Bianca Exklusiv Band 346

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DEM GLÜCK MIT DIR SO NAH von KAREN TEMPLETON
Jedes Mal wenn Blythe den Politiker Wes Phillips trifft, bringt er sie zum Träumen. Als der sexy Singledad sie als Designerin für sein Haus engagiert, kommt sie ihm immer näher. Doch Blythe will nicht wieder verletzt werden.

EIN MANN, EIN RING UND MEHR von CINDY KIRK
Schockiert erblickt Mary Karen den funkelnden Diamantring an ihrem Finger, als sie im Hotel in Las Vegas erwacht. Doch sie hat wirklich ihren besten Freund Travis geheiratet. Und nicht nur das …

DICH GIBT'S NUR EINMAL FÜR MICH von GINA WILKINS
Shelby errötet, als Aaron sich als Zwilling eines früheren Feriengasts zu erkennen gibt. Wie peinlich, dass sie ihn umarmt hat. Und wie aufregend, dass sie in seiner Nähe dieses verrückte Kribbeln spürt!


  • Erscheinungstag 04.03.2022
  • Bandnummer 346
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510530
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Karen Templeton, Cindy Kirk, Gina Wilkins

BIANCA EXKLUSIV BAND 346

1. KAPITEL

Es war ja nicht so, dass Blythe Broussard den Valentinstag hasste. Sie konnte nur nichts damit anfangen. Was natürlich nicht hieß, dass sie am Tag danach nicht zuschlug, wenn sie über Pralinen zum halben Preis stolperte. War ihr doch egal, in was für einer Schachtel sie steckten.

Früher hatte es mal eine Zeit gegeben, in der sie am Valentinstag voller Hoffnung aufgewacht war, wenigstens eine Karte von einem Jungen aus ihrer Klasse zu bekommen. Doch diese Erinnerungen gehörten genauso der Vergangenheit an wie die spärlichen Karten der paar Jungs, die sich nicht von einem Mädchen einschüchtern ließen, das in der vierten Klasse alle überragte – einen Makel, den Mutter Natur erst in Blythes fortgeschrittener Highschoolzeit behoben hatte.

Blythe hatte sich damals den ersten Jungen geschnappt, der ihrem Blick begegnete, ohne sich den Hals verrenken zu müssen. Und er sich sie. Wenn auch mit erheblich mehr Begeisterung als Erfahrung. Oder Stehvermögen. Als Blythe bewusst geworden war, dass ihr erstes Mal tatsächlich denkwürdig sein würde, war es leider schon zu spät gewesen, sich ihre Jungfräulichkeit zurückzuholen.

Das ganze Unglück war ausgerechnet am Valentinstag passiert. Vor exakt vierzehn Jahren, dachte Blythe missmutig, als sie auf der ausgeblichenen blauen Samtcouch in dem pseudoschicken Bridal Shoppe saß – jawohl, mit einem Extra-P und – E! –, in dem ihre Cousinen Mel und April für ihre Doppelhochzeit in vier Monaten Brautkleider anprobierten. Bei der Blythe, Gott sei ihr gnädig, nicht nur Ehrenbrautjungfer war, sondern auch noch alles organisierte. Denn wer beruflich Häuser einrichtete, war anscheinend auch qualifiziert, Hochzeiten zu planen und zu organisieren.

Als Kinder hatten die drei Cousinen die Sommerferien immer gemeinsam im Haus ihrer Großmutter in St. Mary’s Cove an der Ostküste Marylands verbracht. Sie waren damals wie Schwestern gewesen. Später hatten sie sich aus den Augen verloren, waren sich jedoch nach dem Tod ihrer Großmutter vor einem halben Jahr begegnet, um das Erbe zu regeln. Sie hatten sich auf Anhieb wieder so gut verstanden, als wären die letzten zehn Jahre nie gewesen. Blythe würde daher alles für ihre beiden Cousinen tun.

Sogar deren Hochzeiten planen.

Mels neben Blythe sitzende zehnjährige Tochter Quinn sprang plötzlich vom Sofa und lief zum Fenster. Ihre roten Locken glänzten in dem Licht der Deckenlampen. „Sieh doch nur, Blythe! Es schneit!“

Dicke, träge Schneeflocken fielen vom grauen Himmel und blieben sogar liegen, wie Blythe zu ihrer Bestürzung feststellte, als sie sich zu Quinn gesellte. Die Vorstellung, auf der Rückfahrt nach Alexandria am Rande Washington D. C.’s vereiste Brücken überqueren zu müssen, war nicht gerade verlockend.

„Du hast recht“, sagte sie und warf einen Blick auf die Zeitanzeige ihres Handys. Schon seit zwei Stunden waren sie in dem Geschäft. Hinter sich hörte sie Aprils melodiöses Kichern aus einer der Umkleidekabinen. Bitte, lieber Gott, dachte sie, als sie zu dem Sofa zurückkehrte. Lass es diesmal das richtige Kleid sein …

Auch Quinn wirkte reichlich gelangweilt. Ihre momentane Begeisterung wegen des Schnees hatte sich schon wieder gelegt. Denn leider mussten sie nicht nur auf eine, sondern auf zwei Bräute warten, die sich Hochzeitskleider aussuchten. Gähnend ließ Quinn sich wieder neben Blythe fallen, die ihr lächelnd einen Arm um die Schultern legte. „Du wolltest mitkommen, schon vergessen?“

„Weil ich dachte, dass es mir Spaß machen würde. Wie lange dauert es denn, sich ein blödes weißes Kleid auszusuchen?“

Blythe lachte verständnisvoll. „Tja, das ist ein langer Prozess.“ Sie verdrängte die Erinnerungen an ihre eigene Hochzeit. Obwohl sie damals nicht viel länger für die Wahl ihres Outfits gebraucht hatte – das erste weiße Kostüm, das sie gesehen hatte, war ihrs gewesen – als für ihren Bräutigam. Hätte sie sich damit mehr Zeit gelassen, wäre sie heute vielleicht noch verheiratet.

Oder auch nicht. Auch wenn Giles nicht ganz … untalentiert gewesen war, dachte Blythe und verzog spöttisch das Gesicht. Leider hatte sein „Talent“ nicht ausgereicht, um ihre Ehe zu retten. Was sie sich beide gegenseitig eingestanden hatten, als sie vor drei Jahren die Schuld an dem Scheitern ihrer Ehe genauso fair untereinander aufgeteilt hatten wie ihre Williams-Sonoma-Kochtöpfe oder Pottery-Barn-Lampen.

Wenigstens hatten sich April und Mel, die inzwischen das Inn ihrer Großmutter leiteten, gute Männer ausgesucht – Männer nämlich, die verrückt nach ihnen, aber ansonsten nicht verrückt waren. Ihre beiden Cousinen schienen sich ihrer Entscheidung absolut sicher zu sein. Ihre Liebe strömte aus irgendeiner scheinbar nie versiegenden Quelle, die zu entdecken offenbar nur Blythe nicht vergönnt war …

„Oh, Mom!“ Quinn sprang wie von der Tarantel gestochen auf, als ihre strahlende Mutter in einem Satinkleid mit Korsage aus der Umkleidekabine kam. „Du siehst umwerfend aus!“

Das Kind hatte nicht übertrieben. Nicht nur, dass das Kleid Mels üppige Kurven an genau den richtigen Stellen betonte, es war einfach … Mel. Schlicht, aber nicht unscheinbar, elegant, aber verführerisch wie die Sünde. Genauso wie die Brünette, die es trug, und deren graugrüne Augen schelmisch unter einem dunkelbraunen Pony hervorblitzten.

„Oh, Mel …“ Blythe selbst bekam zwar Ausschlag bei der Vorstellung, wieder zu heiraten, aber sie freute sich aufrichtig für ihre Cousine. Nach zehn Jahren als alleinerziehende Mutter verdiente die Frau jemanden, der so wundervoll war wie Dr. Ryder Caldwell, den Mel schon als kleines Mädchen angehimmelt hatte. „Du siehst fantastisch in dem Kleid aus!“

Kurz darauf rauschte Blythes zweitjüngste Cousine April in einem mit Perlen bestickten trägerlosen Tüllkleid aus der Umkleidekabine, das die zierliche Figur der Rotblonden seltsamerweise nicht verschluckte.

„April!“ Mel stützte anerkennend die Hände in die Hüften. „Ich kann nur sagen – wow!“

„Du hast es erfasst“, sagte April strahlend. Sicher würde man Aprils Saum kürzen und Mels Oberteil am Busen weiten müssen, aber abgesehen davon waren die beiden Kleider perfekt. Und so unterschiedlich, dass sie einander ergänzten, anstatt sich gegenseitig auszustechen.

„Na los, her mit dem restlichen Gedöns!“, rief April und winkte die beiden schwarzgekleideten selbstgefällig lächelnden Verkäuferinnen heran. Kurz darauf hatte sie einen mit Perlen bestickten ellenbogenlangen Schleier auf dem Kopf, mit dem sie wie eine Madonna aussah, während Mel sich für einen Strauß Seidenkamelien über dem linken Ohr entschieden hatte. Und alles war herrlich und wundervoll und einfach unbeschreiblich schön.

Was man zu Blythes Entsetzen vom Wetter nicht behaupten konnte. Als die beiden Bräute nämlich wieder ihre normalen Sachen trugen, tobte draußen ein Schneesturm, gegen den auch Aprils schicker Lexus nicht ankommen würde.

So viel zu Blythes Vorsatz, nach D. C. zurückzufahren. Oder überhaupt irgendwohin. Bei dieser Erkenntnis bekam sie prompt Kopfschmerzen.

Ihre Cousinen waren auch nicht gerade begeistert. Sie hatten nämlich große Pläne für den Abend. Schließlich war Valentinstag.

„Kannst du bei diesem Wetter überhaupt fahren?“, fragte Mel ihre jüngere Cousine.

April schüttelte den Kopf. Zitternd vor Kälte griff sie nach ihrem Handy. „Auf der anderen Straßenseite ist ein großer Supermarkt“, sagte sie. Der Laden war im dichten Schneetreiben kaum zu erkennen. „Falls wir hier festsitzen, wird man uns zumindest nicht verhungert in unserem Wagen finden.“ April war wie immer ganz Optimistin.

„Und was ist mit euren Gästen im Inn?“, fragte Blythe.

„Im Februar? Keine Sorge, in den nächsten beiden Wochen haben wir keine Buchungen …“ April hob einen Zeigefinger. Anscheinend hatte der Mensch abgehoben, den sie erreichen wollte. „Hey, Schatz“, flötete sie. Offensichtlich sprach sie mit ihrem Verlobten Patrick. „Es schneit hier gerade ziemlich heftig. Sieht so aus, als würden wir hier festsitzen …“

Auf der anderen Seite von Blythe führte Mel praktisch dasselbe Gespräch mit ihrem Schatz. Blythe hörte also stereo. Sie selbst hatte natürlich niemanden, den sie anrufen könnte. Kein Mensch machte sich Sorgen um sie oder würde enttäuscht sein, wenn sie abends nicht nach Hause kam. Niemand hatte auch nur eine Ahnung, dass sie in der Einkaufszeile einer Kleinstadt festsaß.

Meistens fand Blythe es herrlich, niemandem über ihr Kommen und Gehen Rechenschaft ablegen zu müssen. Aber heute Abend …

Na ja, vielleicht hatte das etwas mit dem plötzlichen Fallen des Barometers zu tun.

„Okay, ich buche uns zwei Zimmer“, sagte April mit leuchtenden Augen, nachdem sie aufgelegt hatte. „Lass uns rasch etwas zu essen einkaufen. Ich werde dafür sorgen, dass wir ein Zimmer mit Kühlschrank bekommen.“

Und schon ging sie los. Sie stapfte so unerschrocken durch den Schneesturm wie eine Pionierin des 19. Jahrhunderts.

Niemand kann uns vorwerfen, Feiglinge zu sein, dachte Blythe, als sie sich beeilte, mit ihren lachend über den Parkplatz schlitternden Cousinen Schritt zu halten.

„Oh mein Gott“, japste Quinn, als sie sich dem Supermarkt näherten, in dem sich die Menschen untergestellt hatten, als sei der Sturm ein Vorbote des Weltuntergangs. „Seht mal, da sind Jack und sein Vater!“

Jack war Quinns guter Kumpel Jack Phillips, der ein paar Häuser vom Inn entfernt wohnte, und Jacks Dad war Blythes schlimmster Albtraum. Oder ihre kühnste Fantasie – je nachdem, in welche Richtung ihre nächtlichen Träume gingen.

Als wären dieser Tag oder ihre Kopfschmerzen nicht auch so schon schlimm genug.

Oh ja, Blythe kannte Wes Phillips mit seinen Grübchen und seinem umwerfenden Politikergrinsen. Letzterem hatte der neue Kongressabgeordnete es vermutlich zu verdanken, dass er bei der letzten Wahl zweiundsechzig Prozent der Stimmen gewonnen hatte, dabei war er parteilos.

Immerhin war sein politisches Programm genauso überzeugend wie sein Aussehen, das musste Blythe widerstrebend zugeben. Neben den Grübchen hatte er nämlich ehrlich dreinblickende haselnussbraune Augen mit sexy Fältchen und ein Kinn, das Michelangelo zum Weinen bringen würde. Außerdem war er groß. Groß genug zumindest, um trotz ihrer zehn Zentimeter hohen Absätze auf Höhe seiner verdammten Schlafzimmeraugen zu sein.

Aber …

Da zwischen ihnen aus unendlich vielen Gründen nie etwas laufen würde, konnte Wes Phillips seine Augen, sein Kinn und seine Grübchen für sich behalten, vielen Dank auch. Blythe würde sich mit dem einen oder anderen erotischen Traum zufriedengeben, und ihr Leben war perfekt.

„Hey, was treiben Sie denn bei diesem Wetter draußen?“

„Wir … wir haben Brautkleider gekauft“, antwortete Mel nach kurzem Zögern.

Wes’ Lächeln erstarb für einen flüchtigen Moment. Nur ganz kurz, aber unübersehbar, wenn man darauf achtete. Mels bevorstehende Hochzeit erinnerte ihn vermutlich an den Tod seiner Frau vor zwei Jahren bei demselben Unfall, bei dem auch Ryders Verlobte Deanna ums Leben gekommen war. Mels Rückkehr nach St. Mary’s hatte Ryders Wunden offensichtlich geheilt, während Wes nach wie vor trauerte.

Grund Nummer eins, warum Blythe seine Grübchen ignorierte.

Grund Nummer zwei war Wes’ Sohn, der sich gerade mit Quinn unterhielt. Blythe hatte den Elfjährigen in den letzten Monaten oft genug beobachten können, um einen umfassenden Eindruck von ihm zu gewinnen.

Der in der schrecklichen Phase zwischen Kindheit und Pubertät steckende Junge zeigte alle Symptome einer Krise – eine tiefe Unzufriedenheit, die Blythe nur allzu vertraut war. Und auf die sie seinen Vater gern hingewiesen hätte, wenn sie nicht solche Hemmungen hätte, sich ungefragt in fremde Angelegenheiten einzumischen. Oder schlimmer noch, ihm damit womöglich den Eindruck zu vermitteln, dass sie ihm irgendwie näherkommen wollte.

Denn – und das war Grund Nummer drei, der Hauptgrund – so etwas führte erfahrungsgemäß nur zu einem gebrochenen Herzen, Verwirrung und Reue.

Doch die gute Nachricht war, dass sie aus der Vergangenheit gelernt hatte. Zum Beispiel, dass sie allein psychisch viel stabiler und umgänglicher war als in einer Beziehung. Außerdem würde sie nachts nie wieder um die Bettdecke kämpfen müssen!

„Und was hat Sie vor die Tür gelockt?“, fragte Mel zurück.

Wes’ Lächeln vertiefte sich wieder. „Das Übliche“, antwortete er und hüllte sich tiefer in seinen olivgrünen Parka. „Mich mit Wählern treffen und mir ihre Vorwürfe anhören. Sie beruhigen, ohne Versprechungen zu machen, die ich nicht halten kann.“

Ach ja, dann gab es da noch das Problem, dass Wes Politiker war. In Anbetracht der anderen Gründe fast nebensächlich, aber ein weiterer Grund, dass Blythe ignorierte, wie gut Wes in diesem Augenblick aussah. Politiker lebten nämlich nur für ihren Job. Wenn sie nicht gerade in Washington waren, verbrachten sie ihre Zeit mit Reisen, Meetings und Händeschütteln. Vorausgesetzt, man gehörte zu den gewissenhaften Politikern, und Wes schien ehrlich und anständig zu sein. Etwas, das man ihm allerdings hoch anrechnen musste …

Mel sah sich suchend um. „Keine Entourage diesmal?“, fragte sie.

Wes lachte. „Heute nicht. Manchmal setze ich mich einfach spontan ins Auto, fahre los und halte dort an, wo es mich überkommt.“ Seine Grübchen vertieften sich, als er seinem Sohn zulächelte. „Außerdem haben Jack und ich so wenigstens mal die Gelegenheit, Zeit miteinander zu verbringen und uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten.“

Wes’ Sohn erwiderte den Blick seines Vaters missmutig. Es war nicht das erste Mal, dass Blythe so etwas beobachtete. Der Junge hatte den Verlust seiner Mutter offensichtlich noch nicht überwunden, aber sein Vater merkte nichts davon. Manchmal hätte sie Wes Phillips am liebsten eine Kopfnuss verpasst, damit er endlich aufwachte.

Aber das Ganze ging sie nichts an. Und der Junge war auch nicht gerade vernachlässigt – Wes’ Eltern wohnten nämlich bei ihrem Sohn, um sich um ihren Enkel kümmern zu können, und schienen die hingebungsvollsten Großeltern zu sein, die man sich vorstellen konnte. Dennoch war es offensichtlich, dass der Junge seinen Vater vermisste. Und dass er es hasste, ihn mit der gesamten Ostküste teilen zu müssen. Da Blythe von ihren Eltern genauso behandelt worden war, blutete ihr das Herz.

Was bedeutete, dass sie Jacks Vater noch nicht mal annähernd an sich heranlassen würde, Grübchen hin oder her!

Blythe Broussards Anblick verschlug Wes wie immer den Atem. Ob er allmählich den Verstand verlor? Unglaublich, wie scharf diese Frau ihn machte. Verrückt, unerklärlich und sehr unpassend, da er absolut keine Zeit für so etwas hatte. Selbst wenn er wollte, was nicht der Fall war … oder?

Doch da stand sie, und er konnte den Blick einfach nicht von ihr losreißen. Mann, sie sah ihn aus großen dunkelblauen, irgendwie vorwurfsvollen Augen in einem blassen, scharf geschnittenen Gesicht an. Ihr Haar war fast so kurz wie seins und sehr blond, und ihr Mund von jenem Dunkelrot, das nur wenige Frauen tragen konnten, ohne makaber auszusehen.

Dabei war sie noch nicht mal besonders hübsch, zumindest nicht auf konventionelle Art. Mit anderen Worten, ganz anders als Kym. Trotzdem brachte sie sein Blut in Wallung.

Er riss den Blick von ihr los und drehte sich wieder zu Mel um, die so klein und kurvig war wie Blythe groß und … nicht kurvig. „Wollen Sie jetzt zurück nach St. Mary’s?“

Mel schnaubte verächtlich. „Bei dem Wetter?“

Wes mochte Mel und war froh, dass ihre Tochter Quinn und Jack sich angefreundet hatten. Er freute sich auch, dass es Ryder gelungen war, Deannas Tod zu überwinden. Wirklich. Aber Ryder hatte sie auch nicht zwanzig Jahre lang gekannt und geliebt … so wie er Kym.

„Nein, wir haben gerade beschlossen, über Nacht im Hotel auf der anderen Straßenseite zu bleiben“, erklärte Mel. „Und Sie?“

„Jetzt, wo Sie es sagen … Ich bin auch nicht gerade versessen, bei diesem Wetter ins Auto zu steigen. Hey, Jack!“, rief Wes seinem Sohn zu, der zusammen mit Quinn Schneeflocken mit der Zunge auffing. „Hättest du etwas dagegen, hier zu übernachten?“

Der Junge drehte sich überrascht um. „Beim Chinesen?“

„Nein, im Hotel da drüben.“

Als Wes Blythes Blick begegnete, stockte ihm wieder der Atem. Nicht, dass er daran zweifelte, dass die Anziehung zwischen ihnen rein sexuell war. Trotzdem, nach all den Monaten, in denen er sich wie unter Einfluss eines Betäubungsmittels gefühlt hatte …

Es musste am Wetter liegen. Oder an der Anspannung nach der ganzen anstrengenden Konversation mit seinen Wählern heute Nachmittag. Immerhin wusste er jetzt wieder, warum er beschlossen hatte, in die Politik zu gehen. Und dort zu bleiben, sogar nach …

Wes konzentrierte sich wieder auf Mel. „Ist dort zufällig noch ein Zimmer frei?“

„Mal sehen, ob April ein drittes Zimmer buchen kann.“ Mel zog ihr Handy aus der Tasche.

Wes sah, dass Blythe einer aus dem Supermarkt kommenden Familie Platz machte. Lächelnd beobachtete sie die drei kleinen Kinder, die wie schneebedeckte Flöhe herumsprangen. Als sie Wes’ Blick begegnete, knipste sie ihr Lächeln aus und wandte sich ab.

Okay, vielleicht hatten seine seltsamen körperlichen Reaktionen doch weniger mit Sex als mit Abneigung zu tun. Zumindest auf ihrer Seite.

So etwas kam vor. Er war schließlich Politiker, auch wenn sich diese Bezeichnung irgendwie unpassend anfühlte, so wie ein Paar neuer unbequemer Schuhe. Viele Menschen mochten ihn nicht, und sei es auch nur, weil ihre Visionen nicht mit seinen übereinstimmten. Das war bei seinem Job einfach so. Und weiß Gott kein Grund, sich zu ärgern, auch wenn sein Wahlkampfmanager und die Hälfte seines Personals ihm einzureden versuchten, dass er viel zu nett war.

Was soll’s, dachte er, als Mel ihm mit erhobenem Daumen signalisierte, dass es noch ein Zimmer gab, und mit den Kindern im Supermarkt verschwand. Wes’ Job brachte zwar gewisse Opfer mit sich, aber deshalb würde er noch lange nicht seine Integrität opfern. Für nichts und niemanden. Er hatte aus ganz bestimmten Gründen beschlossen, in die Politik zu gehen. Gründe, die manche Menschen vielleicht für idealistisch oder sogar naiv hielten, aber er stand dazu.

„Wollen Sie nicht mit reinkommen?“, rief er Blythe zu.

Sie drehte sich zu ihm um und zuckte die Achseln. „Nein, Mel wird schon das Richtige besorgen.“

Wes nickte. Er fühlte sich irgendwie unsicher. Normalerweise fiel es ihm leicht, sich zu artikulieren und Menschen für sich einzunehmen. Doch seit er Kym in der neunten Klasse um ein Date gebeten hatte, hatte er sich nicht mehr so auf den Mund gefallen gefühlt.

Nicht, dass diese Situation auch nur annähernd mit der von damals vergleichbar war.

Er ging zu Blythe, um sich ein Bild zu machen, was es da so Interessantes auf dem Parkplatz zu sehen gab. Verstohlen musterte er ihr Profil und ihre grimmig aufeinandergepressten Lippen.

„Der Wetterbericht hat leichten Schneefall angekündigt“, bemerkte sie trocken.

Wes richtete den Blick wieder auf den Parkplatz und schob die Hände in seine Jackentaschen. „Tja, wann kann man sich schon mal auf den Wetterbericht verlassen?“ Er räusperte sich verlegen. „Und? Haben Ihre Cousinen passende Kleider gefunden?“

„Was? Oh ja, das haben sie.“

„Hochzeiten“, sagte er kopfschüttelnd.

„Haben Sie damals groß gefeiert?“

Er schnaubte. „Und ob. Allerdings kann ich mich kaum noch dran erinnern.“ Er lächelte.

„Waren Sie zu betrunken?“

Wes war überrascht, dass sie ihn neckte – falls sie es wirklich tat. „Nein, ich hatte viel zu große Angst. Nicht, dass ich nicht heiraten wollte – ich hätte Kym schon mit achtzehn geheiratet, sofern das möglich gewesen wäre –, aber es als so weit war, bekam ich plötzlich Panik. Sie wissen schon – was mache ich hier eigentlich? Was ist, wenn es nicht funktioniert? Solche Gedanken eben. Doch dann schritt sie den Gang zum Altar entlang, und ich sah nur noch ihr Lächeln …“

Wehmütig schüttelte er den Kopf. „Für den Rest des Abends habe ich alles andere ausgeblendet. Ihr Lächeln hat mich gerettet.“

Wieder folgte eine lange Gesprächspause. „Es tut mir leid“, sagte Blythe irgendwann steif. „Nicht das mit der Hochzeit, sondern …“

„Ich weiß, was Sie meinen. Danke.“

Blythe schlang die Arme um sich selbst. „Sieht so aus, als würden wir heute Nacht alle aufeinander hocken.“

„Ich würde mir deswegen nicht allzu große Sorgen machen“, antwortete Wes, der lächerlicherweise gekränkt war. „Wahrscheinlich liegen unsere Zimmer noch nicht mal im selben Stockwerk.“

Er hörte sie tief aufseufzen. „Sorry, ich wollte nicht unhöflich klingen.“

In diesem Augenblick platzten Mel und die Kinder mit vollen Einkaufstüten beladen aus dem Supermarkt und stapften über den Parkplatz.

„Wir sollten ihnen vielleicht folgen“, schlug Wes vor und wollte Blythes Ellenbogen nehmen, doch sie wich seiner Berührung aus. Was ihn nicht überraschte.

Die Arme noch immer um sich geschlungen, trat sie vorsichtig in den inzwischen ziemlich hohen Schnee, ihren hochhackigen Stiefeln vollkommen hilflos ausgeliefert. Vor ihnen schlitterte Mel, die viel vernünftigere Schuhe trug, genauso lachend durch den Schnee wie die Kinder.

Kein Wunder, dass Ryder ihretwegen seine Trauer überwunden hatte. Mel war genau die Frau, die Ryder gebraucht hatte.

Zu seiner Bestürzung wurde Wes bewusst, dass er neidisch auf die zweite Chance seines Freundes war. Er selbst bezweifelte, jemals eine zu bekommen. Denn obwohl alle – seine Eltern, sein Manager, sogar sein Zahnarzt – ihn drängten, wieder zu heiraten, würde er nie jemanden wie Kym finden.

Als er ein Kreischen hörte, wirbelte er herum und sah Blythe mit rudernden Armen rückwärts im Schnee landen. Dabei fluchte sie laut.

Grinsend hielt er ihr eine Hand hin.

Blythes Kopf pulsierte schmerzhaft, als sie auf Wes’ ausgestreckte Hand starrte. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, seine Hilfe abzulehnen, aber leider war Anmut noch nie ihre Stärke gewesen. Wenn sie allein versuchte, sich im zehn Zentimeter hohen Schnee aufzurappeln, würde sie vermutlich aussehen wie eine betrunkene Giraffe.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Wes, als er sie hochzog.

„Ja, ja, alles gut“, grummelte sie und versuchte, sich den Schnee vom Po zu klopfen. „Auch wenn meine Würde ganz schön gelitten hat.“

„Ich habe schon seit Jahren keine Würde mehr. Man kann auch ohne leben.“

Blythe erwiderte seinen belustigten Blick. Verdammt, sie hatte schon wieder Schmetterlinge im Bauch. „Danke“, sagte sie seufzend.

„Gern geschehen.“ Wes hob wieder einen Ellenbogen. Und eine Augenbraue. Widerwillig – äußerst widerwillig – akzeptierte Blythe seinen Arm. Trotz des erheblichen Risikos, wieder hinzufallen und ihn dabei mit zu Boden zu reißen. Natürlich rutschte sie aus, kaum dass ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss, doch der Mann schwankte nicht einmal. Im Gegenteil, er fasste sie mühelos um die Taille und zog sie an sich. Wie ein Fels in der Brandung.

„Dann hassen Sie mich also doch nicht?“, fragte er.

Aufmerksam war er auch noch.

Blythe knickte schon wieder um und stieß einen lauten Fluch aus.

Wes lachte. Und hielt sie wieder fest.

„Das ist keine Absicht, ehrlich nicht“, stieß sie hervor.

„Habe ich auch nicht angenommen. Nicht einmal Sie hätten dieses Aufeinandertreffen verschiedener Umstände herbeiführen können.“ Als sie ihn stirnrunzelnd ansah, zuckte er die Achseln. Dabei stieg Blythe ein sehr angenehmer männlicher Duft in die Nase, der einer schwächeren Frau den Verstand geraubt hätte. „Der Schnee“, erklärte er. „Ihre Stiefel. Meine Anwesenheit, die Sie davor bewahrt, sich den Hals zu brechen.“

Als sie zu einer etwas weniger verschneiten Stelle kamen, lockerte er seinen Griff. „Geht es Ihnen wirklich gut?“

Ihr Steißbein schmerzte ein bisschen. Aber wenigstens lenkte sie das von ihren Kopfschmerzen ab. „Ich werd’s überleben“, antwortete sie. Als sie unter dem Vordach des Hotels ankamen, machte sie sich von ihm los. „Es ist übrigens nicht so, dass ich Sie nicht mag, Wes. Wirklich. Ich bin nur … müde und hungrig und habe rasende Kopfschmerzen. Das ist alles.“

Die Glastüren öffneten sich bei ihrem Eintreten automatisch, doch Wes hielt Blythe am Arm zurück.

Seit ihrer Scheidung war Blythe Männern bewusst aus dem Weg gegangen. Eine Entscheidung, die sie zu ihrer Überraschung und Erleichterung als unglaublich befreiend empfunden hatte. Bis dahin hatte sie ihrer Libido immer freien Lauf gelassen. Leider hatte sie in der Zeit einige sehr unglückliche Entscheidungen getroffen. Ihre enthaltsame Phase hatte Blythe geholfen, zu erkennen, wer sie wirklich war und was sie brauchte.

Und Wes Phillips intensiver Blick gehörte eindeutig nicht dazu.

„Tut mir leid, dass Ihnen der Kopf wehtut“, sagte er. Oder sein Mund. „Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass hinter Ihrem Verhalten mehr steckt als bloß Kopfschmerzen. Es sei denn, ich bin derjenige, der sie verursacht hat.“

Also, jetzt wo Sie es erwähnen …

Blythe musste lachen, obwohl ihr Kopf dabei fast zu explodieren schien. „Nur zum Teil“, antwortete sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Zum Teil? Ach so, Sie meinen bestimmt, dass Ihnen meine Politik nicht gefällt.“

Blythe atmete erleichtert auf. „St. Mary’s ist nicht mein Bezirk. Ich habe keine Ahnung von Ihrer Politik.“ Lügnerin! „Und ehrlich gesagt ist mir gerade nicht nach Reden zumute. Zumindest nicht, bis ich etwas gegessen habe.“

„Selbstverständlich. Ich … ach, egal. Kommen Sie rein.“

Wes ließ Blythe den Vortritt. Die warme Luft der Lobby hüllte sie ein wie die Umarmung einer Großmutter – nicht ihrer Großmutter allerdings, denn die war alles andere als warmherzig gewesen. Sie gesellte sich zu Mel, April und den Kids, die sich in der Nähe der Rezeption aufhielten. Ihr Blick fiel auf den Tresen, der mit sämtlichem Valentinskitsch bedeckt war, den man sich denken konnte. Na toll.

„Sehen wir uns später?“, fragte Wes kurz darauf, seine Schlüsselkarte in einer Hand. „Im Restaurant?“ Als sie irritiert die Stirn runzelte, hob er wieder eine Augenbraue. Und die Mundwinkel. „Sie haben doch gesagt, dass Sie etwas zu essen brauchen.“

Blythe warf einen raschen Blick zu den anderen, doch die waren zu sehr ins Gespräch vertieft, um etwas mitzubekommen. Gott sei Dank. „Das hängt davon ab, was Mel eingekauft hat“, sagte sie. „Ehrlich gesagt möchte ich mich jetzt nur in einem dunklen ruhigen Zimmer ausstrecken, bis die verdammten Kopfschmerzen nachlassen.“

Seine Augen funkelten belustigt. „Bei der Truppe?“

„Vielleicht sind die Götter mir ja gnädig gestimmt, und die anderen gehen alle zusammen in ein Zimmer und überlassen mir das andere.“

„Also, falls Sie Ihre Meinung noch ändern sollten …“

„Das ist nicht sehr wahrscheinlich“, antwortete Blythe kurz angebunden.

Wes verbeugte sich leicht. „Na, dann gute Nacht“, sagten er und seine Grübchen. Als er mit seinem Sohn davonging, kam Blythe sich vor wie ein ausgesetztes Hündchen.

Blythe wollte sich gerade in das Geschnatter ihrer Cousinen und der Kinder einmischen, als ihr ein erschöpfter junger Vater an der Rezeption auffiel. Die Empfangsdame tippte stirnrunzelnd etwas in die Tastatur. Neben ihm klammerten sich zwei kleine Kinder wie Opossums an ihrer noch erschöpfter wirkenden Mutter fest. Sie hatte ein zappelndes Baby auf dem Arm.

„Wollen wir uns auf unsere Zimmer zurückziehen?“, fragte Blythe die anderen. „Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich bin total erledigt.“

„Wir dachten, wir gehen erst ins Restaurant“, antwortete Mel. „Schließlich haben wir kein Gepäck.“

„Aber …“ Stirnrunzelnd betrachtete Blythe die Einkaufstüten in Mels Hand. „Hast du nicht gerade etwas zu essen besorgt?“

„Nur Knabberkram. Obwohl, irgendwo da drin ist auch ein Grillhähnchen.“

„Das reicht mir.“ Blythe nahm die Tüten. „Gib mir eine Karte, wir sehen uns später.“

„Es tut mir schrecklich leid“, drang die Stimme der Empfangsdame durch die Lobby. „Wir sind leider restlos ausgebucht …“

April und Mel wechselten einen kurzen Blick. April marschierte ohne zu zögern zurück zur Rezeption. „Geben Sie ihnen doch eines von unseren Zimmern. Wir Mädels können auch etwas zusammenrücken, oder?“

Mist, sie war so dicht dran gewesen. Blythe stand kurz vor einem Tobsuchtsanfall. Doch als sie die Frau und ihre Kinder betrachtete, siegte ihr weiches Herz über ihre Bequemlichkeit. „Natürlich!“, sagte sie freundlich. „Es wäre ja nicht das erste Mal, dass wir uns alle ein Zimmer teilen.“ Auch wenn das letzte Mal schon viele Jahre her war.

„Sind Sie sicher?“, fragte die Frau erleichtert, die es irgendwie schaffte, gleichzeitig leidend und dankbar auszusehen. „Wir möchten Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten.“

„Machen Sie nicht. Überhaupt nicht.“ Blythe lächelte. „Ich schwöre es.“

Die junge Mutter hatte Tränen in den Augen, als sie alle drei Cousinen nacheinander umarmte.

Während die anderen ins Restaurant gingen, fuhr Blythe mit dem Fahrstuhl hoch zu ihrem Zimmer und tröstete sich mit Grillhähnchen, Kartoffelsalat und den albernen Machenschaften mehrerer von Schönheitschirurgen operierten TV-Hausfrauen, deren Leben weitaus dramatischer verlief als ihr eigenes.

2. KAPITEL

Als Blythe am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war es bis auf einen blassgrauen Streifen zwischen den zugezogenen Gardinen stockdunkel im Zimmer. Da die anderen noch schliefen, stand sie leise auf und öffnete die Vorhänge weit genug, um zu sehen, dass der Schnee bereits in der schwachen Wintersonne schmolz. Halleluja!

Als ihr Blick jedoch auf ihr Spiegelbild über dem Toilettentisch fiel, verzog sie das Gesicht. Gott sei Dank sahen ihr Pullover und ihre Jeans noch einigermaßen tragbar aus. Ihr Haar allerdings … Na ja, immerhin konnte sie sich waschen und die Zähne putzen. Mel, die Gute, hatte ihnen gestern nämlich Zahnbürsten und ein paar Toilettenartikel besorgt.

Leider bestand Blythes einziges Make-up in dem Lipgloss in ihrer Handasche. Was bedeutete, dass sie nach dem Waschen und Ankleiden wie ein Vampir aussah, der schon länger keine anständige Mahlzeit mehr gehabt hatte. Oder Zugang zu vernünftigen Haarpflegeprodukten, dachte sie, als sie ihr Haar anfeuchtete und es kämmte, bis es nicht mehr ganz so schrecklich aussah.

Leise schloss sie die Tür hinter sich und ging den teppichbedeckten Flur entlang. Mit etwas Glück würde sie vielleicht die Erste im Restaurant sein und niemand sie sehen. So hungrig, wie sie war, würde der Knabberkram nämlich nicht reichen, um sie satt zu machen.

Als sich kurz darauf die Fahrstuhltür öffnete, stieg ihr der leckere Duft von Speck, Kaffee und Pfannkuchen in die Nase und zog sie magisch an.

Die Kellnerin informierte Blythe, dass sie freie Platzwahl hatte. Als Blythe um eine riesige Topfpflanze herumging, stellte sie jedoch fest, dass Wes und Jack ihr offensichtlich um ein paar Minuten zuvorgekommen waren. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Verdammt!

Der Junge erzählte seinem Vater gerade etwas, und Wes hörte ihm aufmerksam zu, während er sich über seinen Teller beugte und Speck mit Eiern aß. Ab und zu lachte er.

Jack sah ganz erstaunlich glücklich aus.

Doch dann platzte eine Frau in die Szene und unterbrach Jack mitten im Satz, um sich seinem Vater vorzustellen.

Blythe beobachtete, wie der Junge enttäuscht in sich zusammensackte.

Wenigstens hatte Wes den Anstand, seinem Sohn einen schuldbewussten Blick zuzuwerfen, bevor er aufstand, um die Frau zu begrüßen und ihr genauso aufmerksam zuzuhören wie ein paar Sekunden vorher seinem Sohn.

Doch sein innerer Konflikt war nicht zu übersehen. Offensichtlich war er trotz seiner freundlichen Reaktion auf die Frau nicht gerade glücklich über die Unterbrechung des Privatgesprächs mit seinem Sohn, der seine Pfannkuchen tief gekränkt anstarrte.

„Wirklich, Sie können sich überall hinsetzen“, wiederholte die vorbeieilende Kellnerin zu Blythes Verlegenheit.

„Typisch“, murmelte Blythe vor sich hin, als sie sah, wie Wes der Frau eine Visitenkarte reichte, sich lächelnd und händeschüttelnd von ihr verabschiedete und …

„Blythe!“, hörte sie plötzlich Jacks Stimme. „Hier drüben!“

So viel zu ihrem Plan, sich irgendwo hinzusetzen, wo die beiden sie nicht sehen konnten. Aber beim Anblick des sich aufhellenden Gesichts des Jungen … wie konnte sie da Nein sagen? Selbst wenn die beiden direkt neben einem Fenster saßen, durch das das unbarmherzige Winterlicht fiel.

Blythe gab sich einen Ruck und ging zu den beiden.

Wes, der sich inzwischen wieder gesetzt hatte und ein Toastbrot mit Butter bestrich, zuckte kaum merklich zusammen, als er sie sah. Ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht.

War ja klar, dass er sogar mit Bartstoppeln unglaublich sexy aussah. Das Leben war so unfair!

„Hey“, begrüßte er sie mit nicht minder erotischer, tiefer Stimme. „Wollen Sie uns Gesellschaft leisten?“

„Ich möchte nicht stören.“ Als Blythe sein Stirnrunzeln bemerkte, fügte sie hinzu. „Sie wirkten … beschäftigt.“

„Das war nur eine Wählerin“, erklärte Wes. „Aber Sie sind eine Freundin. Also setzen Sie sich.“ Er zeigte mit seinem Toast auf einen freien Stuhl.

Freundin? Wirklich? dachte Blythe.

Er lächelte zuvorkommend. „Was macht Ihr Kopf?“

Blythe setzte sich neben Jack, der sie mit vollem Mund angrinste. „Er fühlt sich eigentlich wieder ganz gut an.“

Sie hatte gar nicht mehr an ihren Kopf gedacht. Doch Wes’ besorgtem Blick nach zu urteilen, sah sie offensichtlich so aus, als habe sie nur noch einen Monat zu leben, überspiele das jedoch tapfer.

„Sind Sie sicher?“

Die Kellnerin schenkte Blythe Kaffee ein und reichte ihr die Speisekarte. Blythe trank gierig. Nachdem sie genug Koffein zu sich genommen hatte, um hoffentlich etwas Farbe in ihr Gesicht zu bringen, sah sie Wes wieder an. „Ja. Ohne Make-up sehe ich immer ziemlich blass aus. Aber danke der Nachfrage.“

Sie winkte die Kellnerin an ihren Tisch, bestellte ein Frühstück, das eines Holzfällers würdig gewesen wäre, und drehte sich lächelnd zu Jack um. Sie musste sich beherrschen, um nicht mit ihrem Kaffeelöffel über seine Pfannkuchen herzufallen. Oder seinem Vater schöne Augen zu machen. Sie stieß Jack mit einer Schulter an. „Die sehen ziemlich lecker aus.“

„Sie sind ganz okay. Willst du mal probieren?“

„Nein, iss nur weiter.“ Blythe stützte das Kinn in eine Hand. „Ich bekomme ja auch gleich welche.“

„Ist Quinn schon wach?“

„Als ich das Zimmer verließ, hat sie noch geschlafen.“ Plötzlich kam ihr ein genialer Einfall. „Soll ich sie anrufen?“ Und den anderen befehlen, gefälligst hier aufzutauchen, bevor ich noch mein letztes bisschen Verstand verliere?

„Nein, lieber nicht.“ Wes sah seinen Sohn scharf an. „Du kannst Quinn doch später noch sehen. Zu Hause.“ Er richtete den Blick wieder auf Blythe, wodurch sie gezwungen war, ihn ebenfalls anzusehen. „Die Straßen sollen inzwischen übrigens wieder frei sein“, sagte er. „Wir können also nach dem Frühstück aufbrechen.“

„Gott sei Dank! Ich muss nämlich dringend zurück nach D. C. und eine Präsentation für morgen früh vorbereiten.“

„Es war trotzdem gut, dass wir nicht gefahren sind. Die Sicht war anscheinend katastrophal. Und die Zustände auf den Straßen …“ Er schüttelte den Kopf. „Unfälle über Unfälle.“

„Ich hoffe doch, dass niemand verletzt wurde?“

„Nein. Aber es hätte schiefgehen können.“

Aus dem Augenwinkel sah Blythe die junge Familie von gestern Abend den Saal betreten. Die Eltern wirkten erheblich erholter.

Direkt hinter ihnen kamen Blythes Cousinen. Mels Ponyfrisur saß fantastisch, und April war so rosig und hübsch wie immer. Und Quinn war erst zehn, da sah man sowieso aus wie das blühende Leben.

Bevor Blythe wusste, wie ihr geschah – oder es verhindern konnte –, fragte Jack genau in dem Moment, als die Kellnerin ihr Frühstück brachte, ob er sich zu den anderen setzen dürfe.

„Klar“, antwortete Wes.

Verdammt!

Als Wes Blythes entsetzten Blick bemerkte, hätte er sie um ein Haar aufgefordert, sich ebenfalls zu den anderen zu setzen, doch dazu war er zu fasziniert von ihr. Außerdem war er froh über die Chance, unter vier Augen mit ihr sprechen zu können. Er hatte nämlich schon länger ein Anliegen.

Doch vorerst beschränkte er sich darauf, Blythe beim Essen zu beobachten. Ihre hellen Wimpern und Augenbrauen glänzten im Winterlicht, und ihre Haut war durchscheinend und makellos. Ihm fiel auf, dass sie auf eine fast ätherische Art schön war, was gar nicht zu ihrer Kratzbürstigkeit passte. Leider verbarg sie ihre Schönheit sonst immer unter zu viel Make-up. Vielleicht eine Art Maske, um sich vor irgendetwas zu schützen?

Eigentlich fand er ihre kratzbürstige Art ja sehr erfrischend. Und sie verstand sich offensichtlich gut mit Jack. Außerdem war es zur Abwechslung mal ganz angenehm, mit jemandem zu reden, der nichts von einem wollte. Zumindest nahm Wes das an. Er trank einen Schluck Kaffee. „Wollen Sie das wirklich alles allein aufessen?“

„Ja, das will ich.“ Sie goss sich eine verschwenderische Menge Sirup über ihre Pfannkuchen, bevor sie ein großes Stück mit der Gabel aufspießte. „Wie Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist, bin ich nicht gerade zierlich. Joghurt und Saft reichen bei mir nicht.“

Vielleicht war Essen ja ein Gegenmittel gegen Kratzbürstigkeit. „Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten“, sagte Wes belustigt.

Fragend sah sie ihn an. „Ja?“

„Es handelt sich nicht wirklich um einen Gefallen, eher um einen Auftrag.“ Als Wes sie lächeln sah, machte sein Herz einen Satz.

„Einen Auftrag? Reden Sie weiter.“

„Es ist kein großes Projekt, aber … Jacks Zimmer müsste dringend neu eingerichtet werden. Und ich habe Ihre Website gesehen, also …“

„Wirklich? Sie haben mich gegoogelt?“

Wes wurde rot. „Eigentlich meine Mutter, wenn auch auf meinen Vorschlag hin. Ihr selbst fällt zu Jacks Zimmer nämlich nichts Besseres ein, als nur die Vorhänge und den Teppich gegen eine neue Version der alten auszutauschen.“ Als er Blythe lachen hörte, wurde ihm ganz warm ums Herz. „Dann hätten Sie also Interesse?“

„Na klar. Ich liebe es, Kinderzimmer einzurichten.“

„Gut.“ Wes seufzte erleichtert auf. „Kym war diejenige, die sich bei uns um die Inneneinrichtung gekümmert hat. Ich hatte nie das Talent dafür, selbst wenn ich die Zeit gehabt hätte. Ich vermute, der Junge ist inzwischen über Rennautos hinaus. Allerdings habe ich keine Ahnung, was er jetzt will.“

„Keine Sorge, das kläre ich mit ihm.“

Ein weiteres, diesmal durchtriebeneres Lächeln erhellte ihr Gesicht. Durchtrieben, herausfordernd und sexy, auch wenn Wes bezweifelte, dass Letzteres beabsichtigt war.

„Dann habe ich also freie Hand?“, fragte sie.

„Solange Sie Jacks Zimmer nicht mit Fotos von nackten Frauen dekorieren, ja.“

Diesmal lachte Blythe so laut auf, dass die anderen Gäste sich nach ihr umdrehten. „Ich werd’s mir merken.“ Dann runzelte sie die Stirn. „Im März bin ich allerdings schon ziemlich ausgebucht. Ist das ein Problem für Sie?“

„Der Junge hat ein Jahr warten müssen, da machen sechs Wochen mehr oder weniger auch nichts aus.“

Blythe nickte. Sie stocherte in ihrem Ei herum. „Passiert Ihnen das öfter? Dass Menschen Sie einfach so ansprechen, meine ich?“

Wes fragte sich, warum sie plötzlich das Thema wechselte. „Ja, auch wenn mich natürlich nicht jeder erkennt. Aber angesprochen zu werden, stört mich nicht. Das gehört zu meinem Job. Als Politiker muss ich nämlich ein offenes Ohr für Menschen und ihre Probleme haben.“

Lautes Lachen vom Tisch ihrer Cousinen lenkte Blythe vorübergehend ab. Sie trank ihren Orangensaft und drehte sich wieder zu Wes. „Und Jack … macht es ihm nichts aus, Ihre Aufmerksamkeit teilen zu müssen?“

Im Laufe seines Berufslebens, zuerst als Anwalt und dann als Politiker, hatte Wes gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Er spürte daher sofort, dass hinter Blythes Frage mehr als nur beiläufiges Interesse steckte … vielleicht auch deshalb, weil sie einen wunden Punkt berührt hatte. Was ihn unendlich irritierte. „Haben Sie etwa den Eindruck, dass ich Jack vernachlässige?“

Errötend griff sie nach ihrem Obstsalat. „Vergessen Sie’s. Es geht mich schließlich nichts an.“

„Machen Sie jetzt keinen Rückzieher.“

Erschrocken sah sie ihn an.

„Schon gar nicht, um meine Gefühle zu schonen. Glauben Sie mir, ich bin so dickfellig wie ein Rhinozeros.“ Als Wes sich vorbeugte, sah er etwas in den Tiefen ihrer tiefblauen Augen aufflackern, das ihn seltsam berührte. „Los, raus mit der Sprache.“

Blythe war starr vor Schreck. Eigentlich war sie kein Mensch, der Herausforderungen scheute, aber sollte sie ihm wirklich sagen, was sie dachte? Wie sollte sie das anstellen, ohne dass er sich an den Pranger gestellt fühlte? Auf der anderen Seite ging es um Jack …

Vorsichtig schob sie ihre Obstschale zur Seite und sah zu Wes. „Ich muss Sie warnen. Wenn ich erst mal loslege, bin ich nicht mehr zu halten.“

„Habe ich mir schon gedacht. Also?“

Sie seufzte tief. „Vernachlässigung ist nicht das richtige Wort. Glauben Sie mir, damit kenne ich mich aus. Das würde bedeuten, dass Sie Jack bewusst ignorieren, was nicht der Fall ist.“

„Aber Sie glauben, dass Jack das so empfindet.“

Blythe nickte. „Nach allem, was ich beobachtet und gehört habe, wenn ich mit den Kindern zusammen war …“ Nachdenklich zog sie die Augenbrauen zusammen. „Ich habe den Eindruck, dass Jack das Gefühl hat, um Ihre Aufmerksamkeit kämpfen zu müssen. Und so etwas kann zu Problemen führen, die Sie bestimmt nicht wollen.“

Wes lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie irritiert an.

„Sie haben mich gefragt“, erklärte Blythe leise.

Seufzend legte er die Hände auf den Tisch und sah für einen Moment aus dem Fenster, bevor er ihr den Blick wieder zuwandte. „Sind Sie sich da ganz sicher?“

Blythe blutete das Herz, als sie den Schmerz und die Angst in seiner Stimme hörte. „Dass es zu Problemen kommen wird? Nein, natürlich nicht. Aber es könnte passieren.“

Schweigend erwiderte er ihren Blick. „Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?“, fragte er.

Blythe zögerte einen Moment. „Ja, zum Teil. Aber mehr möchte ich nicht dazu sagen. Ich habe auch nicht die Absicht, Ihnen einen Rat zu geben, aber mein Eindruck ist nun mal … ich finde einfach, Sie sollten es wissen.“

„Glauben Sie, ich sehe das alles nicht?“ Wes ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Seine Stimme klang leise, aber seine Schuldgefühle und seine innere Zerrissenheit waren offensichtlich. „Halten Sie mich für so absorbiert von meinem Job, dass ich Jack darüber völlig vergesse?“

„Nein, natürlich nicht. Aber …“

„Aber was?“

Spontan bedeckte sie seine Linke. „Jacks Zimmer neu einzurichten, ist keine Entschädigung für Ihre Abwesenheit.“

„Vielleicht habe ich ja nicht mehr zu bieten.“ Wes seufzte schwer. Als sein Blick auf ihre Hand fiel, zog er seine weg. „Ich weiß, dass die jetzige Situation alles andere als ideal ist, zumal das alles ganz anders geplant war. Der Plan war, dass Jacks Mutter für ihn da sein wird, falls ich die Wahl gewinne, womit ich übrigens nicht wirklich gerechnet hatte. Nicht geplant war, dass ein Teenager drei Wochen vor der Wahl auf einer nassen Straße in sie und Deanna hineinrast.“

Wes verzog schmerzlich das Gesicht. „Aber dann habe ich die Wahl gewonnen“, fuhr er fort. „Und ich hatte meinen Wählern Versprechungen gemacht. Ich fühle mich verpflichtet, diese Wahlversprechen zu halten.“

Hilflos schüttelte er den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich machen soll, Blythe. Ich versuche mein Bestes, beidem gerecht zu werden, meinem Job und Jack. Mit meinen Eltern im Haus ist er schließlich nicht allein auf sich gestellt. Wenn ich in Washington bin, rufe ich ihn jeden Morgen an, um ihn zu wecken, und versuche, jeden Abend mit ihm zu skypen, bevor er ins Bett geht.“

Wes signalisierte der Kellnerin, die Rechnung zu bringen, und winkte ab, als Blythe für ihr Frühstück selbst bezahlen wollte. Er stand auf und rief nach Jack, der sich offensichtlich nur ungern von Quinn trennen wollte. Dann drehte er sich wieder zu Blythe um.

„Ich versuche, das Beste aus einer unmöglichen Situation zu machen, obwohl mir bewusst ist … dass es einfach nicht reicht.“ Er zückte seine Brieftasche, legte ein paar Geldscheine auf den Tisch und streifte sich den Parka über. „Aber was bleibt mir anderes übrig?“

Nachdem Wes seinen Sohn geholt und mit ihm aufgebrochen war, warf Blythe ihre zerknüllte Serviette auf ihren Teller und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie spürte die neugierigen Blicke ihrer Cousinen im Nacken.

Mann, die Rückfahrt nach St. Mary’s konnte ja heiter werden.

3. KAPITEL

Blythe hatte so viel mit anderen Aufträgen und den Hochzeitsvorbereitungen zu tun, dass sie tatsächlich erst Ende März Zeit fand, sich Jacks Zimmer anzusehen. In den sechs Wochen bis dahin hatte sie nicht ein einziges Mal mit Wes gesprochen – abgesehen von einem Anruf, mit dem sie sich vergewissert hatte, ob der Auftrag noch galt.

Allerdings war er ihr ziemlich oft im Kopf herumgespukt. Viel öfter, als ihr lieb war, wo sie doch mit den Männern abgeschlossen hatte. Sie konnte keinen Kerl in ihrem Leben gebrauchen. Schon gar nicht einen gestressten, noch immer trauernden Witwer, der ohnehin schon viel zu viel um die Ohren hatte, um zu … Selbst wenn er mit dem Gedanken spielen sollte … Nicht, dass er das tat, aber falls doch …

Ach, egal. Müßige Spekulationen waren … nun ja, müßig.

Blythe hatte auch versucht, den Fragen ihrer neugierigen Cousinen aus dem Weg zu gehen, indem sie so schnell wie möglich nach Washington flüchtete. Außerdem waren frisch Verlobte noch schlimmer als frisch Bekehrte. Sie rieben einem ihr Glück ständig unter die Nase, um einem zu beweisen, dass jeder erlöst werden würde, der bereute. Vor allem, wenn sie zu spüren glaubten, dass man so kurz vor der Erleuchtung stand.

Aber scharf auf jemanden zu sein – es war zwecklos, das zu leugnen – bedeutete noch lange nicht, dass man ihm ewige Treue schwören würde. Oder wollte. Wie auch immer. So etwas hatte Blythe schon mal getan, es hatte nicht geklappt, daher hatte sie das Thema abgehakt. Ewige Treue zu schwören, war offensichtlich nicht ihr Ding.

Da war Wes allerdings anders. Oder war es zumindest mal gewesen. Und Blythe hatte keinen Zweifel, dass er eines Tages wieder vor den Traualtar treten würde. Nur nicht mit mir, schärfte sie sich ein, als sie an jenem späten Donnerstagnachmittag Ende März vor einem der Kolonialhäuser unweit des Inns ihrer Cousinen bremste.

Wes’ Haus war imposant: Ziegelfassade, weiße Säulen, schwarze Fensterläden. Eines Kongressabgeordneten würdig, dachte sie, als sie klingelte und fröstelnd den Kragen ihres grauen Mohairpullovers hochschlug. Bear, Jacks schwarzer Labrador, begann hinter der Tür zu bellen. Blythe hörte ein Pst, und dann schwang die breite Holztür auf. Eine kleine, grauhaarige Frau in Jeans und geblümtem Sweatshirt erschien und lächelte freundlich.

„Schön, Sie endlich kennenzulernen“, sagte Candace Phillips, als sie Blythe kurz darauf über die Schachbrettfliesen der blassblau gestrichenen Eingangshalle führte. „Wir haben bisher ja nur telefoniert. Die Kinder sind im Fernsehzimmer und spielen ein Videospiel. Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Soll ich Jack rufen?“

„Danke, nein.“ Blythe hockte sich hin, um den schwanzwedelnden Hund zu streicheln. Sie wich seiner Zunge aus und warf einen Blick ins Wohn- und Esszimmer. Seltsam, dass sie die Kinder so oft hierher chauffiert hatte, ohne das Haus je betreten zu haben.

Es war auffallend geschmackvoll und zeitlos eingerichtet. Farben und Möbel waren perfekt aufeinander abgestimmt. Die Wedgwood-grünen Wände bildeten einen sanften Hintergrund für den Marmorkamin und die beiden weißen Sofas, die einander auf einem Orientteppich gegenüberstanden. Ein paar komplementäre blassviolette und korallenrote Farbtupfer belebten den Raum.

Blythe stand wieder auf, als der Hund zu seinem jungen Herrchen zurückrannte. „Ich möchte mir erst Jacks Zimmer ansehen, bevor ich ihn nach seinen Wünschen frage.“

„Klingt einleuchtend. Ich bin davon überzeugt, dass Kym sein Zimmer längst neu gestaltet hätte, wenn …“ Candace presste die Lippen zusammen und senkte den Blick. „Sie hatte ein Händchen für Inneneinrichtung“, fuhr sie fort. „Zumindest habe ich den Eindruck. Aber natürlich bin ich keine Designerin.“ Sie errötete. „Wie Wes Ihnen bestimmt schon erzählt hat.“

Blythe lächelte. „Gutes Design ist, sich mit Dingen zu umgeben, die einem guttun. Es gibt viel weniger Regeln, als Sie denken. Solange ein Zuhause die Persönlichkeit seiner Bewohner widerspiegelt, ist es schön. Und das hier ist …“ Sie sah sich erneut um, „… wunderschön. Absolut.“

Candace strahlte. Sie freute sich offensichtlich, dass ihre heiß geliebte Schwiegertochter den Test bestanden hatte. „Nicht wahr? Kym war genauso wie dieses Haus hier – warmherzig und willkommen heißend, aber gleichzeitig zurückhaltend und konservativ.“ Sie schwieg einen Moment. „Sie und Wes haben so jung geheiratet, dass sein Vater und ich … also, wir hatten uns große Sorgen gemacht, dass ihnen nicht klar ist, worauf sie sich einlassen. Das war dumm von uns.“ Sie lachte und schüttelte dann entschuldigend den Kopf. „Da rede ich und rede …“, sie ging zur Treppe und bedeutete Blythe, ihr zu folgen.

„Ich habe gehört, dass Ihre Schwiegertochter Wes nach seiner Kandidatur sehr unterstützt hat“, sagte Blythe, als sie die Treppe hochgingen.

„Oh ja“, antwortete Jacks Großmutter. „Kym hat Wes sogar den nötigen Anstoß dazu gegeben, sich zur Wahl zu stellen.“

„Wirklich? Dann war es also gar nicht seine Idee?“

Sie waren inzwischen oben angekommen. Candace ging zur zweiten Tür rechts und hielt sie Blythe auf. „Doch, natürlich war es Westons Idee – er hatte schon sehr lange überlegt, Kongressabgeordneter zu werden. Schließlich war er davor schon fünf Jahre lang im Stadtrat …“, das war Blythe neu, „… hatte den nächsten Schritt aber immer wieder hinausgeschoben, weil Jack noch so klein war.“

Tränen schimmerten in Candaces Augen. „Wir tun, was wir können“, flüsterte sie. „Wes gibt ebenfalls sein Bestes, aber Jack …“ Hilflos schüttelte sie den Kopf und trat zur Seite, damit Blythe das chaotische Zimmer in seinem ganzen verblassten Glanz sehen konnte. „Vielleicht wird das neue Zimmer ihm dabei helfen, wieder Halt zu finden und herauszufinden, wer er ist. Drücke ich mich halbwegs verständlich aus?“

„Absolut“, antwortete Blythe. Wäre ihre eigene Großmutter – ach was, ihre Mutter – auch nur halb so mitfühlend wie diese Frau gewesen, hätten sich die Dinge bei ihr vielleicht anders entwickelt. „Jack hat großes Glück, Sie zu haben.“

Candace sah sie überrascht an. „Lieb von Ihnen, das zu sagen.“ Sie seufzte. „Bill und ich tun unser Bestes, aber wir sind nur ein unzureichender Ersatz für den Verlust seiner Mutter. Na ja, ich lasse Sie dann mal allein. Ich bin in der Küche, falls Sie mich brauchen.“

Als Candace fort war, stellte Blythe sich in die Mitte des Zimmers, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Es war angenehm groß und hell. Oder wäre es zumindest ohne die schweren Vorhänge.

Die beigefarbene Auslegeware schien in einem passablen Zustand zu sein, aber ein paar bunte Teppiche konnten nicht schaden, um für etwas mehr Pep zu sorgen. Alles, was Rennautomotive hatte, musste natürlich weg und durch etwas Altersgemäßes ersetzt werden. Damit Jack sich auch dann noch hier wohlfühlt, wenn er später vom College nach Hause kommt, dachte Blythe lächelnd. Eine einladende Arbeitsecke zum Beispiel und vielleicht ein paar Halogenstrahler …

„Bear!“, keuchte sie lachend auf, als sie plötzlich die Schnauze des Hundes am Hintern spürte. „Du verrückter Köter!“

„Was machst du hier?“

Blythe wirbelte herum und begegnete Jacks feindseligem Blick.

„Sorry, ich wollte hier nicht eindringen.“ Blythe machte sich bewusst, dass sein völlig verändertes Verhalten ihr gegenüber wahrscheinlich nichts mit ihr persönlich zu tun hatte. „Hat dein Dad dir nicht erzählt, dass er mich mit der Umgestaltung deines Zimmers beauftragt hat?“

Als der Hund den Kopf unter ihre Hand schob, funkelte Jack ihn wütend an. „Verräter“, schien sein Blick zu sagen. „Darüber hast du also im Hotel beim Frühstück mit ihm geredet? Nachdem ich mich weggesetzt habe?“

Blythe lächelte. „Ja, da haben wir unsere finsteren Pläne geschmiedet.“ Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Deine Großmutter hat vorhin Kinder erwähnt. Ist Quinn auch hier?“

„Ja. Sie denkt, ich bin auf dem Klo.“ Jack warf sich mit seiner Schuluniform auf das zerwühlte Kinderbett.

Blythe tat er irgendwie leid. Er war zu groß, um noch geknuddelt zu werden, aber noch nicht annähernd alt genug, um mit den Erwachsenenproblemen fertigzuwerden, die das Leben ihm vor die Füße geworfen hatte.

Klar, viele Kinder hatten es viel schlechter als er – etwas, das Blythe sich in Jacks Alter selbst immer wieder eingeredet hatte, wenn sie mal wieder weder ein noch aus gewusst hatte. Aber sie hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass niemand sich ein Urteil erlauben konnte, ob der Schmerz eines Menschen gerechtfertigt war oder nicht.

„Und wenn ich gar nichts verändern will? Ich meine …“, Jack nahm ein Kissen und schob es sich unter den Kopf, „… wenn es mir genauso gefällt, wie es jetzt ist?“

Blythe hob die Augenbrauen. „Dann war das mit der Umgestaltung also gar nicht deine Idee?“

Der Junge schwieg einen Moment. „Ich habe es einmal gesagt, ja. Vor einem Jahr oder so. Als ich dachte …“ Kopfschüttelnd sah er sich um. „Ich will nicht, dass jemand einfach hier reinkommt und alles verändert. Das ist mein Zimmer, verdammt noch mal!“

Behutsam schob Blythe den Kleiderhaufen auf einem der Sessel beiseite und setzte sich auf die Kante. „Du hast vollkommen recht“, sagte sie. Sie wusste, dass man sich manchmal verzweifelt an etwas festklammerte, das einem vertraut war, selbst wenn es einem schadete. „Deshalb werde ich auch nichts wegwerfen, was du behalten willst. Das ist nicht mein Job.“

„Wieso hat Dad überhaupt dich gebeten?“, fragte der Junge. Diesmal klang sein Tonfall eher traurig als wütend. „Ich dachte …“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen, offensichtlich, um seine verletzten Gefühle zu verbergen. Das bestätigte Blythes Verdacht, dass nicht sie das Problem war.

„Hattest du gehofft, dass dein Vater dir dabei hilft?“

Jack nickte nach kurzem Zögern.

Blythe hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Schließlich entschied sie sich für: „Ich glaube, dein Vater wüsste gar nicht, wo er anfangen soll. Und da ich so etwas beruflich mache, hat er eben mich um Hilfe gebeten. Das bedeutet nicht, dass er nicht mitmachen will.“

Jack starrte mürrisch vor sich hin. „Er ist doch bestimmt mal wieder zu beschäftigt.“

„Lass das mal meine Sorge sein“, antwortete Blythe lächelnd. „Und ich verspreche dir, dass du alles behalten darfst, was du willst. Obwohl du vielleicht ein paar Dinge austauschen möchtest.“ Sie zeigte auf das Kinderbett, was Jack ein zustimmendes Grunzen entlockte. „Und vielleicht die Wandfarbe?“ Sie ließ den Blick über die Wände gleiten. „Wie wär’s, wenn wir die Autobordüre entfernen?“

Der Junge folgte ihrem Blick. „Ich weiß noch, wie Mom sie dort angeklebt hat.“

„Ja? Und wie alt warst du da?“

Er verzog das Gesicht. „Sechs. Ist eher was für kleine Jungs, oder?“, fragte er seufzend.

„Ich finde schon. Und ich bin mir sicher, dass deine Mom dein Zimmer inzwischen längst umgestaltet hätte, so schön, wie euer Haus aussieht.“

Jack schwieg ein paar Sekunden. „Sie hat gesagt, ich darf die Wände braun streichen. Bevor … bevor sie starb, meine ich.“

„Das können wir immer noch machen.“ Jacks trauriger Gesichtsausdruck schnitt Blythe ins Herz. „Wir könnten in den Baumarkt fahren, und du kannst dir die Farbe aussuchen, die dir vorschwebt …“

„Aber ich will gar kein Braun mehr.“

„Dann suchst du dir eben eine andere Farbe aus. Das hier ist dein Projekt. Ich bin nur dafür da, deine Ideen zu verwirklichen. Wir können zusammen einkaufen gehen, damit du dir ein neues Bett und neue Bettwäsche aussuchen kannst und noch mehr, was du gern hättest. Hier“, fügte sie hinzu und holte ein Maßband aus ihrer Tasche. „Lass uns das Zimmer schon mal ausmessen.“

„Jetzt?“, fragte er abweisend.

„Wir können es natürlich auf später verschieben. Aber da ich schon mal da bin, spricht nichts dagegen, es jetzt gleich zu erledigen.“ Sie hielt ihm das Maßband hin. „Damit wir sofort loslegen können, sobald du weißt, was du willst.“

Jack zögerte eine Weile, bevor er aufstand und das Maßband nahm. Er hielt es in der Hand, als spiele er mit dem Gedanken, es durchs Fenster zu schleudern. „Und was ist, wenn ich die Wände in vier verschiedenen Farben streichen will?“, fragte er trotzig.

„Warum nicht?“

Er lächelte – Babygrübchen inklusive. Gott helfe den Frauen, die er in ein paar Jahren um den Finger wickeln würde.

Sie waren fast fertig mit dem Ausmessen, als Candace mit Quinn im Schlepptau zurückkehrte. Das wilde rote Haar des Mädchens war ein absoluter Affront für ihr weißes Polohemd.

„Wir haben schon gedacht, du seist vom Erdboden verschluckt worden“, sagte Quinn zu Jack, bevor ihr Blythes Anwesenheit auffiel. „Blythe! Was machst du denn hier? Gestaltest du etwa Jacks Zimmer neu?“

Blythe lächelte. „Wir spielen gerade mit ein paar Ideen.“

Mit leichtem Grauen sah Quinn sich um. „Das wird auch allerhöchste Zeit. Ich habe nie etwas gesagt, aber … schon allein dieses Bett!“

Blythe unterdrückte ein Lachen und hielt erschrocken die Luft an. Doch als sie Jacks nachsichtiges Lächeln sah, wusste sie, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.

Obwohl, vielleicht doch?

Candace seufzte, als habe sie Blythes Gedanken erraten. „Quinn tut Jack so gut“, sagte sie leise. „Aber wir lassen die beiden grundsätzlich nicht allein hier hochgehen. Die Kinder heutzutage fangen so früh damit an, herumzuexperimentieren. Man kann nie vorsichtig genug sein.“

Andererseits hatte Quinn erst neulich lautstark verkündet, dass sie jedem Jungen eine Ohrfeige verpassen würde, der es wagen sollte, „diese komische Sache“ bei ihr zu versuchen. Was vermutlich damit zusammenhing, dass sie inzwischen wusste, dass ihre Mutter mit sechzehn schwanger geworden war, was Mels Leben unendlich verkompliziert hatte. Obwohl Quinns Einstellung zu dieser „komischen Sache“ sich natürlich jederzeit ändern konnte …

„Und Bear ist Ihr Anstandswauwau?“, fragte sie, als sie beobachtete, wie der Hund sich zwischen die beiden Kinder drängte. „Raffinierte Idee.“

Candace lachte. „Wollen Sie zum Abendessen bleiben? Quinn isst sowieso immer hier, wenn ihre Mutter im Inn arbeitet und Ryder Rufbereitschaft hat. Sie beide hier zu haben, würde sich mehr nach Familienleben anfühlen“, fügte sie flüsternd hinzu. „Der arme Junge wäre dann nicht schon wieder mit seinen Großeltern allein.“

„Also, ich wollte eigentlich noch nach Hause zurück. Und ich möchte Ihnen auf keinen Fall Umstände machen …“

„Seien Sie nicht albern, es gibt heute Rinderbraten, der reicht für alle. Es sei denn …“, Candace verzog das Gesicht, „… Sie gehören zu diesen Vegetariern oder Veganern.“

Blythe lachte. „Nein, ich liebe Rinderbraten.“

„Dann also abgemacht.“

„Bitte, Blythe!“, bettelte Quinn. „Du kannst mich hinterher zu Mom und Ryder fahren, sodass die Phillips’ das nicht zu tun brauchen.“

„Aber Liebes“, sagte Candace. „Du weißt doch, dass wir das gern machen.“

„Okay, ich bleibe“, sagte Blythe. „Danke für die Einladung.“ Solange Wes nicht da war, sprach schließlich nichts dagegen. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Nein, danke. Das Essen ist schon fertig, und den Tisch decken die Kinder. Kommt mit, ihr beiden – an die Arbeit!“

Die Kinder stürmten nach unten. Blythe und der Hund folgten Candace und dem betörenden Bratenduft in die Küche, einem wundervollen, offenen Raum in gebrochenen Weißtönen mit hellen Holzschränken, der ins Fernsehzimmer überging, das wie der Rest des Hauses stilvoll und unprätentiös zugleich eingerichtet war.

Wes’ Vater Bill sah dort gerade Nachrichten, stand jedoch auf, als die beiden Frauen das Zimmer durchquerten, und schüttelte Blythe herzlich die Hand. Sein Lächeln war genauso ansteckend wie das seiner Frau.

Oder wie das seines Sohns …

Trotz der offensichtlich noch nicht überwundenen Trauer der Phillips’ wurde Blythe ein bisschen neidisch. Zumindest gaben sich die beiden große Mühe, für ihren Enkel da zu sein. Wahrscheinlich hatten sie sogar ihr eigenes Leben aufgegeben, um sich um ihn zu kümmern – ein Opfer, das ihr zuliebe niemand gebracht hätte. Daher beschloss Blythe nach kurzem Anfall von Wehmut, sich mit dem Scheibchen Familienleben zufriedenzugeben, das sie hier geboten bekam. Besser als gar keins.

Doch kaum hatte sie sich an den runden Küchentisch vor dem Erkerfenster gesetzt, als der Hund in die Eingangsdiele raste. „Dad!“, rief Jack und sprang ebenfalls auf, um dem Hund zu folgen. „Du hast doch gesagt, dass du erst morgen nach Hause kommst!, … und Blythe ist auch hier, um mit mir mein Zimmer zu besprechen, und das wird ganz toll, ich darf mir alles selbst aussuchen, und sie hat gesagt, dass ich alles behalten darf, was ich will und es nicht wegwerfen muss! Cool, oder?“

Uff! Als Wes seine Aktentasche auf seinen Schreibtisch legte, wusste er nicht, was ihn mehr überforderte. Dass sein Sohn gerade wie ein aufgeregter Sechsjähriger klang oder … „Blythe ist hier?“

„Ja.“ Jack runzelte verwirrt die Stirn. „Sie hat gesagt, du hast sie selbst darum gebeten.“

Wes hatte den Termin vereinbart, stimmt. Eine Einladung zum Abendessen hatte er allerdings nicht ausgesprochen. Obwohl – wie er seine Mutter kannte, hätte er eigentlich damit rechnen müssen.

Er wusste nicht, was er von der Anwesenheit der Frau halten sollte, deren Ehrlichkeit und intensiver Blick ihn in den letzten sechs Wochen bis in seine Träume verfolgt hatten. Die einzige Frau auf der Welt, die sogar in Grau strahlend aussah … und in diesem Augenblick ein bisschen verschreckt, wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Was er in einem anderen Leben vielleicht sogar amüsant gefunden hätte.

Seine Mutter – fürsorglich wie immer – stand auf und ging zum Herd, um ihm einen Teller mit Braten und Gemüse aufzufüllen. „Was für eine schöne Überraschung!“

Stimmt, genauso eine Überraschung wie Wes’ impulsive Entscheidung, nach Hause zu fahren, anstatt den Abend wie sonst immer im Büro zu verbringen. Er hatte plötzlich den unwiderstehlichen Impuls verspürt, seine Familie zu sehen. Vor allem seinen Sohn. Und zwar sofort.

Blythe hingegen …

Sie hob die Rechte und winkte. Wurde sie etwa rot? Schwer zu sagen im Kerzenlicht. „Hi.“

Wes lockerte seine Krawatte, setzte sich Blythe gegenüber und lehnte sich ein Stück zurück, als seine Mutter den Teller vor ihm hinstellte. Er gab sich einen Ruck und erwiderte Blythes Blick … und spürte das übliche Knistern. „Hi“, sagte er zurück und dachte verdammt.

Obwohl er sie sechs Wochen lang nicht gesehen hatte, war seine … Leidenschaft anscheinend nicht abgekühlt. Zumal Blythe ihn nicht mehr so abweisend ansah wie sonst, aus jenen blauen Augen, die noch immer die gleiche Wirkung auf ihn hatten wie an jenem Morgen im Hotelrestaurant.

Kein Zweifel, er fühlte sich hingezogen zu der Frau. Sehr hingezogen sogar. Und zwar auf eine Art, die einen Mann dazu veranlassen konnte, Dummheiten zu machen.

„Ihre Mutter hat mich zum Abendessen eingeladen“, erklärte Blythe.

Wes begann zu essen und betete, dass die Mahlzeit ihn genug beleben würde, um den langen Gesetzesentwurf durchzulesen, der am nächsten Tag im Kongress diskutiert werden sollte.

„Das sehe ich“, antwortete er, verstand dabei jedoch kaum sein eigenes Wort, weil Jack ihm gerade ein Ohr abkaute.

Moment mal! Jack kaute ihm ein Ohr ab?

Ein Stück zartes saftiges Rind aufspießend – seine Mutter machte wirklich einen fantastischen Rinderbraten – richtete Wes die Aufmerksamkeit auf seinen Sohn. Der, wenn auch vielleicht nicht gerade überglücklich, zumindest halbwegs fröhlich wirkte. Von etwas, das ausnahmsweise mal kein Videospiel war. Hm.

Das Abendessen kam Blythe schon ungewöhnlich genug vor, aber danach wurde es erst richtig merkwürdig. Anstatt seinen Vater nämlich sofort für den Rest des Abends in Beschlag zu nehmen, zerrte Jack seine Freundin zurück vor den Fernseher.

Wes sah ihm für einen Moment etwas verloren hinterher, bedankte sich dann bei seiner Mutter mit einem Kuss auf die Wange für das Essen und verschwand ebenfalls. Woraufhin Blythe sich etwas einsam fühlte, zumal Candace ihr Angebot ablehnte, ihr beim Aufräumen der Küche zu helfen.

„Das ist nämlich mein Job“, erklärte Wes’ Vater augenzwinkernd und räumte den Tisch ab. „Und Sie wollen einen alten Mann doch nicht arbeitslos machen, oder?“

Blythe beschloss, nach Hause zu fahren. Als sie ihre Sachen zusammensuchte, lauschte sie den ruhigen Stimmen aus der Küche. Offensichtlich gehörte der Abwasch zu jenen kleinen Ritualen, mit denen das ältere Paar ihre Liebe lebendig hielt. Eine an sich banale Tätigkeit, die so jedoch zu einer Geste der Verbundenheit wurde.

Himmel! Was hatte die Frau bloß in den Braten getan?

Dieses Familienidyll war nämlich absolut nicht Blythes Welt. Klar war sie gern mit ihren Cousinen zusammen, aber sie empfand sie eher als Freundinnen und nicht als Verwandte. Auch wenn April und Mel immer wieder betonten, dass sie eher wie Schwestern waren, und Blythe zugeben musste, dass sie das in den letzten Monaten auch manchmal so empfunden hatte. Trotzdem. Familie … das war nur etwas für andere Menschen.

Für manche davon zumindest. Ihrer Erfahrung nach war Familienleben in der Theorie sowieso viel schöner als in der Praxis. Die meisten kriegten es nämlich nicht hin.

Zumindest nicht diejenigen, die keine guten Vorbilder gehabt hatten.

„Sehen Sie sich ruhig den Rest des Hauses an, während Sie warten“, schlug Candace vor.

Blythe nickte. Warten? Worauf? dachte sie. Eine Frage, die sich von selbst beantwortete, als sie die Kinder im Fernsehzimmer sah.

„Wolltest du nicht los?“, fragte sie Quinn, während sie sich ihren Pullover überstreifte.

„Mom kommt erst in einer Stunde nach Hause“, antwortete ihre Nichte, ohne den Blick – oder die Finger – von der Fernbedienung zu lassen. Sie warf Blythe einen flüchtigen Blick über eine Schulter zu. „Wenn Ryder nicht da ist, bringt Jacks Großvater mich immer erst um neun nach Hause.“

„Und was ist mit deinen Hausaufgaben?“

„Schon erledigt“, antwortete das Mädchen und zuckte geistesabwesend die Achseln. „Alles cool. Wirklich …“ Sie biss sich auf die Unterlippe, als die grüne Kreatur auf dem Bildschirm etwas offensichtlich Atemberaubendes machte, denn sie brüllte plötzlich: „Nimm das hier, du miese Ratte!“

Blythe kam sich plötzlich steinalt vor.

Na schön, dann würde sie sich jetzt eben das Haus ansehen.

Als sie etwas unschlüssig durch das Erdgeschoss schlenderte, wurde ihr bewusst, dass es größer war, als sie auf den ersten Blick gedacht hätte. Vom Wohnzimmer ging ein großes und schönes Frühstückszimmer mit Blick aufs Meer ab. Und an einer Seite befand sich eine Doppeltür, die halb offen stand. Vermutlich befand sich dahinter ein Arbeitszimmer oder eine Bibliothek.

Ein Arbeitszimmer, stellte sie fest, als sie kurz darauf durch den Türspalt spähte. Und zwar ein sehr männlich eingerichtetes. Jede Menge dunkles Holz, Gemälde an dunkelrot gestrichenen Wänden und ein massiver Schreibtisch. Als sie die Tür ein Stück weiter aufschob und die obligatorischen Ledermöbel sah, musste sie unwillkürlich lächeln. Ihr Lächeln erlosch jedoch schlagartig, als ihr Blick auf Wes fiel, der auf einem der Sofas sah und sie belustigt ansah.

„Ups! Ich wollte nicht stören“, sagte sie hastig und wich zurück.

„Das tun Sie nicht“, versicherte er ihr, obwohl er sich tatsächlich gestört fühlte. Und zwar von dem Moment an, als er sie an seinem Tisch gesehen hatte. Obwohl er die Störung selbst initiiert hatte, indem er sie bat, Jacks Zimmer umzugestalten. Aber mit Logik hatte das, was in seinem Kopf vorging, ohnehin nichts zu tun.

Trotz seiner Erschöpfung setzte Wes sich auf, wobei er das etwa hundertste Gähnen seit seiner Ankunft unterdrückte. Und den seltsamen und ziemlich verstörenden Impuls, Blythes offensichtliches Unbehagen zu seinem Vorteil zu nutzen. Mit anderen Worten, die Trumpfkarte auszuspielen.

Obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, wie man so etwas anstellte.

„Ich dachte, Sie seien schon aufgebrochen.“

„Das kann ich anscheinend erst dann, wenn Quinn und Jack die Welt gerettet haben.“

Wes lachte. „Wollen Sie heute noch nach D. C. zurück?“

„Es ist schon so spät, dass ich vielleicht bei Mel übernachte. Keine Ahnung. Sie sehen übrigens aus, als würden Sie gleich tot umfallen.“ Als sie seine bestätigende Geste sah, lächelte sie. „Warum gehen Sie nicht ins Bett?“

„Noch eher als mein Sohn? Das wäre mehr als erbärmlich. Und warum stehen Sie noch in der Tür?“ Er winkte sie ins Zimmer. „Leisten Sie mir doch Gesellschaft. Dann bleibe ich zumindest wach“, fügte er gähnend hinzu.

„Ich …“

„Haben Sie etwas Besseres vor?“

„Hier? Nein.“

„Worauf warten Sie dann noch?“

Seufzend betrat Blythe das Arbeitszimmer und legte ihre Tasche und ihren Laptop auf einem Beistelltisch ab, bevor sie ihren Pullover wieder auszog und ihn zu den anderen Sachen legte. Sie sah sich um. „Beeindruckendes Zimmer“, sagte sie.

„Setzen Sie sich doch.“

Autor

Karen Templeton

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