keinen Kontakt zwischen ihnen.

Als D. J. das Bild gerahmt hatte, ging er in die Küche und machte sich eine Portion Spare Ribs zum Abendessen. Mit dem vollen Teller ging er in den Gastraum zurück, wo Allaire gerade auf den Knien dabei war, einen Pferdehuf zu gestalten. Das Wandbild zeigte Szenen aus dem historischen Thunder Canyon – Cowboys, Pferde, Goldgräber. Sogar Lily Divines alter Saloon war zu sehen.

D. J. wartete, bis Allaire eine Pause machte, bevor er sich räusperte, denn er wollte sie nicht erschrecken. Trotzdem zuckte sie zusammen und presste eine Hand aufs Herz, bevor sie sich lachend umdrehte.

„Ich bin immer völlig in meine Arbeit versunken“, gab sie zu.

„Es sieht fantastisch aus.“

Er ging in die Hocke und reichte ihr einen Teller mit Rippchen, Krautsalat, Kartoffelecken und Maisbrot.

„Warte, ich wasche mir eben schnell die Hände“, sagte sie und stand auf.

D. J. machte es sich in der Zwischenzeit auf dem Boden bequem. Auch nach all den Jahren lief ihm vom Duft seiner selbst entwickelten Sauce das Wasser im Mund zusammen. Allaire dagegen ließ die Rippchen liegen, als sie sich neben ihn gesetzt hatte, und machte sich über den Krautsalat her. Seltsam. Normalerweise konnte niemand seinen Rippchen widerstehen.

Lächelnd schaute sie zu ihm auf. „Tut mir leid, aber ich bin Vegetarierin.“

Fast hätte er sich verschluckt. „Seit wann das denn?“

Nachdenklich zog sie die Nase kraus.

Es sah so süß aus, dass D. J. sie am liebsten sofort geküsst hätte, aber er beherrschte sich. Schließlich hatte sie ihm erst vor einer Woche unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie nur Freunde waren. Noch so eine Erinnerung brauchte er nicht.

„Ich glaube, seit etwas über einem Monat“, erwiderte sie. Sie sah wirklich zerknirscht aus. „Aber der Krautsalat ist auch sehr lecker.“

„Seit einem Monat?“, fragte er fassungslos. „Aber … weißt du nicht mehr, wie wir immer zum Drive-in an der Hauptstraße gefahren sind und du den Monsterburger verdrückt hast?“

„Ach, du meinst Digger’s?“ Verträumt blickte sie in die Ferne, als schmecke sie die Hamburger, die sie damals an den Wochenenden verschlungen hatten. „Ja, das weiß ich noch. Aber die Zeiten sind vorbei. Ich habe ein Buch über Fast Food gelesen. Weißt du eigentlich, was alles im Rindfleisch aus Massentierhaltung drin ist?“

„Hey, keine Panik. Ich bekomme mein Fleisch von kleinen, privat geführten Ranches, die ihre Rinder auf der Weide halten. Das ist auch ein Grund, warum das Resort unbedingt ein Rib Shack wollte.“

„Oh, das ist cool.“ Sie biss von dem Maisbrot ab, schloss genüsslich die Augen und ließ sich mit gespieltem Entzücken rücklings auf den Boden fallen. „Oh, dieses Brot! Einfach himmlisch!“

D. J. war stolz, dass es ihr schmeckte. Doch sie so auf dem Boden liegen und lächeln zu sehen, als hätte er gerade ihre geheimsten Wünsche erfüllt, hatte noch einen ganz anderen Effekt. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. „Schlaf doch ruhig ein bisschen, wo du schon so bequem liegst“, witzelte er.

„Keine schlechte Idee. Ich bin es nicht mehr gewohnt, abends noch zusätzlich zu arbeiten. Aber andererseits kann ich mir auch nichts Schöneres vorstellen.“

Das wusste er. Die Kunst war Allaires Flucht aus dem Alltag. Und nach allem, was sie ihm über die Scheidung erzählt und was er sich selbst zusammengereimt hatte, sehnte sie sich danach, frei zu sein und einfach davonzufliegen – wenn auch nur in Gedanken.

Vom Fußboden aus lächelte sie zu ihm auf, und er erwiderte ihr Lächeln. Doch dann fiel ihm ein, dass er wahrscheinlich mit Sauce verschmiert war. Er griff nach einer Serviette und wischte sich den Mund ab.

Als er fertig war, setzte Allaire sich auf. „Du hast eine Stelle vergessen.“

Sie nahm eine zweite Serviette und rutschte näher zu ihm. So nah, dass er den Duft ihrer Haare und ihrer Haut einatmen konnte.

Lieber Himmel …

Sorgfältig tupfte sie ihm das Kinn ab, und D. J. schloss überwältigt die Augen. Er stellte sich vor, sie wären in ihrem gemeinsamen Haus, an ihrem gemeinsamen Esstisch, und sein Herz hämmerte bei der Vorstellung.

So hätte es sein sollen, dachte er. Er hätte Allaire heiraten und Dax bitten sollen, ihr Trauzeuge zu sein.

Doch als er die Augen wieder aufmachte, erkannte er, wie die Wirklichkeit aussah. Allaire betrachtete ihn erschrocken und etwas ängstlich, als fürchtete sie, er könne erneut die Grenzen ihrer Freundschaft überschreiten. So wie letzte Woche, als er ihr gesagt hatte, dass für ihn keine andere Frau an sie heranreichte.

Es war so befreiend gewesen, endlich die Wahrheit zu sagen – bis ihm klar wurde, dass Allaire sie vielleicht gar nicht hören wollte. Sie wollte, dass er wieder ihr bester Freund war.

Auch jetzt tätschelte sie ihm freundschaftlich das Gesicht und setzte sich wieder. „Soll ich dir mal etwas verraten?“, fragte sie.

Ihr spitzbübisches Lächeln zeigte ihm, dass sie das Thema wechseln wollte, und er ging darauf sein.

„Schieß los.“

Sie kniete sich hin und zeigte auf ihr Wandgemälde. „Ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber ich habe hier nicht nur Cowboys gemalt.“

„Ach nein?“

Kopfschüttelnd deutete sie auf eine dunkle Stelle, wo eine Schürfpfanne in einen Wasserfall überging.

D. J. kniff die Augen zusammen, dann beugte er sich vor, um besser zu sehen. „Sag jetzt nicht, dass das wirklich der Eiffelturm ist“, bemerkte er verblüfft.

Allaire reckte triumphierend den Daumen hoch. „Volltreffer! Ich wollte etwas von meiner Persönlichkeit in das Bild legen. Wenn es fertig ist, kannst du in dem Bild alle Stationen meiner Traumreise durch Europa finden – mit den typischen Wahrzeichen wie dem Schiefen Turm von Pisa und dem Matterhorn. Aber du musst schon genau hinschauen.“

Der Gedanke, einen Teil von Allaires Persönlichkeit in seinem Restaurant verewigt zu sehen, gefiel ihm außerordentlich. Es war wie ein sehr wertvolles Geschenk.

Doch offenbar deutete sie sein überwältigtes Schweigen als Missbilligung, denn sie legte besorgt den Kopf schräg. „Das stört dich doch hoffentlich nicht, oder?“

D. J. sah ihr ernst in die Augen, spürte ihre tiefe Verbindung. „Das musst du dich wirklich nicht fragen“, erklärte er. „Ich liebe jedes deiner Bilder.“

Und dich, fügte er im Stillen hinzu. Dich und alles, was du mir zu geben bereit bist.

Ihre Augen leuchteten auf und strahlten mit dem Blau des Wasserfalls um die Wette. Und das genügt mir, dachte D. J. Jedenfalls im Moment.

Auch die nächsten vier Abende verbrachte Allaire damit, das Wandgemälde fertigzustellen – und sie fragte sich die ganze Zeit, was um alles in der Welt zwischen ihr und D. J. vorging.

Immer, wenn er den Raum betrat, in dem sie arbeitete, spürte sie seine Anwesenheit sofort. Ihre Haut begann zu prickeln, und sie verspürte aufsteigende Hitze. Trotzdem drehte sie sich nie zu ihm um. Stattdessen wurde er zu einem Teil der Fantasie, die sie in ihrem Gemälde auslebte.

Heute arbeitete sie am römischen Kolosseum, das sie im roten Kleid der ersten Saloonbesitzerin Lily Divine versteckte. Hier noch ein Strich, dort ein Akzent, und die Illusion war fast perfekt. Doch dann spürte sie D. J. hereinkommen, und ihre Konzentration ließ nach. Stattdessen lief ihr ein wohliges Kribbeln über den Körper, als sie seine leisen Schritte hörte.

Fragend blickte sie sich zu ihm um. Er trug Jeans und ein Flanellhemd, dazu Cowboystiefel. Es überraschte sie jedes Mal aufs Neue, wenn sie daran dachte, dass er ein reicher Geschäftsmann war. Sein bodenständiges, bescheidenes Auftreten ließen sie das immer wieder vergessen. „Willst du mich wieder dran erinnern, dass ich etwas essen sollte?“, fragte sie.

„Hm, ich bin einfach zu berechenbar.“

Er sagte das, als wäre es ein Fehler, doch Allaire fand es durchaus angenehm, sich auf gewisse Dinge verlassen zu können. In ihrer Ehe hatte sie nie gewusst, was sie als Nächstes erwartete.

„Was hältst du davon, wenn wir heute im Spachtelhaus essen?“, fragte er und deutete zur Tür, an deren Rahmen noch ein Frisch gestrichen – Schild hing.

„Klingt gut.“ Das Spachtelhaus war das Imbiss-Restaurant des Resorts. Allaire stand auf, wusch sich die Hände und griff auf dem Rückweg nach ihrer Jacke. Zwar war das Restaurant auf einer Seite durch einen überdachten Wandelgang mit dem Hauptgebäude des Hotels verbunden, aber Allaire wollte unter der Jacke ihr farbverschmiertes Sweatshirt verstecken.

Rechts und links des Glaskorridors hatten bereits die ersten vornehmen Boutiquen eröffnet, die selbst zu dieser späten Stunde von betuchten weiblichen Gästen besucht wurden. Dazwischen standen einige Ladenlokale leer, für die das Resort noch Mieter suchte.

„Ich war vorher noch nie hier“, gestand Allaire. „Kaum zu glauben, dass wir so ein Luxushotel haben.“

„Geht mir auch so. Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet Thunder Canyon so ein Schickimicki-Touristenort wird. Aber da ich auch davon profitiere, beklage ich mich natürlich nicht. Trotzdem ist es irgendwie … unwirklich.“

„Zum Glück verändern sich manche Dinge nie“, bemerkte sie und drückte leicht seinen Arm. „Und manche Menschen auch nicht.“

Am Ende des Wandelganges kamen sie in die Lounge, über der sich das fünfstöckige Hauptgebäude des im ländlichen Stil gehaltenen, aber dennoch eleganten Hotels erhob.

Auf einmal verlangsamte D. J. seine Schritte, blieb dann ganz stehen und sah zur Bar, aus der gerade sein Bruder trat.

Dax schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und ging zum Ausgang.

Wie immer musste Allaire bei seinem Anblick an James Dean denken. Früher hatte er mit seinem rebellischen Auftreten, dem dunklen Haar und den brauen Augen dem Filmstar sehr geähnelt. Doch jetzt wirkte er nicht mehr so selbstbewusst und lässig. Erstaunlich, wie sich auch ihre Gefühle für ihn geändert hatten. Die Erinnerung daran, wie jung und unerfahren sie gewesen waren, und wie der Alltag sie langsam eingeholt hatte, stimmte sie etwas wehmütig. Doch ein Funke sprang bei seinem Anblick schon lange nicht mehr auf sie über.

Sie wandte sich D. J. zu, der seinen Bruder nicht aus den Augen ließ. Doch er wirkte nicht so angespannt, wie sie vermutet hatte – eher so, als wollte er Dax nachlaufen und ihn ansprechen.

„Geh zu ihm“, drängte sie leise. „Ich kann auch später noch etwas essen.“

Einen Moment lang sah es so aus, als würde er ihrem Rat folgen – doch dann verschwand Dax nach draußen, und der hoffnungsvolle Ausdruck auf D. J.s Gesicht erlosch. Wortlos ging er weiter zum Spachtelhaus.

Verdammt, diese Traubs waren wirklich ein sturer Haufen.

„Das war eine gute Gelegenheit“, bemerkte sie vorwurfsvoll. „Wer weiß, wann ihr euch wieder mal zufällig über den Weg lauft.“

Doch D. J. schien ihr gar nicht zuzuhören, sondern ließ sich von der Kellnerin einen Tisch zeigen und steuerte direkt darauf zu.

„D. J.?“, fragte sie, als sie ihm folgte.

Als er sich setzte, blieb Allaire vor ihm stehen. „Wie lange bist du jetzt schon in der Stadt? Zwei Wochen? Und du hast bis jetzt noch kein Wort mit deinem Bruder gewechselt.“

D. J. griff nach der Speisekarte und studierte sie scheinbar ausgiebig. Offenbar beherrschte er sich nur mühsam, und Allaire beschloss, ihn nicht weiter zu reizen.

Warum mischte sie sich überhaupt ein? Sie war die Exfrau, eine Freundin der Familie, und die Differenzen zwischen den Brüdern gingen sie gar nichts an. Doch beide Männer bedeuteten ihr noch etwas, jeder auf seine Weise. Es war schwer, mit anzusehen, wie sie sich aus dem Weg gingen.

„Okay, Dax hätte dich auch mal anrufen können“, sagte sie versöhnlicher, als sie sich D. J. gegenübersetzte. „Oder er hätte heute im Restaurant vorbeischauen können, da er ja offenbar sowieso hier war.“

Endlich ließ D. J. die Speisekarte sinken.

„Es war bestimmt ziemlich hart, ihn heute so unerwartet zu sehen“, fügte sie hinzu.

Dazu nickte er nur, doch es war ihm anzumerken, dass die Begegnung irgendetwas in ihm ausgelöst hatte.

„Weißt du, was toll wäre?“, fragte sie.

„Wenn ich einfach alles vergesse, zu Dax hingehe und ihn in die Arme schließe?“

„Na, so weit würde ich nun auch nicht gehen“, erwiderte Allaire und griff spontan nach seiner Hand. Dabei schoss ein heißes Kribbeln ihren Arm hinauf, und sie zog die Hand schnell wieder weg. Was war das nur immer?

D. J. ließ sich im Stuhl zurücksinken, als wäre er enttäuscht. Oder bildete sie sich das nur ein?

„Es wäre toll, wenn du Dax vielleicht die Hand reichen könntest, indem du ihn zur Eröffnung des Rib Shack einlädst. Schließlich ist die ganze alte Clique da, oder? Grant, Russ, die Cates-Brüder. Das wäre doch ein prima Anlass, miteinander zu reden.“

Nach kurzem Zögern strich sich D. J. mit der Hand durchs Haar. „Ja. Ich weiß, dass du recht hast. Ich kann ihn schließlich nicht einfach ignorieren, solange ich in der Stadt bin. Das wäre kindisch.“

Solange du in der Stadt bist?“, fragte sie so beiläufig wie möglich, obwohl seine Wortwahl sie beunruhigte. „Dann willst du also wieder weg?“

Er griff nach dem Salzstreuer, spielte damit, stellte ihn wieder hin. „Das habe ich noch nicht entschieden.“

„Aber du hast dir doch hier schon ein Haus gesucht!“

„Das ist nur gemietet.“

„Oh.“ Allaire war die ganze Zeit davon ausgegangen, dass er bleiben würde. Doch wenn sie darüber nachdachte, hatte er nach der Eröffnung des Rib Shack keinen wirklichen Grund zum Bleiben. Sein Vater war tot, und zu seinem Bruder hatte er keinen Kontakt. Sollte er etwa nur wegen seiner alten Freundin Allaire wieder nach Thunder Canyon ziehen?

Wieder griff er nach dem Salzstreuer, schob ihn auf dem Tisch hin und her.

Beinahe wie hypnotisiert folgte Allaire seinen Bewegungen. Wie lang und schlank seine Finger waren! Auf einmal hatte sie das Bild im Kopf, wie diese Finger ihr Gesicht streichelten, über ihren Körper strichen. Ein wohliger Schauer überlief sie, doch diesmal unterdrückte sie ihn nicht, sondern kostete ihn aus.

Ein wunderbares Gefühl.

„Apropos Familie“, sagte D. J. schließlich. „Wie geht es Arianna?“

Allaires zehn Jahre ältere Schwester lebte in Billings.

„Prima. Sie arbeitet jetzt bei einem Radiosender.“

„Macht sie immer noch den Männern die Hölle heiß?“

Lächelnd schüttelte Allaire den Kopf. D. J. kannte alle Höhen und Tiefen von Ariannas Liebesleben, schließlich hatte sie ihm damals immer wieder ihre Bedenken über den unsteten Lebenswandel ihrer Schwester anvertraut und … Erst jetzt fiel ihr auf, wie sehr sie das vermisst hatte. Nie wieder hatte ihr jemand so geduldig und aufmerksam zugehört wie D. J. Nicht einmal Tori, die mittlerweile eine wirklich gute Freundin geworden war.

Doch diese Zeiten waren wohl vorbei. D. J. und sie teilten einfach nicht mehr dieselben Dinge miteinander. Er war ein reicher, weltgewandter Geschäftsmann, sie Lehrerin in einer Kleinstadt. Über ihre Scheidung konnte sie mit ihm nicht reden, weil sie nicht wollte, dass er Partei für sie ergriff, wo er sich doch mit Dax versöhnen sollte.

Die Kellnerin trat an ihren Tisch und nahm ihre Bestellung auf. Als sie gegangen war, beantwortete Allaire D. J.s Frage.

„Arianna ist zum zweiten Mal geschieden. Und sie ist froh, dass sie nicht mehr in Thunder Canyon wohnt, denn so bekommt sie nicht ständig Moms und Dads hängende Mundwinkel zu sehen, wie sie sagen würde.“

„Die Arme. Sie hatte es immer schon schwer, gegen ihre perfekte kleine Schwester anzukommen.“

„Na ja, inzwischen hat die kleine Schwester ja selbst versagt. Ich muss allerdings zugeben, dass meine Eltern mich immer eher in Schutz nehmen, während sie Arianna Vorwürfe machen.“

Allaire legte die Hände in den Schoß, damit es D. J. nicht auffiel, wie fest sie sie zusammenpresste. „Aber ganz gleich, was meine Eltern sagen, und wie sehr sie mich immer unterstützt haben, ich weiß ja doch, dass sie enttäuscht sind, weil ich mich von Dax getrennt habe.“

Übertrieben heftig stellte D. J. den Salzstreuer ab. „Aber woher willst du das wissen, wenn sie nie etwas gesagt haben?“

„Ich weiß es einfach. Vielleicht gerade, weil sie es nie erwähnen.“

Als Vorzeigekind hatte sie zu Hause nie Schwierigkeiten gehabt, während ihre Schwester sich erst gar keine Mühe gab, gegen das strahlende Nesthäkchen zu bestehen. Während Allaire in der Schule Klassen übersprang, Preise gewann und ein College-Stipendium bekam, kämpfte sich Arianna durch ihre erste Scheidung.

Ihre Eltern machten ihr deshalb keine Vorwürfe, sondern halfen, wo sie konnten – doch es war auch klar, dass diese Entwicklung sie nicht überraschte, während sie von Allaire etwas Besseres erwarteten.

Deshalb hatten sie auch nichts dagegen einzuwenden, als sie sich auf der Highschool für Dax als Freund entschied. Sie waren das Traumpaar – beste Schülerin und beliebter Rebell, und ihre Eltern hatten darüber hinweggesehen, dass er als unbeständig galt. Immerhin behandelte er Allaire wie eine Königin und versicherte glaubhaft, dass er im Rennzirkus genügend Geld verdienen würde, um eine Familie zu gründen.

Arianna dagegen hatte Allaire von Anfang an gewarnt. „Sei nicht überrascht, wenn es nicht funktioniert“, hatte sie gesagt, als sie nach ihrer Scheidung zu Besuch gewesen war.

Diese Worte hatten Allaire verfolgt, als ihre Ehe dann tatsächlich scheiterte. Sie hatte nicht nur versagt, sondern auch alle Erwartungen enttäuscht. Und sie versuchte nun schon seit Jahren, ihr Versagen wiedergutzumachen.

Während sie ihren Gedanken nachhing, wartete D. J. geduldig und sah sie mitfühlend an. Es war Allaire peinlich, dass er sie so leicht durchschaute, und sie versuchte, ihre Gefühle zu verdrängen. Eigentlich wollte sie nur so schnell wie möglich zu ihrem Gemälde zurück. Was dort geschah, hatte sie unter Kontrolle.

„Du gehst zu hart mit dir ins Gericht“, bemerkte D. J. sanft. „Wann wirst du endlich einsehen, dass niemand perfekt ist?“

„Wenn ich meine Erwartungen herunterschraube“, erwiderte sie lachend.

D. J. konnte sie damit allerdings nicht täuschen. Schließlich war er der Mensch, der sie immer schon am besten verstanden hatte.

4. KAPITEL

Für D. J. kam der Tag, an dem das neue Rib Shack eröffnet wurde, viel zu schnell. Obwohl wie sonst auch immer alles pünktlich fertig geworden war, fühlte er sich unvorbereitet.

Für die Eröffnungsfeier am Abend hatte er ein Büfett zusammengestellt, an dem die Gäste nicht nur die Spare Ribs, sondern auch die Beilagen und Nachtische nach Belieben probieren konnten. Als Getränke bot das Servicepersonal Bier, Sekt und Limonade an, und der würzige Duft seiner Grillsauce erfüllte den Raum.

Nur Allaire war nicht da. Sie hatte bis zum Eintreffen der ersten Gäste an ihrem Wandbild gearbeitet, weil es ihrer Meinung nach noch nicht vollkommen war. Dann war sie verschwunden, um sich umzuziehen, und seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen.

D. J. nahm sich ein Bier vom Tablett eines Kellners und wollte sich gerade zu den Cates-Brüdern gesellen, als Dax hereinkam. Er trug eine abgewetzte Lederjacke und wirkte so niedergeschlagen, dass D. J. zweimal hinsehen musste. War das wirklich sein Bruder, der ewige Sieger?

Als Dax ihn entdeckte, blieb er zögernd stehen, und D. J. fühlte sich zwischen seinen Gefühlen hin- und hergerissen. Der kleine Junge in ihm war immer noch wütend, doch der Erwachsene wusste, dass er endlich darüber hinwegkommen musste. Also hob er grüßend eine Hand.

Dax schien daran zu zweifeln, dass sie sich wirklich so leicht versöhnen konnten. Doch immerhin hatte er das Friedensangebot seinen Bruders – eine E-Mail mit der Einladung zur Eröffnung – angenommen.

Es dauerte eine Weile, bis er sich einen Weg durch die Gästeschar gebahnt hatte. Er kannte die meisten und musste immer wieder Begrüßungen erwidern, bevor er endlich vor D. J. stand und ihn schweigend musterte. Obwohl er etwas größer war, wirkte er längst nicht mehr so überragend, wie D. J. ihn in Erinnerung hatte.

„Schön, dass du gekommen bist“, sagte D. J. „Ich freue mich wirklich.“

Na also, das war doch gar nicht so schwer gewesen. Sicherlich war es Dax auch nicht leichtgefallen aufzutauchen, also konnte D. J. ihm wohl etwas entgegenkommen.

Trotzdem fiel ihm ausgerechnet jetzt die Szene ein, die ihn schon so lange verfolgte: Wie er als Kind schweißgebadet aufgewacht war, weil er einen Albtraum über seine verstorbene Mutter gehabt hatte. Wie er zum Elternschlafzimmer gerannt war, um bei seinem Vater Trost zu suchen, und nur ein leeres Bett vorgefunden hatte. Wie er auf nackten Füßen zur Garage getapst war, wo sein Vater und sein Bruder so in die geliebte Arbeit an einem alten Motorrad vertieft gewesen waren, dass sie fünf Minuten lang nicht bemerkt hatten, dass er in der Tür stand.

„Ich freue mich auch“, erwiderte Dax und stemmte die Hände in die Hüften. Es sollte wohl lässig wirken, doch D. J. erkannte eine gewisse Abwehrhaltung darin. „Und, wie gefällt es dir bis jetzt im guten alten Thunder Canyon?“

D. J. gab sich Mühe, den Small Talk mit einem Lächeln zu erwidern. Was hatte er auch erwartet? Gefühlsausbrüche oder gar eine brüderliche Umarmung?

„Soweit ganz gut.“ Er nahm einen Schluck Bier. „Und wie geht’s der Motorradwerkstatt?“

„Ich habe ganz gut zu tun.“

Wieder schwiegen sie. Die Countrymusic, die im Hintergrund lief, war leise genug, um sich dabei zu unterhalten – wenn man sich denn etwas zu sagen hatte.

Autor

Victoria Pade

Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...

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