Bianca Extra Band 126

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  • Erscheinungstag 22.08.2023
  • Bandnummer 126
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516877
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Laurel Greer, Heatherly Bell, Teri Wilson, Synithia Williams

BIANCA EXTRA BAND 126

1. KAPITEL

Der Gepäckwagen quietschte wie aus Protest, als Gray Halloran einen weiteren Umzugskarton auf das wackelige Gestell hievte. Es war nicht zu ändern. In fünfzehn Minuten gab es Lunch auf der Moosehorn River Lodge, und Gray hatte seiner Schwester versprochen, seine Sachen vom Truck abgeladen und in sein Zimmer gebracht zu haben, bevor sich auch nur einer ihrer zahlenden Gäste zum Essen hinsetzte.

Zu ihr ziehen zu müssen war schon beschämend genug. Er musste nicht auch noch ihren Betrieb stören.

Sein Handy summte beim Empfang einer Textnachricht.

Emma: Du lädst jetzt erst ab?

Er verkrampfte sich. Spionierst du mir nach? tippte er ein.

Ich kann den Parkplatz von meinem Büro aus sehen. Du hättest schon vor einer Stunde hier sein sollen.

Er seufzte. Sie hatte recht. Sorry. Mom hat mich festgehalten, als ich ein paar Sachen zum Einlagern auf die Ranch gebracht habe. Musste ein kaputtes Scheunentor reparieren. Ich beeile mich.

Bitte tu das. Sei bis elf fertig.

Gray versuchte abzuschätzen, ob auf dem Gepäckwagen noch Platz war. Nach drei Jahren als Feuerwehrmann in seiner kleinen Heimatstadt Sutter Creek in Montana war er geübt darin, Schläuche zu rollen und Erste-Hilfe-Ausrüstung zu packen. Dagegen sollte es ein Kinderspiel sein, Kleidung, Bücher und ein paar persönliche Sachen unterzubringen, bis er eine passende Bleibe gefunden hatte.

In Anbetracht der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt mitten in der Ski-Saison durfte er jedoch nicht wählerisch sein, wenn er Emma nicht länger als nötig zur Last fallen wollte.

Du kannst bei mir wohnen, Gray. Jeder braucht am Anfang Unterstützung.

Freundliche Worte. Wenn er nicht darauf sensibilisiert wäre, wäre ihm das unterschwellige Mitleid seiner Schwester vielleicht nicht aufgefallen. Seine Familie betrachtete ihn immer noch als Kind und nicht als Mann von fünfundzwanzig, der in seinem Job Leben und Besitztümer rettete.

Auf dem Gepäckwagen war kein Platz mehr, also würde er ihn noch ein zweites Mal beladen müssen. Gray rollte das Gestell über den kurvigen Weg, dankbar, dass jemand den Schnee der letzten Nacht vom Asphalt gefegt hatte.

Auch wenn er sich über seine Verspätung ärgerte, konnte er die wärmenden Sonnenstrahlen genießen. Zum ersten Mal seit Tagen war der Himmel blau. Gray war froh, zur Abwechslung einmal keinen scharfen Wind an seinem Gesicht zu spüren und statt Schutzausrüstung Jeans, Stiefel und eine Jacke zu tragen.

Der frisch gefallene Schnee legte sich wie eine Decke über die Gärten und die Lodge. Sein Urgroßvater hatte das Blockhaus gebaut. Mit den Wänden aus Naturstämmen und dem grünen Dach fügte es sich harmonisch in die Landschaft ein und wirkte dabei so imposant, dass sogar Gray – immerhin einen Meter neunzig groß – sich klein fühlte.

Er war schon fast am Eingang, als jemand in einem beigefarbenen Overall vor ihm über den Weg und hinter eine der dicken Säulen flitzte.

Gray blieb so plötzlich stehen, dass die Ladung verrutschte. Er griff schnell danach und brachte das Gestell dadurch nur noch mehr ins Wanken.

Ein Karton polterte zu Boden. Dann noch einer.

Bumm. Bumm.

Noch einer.

Bumm.

Gray konnte den vierten auffangen, aber der fünfte fiel klirrend herunter. Mist. Vermutlich sein Geschirr. Verärgert hob er den schweren Karton auf und stützte den Rest des Stapels mit der Hüfte ab.

„Oh nein!“, rief eine weibliche Stimme hinter ihm.

Er schaute sich um und sah ein vertrautes Gesicht hinter der Säule hervorschauen.

Alejandra Brooks Flores riss ihre Rehaugen auf, während ihre vollen Lippen ein erschrockenes O formten. Unter ihrem hellbraunen Teint war sie blass. Fast ein bisschen grün.

„Alles okay?“, fragte er.

Sie war immer noch die schönste Frau, die er kannte – seine ehemalige Nachbarin, die zufällig über zehn Jahre älter war als er und engste Freundin seiner ältesten Schwester.

Sie kam zu ihm und drückte den Gepäckwagen, der in Schieflage geraten war, am vorderen Bügel gerade. „Es tut mir so leid, Gray. Ich wollte dir nicht in den Weg laufen. Jetzt hast du ein Vorderrad verloren.“

Zweifellos war das ein Problem.

Was das größere Problem war? Er hatte als Teenager sein Herz an diese Frau verloren und es nie geschafft, sie zu vergessen.

Der Overall schmiegte sich an ihre Kurven. Ein Werkzeuggürtel betonte ihre runden Hüften. Sie hatte sich einen Bleistift hinters Ohr gesteckt, zwischen die kleinen Löckchen, die sich aus ihrem dicken schwarzen Zopf gelöst hatten. Eine Schutzbrille steckte in ihrem Haar.

Alejandra Brooks Flores in Arbeitskleidung. Unwiderstehlich.

Aber wegen des Altersunterschieds von elf Jahren war sie für ihn nur der kleine Bruder ihrer besten Freundin, und sich um sie zu bemühen würde nur endlose Warnungen von seinen drei Schwestern bedeuten. Nein danke.

So würde er wie immer seine Gefühle verbergen.

Er räusperte sich, stellte den Karton ab und stapelte die heruntergefallenen Kartons an der Seite vom Säulenvorbau. „Ich habe Emma gesagt, dass der Wagen hinüber ist, aber sie wollte nichts davon hören.“

Aleja machte ein zerknirschtes Gesicht. „Und dann musste ich ihm auch noch den Rest geben.“

„Du konntest es nicht wissen.“ Gray fing an, den Rest abzuladen.

„Was ist in den Kartons?“

„All meine irdischen Besitztümer. Das Gebäude, in dem ich gewohnt habe, wird abgerissen“, sagte er. „Wir Mieter hatten zwei Monate Kündigungsfrist, aber ich habe in meiner Preisklasse noch nichts Neues gefunden.“

Ihr Kehlkopf bewegte sich, als ob sie versuchte, ein Würgen zu unterdrücken.

„Kämpfst du immer noch mit den Folgen der Grippe, die du vor Weihnachten hattest?“

„Nein, es geht mir gut.“

Es sah zwar nicht so aus, aber da sie keine weitere Erklärung anbot, holte er den nächsten Karton. „Emma und ich haben einen Deal gemacht: Arbeit gegen eins der Zimmer im Loft. So fühle ich mich weniger als Schmarotzer.“

Aleja zog die Augenbrauen hoch. „Ich hätte nicht gedacht, dass du dafür Zeit hast.“

„Ich werde es schon hinkriegen.“ Unterschätzte sie ihn genauso, wie seine Familie es tat? Wahrscheinlich beklagte sich Nora bei ihr, wenn er wegen seiner Arbeit nicht auf der Ranch helfen konnte. Nora, die ihre Ranch über alles liebte, ging davon aus, dass ihre jüngeren Geschwister sie genauso lieben müssten. Gray setzte jedoch andere Prioritäten – zum Beispiel Leben retten.

Er musterte den Stapel Kartons. „Ich muss mir eine Sackkarre besorgen, um die Sachen nach oben zu bringen. Oder vielleicht gibt es noch einen Gepäckwagen.“

„Ich habe eine Sackkarre“, bot Aleja an, die Hände immer noch auf das Gestell gestützt, um es im Gleichgewicht zu halten.

„Danke. Vielleicht komme ich darauf zurück. Ich nehme an, die Renovierung ist in vollem Gang?“ Ihm war nicht klar gewesen, dass Aleja daran mitarbeitete. Zuletzt hatte er gehört, dass ein Milliardär aus dem Silicon Valley sie mit dem Bau einer Villa auf der anderen Seite vom Moosehorn Lake beauftragt hatte.

„Wir liegen bis jetzt im Zeitplan.“ Sie wurde etwas grüner im Gesicht als vorher.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“

„Zu hundert Prozent.“

Wenn sie das sagt. Aber ihm gefiel der Schweiß auf ihrer Stirn nicht. „Ich habe die Pläne in Emmas Büro gesehen. Dein Dad hat einen verdammt coolen Job gemacht. Künstlerischer als seine sonstigen Sachen. Ich mag die Romantik-im-Wald-Idee.“

Ein Muskel in ihrer Wange zuckte. „Der Entwurf stammt nicht von meinem Dad, sondern von mir. Ich bin verantwortlich.“

Ihm wurde der Hals trocken. „Für das ganze Projekt?“

Aleja baute sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter zweiundsiebzig auf. Damit reichte sie ihm nur knapp über das Kinn, aber ihr Blick garantierte, dass sie ihn zu Boden werfen könnte, wenn sie es wollte.

Die Vorstellung war allzu verführerisch.

„Hast du ein Problem damit?“, fragte sie.

Ja. Weil ich dich küssen möchte.

„Natürlich nicht“, versicherte er. „Ich dachte nur, dass du ein Haus für jemanden von außerhalb baust.“

„Das hat sich zerschlagen.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Ich bin in der Lage, dieses Projekt zu leiten, Graydon.“

„Ich weiß, ich …“

„Es gibt Männer, die mich unterschätzen, aber von dir hätte ich das nicht erwartet. Du bist in einer Familie mit starken Frauen aufgewachsen. Sie würden dich zusammenstauchen, wenn sie wüssten, dass du daran zweifelst, dass eine Frau eine leitende Position in einem Handwerksberuf ausfüllen kann.“

Seine Wangen glühten. „Ich bin überzeugt, dass du gute Arbeit leistest.“

„Warum hast du mich dann gefragt, ob ich für ‚das ganze Projekt‘ verantwortlich bin?“

Er schob die Hände in die Jackentaschen. „Ich … also … ich meinte, dass ich überrascht war, dich hier zu sehen. Nicht, weil ich dir den Job nicht zutraue. Ich wusste nur nicht, dass du diesen Job machst.“

„Es hörte sich so an, als ob es ein Problem wäre“, sagte sie.

„Aleja …“

„Ist es ein Problem?“

„Natürlich nicht.“ Offensichtlich war es nicht das erste Mal, dass sie diese Diskussion führte. Er wünschte, er hätte sich nicht versprochen. So musste er ihr vorgekommen sein wie ein weiterer Blödmann, der sie geringschätzte.

„Deine Schwester vertraut mir. Ich rate dir, nicht zu versuchen, ihre Meinung zu ändern.“

„Das würde ich nicht tun. Ich freue mich, dass du den Auftrag hast.“

Er schluckte. Aleja, hier. Täglich. Verdammt.

Er hatte keine Chance, vor Mai eine Wohnung zu finden, die er sich leisten konnte. Bis die Saisonarbeiter die Stadt verlassen hatten, würde er in der Lodge wohnen.

Und Aleja ständig über den Weg laufen.

Vier Monate, in denen er ignorieren musste, wie schön sie in Overall und mit einem Werkzeuggürtel um die Hüften aussah.

Ach du Schande.

Er nahm den letzten Karton vom Wagen und stellte ihn zu den anderen.

Erleichtert ließ Aleja den Bügel vom Gepäckwagen los.

„Oh, Mist …“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund und rannte den Kiesweg zum Fluss hinunter.

Gray starrte auf die Gebäudeecke, hinter der sie verschwunden war. Er spürte ein Kneifen im Magen. Die Kartons würden warten müssen.

Er holte sein Handy hervor und suchte den Chat mit Emma.

Er zuckte bei ihrer letzten Nachricht – sei bis elf fertig – zusammen und sah auf die Uhr: fünf vor elf.

Tut mir leid, Em. Es ist etwas dazwischengekommen.

Obwohl er wusste, dass er sich einiges von seiner Schwester würde anhören müssen, lief er Aleja nach.

Alejandra lehnte ihre feuchte Stirn an die Außenwand der Lodge. So viel dazu, auf die Schnelle einen Mülleimer zu finden – sie hatte sich mit einer Stelle neben einem Rhododendron begnügen müssen.

Sie atmete tief durch. Okay, Magen. Ich habe es verstanden. Toast geht nicht. Vielleicht würde ihr nun für den Rest des Tages weniger übel sein.

Unwahrscheinlich. Die morgendliche Übelkeit, mit der sie seit Woche vier ihrer Schwangerschaft zu kämpfen hatte, war eher eine ganztägige Angelegenheit. Es ging schon seit fünf Wochen so und wurde nicht besser.

Und ausgerechnet Gray Halloran hatte gesehen, wie sie davongestürzt war. Vor Scham drehte sich ihr der leere Magen um. Der Mann war nicht gerade für seine Verschwiegenheit bekannt – ihre beste Freundin Nora hatte sich millionenfach über seine Redseligkeit beschwert, als er jünger war. Was, wenn er die Ursache ihrer Übelkeit erriet und seiner Schwester erzählte? Sie wollte das Projekt erst fest im Griff haben, bevor Emma oder die Handwerker herausfanden, dass sie schwanger war.

Gleich nach Weihnachten hatte Aleja den Auftrag von Emma erhalten, und sie wollte sich diese Chance nicht wegen ihrer Schwangerschaft entgehen lassen. Emma träumte davon, die Moosehorn River Lodge in eine Fünf-Sterne-Location zu verwandeln, und Aleja hatte vor, diesen Traum zu verwirklichen.

Sie hatte angefangen, das Untergeschoss zu entkernen, und konnte es nicht abwarten, dort einen gemütlichen Ess- und Loungebereich zu schaffen.

Leider war sie, bis sie ihrem Magen vertrauen konnte, an der frischen Luft besser aufgehoben.

Sie lehnte sich an die Holzwand. Endphase, Aleja – ein Baby.

Mutter zu werden war ihr sehnlichster Wunsch, seit sie mit zwanzig zum ersten Mal Tante geworden war. Sie hatte eine Familie mit ihrem Ex gründen wollen. Zum Glück hatte sie noch vor der Hochzeit herausgefunden, dass er ein Lügner war. Nach der Trennung von ihm hatte sie befürchtet, nie den richtigen Partner zu finden. Dann hatten sich ihre jüngste Schwester und deren Frau für eine Samenspende entschieden und eine Tochter bekommen. Das hatte ihr den Anstoß gegeben, sich auf künstliche Befruchtung zu verlassen statt auf einen Mann.

Aleja spreizte die Finger auf ihrem Bauch und atmete die kalte Bergluft ein. Sie und ihr Kind würden ein gutes Duo abgeben, umgeben von Alejas Eltern, ihrer Großmutter, ihren Geschwistern und deren Familien.

„Du wirst über alles geliebt werden, Kleines. Das verspreche ich.“

„Aleja?“ Grays tiefe Stimme erklang ganz in der Nähe, dann kam er um die Ecke. „Da bist du.“

Er war groß und breitschultrig, und sie musste schon recht weit zu ihm hochschauen. Eine Baseballmütze bedeckte sein zerzaustes blondes Haar. Bartstoppeln glitzerten auf seinem normalerweise glatt rasierten Gesicht. Dazu das kantige Kinn und schiefe Lächeln …

Ihre Wangen wurden heiß und kribbelten in der beißenden Januarkälte. Sie machte ein unbefangenes Gesicht. „Ist noch etwas?“

Gray reichte ihr eine Flasche Wasser. „Ja. Ich muss wissen, ob du medizinische Hilfe brauchst.“

„Absolut nicht.“

„Dir ist aber schlecht geworden.“

„Das kommt vor.“ Sie trank ein paar kleine Schlucke und spülte sich den Mund aus, bevor sie sich von der Wand löste. Es wurde Zeit, an die Arbeit zu gehen.

Sie steckte die Plastikflasche in ihre Jackentasche, nahm die Atemschutzmaske von ihrem Werkzeuggürtel und schob sich an Gray vorbei.

Sein Blick fiel auf die Maske.

„Das ist ein Filter mit hoher Schutzfunktion.“

Aleja drehte sich zu ihm um. „Und?“

„Ich dachte, alles wäre auf Blei und Asbest geprüft.“

Ihr Magen flatterte nervös. Gray war zu aufmerksam. Er war außerdem nahe daran, ihre Expertise infrage zu stellen. Das würde sie sich nicht gefallen lassen von einem Jungen, der Poltergeist gespielt hatte, wenn sie und Nora bei den Hallorans auf dem Heuboden geschlafen hatten.

„Korrekt – das Gebäude ist bleifrei, wir wissen, wo Asbest verbaut ist, und wir haben eine Spezialfirma mit der Entfernung beauftragt“, erwiderte sie.

„Aber die Maske …“

„Ich muss einfach vorsichtig sein“, sagte sie. „Lange Geschichte.“

Er zog die Stirn kraus.

Säure brannte in ihrer Kehle. Sie bedeckte den Mund mit einer Faust und schaute weg.

Komm schon, Magen. Halte die Revolte zurück.

Wenigstens, bis sie Gray abgeschüttelt hatte.

Er musterte sie mit dem Blick eines Sanitäters. „Musst du dich hinsetzen?“

„Nein, ich muss…“ Nein. Sie drehte sich zum Rhododendron um und übergab sich.

Gray kam fluchend näher und legte ihr eine Hand auf den Rücken. „Was ist los, Aleja?“

Auch wenn sie sich gerade hundeelend fühlte, war seine beruhigende Geste genau das, was sie brauchte.

Sie spülte sich wieder den Mund aus. „Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.“

„Das sehe ich anders“, widersprach er. „Wenn du eine Lebensmittelvergiftung oder einen Virus hast, solltest du nicht hier sein.“

„Es geht mir gut.“

„Nein, es geht dir nicht gut. Du solltest auf der Couch liegen mit einem Tee und Netflix.“

„Ich habe keine Zeit, mich auszuruhen. Das Projekt muss bis Juli fertig sein.“ Sie richtete sich etwas zu schnell auf, sodass ihr schwindelig wurde. Sie schwankte.

Gray hielt sie mit beiden Händen an den Schultern fest. „Ein Tag wird nicht …“

„Deine Kartons versperren den Haupteingang. Du solltest dich darum kümmern.“

„Ich lasse dich nicht allein, solange du so zittrig bist. Wenn es nicht die Grippe ist, was ist es dann? Anhaltende Übelkeit …“ Seine Augen wurden groß, sein Blick flog zu ihrem Bauch. „Oh. Oh. Du bist schwa… Ach, vergiss es. Geht mich nichts an.“

Mist. Er hatte eins und eins zusammengezählt.

„Gray …“ Wenn sich die Neuigkeit herumspräche, würde ihr Team ihr dann noch die Leitung der Arbeiten zutrauen? „Bitte sag niemandem etwas davon, nicht einmal Emma. Nur meine Familie und Nora wissen Bescheid.“

Er legte die Hand auf seine Mütze. „Du glaubst, ich würde hinter deinem Rücken reden?“

„Ich will nur noch etwas abwarten, um sicher zu sein.“ Sie war erst in der neunten Woche, und es bestand immer noch das Risiko einer Fehlgeburt.

Ein Schatten glitt über sein Gesicht. Enttäuschung?

„Dein Geheimnis ist sicher“, sagte er nach einer langen Pause. „Pass auf dich auf.“

Er ging weg, die Schultern steif und die Brauen fest zusammengezogen.

Aleja stöhnte. Er hatte die Zusammenhänge hergestellt. Was für eine heikle Lage.

Und was war noch heikler? Sie schaute ihm nach und sah nichts anderes als jede Menge Mann unter all dem Denim und Flanell.

2. KAPITEL

An manchen Tagen kam Gray von seiner Schicht und hatte das Gefühl, dass er es mit der ganzen Welt aufnehmen konnte.

Und dann gab es Tage wie diesen, wo er sich mit Koffein zuschütten musste, um sicher nach Hause zu kommen. Eine extra große Portion Kaffee dampfte in der Konsole, spendiert von der Inhaberin vom Sweets and Treats, nachdem sie gehört hatte, wie viel in der zweiten Schicht los gewesen war. Daneben der Ingwertee, den er spontan für Aleja mitgenommen hatte. Jetzt musste er nur noch überlegen, wie er ihn ihr geben konnte, ohne wie ein Idiot dazustehen.

Er umklammerte das Lenkrad, während er den Truck über die rutschige, kurvige Straße lenkte.

War Aleja jeden Morgen übel, oder war es vor zwei Tagen eine einmalige Sache gewesen?

Es ging ihn nichts an. Das hatte sie ihm deutlich zu verstehen gegeben. Trotzdem hatte er eine Million Fragen, angefangen mit: Wer ist der Vater?

Gray hatte nicht gemerkt, dass sie mit jemandem liiert war. War sie vielleicht wieder mit ihrem Ex zusammen? Wer auch immer der Vater war, Grays winzige Chance, Alejas Interesse zu wecken, war unter diesen Umständen passé.

Seine Gefühle ließen sich jedoch nicht so leicht abschalten. Auch nicht seine Sorge.

Wenn Aleja es seltsam fand, dass er ihr Tee brachte, würde er es auf Schlafentzug schieben.

Er würde ihn abliefern und sich wie beiläufig nach ihrem Befinden erkundigen, bevor er sich mit Emmas Verlobten Luke, einem Wildtierschützer, dem die Lodge zur Hälfte gehörte, um Wartungsarbeiten kümmerte.

Ein paar Minuten später wurde ein Anruf seiner Schwester auf dem Monitor im Cockpit angezeigt.

Gray stöhnte und drückte auf den Antwort-Button. „Ich bin spät dran.“

„Ja, das merke ich. Ich hasse es, dich zu nerven, aber ich brauche dich, schnell.“ Ihre Stimme übertönte das Navigationssystem. „Luke musste raus zu einem Laichplatz, und ich werde auf keinen Fall Hank eine Leiter raufschicken, um die Eiszapfen abzuschlagen. Wenn du sagst, dass du kommst, muss ich mich darauf verlassen können.“

Der Vorwurf war unüberhörbar. „Ich bin auf dem Weg, Em, aber wir sind erst spät vom Einsatz zurückgekommen, und die Straßen sind glatt.“

„Ich habe von dem Brand gehört.“ Ihr Ton wurde weicher. „Mom hat sich Sorgen gemacht.“

„Es war nichts Ungewöhnliches.“ Seine Familie sollte inzwischen an die Gefahren des Berufs gewöhnt sein. Sein Cousin Jack arbeitete sogar als Feuerspringer in Oregon.

„Du kennst doch Mom“, sagte Emma. „Du bist ihr Baby. Sie hat sich um dich immer mehr Sorgen gemacht als um andere.“

„Ja, ich weiß.“ Wenigstens hieß das, dass sie ihn liebte.

„Ich bin in fünfzehn Minuten da.“ Gray atmete aus. „Gleich nachdem ich etwas bei Aleja abgegeben habe.“

„Was?“ Er konnte sich Emmas Stirnrunzeln vorstellen, als sie fortfuhr: „Du wirst sie doch nicht ablenken, oder? Ich möchte nicht, dass sich die Arbeiten unnötig in die Länge ziehen. Die Renovierung zehrt alles auf, was Luke, Hank und ich an Reserven haben.“

Gray ärgerte sich über die Andeutung, dass er nicht so weit denken konnte. Ihm war durchaus klar, dass die Renovierung der Lodge ein großes finanzielles Risiko für Emma, ihren Verlobten und ihren künftigen Schwiegergroßvater bedeutete.

„Es dauert nur eine Minute.“

„Kümmere dich nur so schnell wie möglich um die Eiszapfen, ja?“, sagte Emma.

„Ja, ja.“

Er trank den Kaffee aus und parkte hinter dem Gebäude.

Nachdem er sich in seinem Zimmer umgezogen hatte, machte er sich auf den Weg ins Untergeschoss. Da die Treppe dorthin mit einer Staubschutzwand abgesperrt war, gelangte er nur von außen durch ein Bauzelt in den Raum, in dem sechs Leute um eine Sperrholzplatte auf zwei Sägeböcken standen.

Aleja erklärte etwas auf einem Diagramm. Als Gray näher kam, richtete sie sich auf. „Brauchst du etwas, Gray?“

Mist, er hatte nicht damit gerechnet, die Aufmerksamkeit ihrer Arbeiter auf sich zu ziehen.

„Ich … habe nur eine Frage an dich. Ich kann warten.“

Stirnrunzelnd nickte sie. „Eine Sekunde, bitte.“

Verdammt. Er hätte das nicht tun sollen. Nicht nur, dass sie sich durch ihn sehr irritiert zu fühlen schien, sie wirkte auch stabiler als vor zwei Tagen.

Er blieb etwas abseits stehen. Zwei Minuten später schickte Aleja alle wieder an die Arbeit und kam zu ihm.

„Ich bin gerade von meiner Schicht zurück“, erklärte er unsicher, „und wollte nach dir sehen.“

„Du brauchst nicht nach mir zu sehen. Ich bin gesund.“

„Ich weiß. Das ist großartig.“ Da er nicht wusste, was er noch sagen sollte, hielt er ihr den Tee hin. „Für den Fall, dass dir heute wieder schlecht wird. Als meine Kollegin letztes Jahr schwanger war, hat sie auf das Zeug geschworen.“

Aleja nahm den Becher und schnupperte an der kleinen Öffnung. „Oh, Ingwer. Wie aufmerksam.“ Ihre Wangen röteten sich leicht. „Es ist auch … Ich möchte nicht, dass meine Leute Fragen stellen, Gray. Mir Tee zu bringen ist süß, aber es ist eine Geste, die auffällt.“

Er ballte die Hände zu Fäusten, um zu verhindern, dass er ihre Schulter rieb oder gar ihre Wange streichelte. Sie sah so aus, als ob sie Zuspruch gebrauchen konnte, und er neigte dazu, Menschen, die er liebte, zu berühren.

Es ist keine Liebe. Das ist es nie gewesen.

Jedenfalls würde er weiter versuchen, sich das einzureden.

„Ich werde nichts verraten“, versicherte er ihr.

Sie zog eine Augenbraue hoch. „So, wie du auch versprochen hast, deinem Hockeytrainer nicht zu erzählen, dass Nora auf ihn steht, es dann aber doch getan hast? Oder deiner Mom nichts zu verraten, als Jacks Freundin schwanger wurde?“

Du liebe Zeit. „Da war ich Teenager, Aleja. Du kannst das nicht ernsthaft als Messlatte nehmen.“

Sie wirkte ein wenig zerknirscht. „Ich schätze, ich habe immer noch das Bild von damals im Kopf.“

Sein Herz zog sich zusammen. „Du bist nicht die Einzige, der das so geht.“

Mit fünfzehn hatte er herausgefunden, dass er kein Wunschkind war. Er hatte eine Weile gebraucht, um seinen Platz in der Familie zu finden. War auf seine Schwestern und Jack losgegangen, wenn sie ihn damit aufgezogen hatten, dass er nur ein Unfall war. Damals hatte er seine Lektion gelernt – seine Gefühle zu verbergen, damit niemand sie gegen ihn verwenden konnte.

„Genieß den Tee“, sagte er. „Ich gehe jetzt lieber – ich muss Eiszapfen abschlagen.“

„Sei vorsichtig.“

Der Anflug von Sorge in ihrer Stimme ließ ihn noch grübeln, als er schon lange auf der Hebebühne stand.

Ein paar Stunden später hatte Aleja es immer noch nicht geschafft, den Tee zu trinken. Sie stellte den Pappbecher auf den Tisch in der Nische, die vom Speisesaal abging, und breitete Zeichnungen vor sich aus.

Noch nie hatte sie eine so klare Vision gehabt, wie das Ergebnis einer Renovierung aussehen sollte. Vor allem der Essbereich mit seiner hohen Decke lag ihr am Herzen.

Emma kam zu ihr, zwei Becher in den Händen. Sie setzte sich und stellte einen vor Aleja. Ihr blauer Hosenanzug und die weiße Bluse kontrastierten mit dem hässlichen Blumenmuster des Sofas. Nur ihr langer brauner Pferdeschwanz passte in die rustikale Umgebung.

„Nimm dir den Kaffee“, sagte Emma. „Ich brauche dringend einen Wachmacher. Luke musste in aller Herrgottsfrühe raus, und ich konnte nicht wieder einschlafen.“

„Nein danke.“ Aleja hob den Becher mit ihrem aufgewärmten Tee. „Ich bin versorgt.“

Emma hob schnuppernd die Nase. „Mmh, riecht nach Ingwer. Chai?“

Aleja zuckte nur mit den Schultern. Sie hielt es für besser, vage zu bleiben.

Emma schob ihre lila Brille hoch und betrachtete die Skizzen. „Oh, Luke wird das lieben. Es wirkt so, als würde man in den Wald gehen. Einen stilvollen, makellosen Wald.“

Aleja schmunzelte. „Genau das wollte ich erreichen. Aber es wird nicht billig. Ich brauche dein Okay, bevor ich die speziellen Hölzer bestelle.“

Durch die hohen Fenster sah sie Gray auf dem Balkon eine Leiter hochklettern.

Emma folgte ihrem Blick. „Oh, gut, er ist fast fertig.“

Er steht so weit oben.

Aleja wurde der Mund trocken.

Unnötig, wirklich. Sie selbst stieg täglich auf Leitern, und nach den muskulösen Oberschenkeln zu urteilen, war Gray mehr als standfest.

Ihr Herzschlag setzte trotzdem kurz aus.

Vielleicht ist es nicht wegen der Höhe.

„Aleja? Du machst dir doch keine Sorgen, oder? Gray ist in vieler Hinsicht ein hoffnungsloser Fall, aber wenn er Leitern hochklettern kann, um Brände zu löschen, kommt er sicherlich auch auf meinem Balkon zurecht.“

Alejas Wangen glühten. „Ja, natürlich. Ich habe nur gerade an die Schutzausrüstung gedacht, die die Trockenbauer und Maler brauchen.“

„Bestell, was immer sein muss.“

„Ist dir das Geländer auch wirklich nicht zu markant?“ Aleja deutete mit einem Bleistift auf die Skizzen. Zweige, die sich um Paneele wanden, sollten den Eindruck erwecken, dass man durch eine Baumkrone sah. Dazu kamen Pfosten mit intakter Rinde und halbierte Stämme als Treppenstufen.

Wenn sie es schaffte, ihre Vorstellungen umzusetzen, bevor ihr runder Bauch sie daran hinderte, könnte dieses Projekt ihrer Karriere einen Schub verleihen.

Während ihr Vater sich dem Ruhestand näherte, war es ihr wichtig, sich von seinem praktischen, schnörkellosen Stil zu unterscheiden. Dabei auch noch das Vertrauen ihrer Leute zu behalten, wenn ihre Schwangerschaft bekannt wurde, bedeutete einen schwierigen Balanceakt, doch sie würde es schaffen.

Ihr Telefon klingelte.

„Meine Großmutter“, sagte sie zu Emma. „Ich rufe sie später an.“

„Quatsch, geh ruhig ran.“

Aleja ging mit dem Handy die paar Meter ans Fenster, bevor sie sich meldete. „Abuela, hi. Ich bin gerade in einer Besprechung.“

Eine Bewegung am Dachvorsprung erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie versuchte, zu Gray hochzuschauen, ohne dass Emma merkte, dass sie ihn beobachtete.

„Überanstrenge dich nicht, Alejita. Die ersten drei Monate sind hart.“

„Was du nicht sagst“, entgegnete sie trocken.

„Weshalb ich anrufe … Ich möchte dich zu deinem Termin morgen begleiten. Bitte. Oder willst du mir den ersten Blick auf mein Urenkelchen verwehren? Es könnte das letzte sein, das ich miterlebe.“

„Von wegen.“ Aleja beobachtete Gray, während er die Leiter hinabstieg. Die Jeans überließ nichts der Fantasie. Wow. Wer immer Graydon Halloran abends mit ins Bett nahm, hatte verdammt viel Glück.

Er erreichte das Deck und sah durchs Fenster. Sein Blick fiel auf sie, und sein Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln.

Oh nein. Hatte er sie etwa beim Gaffen erwischt? Vor Scham wurden ihre Wangen heiß. Sie schaute weg und konzentrierte sich auf die absurde Andeutung ihrer Großmutter, dass sie nicht mehr sehr lange leben würde.

„Abuela, du wirst so bald nirgendwo hingehen.“

„Außer morgen mit dir nach Bozeman?“

Niemand war hartnäckiger als Adelita Brooks, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Ohne ihr Vorbild wäre Aleja heute nicht das, was sie war – Geschäftspartnerin ihres Vaters und schwanger mit einem Baby, das sie allein großziehen würde.

Sie gab nach. „Ich hole dich um acht ab. Der Termin ist um neun. Danach muss ich noch zum Baumarkt.“

„Abgemacht.“

Nachdem sie sich verabschiedet hatte, kehrte Aleja an den Tisch zurück.

„Geht es deiner Großmutter gut?“, fragte Emma.

„Sie ist fit wie ein Turnschuh.“

„Bist du sicher?“ Emmas Ohren verfärbten sich rot. „Ich wollte nicht lauschen, aber ich habe mitbekommen, wie du zu ihr gesagt hast, dass sie nirgendwo hingeht. Und dass sie einen Termin hat.“

Aleja zupfte am langen Ärmel ihres T-Shirts. „Es ist nichts Besorgniserregendes.“

Emma runzelte die Stirn.

Oh, oh. Wenn Emma nicht überzeugt war, würde sie sich wahrscheinlich nach Abuelas Gesundheit umhören, wodurch alle möglichen Gerüchte entstehen könnten.

Es sei denn, Aleja weihte Emma in ihr Geheimnis ein.

Morgen. Nach dem Ultraschall, vorausgesetzt, alles war in Ordnung, würde sie mit Emma reden.

3. KAPITEL

Gray ging abends außen um die Lodge herum und pfiff dabei vor sich hin. Aleja hatte ihn beobachtet, als er auf der Leiter gestanden hatte – von diesem Wissen konnte ein Mann wochenlang zehren.

Es hatte nichts zu bedeuten. Sie ist offensichtlich mit jemandem zusammen.

Er war gerade auf dem Weg zur Außentreppe, als ein derber Fluch, der aus einem geöffneten Badezimmerfenster im Untergeschoss kam, ihn stoppte.

„Au!“

Aleja.

Er lief ins Haus. „Hallo?“ Seine Schritte hallten auf dem Betonfußboden wider.

Sie antwortete nicht.

Sein Herz fing an zu rasen. Er schoss ins Bad. „Ist alles …“

Aleja kniete allein auf dem Boden, unverletzt, aber im Krieg mit den orangefarbenen Keramikfliesen.

Es geht ihr gut. Alles ist gut.

„Hey“, sagte er, sich nur scheinbar lässig an den Türrahmen lehnend. „So sieht man sich wieder.“

„Zweimal an einem Tag.“ Ihre Stimme klang gedämpft durch die Atemschutzmaske.

Dreimal, wenn er mitzählte, wie sie ihn beim Abschlagen der Eiszapfen beobachtet hatte.

Das Bad hatte Platz für zwei Kabinen und zwei Waschbecken, wobei alle Trennwände und Apparaturen entfernt worden waren. Aleja hatte die Hälfte der Fliesen herausgerissen. Locken hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und umrahmten ihr Gesicht.

„Ich hörte dich fluchen und …“

„Und du konntest es nicht lassen, zu meiner Rettung zu kommen.“

„So ungefähr.“

Sie beim Arbeiten zu beobachten war faszinierend, und das nicht nur wegen ihrer Geschicklichkeit. Im Overall war schwer zu erkennen, dass sie ein Kind erwartete. Aber Gray bemerkte die subtilen Veränderungen ihres Körpers. Sie wirkte ein wenig weicher, voller. Atemberaubend.

„Verfluchte …“ Eine Fliese flog gegen die Wand. Aleja hockte sich auf die Fersen und schaute zu ihm hoch. „Wenn du bleiben willst, mach dich nützlich. Diese Dinger lösen sich nicht von allein.“

„Ich kann Schwerstarbeit leisten.“

Ihr Blick schweifte von seinem Gesicht über seine Brust zu seinem Bizeps. „Dachte ich mir. Der Werkzeugkasten steht vor der Tür. Masken und Schutzbrille liegen auch da.“

Gray nahm sich Hammer und Meißel und Schutzausrüstung und ging die Aufgabe von der anderen Seite des Raums an. Es störte ihn nicht, dass Aleja fünfmal schneller war als er – es war schließlich ihr Handwerk –, aber er wollte wenigstens kompetent erscheinen.

Der Streifen greller Fliesen zwischen ihnen wurde kleiner, bis sie nur noch etwa einen Meter voneinander entfernt arbeiteten.

Aleja legte ihr Werkzeug hin. „Ich muss etwas trinken. Entschuldige mich kurz.“

Gray machte weiter und war fertig, ehe ihm bewusst wurde, dass Aleja schon zwanzig Minuten fort war. Er räumte noch kurz auf, dann machte er sich auf die Suche nach ihr.

Als er um die Ecke in den künftigen Loungebereich kam, sah er Aleja in einem Plastikstuhl, den Kopf an einen Stützpfosten gelehnt. Ihr Mund war leicht geöffnet, die Arme hingen schlaff zu ihren Seiten herab.

Anscheinend war er nicht der Einzige, der müde war.

„Aleja“, sagte er leise. „Alejandra.“

Nichts.

Er kniete sich neben sie und rüttelte an ihrer Schulter. „Aleja. Wach auf.“

Sie schreckte zusammen und hielt sich an seinen Oberarmen fest, um nicht vom Stuhl zu fallen. Die Berührung wärmte seine Haut selbst durch die Kleidung.

„Huh?“ Ihr Blick war verwirrt.

„Du bist eingeschlafen“, flüsterte er. „Zeit, nach Hause zu gehen.“

„Aber wir sind noch nicht fertig.“

„Doch. Ich habe es zu Ende gemacht.“

Sie drückte seinen Arm. „Oh mein Gott, ich liebe dich. Du bist ein Schatz.“

Sein Herz stockte. Würde sie das immer noch sagen, wenn sie wüsste, dass er seit ungefähr seinem elften Lebensjahr mehr oder weniger in sie verknallt war?

„Ach was, nicht der Rede wert.“ Er runzelte die Stirn. „Bist du auch nicht zu müde zum Fahren? Ich könnte dich in die Stadt bringen, wenn du möchtest.“

Sie strich träge mit dem Daumen über seinen Oberarm. Ihre Pupillen wurden groß.

Plötzlich ließ sie seinen Arm los und stand auf. „Ich bleibe wach, Gray.“

„Das hoffe ich. Wir sehen uns morgen.“

Und übermorgen. Und überübermorgen. Wenn er es bis Mai schaffte, ohne dass Aleja merkte, wie sehr er wünschte, er hätte eine Chance bei ihr gehabt, wäre das ein Wunder.

Am nächsten Morgen lag Aleja mit entblößtem Bauch auf einer Liege in einem Behandlungszimmer ihrer Frauenarztpraxis. Abuela saß auf einem Stuhl neben ihr und streichelte ihr den Arm.

Eine medizinische Assistentin führte die Ultraschalluntersuchung durch und machte dabei ein sehr ernstes Gesicht. Aleja atmete tief durch. „Ist alles in Ordnung, Joanne?“

Es war unmöglich, etwas von Joannes Gesicht abzulesen. „Lassen Sie mich erst die Aufnahme beenden. Dann hole ich Ihre Ärztin.“

„Stimmt etwas nicht?“ Aleja überkam eine Welle der Übelkeit. Beim ersten Mal hatte die künstliche Befruchtung nicht funktioniert. War wieder etwas schiefgegangen?

Tränen brannten in ihren Augen. „Ich dachte, dass es diesmal geklappt hätte“, sagte sie. „Mir ist immer so übel, und ich habe schon zugenommen …“

Joanne legte das Schallgerät beiseite. „Sie sind schwanger. Aber es gibt einige Dinge, über die Frau Doktor mit Ihnen reden muss.“

Aleja versuchte sich zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. Ihr Puls trommelte in ihren Ohren.

Joanne reichte ihr eine Box Papiertaschentücher. „Sie können sich jetzt wieder anziehen. Dr. Lopez kommt gleich zu Ihnen.“

Aleja schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter.

„Ich schaffe das“, murmelte sie, während sie sich die Jeans hochzog und sich dann auf die Liege setzte. „Es wird ein Jahr dauern, bis ich das Geld für den nächsten Versuch zusammengespart habe, aber ich bin erst sechsunddreißig und …“

Es klopfte an der Tür, und Dr. Lopez trat ein. Aleja liebte ihre Ärztin, die sie in ihrer Entscheidung von Anfang an voll unterstützt hatte.

Sie hatte allerdings auch nicht beschönigt, wie schmerzhaft es sein würde, wenn die Dinge nicht nach Wunsch verliefen.

Heute lächelte sie. „Buenos días, Aleja, Doña Adelita. Schön, Sie wiederzusehen.“

„Dr. Lopez …“

„Kein Grund, so ein Gesicht zu machen, Alejandra. Heute ist ein guter Tag.“

„Siehst du?“, sagte Abuela. „Todo está bien.“

Aleja war jetzt fast noch mehr zum Weinen zumute als vorher. „Aber Joanne sah so ernst aus …“

„Sie ist neu und hatte wohl Angst, etwas zu verraten. Ich werde mit ihr reden“, erwiderte die Ärztin. „Es tut mir leid, dass sie Ihnen einen falschen Eindruck vermittelt hat. Ich muss Ihnen ganz im Gegenteil etwas Wunderbares zeigen.“

Sie drehte den Monitor zur Liege herum. „Sehen Sie? Herzschläge.“ Sie zeigte auf ein kleines Flackern, dann auf noch eins daneben.

Adelita schnappte nach Luft.

„Moment.“ Alejas Gedanken überschlugen sich. „Zwei schlagende Herzen?“

„Ja, zwei.“

„Mellizos“, rief Adelita aus.

„Genau.“ Dr. Lopez’ Lächeln wurde breiter.

Aleja brachte kein einziges Wort heraus. Zwillinge?

Ihre Großmutter sah sie an. „Sag etwas, mi corazón. Geht es dir gut?“

Corazón. Herz. „N… nicht ein Herz. Zwei.“

Die Ärztin nickte. „Nicht das, was Sie erwartet haben, ich weiß. Aber wie wir vor der Prozedur besprochen haben, ist die Wahrscheinlichkeit für Zwillinge bei künstlicher Befruchtung erhöht.“

Zwillinge. Madre de Dios …

Zwei Babys auf einmal.

Und sie ganz allein.

Ihr wurde heiß.

„Wir werden besprechen, was das für Ihre Schwangerschaft bedeutet“, fuhr Dr. Lopez fort. „Früherer Geburtstermin, Anpassung Ihrer beruflichen Verpflichtungen …“

Die Liste brach wie ein Tsunami über Aleja herein. Langfristig würde es herausfordernd sein, sich allein um Zwillinge zu kümmern. Kurzfristig schrumpfte das Zeitfenster von sieben Monaten für den Umbau der Lodge deutlich zusammen.

Die Ärztin lächelte aufmunternd. „Ich werden Ihnen etwas gegen die Übelkeit verschreiben. Und Sie bekommen einen Ausdruck von dem Scan. Sie brauchen doch einen für das Babyalbum, nicht wahr?“

„Richtig.“ Aleja schwirrte der Kopf. Der feste Händedruck ihrer Großmutter war das Einzige, das sie in der Realität verankerte.

Sie war immer noch wie betäubt, nachdem sie ihre Großmutter zu Hause abgesetzt hatte und auf die Straße einbog, die am See entlang zur Lodge führte. Krampfhaft umklammerte sie das Lenkrad. Komm schon, Aleja. Es ist dein Beruf, Pläne zu entwickeln. Dies ist einfach einer mehr.

Ein Licht auf dem Armaturenbrett blinkte. Dasselbe, das schon seit Wochen immer mal wieder aufleuchtete, aber Aleja hatte so viel um die Ohren gehabt, dass sie noch keine Zeit gefunden hatte, sich darum zu kümmern.

Jetzt blinkte das Licht unaufhörlich, sie hatte Baumaterial für einige Tausend Dollar im Wagen, ein Team, das auf sie wartete, und zwei Babys im Bauch …

Der Motor ging aus.

Fluchend trat Aleja auf die Bremse. Uff. Schwer zu bedienen. Sie konnte nur gleiten und hoffen, dass der Wagen vor der nächsten Kurve stehen blieb.

Knirschend kamen die Räder gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Puh.

Zitternd legte Aleja die Parkstellung ein.

Sie lehnte die Stirn ans Lenkrad und stöhnte. Es hatte keinen Sinn, dass sie versuchte herauszufinden, was das Problem war. Sie konnte so ziemlich alles aus Holz herstellen, aber Motoren waren ihr ein Rätsel.

Auf einen Abschleppwagen zu warten, dauerte zu lange. Sie hatte schon genug Zeit verloren. Bis zur Lodge war es noch ungefähr eine Meile. Ohne Gepäck könnte sie die Strecke leicht zu Fuß gehen, doch die neue Säge im Auto zurückzulassen forderte einen Diebstahl geradezu heraus.

Sie musste jemanden aus ihrem Team anrufen.

Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Nicht auszuschließen, dass sie die Fassung verlor, sobald sie den Mund aufmachte, um um einen Gefallen zu bitten.

Fünf Minuten. Beruhige dich. Dann ruf an.

Sie stieg aus und sog die nach Kiefern duftende Luft ein. Der festgefahrene Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Von der Straße aus hatte man einen atemberaubenden Blick über den zugefrorenen See. Aleja lehnte sich an die Autotür und atmete ein paarmal tief durch, um die Ruhe des Waldes in sich aufzunehmen. Schnee, der fast lautlos von den Zweigen fiel. Der Schrei eines Adlers. Ein Winseln von der anderen Straßenseite.

Aleja sträubten sich die Nackenhaare. Sie schaute sich um und versuchte das Geräusch zu orten. Dabei fiel ihr ein dunkelgrüner Haufen am Rand der Böschung auf.

Der Haufen bewegte sich. Was zum …?

Sie lief über die Straße und blieb vor einem Leinenbeutel mit dem Logo eines Supermarkts stehen. Der Beutel bewegte sich, dazu war ein schwaches Schnauben zu hören. Ihr Magen verkrampfte sich vor Entsetzen.

Vorsichtig hob sie den Stoff an und sah ein überwiegend braunes Fellknäuel. Unmöglich zu sagen, um was für ein Tier es sich handelte. Sie holte ihr Handy hervor und leuchtete in den Beutel.

Zwei glänzende Augen in einem winzigen Hundegesicht starrten sie an. Ein Welpe, höchstens zwei Monate alt.

Wut stieg in ihr auf. „Oh nein, Pobrecito. Was machst du hier?“

4. KAPITEL

Aleja steckte das Handy wieder ein und holte das jaulende Tier vorsichtig aus dem Beutel. Kaum zwei Handvoll groß zitterte es so heftig, dass sie fester zupacken musste. Ein kleiner weißer Stern markierte das braune Gesicht zwischen den Augen. Der Welpe hatte kurzes Fell mit großen kakaobraunen Flecken am Rumpf, vier gefleckte Beine und Pfoten …

Moment.

Drei Pfoten. Eins seiner Vorderbeine war missgebildet, ihm fehlte die Pfote. Es sah nicht nach einer Verletzung, sondern nach einem Geburtsfehler aus. „Bist du einfach ausgesetzt worden, Süßer?“

Das Jaulen wurde lauter.

„Sh, sh, ist ja schon gut.“

Aleja nahm ihren Schal ab und wickelte den Kleinen darin ein. Dann zog sie ihre Jacke ein Stück auf und schob den Hund hinein.

So, wie er sich an sie kuschelte, wäre er wohl am liebsten in sie hineingekrochen. Sie machte die Jacke so weit wie möglich zu, lief über die Straße und setzte sich in den Truck.

Gerade als sie jemanden aus ihrem Team anrufen wollte, hörte sie einen Wagen von hinten näher kommen. Mit einem Blick in den Rückspiegel erkannte sie einen Truck von der Halloran-Ranch. Sie stieg aus und stellte sich an die Heckklappe.

Der Ford näherte sich langsam. Möbel und Kartons waren auf der Ladefläche festgezurrt. Gray saß am Steuer, ihr Retter in der Not.

Er hielt an und sprang lächelnd aus dem Wagen. „Ärger mit dem Truck? Brauchst du vielleicht einen Anschieber? Oder ein zweites Augenpaar?“

Aleja schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass es etwas ist, das wir am Straßenrand reparieren können. Der Motor ist einfach ausgegangen. Wenn du mich mitnehmen könntest, wäre das toll. Ich hätte auch zu Fuß gehen können, aber ich hätte eine Betonsäge mitnehmen müssen, und das wäre mir zu schwer gewesen.“

Die Situation wurde ihr jetzt erst richtig bewusst. Wenn sie nicht ausgestiegen wäre, hätte sie das verlassene Tier nicht bemerkt. Der Welpe hätte nicht überlebt …

Tränen stiegen in ihr auf. „Das heißt, zuerst muss ich zum Tierarzt.“

„Zum Tierarzt?“

„Ja, könntest du mich zu Maggie Reids Praxis fahren? Ich weiß, dass du gerade umziehst, aber … ich habe einen Welpen gefunden. Ich war auf dem Rückweg von einem Arzttermin und hatte gerade erfahren, dass ich …“ Nein, sie konnte es noch nicht aussprechen. „Ich meine, der Motor ging während der Fahrt aus. Ich bin ausgestiegen, um Luft zu schnappen, und da hörte ich ein Geräusch und …“

„Hey.“ Beruhigend rieb er ihre Oberarme. „Wo ist der Hund?“

Aleja zog den Reißverschluss ein Stück herunter, um Gray ihren Fund zu zeigen. „Das …“ Tränen liefen ihr über die Wangen. „Das war vielleicht ein Morgen.“

„Oh, Mann. Sieh einer an. So winzig.“ Finger in Fleecehandschuhen strichen über ihre feuchten Wangen. „Bist du deshalb so durch den Wind? Oder ist etwas beim Arzt passiert?“

Sie schluchzte kurz auf. Verdammt. Wenn sie erst anfing, von der Untersuchung zu erzählen, würde sie vielleicht nicht mehr aufhören können zu weinen. „Ich möchte einfach nur zum Tierarzt. Kannst du mich hinbringen?“ Sie zog den Schal ein wenig herunter, damit ihm die beiden dunklen Hundeaugen das Herz erweichen konnten.

Gray atmete scharf ein. „Ich kann nicht fassen, wie jemand ihn aussetzen konnte.“

„Ich auch nicht.“

„Lass uns fahren“, sagte er. „Soll ich deine Sachen hinten aufladen oder den Hund halten?“

„Nimm du den Hund. Ich weiß, was unbedingt mit muss.“

Er nahm ihr das Bündel ab, zog den Reißverschluss seiner Winterjacke auf und barg das Tier an seinem Flanellhemd.

Aleja ging das Herz auf.

Es sind nur die Hormone. Sie verstaute ihre Kartons auf der Ladefläche, zurrte sie fest und stieg zu Gray ins Führerhaus.

„Sieh dir das Gesichtchen an.“ Er runzelte die Stirn. „Er zittert so heftig. Wir sollten uns beeilen.“ Er legte ihr den Hund in den Schoß.

Der Welpe wand sich und quiekte.

„Sh, Baby“, murmelte sie. 

Grays leicht gebräunte Wangen verfärbten sich rötlich. „Wie bitte?“

„Ich meinte den Hund“, stellte sie klar, zog die Handschuhe aus und hob den Kleinen hoch. Er sah sie so ängstlich an, dass ihr schon wieder die Augen brannten.

„Er ist sehr jung. Wahrscheinlich gerade erst entwöhnt.“ Gray streichelte ihn kurz. „Lass uns zusehen, dass du Hilfe bekommst, Baby Yoda.“

Er startete und wendete an der nächsten Kreuzung.

„Baby Yoda!“ Aleja bettete den Winzling in einem Nest aus ihrem Schal und strich sanft mit einer Fingerspitze über den samtigen Bauch. „Er ist übriges eine Sie. Und sie sieht überhaupt nicht aus wie Grogu.“

„Hört sich aber so an.“ Er tätschelte den Welpen zwischen den Ohren. Dabei streifte er ihre Hand, und Aleja spürte Hitze in sich aufsteigen.

Sie hielt den Atem an. Seit wann reagierte sie auf Grays Berührungen?

Um sich abzulenken, schrieb sie ihrem Tischler, dass sie länger als geplant weg sein würde, und telefonierte mit einem Abschleppdienst.

Da Gray wegen der Ladung auf dem Truck und der glatten Straßen sehr langsam fahren musste, kam ihr die Fahrt bis zur Tierarztpraxis ewig lang vor. Endlich angekommen, atmete sie erleichtert auf, als sie ein vertrautes Gesicht hinter dem Empfangstresen sah.

„Lachlan! Ich freue mich, dich zu sehen.“

„Hey, Aleja. Hast dir einen Hund angeschafft?“

Antiseptischer Geruch schlug ihr entgegen. Sie unterdrückte den Drang, ihre Nase an Grays Jacke mit dem beruhigenden Zitrusduft zu drücken. Vor Übelkeit wurde ihr schwindelig.

Sie taumelte rückwärts und stieß an Grays Brust.

„Es tut mir leid. Mir ist ein bisschen schwindelig, ich …“

„Es ist okay.“ Das leise Murmeln löste eine ganz andere Art von Kribbeln in ihr aus. „Ich halte dich.“

Und sie konnte es nicht leugnen – es gefiel ihr.

Gray glaubte fast zu träumen. Aleja Brooks Flores benutzte ihn als körperliche Stütze.

Sie schwankte, und er umfasste reflexartig ihre Arme. Seidige Locken kitzelten seine Haut. Es war ein traumhafter Moment. Wenn er nur nicht durch ihre Übelkeit herbeigeführt worden wäre.

„Tut mir leid. Es liegt am Geruch“, behauptete sie. „Er erinnert mich an Blut.“ Sie würgte. „Oh, verdammt. Nimm den Hund, Gray.“

Sie drückte ihm den Welpen in die Hände und eilte am Tresen vorbei den Flur hinunter.

„Wenn Aleja einen Arzt braucht, ist sie hier falsch“, meinte Lachlan. „Aber dieser kleine Wonneproppen ist hier richtig. Wer ist der glückliche Besitzer?“

„Wir wissen es nicht. Aleja hat ihn am Straßenrand gefunden. Kannst du ihn dir mal ansehen?“

Lach kam hinter dem großen Tresen hervor. Er war Tierarzthelfer, bevor er sich als Trainer für Such- und Rettungshunde selbstständig gemacht hatte. „Ich werde tun, was ich kann. Maggie ist gerade zu Tisch, aber ich werde sie bitten, schnell zurückzukommen.“ Er nahm Gray den Hund ab. „Möchtest du inzwischen nach Aleja sehen? Ihr findet mich dann in Zimmer drei.“

Gray nickte und ging zum Waschraum. Er konnte von draußen hören, wie Aleja sich übergab.

„Alejandra?“, rief er. „Bist du okay?“

Die Tür ging auf. Aleja hielt eine Hand hoch. „Sag nichts. Es ist mir schon peinlich genug.“

„Übelkeit in der Schwangerschaft ist doch normal, oder nicht?“

„Ja, aber es macht mich fertig. Ich wollte es eigentlich noch eine Weile für mich behalten.“

Viel länger würde sie es nicht verbergen können. Ihr T-Shirt unter der offenen Jacke kaschierte weder die ein bis zwei Cup-Größen mehr noch ihren kleinen Bauch.

Gray streichelte ihre Schultern. „Dein Geheimnis ist immer noch sicher. Lachlan hat dir die Ausrede mit dem Blut abgenommen, und ich werde kein Wort verraten.“

Sie musterte ihn. „Ich hätte nie gedacht, dass man dir vertrauen kann, aber ich glaube, ich habe mich geirrt.“

Na toll, dachte Gray. Endlich schätzte sie ihn richtig ein, doch es nutzte ihm nichts, da sie gebunden war.

Schweren Herzens ließ er sie los. „Wir sollten nach dem Welpen sehen.“

Sie gingen ins Behandlungszimmer. Lachlan hatte den Hund auf dem Tisch mit einer Heizdecke zugedeckt und hörte ihn mit einem Stethoskop ab.

„Die Temperatur ist beinahe normal, und der Herzschlag verbessert sich auch“, erklärte er.

Aleja lächelte erleichtert. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und streichelte den Kopf der kleinen Hündin, die zufrieden schnaubte. „Wird sie okay sein?“

„Das muss Maggie beurteilen. Sie wird sicher noch einige Tests machen, aber ich denke, die Kleine kann heute Abend nach Hause.“ Lachlan fasste sich an den Kopf. „Vorausgesetzt, du nimmst sie, Aleja.“

„Ich … ein Hund …“

„Noch dazu einer mit drei Beinen“, sagte Lachlan. „Das bedeutet mehr Pflegeaufwand. Manchmal können wir Tiere vermitteln, doch in so einem Fall wird es schwierig.“

Aleja machte ein bekümmertes Gesicht. „Ich würde sie ja gern nehmen, aber ich weiß nicht … Ich habe so viel zu tun, und ich bekomme … Ich meine, es gibt noch ein paar andere Dinge …“

„Ich werde sie nehmen“, platzte es aus Gray heraus.

Alejas Blick flog zu ihm. „Wirklich?“

Er nickte. „Wenn es dir recht ist.“

„Graydon …“ Ihr sichtliches Erstaunen erfüllte ihn mit Stolz.

„Bist du sicher?“ Lachlan musterte ihn kritisch. „Du kannst sie nicht allein lassen, wenn du eine Vierundzwanzig-Stunden-Schicht hast.“

Gray wusste, dass die Sorge berechtigt war. „Ja, ich weiß. Aber die Frau eines Kollegen ist Hundesitterin, und notfalls kann meine Mom einspringen.“

Lachlan nickte. „In Ordnung. Maggie wird dich anrufen, sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind.“

Grundgütiger, er hatte einen Hund adoptiert. „Ich sollte mich lieber mit meinem Umzug beeilen, wenn ich der Kleinen etwas Ähnliches wie ein Zuhause bieten will.“

„Gib mir eine halbe Stunde, damit ich auf der Baustelle nach dem Rechten sehen kann, dann helfe ich dir beim Abladen.“ Aleja streichelte die seidigen Ohren des Hundes. „Es ist das Mindeste, was ich für dich tun kann, nachdem ich dir die Zeit gestohlen habe.“

„Das hast du nicht.“ Gray stützte sich wie sie mit den Ellbogen auf den Tisch, wobei seine Schultern ihre berührten, und kraulte den Kopf des Welpen mit zwei Fingern. „Ich komme wieder und hole dich, okay? Ich werde dich nicht im Stich lassen.“

Als er sich aufrichtete, bemerkte er einen feuchten Schimmer in Alejas Augen.

Er zog eine Braue hoch.

Ihre Wangen verfärbten sich rosig. „Sie ist süß, nicht wahr? Und ich habe mir solche Sorgen gemacht.“

„Ich mir auch.“ Er unterdrückte den Wunsch, Aleja auf die Stirn zu küssen. „Bist du sicher, dass du schwer tragen kannst?“

Sie brauste auf. „Ich schleppe täglich Holzbalken – da werde ich wohl mit deinen lächerlichen Kartons fertig.“

Er lachte, obwohl er sich nicht sicher war, ob er es ihm gelingen würde, mit Aleja in seiner Wohnung allein zu sein, ohne zu verraten, dass das ein Szenario war, von dem er seit Jahren träumte.

5. KAPITEL

Aleja saß wieder neben Gray im Truck und starrte auf die Straße, um nicht noch mehr Beispiele dafür zu sehen, dass Noras jüngerer Bruder ein heißer Typ geworden war.

Es musste damit zusammenhängen, wie er sich um das Hundebaby gekümmert hatte. Das sprach ihre mütterliche Seite an. Welche andere Erklärung sollte es geben?

Na ja, alles an ihm?

Die breiten Schultern. Das schiefe Lächeln. Seine Bewegungen, souverän und lässig zugleich.

Sie kamen an der Stelle vorbei, wo sie ihren Truck stehen gelassen hatte. Er war weg – sie hatte eine Nachricht von der Abschleppfirma erhalten, bevor sie die Tierklinik verlassen hatten.

„Freddy war schon mit dem Abschleppwagen da? Schneller Service“, meinte Gray.

„Wir waren über eine Stunde unterwegs. Lange genug, dass du einen Hund adoptiert hast.“ Aleja verspürte Gewissensbisse. Schließlich hatte sie den Welpen gefunden. Sie hätte ihn auch gern genommen. Aber mit Zwillingen …

„Ja, das habe ich.“ Er fuhr sich durch sein welliges Haar.

„Bist du sicher, dass du das kannst?“

Sein Blick wirkte verletzt. „Natürlich kann ich das.“

„Tut mir leid. Ich möchte nur nicht, dass du dich dazu verpflichtet fühlst, weil ich mich nicht selbst um das Tier kümmern kann. Ich habe deshalb ein schlechtes Gewissen, doch ich kann es nicht.“

„Du brauchst es nicht zu erklären, Alejandra.“

Hatte er ihren Namen schon immer so weich ausgesprochen? Normalerweise nannte er sie Aleja, aber wenn er alle Silben mit spanischem Akzent aussprach … Was konnte er noch alles mit seiner Zunge anstellen?

Langsam bog er in die private Straße, die zur Lodge führte, ein. „Willst du das Tor auch erneuern?“, fragte er, während sie unter dem klobigen Holzbogen hindurchfuhren.

„Unbedingt. Ich habe einen Plan für jeden Zentimeter des Anwesens.“ Bei diesem Projekt hatte sie die Chance, ihre künstlerischen Ambitionen zu verwirklichen. „Emma hat meine Vision abgesegnet. Ich habe aber noch eine Überraschung für sie.“ Sie plante einen wundervollen Käferholzfußboden für die Haupthalle.

„Du bist voller Geheimnisse.“ Er zwinkerte ihr zu.

Ihre Handflächen wurden feucht. „Ich …“

„Wie jede faszinierende Frau, Aleja.“

„Ich mache mir Sorgen, dass deine Schwester mir den Auftrag entzieht, wenn sie von meiner … anderen Überraschung erfährt.“ Sie sah ihn ernst an. „Ich hoffe, du denkst nicht, dass ich sie hintergehe. Ich möchte nur … Ich schaffe das. Und ich will nicht unterschätzt werden.“

Er nickte und strich mit rauen Fingern über ihre Wange, wobei sie ein Schauer überlief. „Du ahnst nicht, wie gut ich dich verstehe.“

Seine Berührung versprach, dass sie ihm vertrauen konnte.

Aleja fragte sich nur, ob sie sich selbst vertrauen konnte, wenn es um ihn ging.

Vierzig Minuten später half Aleja, einen Sessel in Grays größtenteils möblierte Suite zu tragen. Gray ging rückwärts und schien das Gewicht mit Leichtigkeit zu tragen.

„Ist es dir auch nicht zu schwer?“, fragte er.

Aleja funkelte ihn an. „Nichts in der Größe eines Gummibärchens …“, zweier Gummibärchen, „… wird mich davon abhalten, einen Sessel zu tragen.“

Sein Blick fiel auf ihren Bauch. „Ein Gummibärchen? Bist du sicher, dass es nicht eine ganze Tüte ist?“

Sie hätte den Sessel beinahe fallen lassen. „Was?“

Er zuckte zusammen. „Sorry. Du siehst fantastisch aus. Wirklich. Aber ohne Jacke und Hoodie ist es ziemlich offensichtlich.“

Sie knurrte leise vor sich hin. Das „fantastisch“ war keine Entschädigung für seine Anspielung auf ihr Bäuchlein.

„Es ist schon okay“, versicherte er. „Behalt nur … deinen Hoodie an.“

Sie stellten den Sessel auf den hässlichen Teppich. Irgendwann würde Gray umziehen müssen, weil auch die Suiten im Loft renoviert werden sollten.

Aleja stand mitten im Raum. „Ich wollte eigentlich bald mit meinen Leuten reden. Aber nach der Ultraschalluntersuchung bin ich mir nicht mehr sicher.“

„Ich verstehe, dass du dich deswegen gestresst fühlst. Eine Kollegin von mir war letztes Jahr schwanger. Es war schwierig für sie, einen körperlich fordernden Beruf auszuüben und gleichzeitig auf sich und das Baby zu achten.“

Er kam näher und blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie Zitronenschale und Sonnenschein riechen konnte. Seine Schultern dehnten das T-Shirt. Ein Superheld wie aus dem Kino, nur zu tausend Prozent real und zum Greifen nah.

Er hob eine Hand, als wollte er ihre Wange berühren, ließ sie jedoch wieder sinken. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Ich freue mich für dich. Und für den Vater.“

„Der Vat… Oh.“ Sie warf Gray ein kleines Lächeln zu. „Ich bin mit niemandem zusammen. Ich habe mich allein auf die Wissenschaft verlassen.“

Er öffnete langsam den Mund und starrte sie an.

Aleja fühlte sich angegriffen. „Ich hätte nicht erwartet, dass du das verurteilst.“

„Das tue ich nicht!“ Er hob die Hände. „Ich bin nur überrascht.“

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Vielleicht sollte sie sich zwingen, die entscheidenden Worte auszusprechen.

Sie berührte ihren Bauch. „Ich erwarte Zwillinge.“

Gray erstarrte.

Er sah über ihre Schulter und fluchte unterdrückt.

Ein ähnlicher Fluch kam von der Schwelle, nur in einer höheren, weiblichen Stimme. Emma Halloran. „Zwillinge? Oh mein Gott. Gray. Bist du der Vater?“

6. KAPITEL

Der Vater. Ich?

Blitzartig hatte er das Bild vor Augen, wie er vom Dienst nach Hause kam zu Aleja und einem schlafenden Baby.

Moment – zwei Babys. Sie erwartete Zwillinge.

Und weder sie noch die Babys gehörten zu ihm. Sosehr ihm das Bild auch gefiel.

Er schüttelte den Kopf. „Natürlich bin ich nicht der Vater.“

Aleja sah ihn fast gekränkt an.

„Nicht dass es kein Privileg wäre“, stellte er klar. Mehr als das. „Ich bin nur … Ich möchte nicht, dass Gerüchte verbreitet werden …“

„Hey!“ Emma verschränkte die Arme. „Ich würde niemals tratschen!“

Meine Güte. „Das habe ich auch nicht gemeint. Aber du weißt doch, wie schnell Gerüchte entstehen.“

„Nun, ich wüsste niemanden, der zwischen euch beiden eine Verbindung herstellen würde.“ Emma schnaubte. „Jeder hätte schon Schwierigkeiten zu glauben, dass du einen Welpen aufgenommen hast. Wo ist er überhaupt?“ Ihr Blick schweifte durch den Raum. „Du wirst ein Körbchen brauchen und Fressen …“

„Ich weiß, wie man sich um einen Hund kümmert. Ich fahre zum Tierfutterladen...

Autor

Laurel Greer
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Heatherly Bell

Heatherly Bell wurde in Tuscaloosa, Alabama, geboren, verlor ihren Akzent aber schon im Alter von zwei Jahren. Ihre Großmutter Mima hat ihn sich bewahrt, ebenso wie die traditionelle Lebensart und den Spirit der Frauen aus dem Süden der USA. Heatherly ging mit ihrer Familie erst nach Puerto Rico und...

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