Bianca Extra Band 127

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BESCHÜTZEN ERLAUBT, VERLIEBEN VERBOTEN! von CHRISTY JEFFRIES
Diese blauen Augen, dieser süße Mund! Als Special Agent Grayson Wyatt die schöne Politikertochter Tessa vor den Paparazzi beschützt, erwacht ungeahnte Sehnsucht in ihm. Obwohl er mit einem Kuss mehr als nur sein Herz riskiert, kann er Tessa einfach nicht widerstehen …

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  • Erscheinungstag 23.09.2023
  • Bandnummer 127
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516884
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christy Jeffries, Michelle Lindo-Rice, Mona Shroff, Heatherly Bell

BIANCA EXTRA BAND 127

1. KAPITEL

Tessa King hatte sich noch nie von einem Meer aus Kameras einschüchtern lassen, die auf ihr Gesicht gerichtet waren.

Allerdings war es heute das erste Mal, dass die vertrauten Fernseh- und Fotokameras sie aus dieser Perspektive aufnahmen – nämlich über den Sarg ihres Vaters hinweg.

Tessa holte tief Atem. Der schwere Duft der Blumenbuketts mischte sich mit dem frischen Geruch von Pfefferminzbonbons. Ihr Blick glitt über den Sarg, der mit der amerikanischen Flagge verhüllt war. Rasch sah sie woanders hin. Sie betrachtete stattdessen die billigen Taschentuchboxen, die das Ende jeder Kirchenbank krönten.

Die Kirchengemeinde Teton Ridge hatte sie zur Verfügung gestellt. Man rechnete mit tausenden Besuchern, die dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen wollten.

In der Kirche gab es allerdings nicht ausreichend Platz für alle Trauergäste. Sie war erbaut worden, lange bevor der nahegelegene Ort Jackson Hole zum beliebten Feriendomizil geworden war.

Für den Vizepräsidenten Roper King hätte es eine weitaus größere, pompösere Beerdigung geben können als hier, in einem kleinen Nest im Staat Wyoming. Man hätte für ihn eine prunkvolle Trauerfeier mitten im Kapitol in Washington arrangiert.

Aber Tessas Vater war dafür bekannt, mit Gewohnheiten zu brechen und die Dinge auf seine eigene Weise anzugehen.

Vielleicht war das auch der Grund, warum er niemandem von dem Bauchspeicheldrüsenkrebs erzählt hatte. Weder seinen Mitarbeitern noch seinen Kindern hatte er verraten, warum er auf die heimatliche Ranch zurückgekehrt war.

Nur seine Ehefrau hatte er eingeweiht. Allen anderen hatte er weisgemacht, dass er sich einen wohlverdienten Urlaub von den ständigen Anforderungen des Weißen Hauses gönnte.

Doch obwohl es eine kleine Kirche war, hätte es keinen passenderen Ort geben können, um dem Patriarchen die letzte Ehre zu erweisen. Hier hatten sich alle wichtigen Ereignisse seines Lebens abgespielt. Seine Taufe. Seine erste, dritte und vierte Hochzeit (die Familie sprach niemals über seine zweite Frau). Die Taufe jedes seiner sechs Kinder, die er stets als einen späten Segen im Leben bezeichnet hatte.

Außerdem hatte er in dieser Kirche verkündet, dass er als Senator kandidieren würde. Später dann als Gouverneur von Wyoming.

Und obwohl er sich bis zum Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten hochgearbeitet hatte, war Roper King immer bescheiden geblieben. Vor allem wenn es darum ging, wo er aufgewachsen war. Bereitwillig hatte er davon erzählt, dass er auf dieser Ranch seinen ersten Atemzug getan hatte – und dort wollte er auch seinen letzten tun.

Du hättest uns sagen können, dass dein letzter Atemzug schon so bald kommt, Daddy, dachte Tessa. Über den Kirchgang hinweg sah sie zu ihrer Familie hinüber. Dort hätte sie sitzen sollen, auf der anderen Seite, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren fünf Geschwistern.

Es war lange her, dass sie alle zusammen in dieser Kirche gewesen waren. Als Kinder hatten sie alle gemeinsam bequem in eine Bank gepasst. Allerdings war das nicht der Grund, warum sie jetzt nicht bei ihrer Familie war.

Die Produzenten ihrer Fernsehshow hielten es für strategisch günstig, wenn sie auf dieser Seite der Kirche saß, denn so erfassten die Kameras sie im selben Winkel mit einigen der mächtigsten Personen der Welt.

Tessa hatte nachgegeben und die Seite gewechselt.

Eigentlich hätte sie diese hohen Tiere vom Sender ignorieren und bei ihrer Familie bleiben sollen. Aber sie befand sich zur Zeit mitten in der Verhandlung um eine neue Sendereihe, und diese Chance durfte sie nicht verspielen.

Statt sich also an ihre Mutter lehnen zu können oder Trost von ihrem liebsten Bruder Duke zu bekommen, fand Tessa sich eingeklemmt zwischen dem Ende der Kirchenbank und der Präsidentin der Vereinigten Staaten.

Für gewöhnlich war diese eine sehr distinguierte Frau mit perfektem Auftreten und tadelloser Etikette. Heute verursachten ihre Zähne ein anhaltendes Klickgeräusch, wenn ihr Hustenbonbon in ihrem Mund von einer Seite zur anderen wanderte.

Dazu kam das Knistern des Cellophans, denn jedes Mal, wenn ein Bonbon aufgebraucht war, wurde ihr von ihrem Ehemann ein neues gereicht. Inzwischen hatte er die leeren Papiere zu einem kleinen Ball in der Hand zusammengeknüllt.

Tessa hätte dieses Verhalten irritierend gefunden, wenn sie nicht vorher mitbekommen hätte, wie die beiden sich leise unterhielten. Der Präsidentinnengatte hatte seiner Frau geraten, die Bonbons zu lutschen, um während der Trauerfeierlichkeiten den Hustenreiz zu unterdrücken. Außerdem würde sie ihre Stimme brauchen, um später die Grabrede zu halten.

Viele Menschen trauerten um ihren Vater, nicht nur Tessa.

Trotzdem. Tessa hatte sich noch nie im Leben so allein gefühlt. Außerdem war ihr übel, seit der erste Redner das Pult betreten hatte. Allein diese Rede hatte zwanzig Minuten gedauert, und seither waren einige nachgefolgt.

Das flaue Gefühl in ihrem Magen wurde stärker. Wider besseren Wissens hatte sie am Morgen den pflanzenbasierten Proteinsmoothie ihrer Mutter hinuntergewürgt. Der Appetit war ihr bereits seit einer Woche vergangen, aber dieser Smoothie war definitiv ein Fehler gewesen.

Mit einem Mal kam ihr die Luft in der kleinen Kirche noch stickiger vor. In ihrem glatten schwarzen Designerkostüm rutschte sie tiefer in die Bank. Der Geruch von Holzpolitur drang in ihre Nase. Man hatte vorher alles getan, um die Kirche für den Medienrummel auf Hochglanz zu polieren.

Ihr Magen rumorte. Tessa spürte, wie die Hitze ihre Wangen unter dem Make-up rot färbte.

Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Ihr Kopf schmerzte. Sie stemmte die Spitzen ihrer hochhackigen Pumps gegen die Kniebank, um sich in eine aufrechtere Position zu bringen.

Doch unglücklicherweise wollte die Szene kein Ende nehmen. Die Redner hörten nicht auf zu reden, die Zähne der Präsidentin hörten nicht auf zu klicken und die Kameras hörten nicht auf zu filmen.

Sie musste hier raus.

Irgendwann wurde eine weiße Leinwand von der Decke herabgelassen und eine kitschige Videomontage abgespielt. Dazu erklang schwermütige Orchestermusik.

Tessa verzog das Gesicht. Ihr Vater hätte diese Art von Schauspiel gehasst. Er mochte es nicht, wenn die Dinge unnötig in die Länge gezogen wurden, und er mochte es erst recht nicht, wenn man ein Drama daraus machte.

Wer auch immer hierfür verantwortlich war, er wäre vermutlich gefeuert worden.

Tessa widerstand dem Drang, eine Grimasse zu ziehen.

Doch dann zeigte die Leinwand plötzlich ein Bild, das ihr sehr bekannt war. Es zeigte ihren Vater, der am Beckenrand eines Swimmingpools stand. Er hatte die Hände um den Mund gelegt und schien etwas zu rufen. Im Hintergrund sah man die zehnjährige Tessa federnd auf dem Sprungbrett über dem Wasser stehen.

Tessa wusste noch ganz genau, was er ihr in diesem Moment zugerufen hatte.

„Vergiss all diese Saltos und Drehungen, Tess. Spring einfach hoch und tauche tief.“

Aber genau diese Saltos und Drehungen hatten ihr all ihre Medaillen eingebracht. Genau wegen so einer komplizierten und verpatzten Kombination aus Drehung und Salto hatte sie schließlich ihre Chance auf die Junior National Championship verpasst.

Und sich außerdem ihre Karriere verbaut.

Und so viel mehr.

Instinktiv glitten Tessas Finger zu der Narbe, die die Chirurgen sorgfältig unter dem Haaransatz verborgen hatten.

Ihr Kopf begann unangenehm zu pochen. Sie versuchte zu schlucken, doch ihre Kehle war unendlich trocken. Mit einem Mal schienen die Wände der Kirche näher zu rücken und ihr die Luft zum Atmen zu nehmen. Die Blumen um den Sarg schienen sich zu verdoppeln.

Tessa rang um Fassung.

Das durfte nicht passieren!

Sie hatte keine schwere Panikattacke mehr erlitten, seit sie zum ersten Mal nach der Operation auf ein Sprungbrett gestiegen war. Man hatte ihr gesagt, dass nach einer schweren Gehirnverletzung Angststörungen auftreten konnten. Vor allem, wenn man an den traumatischen Unfall erinnert wurde.

Doch ihr Herz wollte nicht auf sie hören. Jeder rationale Gedanke ging in dem harten, schnellen Klopfen unter, im Rauschen ihres Pulses in ihren Ohren. Du bist jetzt älter, sagte sie sich. Du weißt, wie du damit umzugehen hast. Außerdem gibt es hier weder ein Sprungbrett noch einen Swimmingpool.

Sie versuchte Atem zu holen, doch es war, als würden ihre Lungen einfach keinen Sauerstoff aufnehmen. Hier konnte sie nicht bleiben. Es war, als würde sie erneut versagen.

Ihr Magen fühlte sich an, als wollte er sich umstülpen. Ihre Knie zitterten. Wankend erhob sie sich, trat aus der Bank und stolperte über ein Verlängerungskabel. Im letzten Augenblick konnte sie sich fangen, dann rannte sie durch den Mittelgang der Kirche auf den Ausgang zu.

Falls sich Köpfe wandten, Gemurmel einsetzte oder Kameras auf sie gerichtet waren, bekam sie es zumindest nicht mehr mit. Alles, was sie hörte, war das Rauschen des Blutes in ihren Ohren.

Ihr Blick war starr auf die große Doppeltür gerichtet.

Draußen schlug ihr schneidend kalte Januarluft ins Gesicht, doch sie rannte einfach weiter. Allerdings kam sie nicht weit. Kaum hatte sie die ersten Stufen genommen, krachte sie gegen einen Mann in einem schwarzen Anzug und Sonnenbrille.

„Achtung, eine der Stuten hat das Gehege verlassen. Scheint so, als wäre es Precision.“

Agent Grayson Wyatt hörte den Funkspruch über die versteckte Ohrmuschel, kurz bevor die Kirchentüren aufgerissen wurden. Die Abteilung Personenschutz des Secret Service hatte sich für jedes Mitglied der King Familie einen Codenamen ausgedacht, und Grayson erkannte sofort, welche spezielle Stute hier gemeint war.

Es handelte sich um die älteste Tochter des gerade verstorbenen Vizepräsidenten. Die, deren Gesicht jeden Abend im Fernsehen zu sehen war, wo sie wirkte, als könne sie nichts auf der Welt erschüttern – nicht einmal ein Streitgespräch mit den mächtigsten Männern der Erde.

Tessa Kings Codename war Precision – Präzision – aber im Augenblick wirkte die junge Frau alles andere als präzise. Wie blind stolperte sie die Treppe hinab.

Alarmiert trat Grayson vor.

Als sie gegen ihn stieß, packte er unwillkürlich ihre Oberarme, um sie beide vor dem Fallen zu bewahren.

„Was ist passiert?“, bellte er und suchte mit dem Blick die Stufen zur Kirche ab. Fast erwartete er, dass eine flüchtende Menschenmasse folgen würde. Immerhin war es möglich, dass jemand dort drinnen das Feuer eröffnet oder anderweitig Menschen angegriffen hatte.

Doch der Einzige, der aus der Kirchentür trat, war ein weiterer Special Agent.

„Ich kann hier nicht bleiben“, sagte die Frau atemlos. Sie blinzelte durch die schwere Mascara und das sorgfältig aufgebrachte Make-up. „Ich muss …“

Tessa King holte röchelnd Atem. Es schien, als würde sie keine Luft bekommen. Dann gab sie einen gurgelnden Laut von sich und erbrach den Inhalt ihres Magens auf die Steinstufen – direkt neben seinem polierten Budapester.

Er konnte gerade noch ausweichen, bevor sie sich zum zweiten Mal auf den Boden erbrach. Zum Glück war die Ausbeute dieses Mal weniger groß.

Er legte die Hand auf ihre zitternde Schulter und versuchte, sie vor jeglichen Blicken abzuschirmen. In dieser wenig würdevollen Situation sollte sie auf keinen Fall gefilmt werden.

Nachdem es so aussah, als würde ihr Magen nichts weiter hergeben, suchte Grayson vergeblich in seinen Taschen nach einem Tuch. Leider hatte er auf das dekorative Einstecktuch verzichtet, als er sich diesen Anzug und die Krawatte zugelegt hatte.

Er trat näher an sie heran. „Ma’am, soll ich Sie zur Toilette begleiten?“

Ihre Pupillen waren geweitet und sie zitterte am ganzen Körper. Entweder war sie voll wie eine Haubitze oder krank. Wahrscheinlich beides.

„Ma’am. Hören Sie mich?“

„Mir ist … schwindlig“, lallte sie und klammerte sich an die Aufschläge seines Jacketts, kurz bevor ihre Beine unter ihr nachgaben.

Grayson blieb keine Zeit zum Nachdenken. Er war darauf trainiert, im Notfall zu handeln. In jeder Art von Notfall. Instinktiv griff er unter ihre Kniekehlen und Achseln und hob sie auf seine Arme.

Ihre Augen waren glasig, aber zumindest waren sie noch geöffnet.

„Wyatt hat Precision abgefangen“, hörte er die Durchsage des Teamleiters über die Ohrmuschel.

Das war zwar nicht ganz so eindeutig wie Entwarnung oder Code 4, aber es ließ die anderen zumindest wissen, dass Grayson die Situation alleine im Griff hatte.

„Hasse … diesen … blöden … Codenamen“, schnappte die junge Frau zwischen kurzen Atemzügen. Dann sank ihr Kopf an seine Schulter und jegliche Spannung wich aus ihrem Körper.

Seine oberste Priorität war nun, ihr medizinische Hilfe zukommen zu lassen.

Unglücklicherweise befanden sich alle Sanitäter auf der rückwärtigen Seite der Kirche, unsichtbar für Gäste und Reporter.

Hier vorn waren sie beide allerdings sehr sichtbar. Grayson hörte Kameras klicken und bemerkte ein Blitzlicht. Jetzt galt es, die junge Frau rasch aus den Augen der Öffentlichkeit zu bringen.

Instinktiv trug er sie die letzten Stufen hinab und bugsierte sie in den am nächsten geparkten Wagen hinein, während mehrere Officers versuchten, die neugierigen Schaulustigen abzuwehren.

„Bringen Sie uns zur Rückseite der Kirche“, befahl er dem überraschten Fahrer. Dann legte er die Frau behutsam auf den schmalen Streifen Teppich im hinteren offenen Bereich des Fahrzeugs ab.

Als sie anfuhren, sprach Grayson in das kleine Mikrofon, das durch ein durchsichtiges Kabel mit der Ohrmuschel verbunden war. „Precision hat das Bewusstsein verloren. Wir sind auf dem Weg zu den Sanitätern jenseits der Kirche, um kein Aufsehen zu erregen.“

„Verstanden“, antwortete der Teamleiter. „Sanitäter sind in Bereitschaft.“

Da war das Kreischen von Reifen zu hören.

Der weiße Van des Nachrichtenteams tauchte auf und schlingerte direkt in ihren Weg. Ihr ohnehin angespannter Fahrer riss das Steuer nach rechts.

Graysons Kopf stieß gegen das Dach, und der seidene schwarze Vorhang vor dem Fenster löste sich. Grayson konnte nur hoffen, dass der Fahrer auf Ausweichmanöver trainiert war.

Tessas Lider flatterten.

Graysons Blick wanderte auf der Suche nach weiteren Bedrohungen über den Parkplatz, während er mit dem Finger nach ihrem Puls fühlte. Die Haut jenseits ihres Schlüsselbeins war warm und weicher als alles, was er seit langem berührt hatte.

„Was ist passiert?“, fragte sie. Ihre vollen, pinkfarbenen Lippen waren leicht geöffnet. Er studierte ihr Gesicht. Es war herzförmig mit hohen, runden Wangenknochen und einer perfekten, geraden Nase.

Er hätte nicht darauf achten sollen, wie gut sie aussah, doch es lag nun einmal in der Natur seines Jobs, ein aufmerksamer Beobachter zu sein.

Viel wichtiger allerdings war, dafür zu sorgen, ihre Familie zu schützen. Und all die Menschen, die sich zu dieser Beerdigung versammelt hatten.

Tessas Atem beschleunigte sich erneut. Sie versuchte, sich auf die Ellenbogen aufzurichten, doch das Fahrzeug ging in die Kurve und sie sank zurück auf den Teppich.

„Ich will wissen, was los ist.“ Dieses Mal hatte ihre Stimme mehr von einem Befehl. Graysons Erfahrung nach bekamen reiche und mächtige Leute wie Tessa King immer ihren Willen, und sie waren es gewohnt, dass ihre Befehle befolgt wurden.

„Sie sind auf der Kirchentreppe ohnmächtig geworden“, erklärte er daher knapp, doch sein Blick war nach draußen gerichtet, wo er die Paparazzi beobachtete, die unablässig neben dem Wagen her joggten.

„Das ist lächerlich“, erwiderte sie, und ihre Nase kräuselte sich verächtlich.

Sie versuchte noch einmal, sich aufzurichten, doch Grayson legte die Hand auf ihre Schulter. „Bleiben Sie unten, bis wir da sind.“

Ihre Nase kräuselte sich noch mehr, doch zumindest leistete sie keinen Widerstand. „Und wann sind wir da?“, fragte sie spitz.

„In etwa fünfundvierzig Sekunden erreichen wir das Zelt der Sanitäter. Wenn uns vorher nicht noch so ein dämlicher Reporter vors Auto springt.“

„Da ist eine ganze Horde von denen hinter uns her“, bemerkte der Fahrer mit Blick in den Rückspiegel. „Aber dieses Auto ist nicht gerade für Verfolgungsjagden gemacht.“

„Fahren Sie einfach weiter“, riet Grayson dem älteren Gentleman. „Und wenn sich irgendjemand in den Weg stellt, fahren Sie ihn um.“

„Umfahren?“ Tessa hob die Braue. „Ich nehme an, damit meinen Sie die dämlichen Reporter.“

Verdammt. Für einen Moment hatte Grayson vergessen, dass sie selbst eine von denen war.

Er seufzte. „Na schön, fahren Sie sie nicht um. Lassen Sie sie nahe genug herankommen, damit sie einen guten Blick darauf erhaschen, wie die Tochter des Vizepräsidenten ihr Frühstück von sich gegeben hat.“

Tessa schloss die Augen, und Grayson schauderte innerlich. Nicht wegen seiner harten Worte, sondern weil ihm wieder unschön bewusst geworden war, warum sie überhaupt hier waren.

Roper King war ein guter Mensch gewesen. Und ein unproblematischer Job.

Zumindest bis jetzt.

Der Mann war ein aufrechter Patriot gewesen und verdiente es, würdevoll zur Ruhe gesetzt zu werden. Er hatte sich mehrere Orden als Kommandant beim Militär verdient. Grayson hatte ihn sehr geschätzt. Ob das auch für den Rest der King Familie galt, musste sich erst noch herausstellen.

Tessa öffnete ein Auge und sah ihn an. „Haben Sie nicht gesagt, dass ich ohnmächtig war?“

„Das stimmt auch. Und zwar kurz nachdem Sie sich die Seele aus dem Leib gekotzt haben.“ Na schön, das klang ein bisschen dramatischer als es gewesen war, aber er musste ihr klarmachen, warum sie sich lieber bedeckt hielt.

Sie wandte den Kopf, um ihn besser ansehen zu können. „Sagen Sie, bekommen Sie diese Sonnenbrille eigentlich gratis dazu, wenn Sie sich Ihr kleines Agentenkostümchen kaufen?“

„Nein.“ Er erlaubte sich einen Blick auf ihre bloßen, straffen Beine in den hohen schwarzen Wildlederpumps. „Hat man Ihnen nicht geraten, sich praktische Winterschuhe zuzulegen, bevor Sie Kirchentreppen hinabstolpern?“

Sie schnaubte leise und wandte den Kopf ab.

Grayson musste sich daran erinnern, dass er nicht hier war, um sich mit der trauernden Tochter des Vizepräsidenten einen Schlagabtausch an Gemeinheiten zu liefern.

Auch wenn sie angefangen hatte.

Grayson wies den Fahrer an, jenseits des weißen Zelts zu parken, wo für sie bereits eine Absperrung entfernt und sofort wieder hinter ihnen geschlossen worden war. Dann suchte er nach dem Türgriff, doch seine Hand griff ins Leere.

„Meine Fahrgäste steigen für gewöhnlich nicht von selbst aus.“ Der Fahrer lachte leise und brachte den Wagen in Parkposition. „Und normalerweise reden sie auch nicht so viel.“

„Wieso?“ Tessa hob den Kopf und blinzelte gegen das Licht, das durch die Vorhänge hereinfiel.

Für einen Moment gab Grayson sich der Hoffnung hin, dass Tessa nicht merken würde, in welcher Art Fahrzeug sie saßen.

Doch natürlich hatte er kein Glück.

Nachdem sie von den Sanitätern empfangen und auf eine Trage gehoben worden war, sah sie zurück zum Wagen. Es war keine ihrer üblichen teuren Limousinen.

Ein kaum hörbares Oh entfuhr ihren sexy pinkfarbenen Lippen. Dann ruckte ihr Kopf herum, und der Blick, den sie Grayson zuwarf, ließ ihn einen Schritt zurückweichen. „Sie haben mich in einen verdammten Leichenwagen gesteckt! Was für eine Art Special Agent würde jemanden in den Leichenwagen seines eigenen Vaters sperren?“

Daraufhin folgte eine Tirade an Worten, die in jedem Fernsehbeitrag ausgeblendet worden wären.

Zweifellos konnten es all seine Kollegen über Funk hören. Inklusive seines Teamleiters.

Und zweifellos würde diese Aktion Grayson bis ans Ende seiner Tage verfolgen.

Wenn es ihn nicht vorher seinen Job kostete.

2. KAPITEL

Tessa war verschwitzt, verärgert und wollte einfach nur alleine sein.

Stattdessen wurde sie von Sanitätern belagert, die ihren Puls fühlten, ihr Fragen stellten und ihr immer wieder eine Sauerstoffmaske auf den Mund drücken wollten.

Sie sehnte sich nach einem heißen Bad und einem kalten Bier dazu.

Und sie wünschte, der dunkelhaarige Special Agent mit den breiten Schultern würde sich jemand anderen zum Beschützen suchen.

Als ihr Vater zum Vizepräsidenten ernannt worden war, hatte sie absichtlich auf den zusätzlichen Personenschutz verzichtet, obwohl man ihr dazu geraten hatte. Schließlich bekam sie auch von ihrem Sender Schutz gestellt, wenn es darauf ankam.

Außerdem war sie es leid, ständig überwacht zu werden. Schon seit ihr Vater Gouverneur geworden war, hatte man ihr Bodyguards zur Seite gestellt.

Dabei war das Leben als Teenager schon schwer genug gewesen. Nach der Highschool hatte sie jahrelang Sprechtraining genommen, bis sie endlich wieder ihren eigenen Namen sagen konnte. Der Unfall hatte sie weit zurückgeworfen.

Viel später als die anderen war sie endlich aufs College gegangen und nach Georgetown gezogen. Immer war sie dabei von Polizisten im Dienst des Bundesstaates begleitet worden. Und einen bewaffneten Aufpasser in den Hörsaal mitzubringen hatte es nicht gerade leichter gemacht, Freundschaften zu schließen.

Verärgert blickte sie zu ihrem selbsternannten Retter hinüber.

Warum hatte er bloß so ein Aufhebens gemacht?

Auf diese zusätzliche Publicity konnte Tessa gut und gerne verzichten. Vor allem an einem Tag wie diesem. Manche mochten ihr vielleicht unterstellen, dass sie als Fernsehjournalistin gerne im Rampenlicht stand.

Doch dem war nicht so.

Zumindest nicht, wenn es um ihr Privatleben ging.

Sie hielt Privat- und Berufsleben gerne getrennt. Sie wollte einen guten Job machen, professionell wirken und für ihre harte Arbeit anerkannt werden.

Was sie nicht wollte, war, wegen ihrem berühmten Familiennamen ins Rampenlicht gezerrt werden.

Dieser Special Agent hätte bestimmt nicht so reagiert, wenn es sich nicht um die Tochter des Vizepräsidenten gehandelt hätte. Spitzenagenten wie er leckten sich doch die Finger danach, für berühmte Persönlichkeiten den Helden zu spielen.

Weil sie mächtig genug war, seiner Karriere einen Schubs zu geben.

Tessa überlegte gerade, bei welchem Vorgesetzten sie sich darüber beschweren sollte, dass der Typ sie in einen Leichenwagen gesteckt hatte, als es am Eingang des Zeltes einen kleinen Tumult gab.

„Was zur Hölle ist mit meiner Nichte passiert?“, dröhnte es. Kurz darauf schob sich ihr Onkel Rider mit geschwollener Brust durch das Gewimmel der Helfer. Er hatte eine beeindruckend breite Statur und einen noch beeindruckenderen Bauch, der es ihm ermöglichte, sich Platz und Ehrfurcht zu verschaffen.

Wenn jemand in Tessas Familie Schwäche zeigte, waren sogleich alle zur Stelle, um diese Schwäche auszubügeln. Die einen gingen dabei mehr, die anderen weniger subtil vor.

Tessa zog sich die Maske vom Gesicht. „Mir geht es gut“, sagte sie schnell. „Kein Grund zur Aufregung.“

„Kein Grund zur Aufregung?“ Rider zog die buschigen grauen Brauen zusammen. „Junge Lady, du bist aus der Kirche geflohen, als wäre der Leibhaftige hinter dir her. Du hast nicht einmal deinen Mantel mitgenommen. Also, was ist passiert?“

„Ich brauchte einfach frische Luft“, behauptete Tessa, obwohl ihr völlig klar war, dass sich der Ältere nicht damit zufriedengeben würde. Rasch schob sie sich die Maske wieder über den Mund, um nichts weiter sagen zu müssen.

„Frische Luft“, wiederholte Rider und sah prüfend auf die Manschette an Tessas Arm. „Und deswegen messen die deinen Puls?“

„Sie wollen nur sichergehen, dass Ihre Nichte stabilisiert ist“, mischte sich eine tiefe, angenehme Stimme ein. Es war ihr selbsternannter Retter. „Vermutlich hatte sie eine Panikattacke.“

Die letzten beiden Worte sandten einen Schauer über Tessas Rücken. Nur nicht daran denken, sagte sie sich. Allein der Gedanke daran, wie weit sie eine Panikattacke zurückwerfen könnte, löste beinahe eine neue aus.

Nach dem katastrophalen Unfall damals hatte ihr Gehirn nachhaltig Schaden genommen. Statt mit den anderen direkt aufs College zu gehen, hatte sie zwei Jahre gebraucht, um wieder sprechen zu lernen. Auch ihr Sehvermögen hatte gelitten und sich nur langsam wieder vollständig normalisiert.

Aber sie hatte nie aufgegeben. Mit der Hilfe ihrer Therapeuten und unzähliger Übungsstunden war sie wieder ganz die Alte geworden und hatte auch die Panikattacken überwunden.

Zumindest hatte sie das geglaubt.

Für sie stand einiges auf dem Spiel. Sie lebte davon, vor einer Kamera zu stehen, flüssig zu sprechen und sich gewählt auszudrücken. Ihre Karriere hing davon ab, dass sie funktionierte. Wenn nun irgendjemand glaubte, sie könne vor laufender Kamera einen Zusammenbruch haben, bedeutete dies das Ende ihrer Laufbahn.

Entschlossen riss sie den Klettverschluss des Pulsmessgerätes von ihrem Arm. „Ehrlich, mir geht es gut“, sagte sie.

Eine Strähne ihres blonden Haars hatte sich aus dem festen Knoten an ihrem Hinterkopf gelöst, und sie steckte sie zurück, um ihre zitternden Finger irgendwie zu beschäftigen.

„Ich weiß, Schätzchen. Aber diese Leute müssen nun einmal ihren Job machen. Und wir haben es ja nicht eilig.“ Onkel Rider und Tessas Vater waren Zwillinge gewesen. Aber außer ihren intensiven, blauen Augen, die das Gegenüber stets sehr aufmerksam ansahen, hatten sie nicht viel gemeinsam gehabt.

Beide Brüder waren auf der elterlichen Ranch in Wyoming aufgewachsen. Beide Brüder hatten in Vietnam gedient und waren mit einigen Auszeichnungen ehrenhaft als Kriegshelden zurückgekehrt.

Das war allerdings auch schon alles, was die beiden verbunden hatte.

Roper hatte seine erste Frau noch während seiner Zeit auf dem College geheiratet. Schon wenige Jahre später hatte er ein zweites Mal geheiratet, doch beide Ehen endeten mit Scheidung.

Die dritte Ehe hatte ihn als Witwer zurückgelassen, und das im Alter von neununddreißig Jahren. Daraufhin folgte eine wilde Zeit. Seine Vierziger verbrachte Roper mit Eskapaden und zwei Besuchen in der Entzugsklinik, bis er seine vierte Frau kennen lernte. Die um viele Jahre jüngere Sherilee schenkte ihm noch bis zu seinem einundfünfzigsten Lebensjahr sechs Kinder.

Rider dagegen hatte nie eigene Kinder gehabt. Außerdem war er Tessas Wissens nach nur ein einziges Mal verheiratet gewesen. Seine Ex-Frau war als Einzige imstande gewesen, den Frieden zwischen den beiden ungleichen Brüdern zu wahren.

Genau diese Ex-Frau und Naturgewalt bahnte sich nun ihrerseits energisch einen Weg in Tessas Richtung. Begleitet wurde sie wie immer von einer Wolke Vanilleduft und Haarspray mit Extrahalt.

„Tante Freckles!“ Tessa lächelte der älteren Dame liebevoll zu. Von Tessas eigener Mutter unterschied sie sich in etwa in dem Maße, wie sich ihr Vater von ihrem Onkel unterschieden hatte. „Du bist gekommen.“

„Natürlich bin ich gekommen, Darling.“ Freckles hatte ihr pfirsichfarbenes Haar zu einer kunstvollen Lockenfrisur aufgetürmt, die beachtlich der Schwerkraft trotzte. Das Gesicht der über Achtzigjährigen war unter einer schweren Schicht Make-up verborgen, die allerdings wenig dazu beitrug, die Linien und Lachfältchen zu verbergen.

Sie beugte sich herunter und drückte Tessa mit ihren grellorangefarbenen Lippen einen Kuss auf die Stirn. Dabei bot sie sämtlichen Anwesenden einen tiefen Einblick in den Ausschnitt ihres smaragdgrünen Spandexkleides.

Jetzt strich sie Tessa liebevoll eine Haarsträhne aus der Stirn, und Tessa musste sich zusammennehmen, um nicht vor Erleichterung in Tränen auszubrechen. „Ich bin so froh, dass du hier …“ Tessa konnte den Satz nicht beenden. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.

Ihre Tante sah sie wissend und liebevoll zugleich an. „Ich weiß, Liebes. Bring mich bloß nicht zum Weinen. Ich habe nur dieses eine Paar falsche Wimpern eingepackt.“

Tante Freckles musste man einfach lieben, trotz ihrer verrückten Roben und gewagten Make-up-Experimente. Tessas Herzschlag begann sich zu beruhigen.

„Sind die anderen schon auf dem Weg zum Friedhof?“, fragte sie.

„Noch nicht.“ Das kam vom selbsternannten Superhelden.

„Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mich bei Ihnen dafür zu bedanken, dass Sie meine Nicht gerettet haben.“ Onkel Rider streckte seine fleischige Hand aus.

„Er hat mich nicht …“, setzte Tessa an, doch weiter kam sie nicht. Tante Freckles hielt eine Wasserflasche an ihre Lippen. „Hier, Schätzchen. Flüssigkeit ist gut für dich.“

Dann wandte sie sich an den Special Agent, der noch immer nicht seine lächerlich dunkle Sonnenbrille abgenommen hatte. „Alle nennen mich Freckles. Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. …?“

„Special Agent Grayson Wyatt“, sagte er und ergriff Tante Freckles zarte, von Altersflecken überzogene Hand, um sie behutsam zu drücken. Seine Hand war viel größer als ihre und sonnengebräunt.

Tessa nahm rasch noch einen Schluck Wasser.

Ihr doch egal, wie definiert sein Gesicht war oder wie korrekt sein dunkles Haar saß, das einen militärisch perfekten Schnitt hatte.

Wer sich so vorstellte, nahm sich definitiv zu ernst. Selbst wenn es sein Job war.

„Schön.“ Tessa schwang die zugegeben völlig unpassenden Highheels von der Liege und versuchte aufzustehen. „Da wir jetzt alle den Helden der Stunde kennen gelernt haben, können wir bitte zur Limo gehen?“

Irgendwie gelang es dem Agent, sich im Bruchteil einer Sekunde an Onkel Riders mächtigem Bauch vorbei zu winden und an Tessas Seite zu sein. Er ergriff schützend ihren Ellenbogen. „Machen Sie langsam.“

Sofort breitete sich in ihrem Rücken eine ungewohnte Wärme aus.

Zumindest funktionierte ihr neuronales System noch einwandfrei.

Sie schluckte und sah zu ihm auf. Selbst in Highheels musste sie den Kopf heben, um ihm ins Gesicht zu sehen.

Beschützer oder nicht, dieser Special Agent hatte sich ziemlich herrisch benommen. Anmaßend.

Und wenn Tessa etwas im Leben nicht leiden konnte, dann waren das überhebliche Männer.

„Was ist denn eigentlich da draußen passiert?“, wollte Tante Freckles nun wissen. „Hast du dich wirklich übergeben?“

„Nein“, antwortete Tessa im selben Augenblick, in dem Grayson „Ja“ sagte.

„Bist du schwanger?“, fragte Onkel Rider wenig taktvoll.

Nein!“, antwortete Tessa schrill.

„Sorry.“ Rider hob die Schultern. An Grayson gewandt sagte er: „Als Tessas jüngere Schwester schwanger war, musste sie sich mal übergeben und ist dann ohnmächtig geworden. Liegt wohl in der Familie.“

Tessa entging nicht, wie sich die Braue des Special Agent jenseits der Sonnenbrille hob. Sie biss die Zähne zusammen. Das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnte, waren derlei Gerüchte. „Nein, ich bin nicht schwanger. Nicht, dass es irgendjemanden etwas angehen würde.“

„Da bin ich aber erleichtert“, bemerkte Onkel Rider, dessen Mund unter dem mächtigen Schnurrbart kaum erkennbar war. „Es hätte mir leid wirklich getan, deinem kleinen Freund seine perfekte kleine Nase zu brechen, weil er dich unter diesen Umständen allein gelassen hat.“

Bei dieser wenig charmanten Erinnerung an ihren Freund kroch die Scham in Tessas Wangen. Ihr wurde heiß. Mit einem Mal wurde ihr überdeutlich bewusst, wie nahe sie dem Special Agent war. Sie konnte sogar seinen harten, muskulösen Oberkörper spüren, während er noch immer ihren Ellenbogen umklammerte.

Ihr Onkel hatte wenig schmeichelhaft über den Junior-Abgeordneten aus Kalifornien gesprochen. Was mochte dieser Agent davon halten? Vorsichtig hob sie den Blick über ihre brennenden Wangen hinweg.

Täuschte sie sich, oder hatte es um den Mundwinkel des Agents herum verdächtig gezuckt?

Tessa musste sich daran erinnern, dass sie durchaus dazu in der Lage war, sich zu behaupten.

Sie hatte Multimillionen-Dollar-Verträge mit Fernsehgesellschaften abgeschlossen. Sie hatte erwachsene Männer während Live-Interviews dazu gebracht, in Tränen auszubrechen. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass man ihr Liebesleben vor einem Haufen Fremder ausdiskutierte.

Tante Freckles hatte Tessas Mantel und ihre Handtasche mitgebracht, und Tessa schnappte sie sich und wich einen Schritt zurück, als beide Männer gleichzeitig vortraten, um ihr beim Anziehen behilflich zu sein. „Vielen Dank. Aber erstens brauche ich niemanden, der meine Ehre verteidigt, und zweitens möchte ich jetzt zur Limo.“

Mochte Grayson auch kurzzeitig gegrinst haben, war sein Gesicht nun sofort wieder ernst. Er sprach in sein Mikrofon und lauschte dann einen Moment. „Tut mir leid, Miss King. Die letzte Familienlimousine ist gerade abgefahren.“

„Schön, aber hier bleibe ich sicher nicht.“ Sie straffte sich. „Ich fahre jetzt zum Friedhof. Und wenn ich dafür höchstpersönlich den Krankenwagen lenken muss.“

Als der ältere Herr vorschlug, seine Nicht in seinem Wagen mitzunehmen, war Grayson für einen Moment mehr als erleichtert.

Ihm war ganz gleich, wer sich von nun an um sie kümmerte – Hauptsache, Tessa King war nicht länger seine Verantwortung.

Doch ihre Tante Freckles hatte da offenbar ganz andere Ansichten. Sie bestand darauf, dass Grayson die drei begleitete. „Wenn du wieder ohnmächtig wirst, Schätzchen, können wir dich nicht auffangen. Dafür sind wir zu alt und gebrechlich.“

Beinahe hätte Grayson gelacht. Die beiden waren in etwa so gebrechlich wie ein Bulldozer.

Da spürte er, wie sein Handy in seiner Tasche vibrierte. Er zog sich ans andere Ende des Zeltes zurück und nahm den Anruf entgegen. Es war Maddy.

„Ist etwas passiert?“, fragte Grayson und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken.

„Nein. Sag mal, war das Tessa King, die du da gerade im Fernsehen aufgefangen hast?“

Sein Gesicht verfinsterte sich. „Maddy, du weißt genau, dass ich im Dienst bin.“

„Warum gehst du dann ans Telefon?“

„Weil ich dachte, es wäre etwas passiert.“

„Das denkst du immer“, entgegnete sie leichthin.

Nein, das tat er nicht. Aber jetzt hatte er keine Zeit, mit seiner kleinen Schwester zu streiten. „Hör mal, ich rufe dich zurück, sobald ich kann“, sagte er und beendete das Gespräch.

Dann funkte er sein Team an. „Ich begleite Precision zum nächsten Standort“, meldete er.

Schließlich hatte er sich dem Schutz der Familie verschrieben. Und dazu gehörten alle Kings. Auch die sturen, streitsüchtigen und definitiv zu gutaussehenden.

„Verstanden“, sagte der Teamleiter. „Alle Einheiten sind auf ihren Positionen. Sorge dafür, dass sich der Fahrer an die vorgegebene Route hält.“

Scharfschützen und Kollegen in taktischer Ausrüstung waren entlang des Weges positioniert, um etwaige Angriffe abzuwehren. Von der Kirche bis zu dem privaten Friedhof auf der Twin Kings Ranch war der Weg abgesichert, und deswegen taten sie gut daran, sich an den Zeitplan zu halten.

Eigentlich hätte Grayson nun vorne sitzen müssen, aber als sie endlich den Wagen erreichten, half Rider bereits seiner über achtzigjährigen Ex-Frau auf den Beifahrersitz.

Alle Abläufe dieses Tages waren sorgfältig getaktet. Anstatt demnach weitere wertvolle Minuten zu verschwenden, stieg Grayson gemeinsam mit Tessa auf den Rücksitz und versuchte, die Teleobjektive der Kameras zu ignorieren, die auf sie gerichtet waren.

Zum Glück würden die meisten Reporter der Präsidentin folgen, die sich bereits auf dem Weg zum Flughafen befand. Nur der Familie, einigen engen Freunden und Tessas Sender war es erlaubt, an der Beerdigung auf der Twin Kings Ranch teilzunehmen.

Während der Fahrt holte Tessa einen Lippenstift hervor und zog sich, ohne einen Spiegel zu benutzen, die Lippen nach. Für einen Augenblick beneidete Grayson das kleine Utensil, das Tessas volle Lippen berühren durfte.

Er setzte sich aufrecht. Das Handy vibrierte erneut in seiner Jackentasche. Er warf einen prüfenden Blick auf das Display. Dieses Mal war es eine Textnachricht von Maddy mit weiteren wissbegierigen Fragen, doch er beschloss, nicht darauf einzugehen, weil sie das bloß ermutigen würde. Er steckte das Handy weg und behielt prüfend die Straße im Auge.

In der Vergangenheit war Grayson schon einmal auf der Twin Kings Ranch gewesen.

Es war ein beeindruckendes Areal von über zwölftausend Hektar und umfasste nicht nur die Weiden und Koppeln für die Tiere, sondern auch Wälder, Wanderwege und einen Fluss.

Damals hatte Roper King alle zusätzlichen Schutzmaßnahmen aus eigener Tasche gezahlt: Elektrozaun, Infrarotkameras, kugelsicheres Glas.

Das mächtige Haupthaus lag auf einer grasbewachsenen Anhöhe mit einem wunderschönen Blick auf die Teton Mountains.

Gegenüber befanden sich die Ställe und eine große Scheune. Jenseits davon lagen die Unterkünfte für die Cowboys, und daneben – etwas versteckt und vom Haupthaus aus nicht zu sehen – der Bungalow für die Sicherheitsleute.

Es war, als ob man hier nicht daran erinnert werden wollte, dass man sich das Gelände mit Wachpersonal teilte.

Nach etwa drei Meilen erreichten sie den privaten Friedhof in der Nähe des Snake Rivers. Die Grabsteine jenseits der geparkten Autos waren schneebedeckt.

Grayson ging um den Wagen herum und öffnete Tessa die Tür.

Sie stieg aus und rutschte mit dem hohen Absatz auf dem eisbedeckten Boden aus.

Grayson fing sie auf. Dieses Mal packte er nicht ihre Oberarme, sondern legte die Hände instinktiv auf ihre Taille.

Sie sah ihn an.

Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt.

„Tut mir leid“, sagte sie atemlos.

Das war eine Überraschung. Grayson hatte damit gerechnet, dass sie sich losreißen und darauf bestehen würde, keine Hilfe zu brauchen.

Stattdessen senkte sie den Kopf. „Ich hätte wirklich nicht diese dämlichen Highheels anziehen sollen.“

Unwillkürlich folgte Grayson ihrem Blick. Die dämlichen Highheels machten ihre Beine unwahrscheinlich sexy.

Nun hob Tessa den Blick und sah über den Wagen hinweg in Richtung Friedhof, wo man den Sarg bereits neben dem frisch ausgehobenen Grab bereitgestellt hatte. „Oh mein Gott.“ Sie schnappte nach Luft. „Das wird vielleicht doch schwerer, als ich dachte.“

Grayson ahnte, dass sie damit nicht nur das Gehen in Stilettos auf diesem unebenen Gelände meinte.

Ihre Tante und ihr Onkel waren bereits vorausgegangen. Nun war er also der Einzige, der sie davor bewahren konnte, eine weitere Panikattacke zu erleiden.

„Atmen Sie tief durch die Nase ein“, riet er und machte es ihr vor. Diese Taktik hatte er immer angewandt, um seine Mom zu beruhigen, wenn sie nervös in den Krankenhausfluren auf- und abging und darauf wartete, dass seine kleine Schwester aus dem OP-Saal kam.

„Und dann langsam durch den Mund ausatmen.“

Seine Hände lagen noch immer auf ihrer Taille, und inzwischen klammerte sie sich an seine Oberarme.

So gaben sie ein gefundenes Fressen für die Reporter ab.

Aber darauf wollte er Tessa jetzt nicht hinweisen. Sie war bereits genug aufgewühlt.

Hatte ihr Onkel nicht einen Freund erwähnt? Wo zur Hölle war dieser Typ? Und warum kümmerte er sich nicht um sie?

Der Gedanke an einen Freund weckte plötzlich etwas sehr Archaisches in Graysons Innerem. Er versuchte, das Gefühl niederzuringen, hatte damit aber nur mäßig Erfolg. Seine Schultern spannten sich.

„Danke. Ich glaube, jetzt schaffe ich das“, sagte sie und löste die Finger von Graysons Armen.

„Soll ich Sie an Ihren Platz begleiten?“, fragte Grayson und deutete mit dem Kinn in Richtung der Stuhlreihen, die man für die Familie aufgebaut hatte.

„Hm. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir einfach hier drüben warten?“, fragte sie und wies mit dem Finger auf eine nahegelegene Baumgruppe.

Wir.

Ein Schauer rann über seinen Rücken. Im Allgemeinen hatte Grayson nichts gegen wir. Seit der achten Klasse war er immer ein Teil irgendeines Teams gewesen. Sportmannschaften, Mathematikclub … Und später taktische Teams.

Aber das hier war anders. Es war zu vertraulich. Zu intim.

Er sollte auf diese Familie aufpassen, sich nicht mit ihnen anfreunden.

Leider hatte Tessa King ihren Arm bereits unter seinen gehakt und klammerte sich daran fest, als hinge ihr Leben davon ab.

So viel zum wir, dachte Grayson mit Blick auf die Trauergesellschaft. Eine Gesellschaft, zu der unglücklicherweise eben auch jene Reporter gehörten, die imstande waren, aus dem wir einen Skandal zu machen.

3. KAPITEL

Während der Beisetzung war Tessa wie betäubt.

Sie spürte nicht einmal die Tränen, die über ihre Wangen rannen, als die uniformierten Soldaten ihrer Mutter die zusammengefaltete Flagge überreichten. Und sie zuckte nur kurz zusammen, als eine Salutsalve von einundzwanzig Schüssen abgefeuert wurde.

In gewisser Weise war es gut, leer zu sein. Zumindest besser als der Sturm der Gefühle, der sie in der Kirche überkommen hatte.

Außerdem tat es gut, diesen solide gebauten Secret Service-Agenten neben sich zu wissen.

Irgendwann fühlte sie allerdings das Gewicht all der Blicke, die immer wieder auf sie beide gerichtet waren. Manche waren mitleidig, andere unverhohlen neugierig. Sie lehnte sich zu ihm und flüsterte: „Sie haben nicht zufällig noch so eine Sonnenbrille dabei?“

Langsam hob er die freie Hand und nahm die Brille ab.

Tessa schluckte. Seine Augen hatten eine verwirrend silbergraue Farbe und waren zugleich undurchdringlich und sanft. Behutsam schob er die Brille auf ihre Nase.

Es war, als würde die Brille ihr Schutz gewähren, sie unsichtbar machen gegen all die Blicke, die nun auf sie gerichtet waren, als sie zum Grab ihres Vaters ging und etwas von der kalten, harten Erde in die Hand nahm.

Während der vergangenen Woche war sie ganz stumpf gewesen. Die Tatsache, dass sie ihren Vater niemals wiedersehen würde, war noch nicht vollständig in ihr Bewusstsein gedrungen.

Bis jetzt.

Der Anblick dieser tiefen, kalten Grube drehte ihr den Magen herum.

Nie wieder würde sie von ihrem Vater in den Arm genommen werden. Nie wieder würde er sich Kaffee in die Tasse gießen, die sie ihm als Kind bemalt hatte. Mein Dad ist mein Held, stand in großen Lettern darauf geschrieben.

Nie wieder würde seine laute Stimme nach ihr rufen.

Spring einfach hoch und tauche tief.

Das war’s. Er kam nicht zurück.

Tessa versuchte zu flüstern, doch die Worte blieben in ihrem trockenen Mund hängen. Auf Wiedersehen, Daddy.

Sie warf einen letzten Blick in das Grab. Dann befahl sie ihren Beinen, sich zu bewegen. Nicht umfallen, ermahnte sie sich. Einfach einen Fuß vor den anderen setzen.

Sie hatte sich bereits ein ganzes Stück vom Grab entfernt, als sie jemand am Arm packte. „Da bist du ja, Liebling!“

Verwirrt wandte sie den Kopf nach rechts. Sie hätte nicht überrascht sein sollen, Davis Townsend zu sehen. Immerhin hatte er am Morgen mit ihr gemeinsam die Kirche betreten und hatte darauf bestanden, direkt in der Bank hinter ihr zu sitzen.

Sie hatte wissen müssen, dass er zum Friedhof kommen würde.

In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie sich mit dem linken Arm noch immer fest an Grayson Wyatt klammerte.

Sie war so sehr in ihrer Trauer gefangen gewesen, dass sie nicht einmal darauf geachtet hatte, wer sie da die ganze Zeit über aufrecht gehalten hatte.

Er hielt sie nicht nur aufrecht, nun schob er sich auch schützend vor sie und schien bereit, sie gegen jede Bedrohung abzuschirmen.

„Davis“, brachte sie kraftlos hervor. Zu einem Lächeln war sie nicht mehr imstande. Sie betrachtete den Mann, den sie zwei Jahre lang gedatet hatte. Den Mann, den ihre Geschwister und Onkel hartnäckig Aalglatter Abgeordneter nannten.

„Warst du die ganze Zeit hier?“

„Natürlich war ich hier, Liebling. Ich bin in einer Limo mit Duke und Tom hergefahren.“ Davis blassblaue Augen streiften Agent Wyatt und blieben für einen Moment an seinem und Tessas ineinanderverschränkten Armen hängen. „Wie es das Protokoll verlangt.“

Irgendwo hinter ihnen war das Klicken von Kameras zu hören. Für den Bruchteil einer Sekunde gab Tessas Knie nach.

„Ich hab’ dich“, sagte Grayson sehr leise und stützte sie diskret. „Einfach weiterlaufen. Wir haben es gleich zum Truck geschafft.“

Wenn Tessa nicht wegen der Kameras besorgt gewesen wäre, hätte sie ihn jetzt verwundert angesehen. Zum ersten Mal hatte der Agent sie geduzt. Es hatte sehr natürlich und instinktiv geklungen, als hätte er gar nicht darüber nachgedacht.

Seltsamerweise fand sie es gar nicht befremdlich. Im Gegenteil.

Davis allerdings benahm sich vor Kameras fast genauso professionell wie Tessa. Er legte den beunruhigten Gesichtsabdruck ab und knipste sein berühmtes Wahlkampf-Lächeln an. Waren seine Zähne schon immer so schrecklich weiß gewesen? Seine Lippen bewegten sich kaum, als er nun die Stimme senkte und Grayson fragte: „Ist sie betrunken?“

„Nein, sie ist nicht betrunken“, antwortete Tessa ärgerlich. Sie hasste es, wenn Männer über sie sprachen, als sei sie gar nicht anwesend. In dieser Hinsicht war sie besonders empfindlich, weil sie sich nach ihrem Unfall so lange Zeit nicht hatte ausdrücken können.

Sie hat gerade ihren Vater beerdigt und kann kaum sehen vor Tränen und würde diese lächerlich hohen Schuhe am liebsten in den nächsten Graben werfen.“

„Okay. Gut, es sieht so aus, als wärst du in den besten Händen, bei Mr. … äh …?“

„Agent Wyatt“, bemerkte Grayson, ohne ihm die Hand zu bieten. Vielleicht auch nur deswegen, weil sein rechter Arm vollends damit zu tun hatte, Tessas sechzig Kilo Körpergewicht zu stützen.

„Schön. Dann sehen wir uns im Haus.“ Davis beugte sich vor, um Tessa einen Kuss auf die Wange zu geben. Doch alles, was er erreichte, war, dass seine Nase gegen den Rahmen der Sonnenbrille stieß.

Wahrscheinlich sah sie in dieser männlichen Brille ziemlich albern aus, aber im Augenblick war ihr das gleichgültig. Hauptsache, sie konnte ihre Augen verstecken.

In diesem Moment näherte sich Onkel Rider. „Fahren Sie mit uns, Abgeordneter?“

„Danke für das Angebot, Sir, aber ich steige in die zweite Limousine. So sieht es das Protokoll vor. Wir sehen uns dann gleich im Haus.“

„Seit wann haben wir ein Protokoll?“, fragte Rider. Er hielt es nicht einmal für nötig, die Stimme zu senken, obwohl Davis noch in Hörweite war. Dieser winkte jemandem zu und entfernte sich steif. „Ist das etwa seine Entschuldigung, seine Freundin hängen gelassen zu haben?“

Als Experte und politischer Analyst wusste Onkel Rider sehr genau, was in jenen Kreisen vorging. Ironischerweise hatte er genau deswegen nie Interesse daran gehabt, selbst Karriere in der Politik zu machen – so wie sein Bruder.

In Tessas Familie war jeder peinlich darauf bedacht, das Thema Politik zu meiden. Es war beinahe bemerkenswert, wie wenig darüber gesprochen wurde, obwohl Roper, Rider und Tessa so versiert darin waren.

In der Familie war auch niemand darüber begeistert gewesen, dass Tessa mit dem jungen Abgeordneten ausging. Einzig ihre Mutter hatte die Verbindung offen unterstützt. Ihr Vater dagegen hatte ihr geraten, die Dinge langsam angehen zu lassen.

Das war der Grund, warum sie Davis noch immer keine Antwort gegeben hatte, nachdem er ihr im vergangenen Monat einen Antrag gemacht hatte.

„Er meint, dass seine Presseassistentin das für ihn arrangiert hat“, meinte Tessa und widerstand dem Drang, die Fingerspitzen an ihre Schläfen zu legen, in denen es unangenehm zu pochen begann. „Du weißt doch, wie das in unserer Welt läuft. Wir haben so viele Termine und so viele Aufgaben, dass es hilfreich ist, wenn alles bis ins letzte Detail geplant ist. Davon abgesehen hat er mich nicht hängen lassen. Ich komme sehr gut allein zurecht.“

Ihr entging nicht, wie Grayson den Kopf ungläubig zur Seite neigte.

Sie begegnete seinem Blick. Wenn seine Augen vorher eine eisige Farbe gehabt hatten, waren sie jetzt definitiv so grau wie das Metall der Pistole, die er zweifellos unter der Jackettjacke trug. „Da hab’ ich mich wohl täuschen lassen“, sagte er trocken.

Ein Prickeln rann durch Tessas Körper bis hinab in ihre Zehen. Wenn er sie weiterhin so ansah, würde ihr keine Sonnenbrille der Welt helfen.

Grayson stand in dem leeren Badezimmer im Bungalow und ließ kaltes Wasser über seine Handgelenke laufen.

Inzwischen war es Abend geworden, und er war froh, dass dieser Tag bald zu Ende ging. Seit die Gesellschaft am Nachmittag ins Haupthaus gezogen war, hatte Tessa ihn mehr oder weniger ignoriert.

Zum Glück war das Abendessen ohne weitere Zwischenfälle verlaufen. Nur dieser Trottel Davis Townsend war unangenehm aufgefallen: Während Rider Kings Rede auf seinen verstorbenen Zwillingsbruder hatte Davis unverschämterweise einen Anruf seiner Presseassistentin entgegengenommen.

Nicht, dass das Grayson etwas anging.

Er betrachtete die raffinierte Einrichtung des Badezimmers. Roper King hatte sich als sehr großzügig erwiesen, als er den Bungalow für die Sicherheitskräfte einrichten ließ. Er hatte gewollt, dass sich hier alle zu Hause fühlten.

Allerdings war Grayson zwischen den goldenen Wasserhähnen und den plüschigen Handtüchern eher unwohl. Er wäre genauso gut mit einem Rucksack und einem Zelt zurechtgekommen.

Dieser verschwenderisch eingerichtete Bungalow war jedenfalls um einiges luxuriöser als seine schlichte Mietwohnung in Washington.

Graysons Erfahrung nach war luxuriös allerdings gleichbedeutend mit wenig herzlich. Und das beste Beispiel dafür war Tessa King.

Wenigstens war sie im Laufe des Abends nicht noch einmal zusammengeklappt. Im Schoß der Familie – und ohne laufende Kameras – hatte sie wieder stärker gewirkt.

Grayson schüttelte den Kopf. Wann hatte er überhaupt aufgehört, ihren Codenamen zu benutzen?

Er dachte daran, wie er zu diesem Auftrag gekommen war. Vor einigen Monaten hatte Roper King persönlich nach ihm verlangt und ihn in das Team der Personenschützer geholt.

Zuvor war Grayson zehn Jahre lang Teil einer Eliteeinheit von Scharfschützen beim Marine Corps gewesen. Daraufhin hatte er drei Jahre als Scharfschütze für den Secret Service gearbeitet.

Grayson musste sich daran erinnern, was ihn von diesem Job hier überzeugt hatte. Als Personenschützer im inneren Kreis der Familie des Vizepräsidenten wurde man besser entlohnt. Das bedeutete, dass er fast alle von Maddys Krankenhausrechnungen übernehmen konnte.

Doch nun war Roper King tot. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses würde seine Nachfolgerin werden, und diese hatte bereits ihr eigenes Sicherheitsteam. Hier gab es nichts mehr zu tun. Daher würde es nicht mehr lange dauern, bis Grayson versetzt wurde.

Als er in den Gemeinschaftsraum zurückkehrte, wurde er von seinen Kollegen mit Grinsen und stichelnden Kommentaren empfangen. Sie hatten sich um ein aufgeklapptes Laptop versammelt.

Im Internet kursierte das Video, wie Grayson die Tochter des Vizepräsidenten auf den Kirchenstufen auffing. Es sah wesentlich dramatischer aus, als es gewesen war – doch wem sollte Grayson das jetzt noch deutlich machen?

Das verdammte Video hatte schon jetzt über eine Million Klicks.

„Du bist ein Held“, machte sich seine Kollegin Lopez über ihn lustig.

„Prince Charming rettet blonde Schönheit“, fügte sein irischer Kollege Doherty hinzu und deutete auf die Kommentare unter dem Video.

Grayson warf ihnen einen finsteren Blick zu, dann sah er auf den Bildschirm.

Es existierte noch ein weiters Video. Auf diesem klammerte sich Tessa auf dem Friedhof an seinen Arm. Als Davis Townsend dazu kam, schien sie sich noch dichter an Grayson zu schmiegen.

Tessa King lässt Kongressabgeordneten für Bodyguard sausen, stand darunter.

„Schluss jetzt“, sagte Grayson entnervt. „Gehen wir schlafen. Es war ein langer Tag.“

Das Video ist nur ein Strohfeuer, sagte er sich. Es wird nicht lange dauern, bis sich die Medien auf den nächsten Skandal stürzen.

Womöglich war ihr Auftrag schon morgen beendet, und er musste Tessa King nie wiedersehen. In gewisser Weise war Grayson darüber sehr erleichtert.

Doch der nächste Morgen brachte eine Überraschung.

Grayson und seine Kollegen wurden noch vor dem Weckerklingeln aus den Betten geholt und von ihrem Vorgesetzten in den abhörsicheren Konferenzraum beordert.

Die jüngsten Ereignisse hatten die Lage verändert.

Das jüngste Mitglied der King Familie, Mitchell King, hatte sich in der Nacht haltlos betrunken – zusammen mit der sechzehnjährigen Tochter eines örtlichen Polizisten.

Als man ihm deswegen Handschellen anlegen wollte, hatte er aufbegehrt und musste nun mit einer Anzeige wegen Missachtung der Staatsgewalt rechnen.

Irgendwie war es dem Achtzehnjährigen gelungen, sich seinem Aufpasser zu entziehen. Jetzt galt es, den Schaden zu begrenzen und dafür zu sorgen, dass die Medien nichts davon erfuhren.

Und da sie bereits beim Thema waren, wies sein Vorgesetzter Grayson nun schonungslos darauf hin, was dessen Rettungsaktion ausgelöst hatte. Es existierten sogar Bilder davon, wie er die Sonnenbrille auf Tessas Nase geschoben hatte – und das laut Presse besonders zärtlich.

„So war es nicht“, verteidigte sich Grayson. „Diese Frau hatte eine Panikattacke auf der Kirchentreppe. Später sah es so aus, als könnte sie noch eine bekommen. Ich habe nur getan, was jeder andere an meiner Stelle auch getan hätte.“

Simon, sein Vorgesetzter, hob die Schultern. „Mag sein. Aber es ist ein gefundenes Fressen für die Reporter.“

Grayson seufzte frustriert. „Ist sie nicht selbst Teil der Presse? Soll sie ihre Kollegen doch zurückpfeifen. Das ist ein Haifischbecken. Was kümmert es uns, wenn sie sich gegenseitig zerfleischen?“

„Es kümmert uns in dem Augenblick, da sich die Meute da draußen vor den Toren der Ranch versammelt. Schon jetzt wimmelt es von Reportern und Gott weiß wem noch. Ich muss wohl niemanden daran erinnern, wie es John Hinckley Junior im Jahr 1981 gelang, so nah an Ronald Reagan heranzukommen.“

Im Raum herrschte betretenes Schweigen.

Natürlich war allen bewusst, dass sich der Angreifer damals als Journalist ausgegeben hatte. Gemeinsam mit den Reportern war er ungesehen hereingekommen und hatte das Feuer auf den Präsidenten eröffnet.

Simon räusperte sich. „Es besteht demnach eine Gefahr für die Familie. Und deswegen bleiben Sie, Agent Wyatt, und die Hälfte des Teams weiterhin auf der Ranch.“

Grayson unterdrückte ein Fluchen. Er blieb wortlos sitzen, während das weitere Vorgehen geplant und die Kollegen für die Operation eingeteilt wurden.

Operation Schneeball. Wie passend, dachte Grayson mürrisch.

Und gerade, als er dachte, es könnte kaum noch schlimmer kommen, wurde er von Simon nach der Sitzung zu sich gerufen.

„Nur, damit Sie schon mal vorgewarnt sind“, begann Simon wenig aufbauend. „Einer der Polizisten im Rettungszelt trug eine Körperkamera. Er hat unwissentlich aufgezeichnet, wie Tessa King Ihnen die Meinung gesagt und Ihre taktische Vorgehensweise in Frage gestellt hat. Man hat mir versprochen, dass man alles tun wird, um dieses Video vor der Presse geheim zu halten, aber Sie wissen ja, wie das manchmal läuft. Im schlimmsten Fall müssen Sie vor den Untersuchungsausschuss treten.“

Grayson seufzte. „Sir, ich weiß, dass es ziemlich unkonventionell war, sich für den Leichenwagen zu entscheiden. Aber es erschien mir das beste Mittel, um schnell zu handeln und gleichzeitig die Umgebung im Auge zu behalten.“

„So habe ich es auch bereits in den Report geschrieben. Wissen Sie, ich behalte Sie nur hier, weil ich weiß, dass ich Ihnen vertrauen kann.“

Sein Vorgesetzter ließ es wie eine Belohnung klingen, doch in Wahrheit konnte Grayson nur verlieren. Wenn man ihn von dem Fall abzog, würde es heißen, er hätte einen Fehler gemacht. Wenn er blieb, lief er Gefahr, noch mehr in Tessa Kings Leben verwickelt zu werden.

Keine rosigen Aussichten.

Simon schien seine Gedanken zu lesen. „Ich weiß, dass Sie einen guten Job machen“, sagte er aufmunternd. „Und ich weiß, dass Sie sich immer an die Regeln halten.“

Grayson sah ihn aufmerksam an. „Aber?“, fragte er, weil er ahnte, dass Simon noch mehr hatte sagen wollen.

„Aber“, bestätigte Simon und seufzte, „ich fürchte, eine Tessa King könnte das nicht so sehen.“

„Denken Sie, sie wird eine Beschwerde einreichen?“, fragte Grayson.

Simon hob die Braue. „Meinen Sie etwa nicht?“

Grayson holte tief Atem. „Alles, was ich weiß, ist, dass ich diese Frau überhaupt nicht kenne.“

„Schauen Sie“, begann Simon. „Wir haben alle gerne mit ihrem Vater gearbeitet, und deswegen bin ich bereit, ihr einen Vertrauensbonus zu geben. Aber ich mache diesen Job schon sehr lange, und ich mache mir nichts vor. Diese Leute wollen niemals in einem schlechten Licht erscheinen. Wenn sie das Gefühl haben, in die Ecke gedrängt zu werden oder auch nur in einer peinlichen Situation zu sein, dann sind sie zu allem fähig. Hinter Tessa King steht ein gesamtes Presseteam. Die sind imstande, etwas völlig anders darzustellen, damit sie gut dasteht. Wir können nur hoffen, dass sie dafür niemanden über die Klinge springen lassen. Weder Sie noch unsere Einheit.“

Grayson nickte.

Wie würde Tessa reagieren, wenn sie diese Videos sah? Für sie stand der Job immer an erster Stelle, und einen Skandal würde sie sich nicht leisten.

Ebenso wenig, wie Grayson es sich leisten konnte, sich ablenken zu lassen.

Er war für die Sicherheit der King Familie zuständig. Er durfte jetzt weder über mögliche Skandale noch über einen möglichen Untersuchungsausschuss nachdenken.

Und schon gar nicht darüber, wie es sich angefühlt hatte, Tessa King in den Armen zu halten.

4. KAPITEL

Ärgerlich ließ Tessa das Handy sinken.

Ihr Bedarf an Schlagzeilen war an diesem Morgen bereits gedeckt, dabei hatte sie noch gar nicht alles gesehen, was über sie und den heißen Agent geschrieben worden war.

Sie widerstand dem Drang, weitere soziale Medien zu durchforsten, und konzentrierte sich stattdessen auf Tante Freckles, die am Ofen stand und gerade ihren berühmten Buttermilchkuchen herausgeholt hatte.

„Wie hast du es geschafft, echte Butter in Moms Küche zu schmuggeln?“, fragte sie.

Sherilee King lebte strikt vegan. Auch w...

Autor

Christy Jeffries
Christy Jeffries hat einen Abschluss der University of California in Irvine und der California Western School of Law. Das Pflegen von Gerichtsakten und die Arbeit als Gesetzeshüterin haben sich als perfekte Vorbereitung auf ihre Karriere als Autorin und Mutter erwiesen. Mit zwei Energiebündeln von Söhnen, der eigenwilligen Großmutter und einem...
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Heatherly Bell

Heatherly Bell wurde in Tuscaloosa, Alabama, geboren, verlor ihren Akzent aber schon im Alter von zwei Jahren. Ihre Großmutter Mima hat ihn sich bewahrt, ebenso wie die traditionelle Lebensart und den Spirit der Frauen aus dem Süden der USA. Heatherly ging mit ihrer Familie erst nach Puerto Rico und...

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