Bianca Extra Band 129

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IST ES DIESMAL FÜR IMMER? von CHRISTY JEFFRIES
Leuchtend grüne Augen und ein Mund zum Küssen! Marcus King stockt der Atem, als seine Jugendliebe Violet überraschend in der Stadt auftaucht. Doch schon einmal hat sie ihm das Herz gebrochen. Auch wenn er sie insgeheim sofort wieder begehrt, sollte er sich besser zurückhalten …

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  • Erscheinungstag 18.11.2023
  • Bandnummer 129
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516907
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christy Jeffries, Brenda Harlen, Teresa Southwick, Laurel Greer

BIANCA EXTRA BAND 129

1. KAPITEL

Marcus King hasste Beerdigungen.

Wenn möglich, vermied er Friedhöfe. Das war in seiner Rolle als Sheriff von Ridgecrest County in Wyoming nicht immer einfach. Selbst während einer Straßensperre für eine Beisetzung im Ort fühlte er sich so unwohl, dass er diese Aufgabe lieber einem seiner jungen Deputies übertrug. Die Nähe zu einem Friedhof erinnerte ihn schmerzhaft an den Tod, der die Menschen überall und zu jeder Zeit heimsuchen konnte. Marcus war sich dieser Tatsache aus eigener Erfahrung sehr wohl bewusst: Vor fünf Jahren hatte er seine Frau verloren.

Doch um dieses Begräbnis hier war er natürlich nicht herumgekommen. Tausende Trauernde reihten sich in langen Warteschlangen vor der überfüllten Kirche, während weitere Millionen zu Hause vor den Bildschirmen die Trauerfeier verfolgten. Prominente und hochrangige Politiker drängten sich in dem viel zu kleinen Gotteshaus von Teton Ridge und lauschten mit betroffenen Mienen der Präsidentin der Vereinigten Staaten, die ihrem verstorbenen Stellvertreter die letzte Rede hielt.

Vizepräsident Mitchell „Roper“ King hatte zu Lebzeiten viele Titel und Ämter bekleidet. Doch für Marcus war er einfach nur Dad gewesen.

Der Beerdigung seines eigenen Vaters hätte er unmöglich entkommen können: Hunderte von Kameras verfolgten jeden Schritt der Trauergäste, nahmen jede einzelne Träne ins Visier, jede Gefühlsregung in Großaufnahme. Marcus rutschte nervös in der engen hölzernen Kirchenbank hin und her.

„Hör auf“, flüsterte sein Bruder Duke. „Du bist doch keine fünf mehr.“

„Ich wollte nur nach meinen Jungs schauen“, verteidigte sich Marcus und drehte sich zu seinen Zwillingssöhnen um, die mit ihrer jüngeren Cousine Amelia hinter ihm saßen. „Sie fangen bestimmt an, sich zu langweilen.“

Die beiden Sechsjährigen Jordan und Jack hielten sich allerdings wacker und verbargen ihre Unruhe deutlich besser als ihr alter Herr. Wahrscheinlich, weil ihre Tante ihnen Donuts und neue Spiele für ihre iPads versprochen hatte, wenn sie während des Gottesdienstes still sein würden.

Marcus ließ den Blick über die Reihen der Gäste schweifen, bis das halb verdeckte Gesicht einer Frau seine Aufmerksamkeit erregte.

Nein! Das war doch nicht etwa …

Sie würde sicherlich niemals hier auftauchen, ganz besonders nicht in seiner Gegenwart. Er reckte den Hals, um besser sehen zu können. Doch in diesem Moment fühlte er den Ellenbogen seines Bruders, der sich in seine Seite bohrte – genau an der Stelle, wo er seine Dienstwaffe umgebunden hatte.

Duke fluchte leise und ihre Mutter warf ihnen einen scharfen Blick zu, den selbst der schwarze Schleier nicht verhüllen konnte. Als sie ihr Augenmerk wieder auf die Rede und den mit der amerikanischen Flagge drapierten Sarg legte, murmelte Duke: „Du bringst allen Ernstes deine Pistole mit zum Gottesdienst?“

„Ich trage sie immer“, antwortete Marcus und zupfte am engen Reverskragen seines Anzugs. „Im Notfall bin ich auf alles vorbereitet.“

„Du hast heute frei.“

Marcus nahm sich nie frei. Dies war seine Stadt, seine Heimat. Er war für alle Leute hier verantwortlich. Zumindest bis sie wieder sicher nach Hause gehen würden. Was hoffentlich spätestens in fünfzehn Minuten passieren sollte. Er musste nur noch den Trauerzug draußen überstehen und dann ...

„Wo geht Tessa denn hin?“ Sein Bruder deutete mit dem Kopf zu ihrer Schwester, die rasch den Mittelgang entlang hinauslief.

„Ich schaue besser nach ihr.“ Marcus wollte gerade aufstehen, als seine Mutter ihren Arm blitzschnell ausstreckte. So wie damals, als sie ihn zum Baseballtraining gefahren hatte und vor einer beinahe verpassten roten Ampel heftig auf die Bremse treten musste.

„Wag es bloß nicht, eine noch größere Szene zu machen.“ Sie sprach leise, aber mit Nachdruck. „Unsere Sicherheitsleute sind überall postiert und werden sich um sie kümmern.“

Tatsächlich legte einer der Agenten vom Secret Service, der in der dunklen Ecke hinter der großen Orgel stand, in diesem Moment seine Hand ans Ohr. Marcus war bei der gemeinsamen Einsatzbesprechung von Geheimdienst, seiner eigenen Polizeistation und weiteren Sicherheitseinrichtungen der umliegenden Bezirke gewesen und hätte zu gern gewusst, was gerade über Funk gesprochen wurde. Da hob der Agent den Kopf und nickte Marcus unauffällig zu.

Das bedeutete, dass er festsaß, und sich wohl oder übel der Trauer um seinen Vater stellen musste. Er musste an das stolze – und leicht schiefe – Lächeln seines Vaters denken. Nie wieder würde er seine kräftige Stimme hören. Nie wieder würde sein Vater ihm mit Ratschlägen zu Seite stehen können. Verdammt. Marcus wollte im Stillen um seinen Vater trauern, nicht im Beisein dieser Menschenmassen.

Die letzten zehn Minuten der Begräbnisfeier kamen ihm länger vor als die ganze Stunde davor. Doch endlich trugen repräsentative Vertreter der jeweiligen Streitkräfte den mächtigen Sarg durch den Mittelgang nach draußen. Es folgten seine Mutter mit der Präsidentin und dahinter Marcus mit dem Ehemann des Staatsoberhaupts, während ihnen die Trauernden links und rechts zunickten und Beileidsbekundungen murmelten.

Falls es etwas gab, das Marcus noch mehr zu meiden versuchte als Beerdigungen, dann waren es Politiker. Ja, die Präsidentin und ihr Ehemann waren gut auszuhalten und sein Vater hatte zahlreiche Freunde unter den Kongressabgeordneten. Doch es waren auch viele Leute vor Ort, die bloß in Roper Kings kleines Geburtsstädtchen gereist waren, um Schulter an Schulter mit den einflussreichsten Regierungsmitgliedern im Rampenlicht zu erscheinen. Wie zum Beispiel Senatorin Cortez-Hill aus Texas. Sie sorgte für Aufruhr, egal wo sie erschien. Nicht zuletzt wegen ihres Mannes, der ein prominenter Vertreter der berühmten Baseball Hall of Fame war.

Super. Das Einzige, was diesen Tag noch unerträglicher machen konnte, war, falls sie tatsächlich ihre Tochter mitgebracht hatte!

Oh, nein. Da war sie.

Violet Cortez-Hill.

Marcus stöhnte innerlich auf und seine Knie wurden weich, als sich ihre Blicke trafen. Die Frau, die er in einer der hinteren Bänke gesehen hatte, war also tatsächlich sie gewesen. Und sie war sogar noch schöner, als er sie das letzte Mal gesehen hatte – was jetzt vierzehn Jahre her war! Ihr schwarzes Haar war immer noch seidig glatt, aber ein bisschen kürzer geschnitten, sodass es nun ihr herzförmiges Gesicht umrahmte. Sie hatte noch immer diesen faszinierenden Teint, der bronzefarben schimmerte, makellose samtene Haut und eine schmale, perfekt geformte Nase. Einzig ihre Wangenknochen traten schärfer hervor und aus ihren grünen Augen strahlten Klugheit und eine Spur Zynismus. Sie presste die Lippen fest zusammen, als würde sie genau wie er den Atem anhalten. Doch sie wich seinem Blick nicht aus.

Er hätte es wissen müssen. Beerdigungen zwangen Menschen nicht nur dazu, sich in aller Öffentlichkeit ihrer Trauer zu stellen und Verletzlichkeit zu zeigen, sondern konfrontierten sie oft auch mit Fehlern aus der Vergangenheit. Und sein größter Fehler stand keine fünf Meter entfernt von ihm! Warum um alles in der Welt war Violet gekommen? Ihr musste doch klar sein, wie unangenehm diese Situation für alle Beteiligten war.

Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter und stieß ihn sanft vorwärts.

„Geh weiter, Loverboy“, raunte Duke. Marcus hatte diesen alten Spitznamen seit Jahren nicht mehr gehört. Er setzte einen Fuß vor den anderen, um der Prozession langsam nach draußen in den hellen Sonnenschein und das Blitzgewitter der Kameras zu folgen. Rasch zog er seine Sonnenbrille aus der Jacketttasche und wünschte sich zum wiederholten Male, irgendwo anders an diesem kühlen Januartag zu sein – nur nicht hier.

Als der Sarg in den Leichenwagen gehoben wurde, fühlte Marcus zwei kleine Händchen rechts und links, die nach Halt suchten. Die Zwillinge brauchten dringend Zuwendung nach dem Tod ihres geliebten Großvaters. Noch ein Verlust, den sie verarbeiten mussten. Als ihre Mutter starb, waren sie zu klein, um zu begreifen, was geschehen war. Doch in den vergangenen Tagen brachen Emotionen hervor, mit denen sie erst langsam lernen mussten umzugehen. Marcus hatte ihnen erklärt, dass es völlig in Ordnung ist, zu weinen und zu trauern. Jetzt eine starke Stütze für die beiden zu sein, war ungeheuer wichtig. Dessen war er sich bewusst.

„Wo ist denn Tante Tessa?“, flüsterte Jordan. Das kleine Gesicht war von Sorge gezeichnet. „Sie war sehr blass, als sie weggelaufen ist.“

„Vielleicht hatte sie nur Hunger“, antwortete Marcus. Sofort sah er die zweifelnde Miene seines Sohnes.

„Ich muss mal“, fiel ihnen Jack wesentlich lauter ins Wort. „Und ich kann es nicht mehr lange halten.“ Während Jordan ein ruhiger und besonnener Junge war, hatte Jack einen eher impulsiven Charakter. „Wehe, sie isst uns alle Donuts mit bunten Streuseln weg.“

Marcus stellte erleichtert fest, dass seine Söhne mit der Situation offenbar besser umgingen als er selbst. Der alleinerziehende Vater kannte sich sowohl mit Tränen als auch mit Wutausbrüchen aus und hatte mit allem gerechnet. Falls Donuts und Toilettensuche seine größten Sorgen waren, konnte er sich glücklich schätzen. Damit konnte er umgehen. Mit einem kurzen Blick auf die Menschenmenge, die immer noch aus dem Eingang der Kirche quoll, entschied er: „Okay, Jungs. Wir springen schnell über die Büsche und gehen den Pfad entlang zur Hintertür. Da gibt es eine Toilette.“

Außerdem war dies die beste Gelegenheit, schnell den Massen zu entkommen und nicht einer gewissen Frau in die Arme zu laufen. Einer Frau, die vor Jahren sein Herz gewonnen hatte.

Sobald Violet Cortex-Hill auf dem Jackson Hole Flughafen gelandet war, wusste sie, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie Marcus King begegnet würde. Dem Mann, der ihr bester Freund und ihre große Liebe gewesen war.

Wahrscheinlich hätten die Leute verstanden, wenn sie nicht zur Beerdigung im fernen Wyoming erschienen wäre. Doch sie hatte gerade einen umfangreichen Fall abgeschlossen und etwas Leerlauf an der Arbeit. Außerdem war es vierzehn Jahre her, seit sie die Familie King gesehen hatte, und sie wollte sich nicht drücken. Der Schlamassel von damals lag hinter ihnen und niemand sollte Violet für einen Feigling halten.

Als Jugendliche hatte sie viel Zeit mit Marcus und seinen Geschwistern auf politischen Veranstaltungen verbracht, zu denen sie ihre Eltern gezwungen hatten. Sie hatte Marcus’ Vater immer gemocht und geschätzt. Zumindest wollte sie ihm die letzte Ehre erweisen.

Doch als sie Marcus in der Kirche entdeckte, schlugen die Erinnerungen wie mächtige Wellen über ihr zusammen. Er sah sogar besser aus als damals. Seine Schultern waren breiter und seine Gesichtszüge definierter. Sie erkannte den Jungen von damals in zerschlissenen Jeans, bedruckten T-Shirts und Baseballkappe kaum wieder. Der attraktive Mann, der sie im Kirchengang mit offenem Mund anstarrte, hatte einen akkuraten Haarschnitt und trug einen teuren Maßanzug. Überraschenderweise hatte sein Anblick ihren Puls rasen lassen – selbst nach den vielen Jahren.

Ob es ihm genauso gegangen war? Sein Bruder Duke hatte ihm einen kleinen Schupps gegeben, bevor er weitergelaufen war.

Nach dem Gottesdienst dauerte es Ewigkeiten, bis sich die Bänke langsam leerten, und Violet spürte ein unangenehmes Klopfen in den Schläfen. Leise wisperte sie ihrer Mutter zu: „Ich werde kurz zur Damentoilette gehen.“

„Was? Jetzt?“ Senator Eva Cortez-Hill presste die Worte zwischen den Lippen hervor, während sie weiterhin hochrangigen Politikern und Prominenten zunickte. „Es wäre schön, wenn du dich vor den Kameras draußen blicken lassen könntest.“

„Mutter, diese Diskussion ist abgeschlossen. Ich werde nicht für den Obersten Gerichtshof kandidieren.“

„Du glaubst doch nicht etwa, dass du – na ja, du weißt schon wen – treffen wirst, oder?“ Selbst nach diesen vielen Jahren sprach ihre Mutter nicht den Namen Marcus aus.

„Natürlich nicht. Das ist Vergangenheit.“

„Na, schön. In fünf Minuten draußen. Wir sitzen in der dritten Limousine hinter der Präsidentin. Der Secret Service wartet nicht.“

Violet bahnte sich einen Weg zurück durch das Kirchenschiff in einen Seitenflügel, wo sie die Toiletten vermutete. Sie war im Scheinwerferlicht von Kameras und im Angesicht der Öffentlichkeit aufgewachsen. Das war nichts Neues für sie. Trotzdem hatte sie dafür wenig übrig, auch wenn sie es gut verbergen konnte. Als eine der hochrangigsten Pflichtverteidigerinnen vertrat sie einige der schlimmsten Verbrecher des Landes. Sie hatte gelernt, keinerlei Emotionen zu zeigen und einen kühlen Kopf zu bewahren. Doch auch im Angesicht von Klienten in Gefängnistracht und langen Listen von schwerwiegenden Vergehen zögerte sie nicht, sich stets für ein faires Verfahren einzusetzen.

Warum versteckte sie sich dann ausgerechnet auf dem Klo in einer kleinen Kirche im Nirgendwo? Violet hielt sich am Rand des Waschbeckens fest und starrte ihr Spiegelbild an. „Weil deine Welt zusammengebrochen ist, als du Marcus King das letzte Mal gesehen hast.“

Ihr Handy vibrierte in der Handtasche und gleichzeitig fühlte sie den stechenden Schmerz einer aufsteigenden Migräne. Mit fahrigen Händen kramte sie in der Tasche, bis sie ihr Telefon gefunden hatte. Ihr Vater fragte in einer Textnachricht, ob alles in Ordnung sei. Rasch tippte sie eine Antwort.

Mir geht es gut. Fahrt ohne mich. Ich komme später zum Flughafen.

Jetzt wurde ihr auch noch schlecht. Violet beschloss, eine der starken Tabletten gegen Migräne zu nehmen, die ihr Arzt verschrieben hatte. Nachdem sie das Medikament mit einem Schluck aus dem Wasserhahn hinuntergeschluckt hatte, trug sie etwas Lippenstift auf. Doch ihre Wangen sahen schrecklich blass aus. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr und redete sich ein, dass genug Zeit vergangen war, um ungestört verschwinden zu können. Der Autokorso musste längst abgefahren sein, und mit ihm Marcus und seine Familie.

Doch wie sollte sie überhaupt von hier fortkommen? Ein Taxi rufen? Einen Reporter draußen ansprechen?

„Komm schon“, sprach sie ihrem Spiegelbild Mut zu. „Du bist eine kluge Frau. Du wirst sicher einen Weg zum Flughafen finden. Reiß dich zusammen.“

Sie fuhr sich mit den Händen durch das schwarze Haar, richtete sich mit gestrecktem Kopf auf und wandte sich dann zum Ausgang.

Als sie die Tür aufriss und mit forschen Schritten hinaustrat, rannte sie genau dem Mann in die Arme, vor dem sie sich versteckt hatte.

Marcus fing sie mit einem starken Griff an den Schultern auf, bevor er erkannte, wen er vor sich hatte. Sofort zog er die Hände zurück.

„Violet.“ Seine Stimme klang tiefer, als sie sie in Erinnerung hatte, und der Tonfall weniger verspielt als damals. Immerhin konnte sie keine Spur eines Vorwurfs heraushören.

Sie holte tief Luft und versuchte den vertraut würzigen Duft seines Duschgels zu ignorieren. „Hallo Marcus, mein tiefes Beileid.“

In seinen blauen Augen konnte sie lesen, wie die unterschiedlichsten Emotionen miteinander fochten. Während ihr eigener Magen stürmisch krampfte aufgrund der Tatsache, nur Zentimeter von ihrem Ex-Freund entfernt zu sein.

Nach einer gefühlten Ewigkeit rieb sich Marcus den Nacken und nickte ihr zu. „Danke.“

Sie wollte fragen, wie es ihm gehe, doch ein kurzer Blick auf die dunklen Schatten unter seinen Augen und die leicht eingefallenen Wangen genügten. Warum war er überhaupt noch hier? Warum war er nicht mit seiner Familie in einer Limousine auf dem Weg zum Friedhof?

Er verschränkte die Arme vor der Brust und seine abwehrende Haltung machte deutlich, dass er stur abwarten würde, bis sie den ersten Schritt machte. Je länger Marcus so dastand und sie anstarrte, desto schneller schlug Violets Herz. War er denn nicht im geringsten neugierig, was damals mit ihr passiert war? Oder wollte er nicht wenigstens freundlich vorgeben, dass es ihn interessierte? Die Tatsache, dass ihr umgekehrt tausend Fragen auf der Zunge brannten, machte die Situation nur noch schlimmer. Was hatte er gemacht, nachdem er spurlos aus ihrem Leben verschwunden war? Wie war es ihm in den vergangenen vierzehn Jahren ergangen?

Sie zweifelte, dass er darauf antworten würde. Stattdessen fragte sie das Erstbeste, das ihr einfiel: „Ist mit Tessa alles in Ordnung? Ich habe gesehen, wie sie aus der Kirche gelaufen ist.“

Selbst in ihren eigenen Ohren klang es, als wollte sie ihn aushorchen. Aber sie konnte unmöglich noch länger stumm vor Marcus herumstehen. Außerdem hatte sie Tessa immer gemocht und war ernsthaft um ihr Wohlbefinden besorgt.

Marcus räusperte sich. „Tessa hat sich nicht wohl gefühlt. Die Sicherheitsleute haben sie ins Erste-Hilfe-Zelt im Hinterhof gebracht.“

„Oh, nein. Soll ich nach ihr sehen?“ Violet trat einen Schritt zurück. Die Migräne wurde schlimmer und die Übelkeit kroch langsam ihre Kehle hinauf. Frische Luft würde ihr gut tun.

„Ich bin gerade auf dem Weg dorthin.“ Seine nächsten Worte klangen wie ein Befehl. „Ich werde ihr ausrichten, dass du dich nach ihr erkundigt hast.“

Marcus wollte offensichtlich nicht, dass sie in seine Richtung ging. Oder er wollte verhindern, dass sie mit seiner Familie zusammentraf. Zu blöd. Man hätte ihr dort sicher sagen können, wie sie zum Flughafen gelangen konnte. Violet fühlte sich leicht vor den Kopf gestoßen und reckte demonstrativ das Kinn nach oben. „Dann will ich dich nicht länger aufhalten.“

Er machte jedoch keine Anstalten zu gehen und wippte einen Moment auf den Absätzen seiner Lederschuhe vor und zurück. „Ich warte auf jemanden.“

Violet konnte förmlich spüren, wie sie blass wurde. War noch jemand in der Damentoilette gewesen, während sie Selbstgespräche geführt hatte? Etwa seine Frau? Sie hatte vor Jahren gehört, dass er geheiratet habe, doch nie nach Details gefragt. Tatsächlich hatte sie versucht, jede Information zu ihrem Ex-Freund zu vermeiden. Nach dem Aus ihrer Beziehung hatte sie beschlossen, dass Marcus keinen Platz mehr in ihrem Leben verdiente – weder in ihrem Kopf noch in ihrem Herzen. Doch völlig unvorbereitet heute aufzutauchen, war ein Fehler gewesen.

Statt der Tür hinter ihr öffnete sich plötzlich die Tür zur Herrentoilette und zwei kleine Jungen sprangen heraus.

„Jack hat keine Seife zum Händewaschen benutzt“, rief eines der Kinder.

„Ich habe nichts angefasst, Dad.“

Dad? Violet stieß einen unterdrückten Laut aus, während sie erst die beiden Jungen, die haargenau gleich aussahen, anstarrte, und dann wieder Marcus. „Das … sind deine?“ Sie schluckte heftig, um ihrem rebellierenden Magen Einhalt zu gebieten. Es war, als ob ein uralter Schmerz wieder aufflammte.

„Ja“, entgegnete Marcus und legte jeweils einen Arm um die Schultern der Jungen, die Violet aus stahlblauen Augen skeptisch anblinzelten. „Das sind meine Söhne. Jack und Jordan King. Jungs, das ist … ähm, eine alte Freundin der Familie.“

„Es sind …“ Violet fühlte einen dicken Knoten im Hals und setzte erneut an. „Es sind Zwillinge.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Und ihre Stimme hatte einen beinahe vorwurfsvollen Unterton.

„Ja“, sagte Marcus gedehnt. Er zog eine Augenbraue hoch. „Warum bist du so schockiert? Das liegt bei uns eben in der Familie.“

Schweiß bildete sich auf ihrer Oberlippe und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Weil sie Zwillinge haben sollten!

Fast hätte sie dies laut ausgesprochen, doch sie fühlte, wie die Übelkeit sie endgültig übermannte. Sie drehte sich um, riss die Tür zur Damentoilette wieder auf und schaffte es gerade noch bis in eine der Kabinen, bevor sie sich übergab.

2. KAPITEL

„Hallo? Geht es Ihnen gut?“

Violet erhob sich schwankend und stellte erschüttert fest, dass sowohl die beiden kleinen Jungen als auch Marcus hinter ihr standen.

Marcus war anzusehen, dass er sich unwohl fühlte. „Du hast die Tür offenstehen lassen. Jordan war sehr besorgt und wollte unbedingt nach dir sehen.“

Sie nickte bloß. Was sonst hätte sie in diesem Moment sagen sollen? Raus hier! Oder: Lass mich in Ruhe! Das hätte sie vielleicht Marcus entgegengeschleudert. Aber seine Söhne machten sich offenbar wirklich Sorgen. Einer der Jungen starrte sie mit ernster Miene an, während der andere das Gesicht verzog, so als ob er auch gleich kotzen müsste.

„Haben Sie etwas Falsches gegessen?“ Das musste Jordan sein, der die Frage stellte. Über seiner mit Sommersprossen gesprenkelten Nase zog sich eine Sorgenfalte über die kleine Stirn. „Oder haben Sie eine Garstitis?“

Violet brauchte eine Sekunde, bis sie verstand, was der Junge meinte. „Ähm, ich denke nicht.“

Sie ging mit vorsichtigen Schritten zum Waschbecken, spülte ihren Mund mit Wasser aus und wusch sich das Gesicht. Der Junge folgte ihr und beobachtete jede ihrer Bewegungen im Spiegel.

„Haben Sie Fieber?“, fragte er dann weiter. „Oder Durchfall?“

„Okay, Doktor Jordan. Lass Miss Cortez-Hill für einen Augenblick in Ruhe.“ Marcus dirigierte seine Söhne Richtung Ausgang. „Entschuldige, dass wir hereingeplatzt sind. Jordan ist ein großer Fan von diesen Krankenhausserien im Fernsehen. Er ist losgestürmt, bevor ich ihn zurückhalten konnte.“

„Danke, dass du nach mir geschaut hast“, erklärte Violet dem Jungen. Sie war zwar zu Tode beschämt, doch die Sorge des Kindes ließ ihr Herz erwärmen.

Nachdem die drei aus der Damentoilette verschwunden waren, zog Violet zum zweiten Mal Lippenstift nach, griff nach einem Minzbonbon aus einem Glas, das eine umsichtige Putzfrau neben dem Waschbecken aufgestellt haben musste, und besah sich im Spiegel. Lidschatten und Haar waren definitiv irreparabel, doch die rasenden Kopfschmerzen ließen endlich nach. Je eher sie Marcus und Teton Ridge entkommen würde, desto besser würde sie sich fühlen. Leider würde dies nicht so bald geschehen, denn die drei warteten draußen auf sie.

„Können Sie sich alleine auf den Beinen halten?“ Jordan rannte mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

„Mir wäre auch schwindelig, wenn ich in solchen Schuhen laufen müsste“, stellte Jack mit einem Blick auf ihre Stöckelschuhe fest. „Vielleicht sollten Sie barfuß laufen.“

Violet verkniff sich ein Lächeln. „Ich schätze sehr, dass ihr euch um mich kümmert, aber es geht mir wieder gut. Ehrlich. Ab und zu bekomme ich diese Kopfschmerzen, und dann muss ich mich übergeben.“

„Die nennt man Migräne“, erklärte Jordan. „Die Ursache ist oft Stress.“

„Ist das so schlimm wie eine Lungenentzündung?“, fragte Jack seinen Bruder. „Hoffentlich haben wir uns nicht bei ihr angesteckt!“

Während seine Söhne über ansteckende Krankheiten debattierten, fuhr sich Marcus durch das kurzgeschnittene dunkelblonde Haar. In Violets Erinnerung hatte er damals helle Strähnen gehabt. Nun mischten sich die ersten grauen Strähnen hinein.

„Entschuldige“, sagte er. „Du weißt ja, wie Kinder sind. Sie fragen einem ein Loch in den Bauch.“

Er hatte es nur gut gemeint, doch seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Violet hatte keine Ahnung, wie Kinder so waren. Sie war als Einzelkind aufgewachsen. Und nach dem, was ihr zugestoßen war, hatte sie Kinder in ihrer Nähe gemieden. Es war zu schmerzhaft gewesen. Sie schüttelte bedächtig den Kopf.

„Du musst dich nicht für sie entschuldigen. Es ist süß, dass sie sich Sorgen machen.“ Im Gegensatz zu ihrem Vater, der es nicht für nötig gehalten hatte, nach ihr zu sehen, nachdem sie ihre Zwillinge verloren hatte!

„Ich würde gern sagen, dass die beiden normalerweise nicht fremden Leuten hinterherlaufen und sie diagnostizieren, aber das wäre nicht ganz die Wahrheit.“

„Mr. Burnworths Gesicht war ganz versteinert und ich habe ihn nur höflich gefragt, ob er an Wundstarrkrampf leidet“, verteidigte sich Jordan.

Violet sah den Jungen erstaunt an. „Du kennst dich sehr gut aus für dein Alter. Wie alt seid ihr?“

„Wir sind sechs und dreiviertel“, antwortete Jordan stolz und grinste durch eine Zahnlücke.

„Das heißt fast sieben“, erklärte Jack, wobei er die entsprechende Anzahl Finger hochhielt. „Wir haben bald eine große Geburtstagsparty auf der Ranch und du bist eingeladen. Falls du nicht ansteckend bist.“

„Das ist erst in zwei Monaten“, fiel Marcus seinen Söhnen ins Wort. „Ich denke, Miss Cortez-Hill muss zurück nach Dallas.“

Violet horchte auf. „Woher weißt du, dass ich in Dallas lebe?“

Marcus hob die Schultern. Sie meinte einen Anflug von Schuld in seinen Augen blitzen zu sehen. „Das war geraten. Du hast dich nie weit von deinen Eltern entfernt und bist ihren Wünschen gefolgt.“

Mit dieser Stichelei wollte er von irgendetwas anderem ablenken … Violet würde den Mann, der ihr das Herz gebrochen hatte, nicht damit durchkommen lassen. „Oder du hast mir hinterherspioniert, Marcus King.“

Er rollte dramatisch mit den Augen. Sie hatte also ins Schwarze getroffen.

„Unsere Eltern verkehren in denselben politischen Kreisen. Da bekommt man eben einiges mit. Oder zumindest war dies früher so.“ Marcus schaute weg und Violet hatte für einen kurzen Moment den Eindruck, dass er diese Tatsache bedauerte. Er räusperte sich. „Wir müssen jetzt wirklich los. Die Familie wartet sicher schon am Friedhof auf der Ranch.“

„Natürlich. Bitte richte allen mein Beileid aus. Moment. Hättet ihr nicht mit im Autokorso fahren sollen?“

„Dad hasst Limos“, sagte Jordan. „Wir sind im Polizeiwagen ge-kommen, weil Dad immer im Einsatz ist. Möchtest du mit uns fahren?“

„Ja!“, rief Jack, bevor einer der Erwachsenen antworten konnte. „Du darfst auch vorne sitzen und die Sirene anmachen.“

Polizeiwagen? Sirene. Violet besah sich den Anzug von Marcus genauer, bis ihr die Erhebung an der Seite seines Hosenbundes auffiel. Ihr Ex-Freund war ein Bulle! Und ganz offensichtlich trug er seine Waffe sogar zur Beerdigung seines Vaters. Er war schon immer ein Mann gewesen, der Spaß haben konnte, doch dabei verantwortungsbewusst blieb. Vielleicht nahm er seinen Beruf ein wenig zu ernst.

Sie wollte grade freundlich ablehnen, als Marcus für sie antwortete: „Jungs, ich bin mir sicher, dass Miss Cortez-Hill andere Pläne hat.“

Ihr fiel auf, dass er sie zum wiederholten Male mit Miss betitelt hatte. Entweder nahm er an, dass sie nicht verheiratet war – was ein wenig beleidigend war – oder er wusste mehr über sie, als er zugab. Plötzlich verspürte sie den Drang, ihm keine Genugtuung zu gönnen. Geschweige denn, sich vorschreiben zu lassen, was sie tun sollte.

„Wisst ihr was?“ Sie wandte sich an die Zwillinge. „Ich würde sehr gern mit euch fahren.“ Dann schaute sie Marcus direkt in die Augen. „Danke für die herzliche Einladung.“

Marcus lenkte den SUV durch das Tor, das zur Twin Kings Ranch führte, und nickte dem dort postierten Agent des Secret Services zu. Die Rinderfarm gehörte seit Generationen seiner Familie und war über zwölftausend Hektar groß. Sie brauchten fast zehn Minuten, bis sie das Haupthaus erreichten, wo er aufgewachsen war. Dann bogen sie auf einen Feldweg ab, der einen Hügel hinauf zu dem kleinen privaten Friedhof führte. Von hier oben hatte man einen herrlichen Blick auf die Ranch und den Snake River, der sich durch das Tal schlängelte.

Marcus versuchte krampfhaft, den bekannten Jasminduft von Violets Parfüm zu ignorieren, das sie bereits mit achtzehn Jahren benutzt hatte. Die Zwillinge redeten während der Fahrt ohne Punkt und Komma und bombardierten Violet mit unzähligen Fragen über ihre Lieblingseissorte, Schoko-Minze natürlich, ihre Lieblingsheldin, Wonder Woman – auch keine Überraschung, den Namen ihres Hundes, sie hatte keine Haustiere, was ihn ein wenig überraschte, da sie Tiere immer geliebt hatte, ob sie Sport treibe, ja, Jogging, was sehr überraschend war, da sie es gehasst hatte, mit ihm fürs Ausbildungslager zu trainieren.

Die Frage, die Marcus sehr interessiert hätte, stellten seine Söhne jedoch nicht – nämlich, ob sie selbst Kinder hatte. Eigentlich hätte Marcus froh sein sollen, dass die Jungs dieses sensible Thema nicht ansprachen. Er hatte lange gebraucht, den Schmerz von damals zu verarbeiten. Er hatte das alles hinter sich lassen wollen, auch wenn er ab und zu durch seine Mutter oder durch seine Schwester Tessa, die Senatorin Cortez-Hill hin und wieder in ihrer Show interviewte, von Violets Familie erfuhr.

Als er sie Jack und Jordan vorgestellt hatte, war sie plötzlich leichenblass geworden. Wahrscheinlich hatte sie sich nicht wohl gefühlt. Doch aus irgendeinem Grund vermutete er, dass noch mehr dahintersteckte. Er hatte gespürte, dass etwas nicht stimmte, abgesehen von ihrem chaotischen Wiedersehen. Gern hätte er sie danach gefragt, auch wenn das bedeutete, die Vergangenheit wieder heraufzubeschwören.

Marcus parkte am Beginn eines kleinen Pfades, der zu den Gräbern führte. Für Mitte Januar war es in Wyoming unerwartet warm. Der meiste Schnee von dem Sturm an Neujahr war geschmolzen. Sie mussten einige Meter über eine Wiese zurücklegen, um zu dem frisch ausgehobenen Grab zu gelangen. Violet hatte offenbar Mühe, auf ihren Absätzen um Pfützen und unebene Stellen zu navigieren. Ohne darüber nachzudenken, griff er rasch unter ihren Arm, um sie zu stützen. Bei der Berührung fuhr plötzlich ein Kribbeln durch seine Hand. Für eine Sekunde war er wie elektrisiert. Als ihm die Situation bewusst wurde, wollte er schnell wieder loslassen. Doch dann hätte er sich eingestehen müssen, dass ihm die Nähe zu Violet etwas ausmachen würde. Violet ihrerseits entzog sich seinem Griff nicht. Doch mit einem verstohlenen Blick auf ihre geröteten Wangen wurde ihm klar, dass auch sie etwas empfunden hatte. Auch ihr Hals nahm einen rosigen Farbton an. So hatte sie immer ausgesehen, wenn er sie stürmisch geküsst hatte …

„Warum bist du denn so rot?“, fragte Jack, bevor Marcus’ erotische Gedanken weiter abdriften konnten.

„Das sieht aus wie ein Ausschlag. Haben Sie Allergien?“, fiel Jordan mit ein. Marcus verfluchte sich innerlich, dass er seine Söhne diese Krankenhausserien schauen ließ.

Violet räusperte sich, doch ihre Wangen erröteten noch mehr. „Nicht dass ich wüsste.“

Marcus entdeckte seine Mutter, die sie beobachtete. Der Pfarrer schritt bereits vor die kleine Gruppe von Familienmitgliedern und engen Freunden, die sich um die Grabstätte versammelt hatte. Er gab seinen Söhnen einen leichten Schubs. „Setzt euch hinter eure Großmutter, da sind noch Stühle frei. Aber leise. Ich komme gleich nach.“ Zum Glück gehorchten die beiden aufs Wort – was nicht immer der Fall war – und setzten sich neben ihre jüngere Cousine und ihre Tante Finn.

Marcus wollte nicht, dass sich die zunehmende Spannung zwischen ihm und Violet auf die ohnehin schon von Trauer überwältigten Jungen übertragen sollte. Daher folgte er ihnen nicht sofort. Das bedeutete jedoch, dass er neben Violet stehenblieb und noch immer die Hand an ihrem Arm hielt. Er spürte ihre Nähe, besonders während der emotional aufwühlenden Beisetzung. Er hörte sie sanft atmen, als der Gospelchor „Ein schöner Tag“ sang, und spürte, wie sie bei den Salutschüssen zusammenfuhr.

Als der Sarg in die Erde gelassen wurde, merkte er plötzlich, dass er Violets Hand hielt und ihre Finger fest umschlossen waren. Gerade als die Trauer ihm die Luft zu rauben drohte, drückte Violet sachte seine Hand. Das gab ihm die nötige Stärke, die er in diesem Moment brauchte.

Der Tod von Roper King war ein Schock gewesen. Besonders für Marcus, der sich vorwarf, nicht aufmerksam genug auf die sich andeutenden Zeichen geachtet zu haben. Die Familie hatte Roper schlichtweg für unverwundbar gehalten. Doch auch dieser Fels von einem Mann war älter geworden. Marcus hätte sich auf das Unvermeidbare vorbereiten sollen. Er hätte es besser wissen sollen nach dem Tod seiner Frau.

Das erinnerte ihn daran, dass der Familienfriedhof der letzte Ort auf Erden sein sollte, um mit Violet Händchen zu halten. Ein Gefühl der Scham durchfuhr ihn. Rasch ließ er ihre Hand los und flüsterte mit rauer Stimme: „Ich muss gehen.“

Mit schweren Schritten lief er schuldbewusst hinüber zu seiner Mutter und seinen Geschwistern, die sich bereits in einer Reihe aufstellten, um dem Verstorbenen am Grab die letzte Ehre zu erweisen. Dem Mann, der Marcus alles beigebracht hatte, der ihm stets ein Vorbild gewesen war und der ihn gelehrt hatte, ein guter Ehemann und – noch wichtiger – ein guter Vater zu sein.

Nach der Beerdigung löste sich die Menschenmenge langsam auf. Die Familie und einige enge Freunde machten sich auf den Weg zum Haupthaus, wo seine Mutter einen Caterer für den Tröster organisiert hatte. Marcus jedoch blieb. Von dem Meer an Gestecken und Blumensträußen nahm er ein Bund blassroter Rosen und ging hinüber zu einem Grabstein. Trauer drückte gewichtig auf seine Schultern.

Violet stand verlegen auf dem Friedhof, während die Trauergäste am Grab vorbeizogen und dann in den Limousinen verschwanden. Vor langer Zeit hatte sie die jüngeren Familienmitglieder der Kings wie Geschwister betrachtet. Doch sie wusste nicht, was Marcus ihnen nach ihrer Trennung erzählt hatte. Und es war ihr unangenehm, ihnen nach den vielen Jahren unter diesen Umständen zu begegnen. Sie wollte sich auf keinen Fall aufdrängen oder sie in ihrer Trauer stören.

Sie beobachtete, wie Tessa King mit einem Mann des Secret Services davonging. Ein weiterer Mann folgte ihnen. Violet erkannte in ihm den Kongressabgeordneten von Kalifornien. Irgendwo hinter ihr hörte sie den Auslöser einer Kamera klicken. Sie machte sich jedoch keine weiteren Gedanken darüber. Sie spürte noch die Wärme und ein wohliges Kribbeln in der Hand, die Marcus während der Beisetzung fest umschlossen hatte. Obwohl dieser Mann ihr einst das Herz gebrochen hatte, konnte sie ihn nicht einfach stehen lassen. Eine Träne war unter seiner dunklen Sonnenbrille hervorgerollt. Er hatte sie in diesem Moment gebraucht.

Doch dann war er ohne jedes weitere Wort fortgegangen, genau wie vor vierzehn Jahren. Da stand sie nun etwas verloren und fragte sich, wie sie nun zum Flughafen gelangen sollte.

„Hast du noch Kopfschmerzen“, fragte plötzlich eine leise Stimme.

Violet schenkte Jordan ein Lächeln. „Nein, mir geht es viel besser.“

„Sollen wir dich zum Auto begleiten?“

„Das ist nicht nötig. Ich wollte gerade zum Haupthaus laufen.“

Jack schaltete sich ein: „Was? Das sind mindestens fünfzig Kilometer!“ Fast wäre er über die Umrandung eines Grabes gestolpert, als er auf sie zulief. „Außerdem hat Tante Finn gesagt, dass es nur einen Schokoladenkuchen ohne Nüsse gibt. Ich hasse Nüsse. Wir müssen uns also beeilen, bevor sie uns alles wegessen.“

Die meisten Wagen waren bereits abgefahren und Violet sah sich suchend um. Nur sie und die Zwillinge standen noch auf dem Friedhof. „Wo ist denn euer Vater?“

„Da drüben bei unserer Mutter.“ Jordan zeigte mit dem Finger hinter sie. Sie wollte sich nicht auffällig umdrehen. Eine Flut von Fragen schoss ihr durch den Kopf. War Marcus noch verheiratet? Sie hatte keinen Ehering an seiner Hand gesehen. War die Mutter der Zwillinge in einer anderen Limousine gefahren? Und wo hatte sie während der Beerdigung gesessen?

Langsam drehte sie sich um und machte sich auf eine peinliche Begegnung gefasst. Doch sie entdeckte nur Marcus, der unter den tief hängenden Zweigen eines alten Weidenbaumes stand. Er bückte sich, um einen Strauß Rosen auf einen weißen Marmorstein zu legen.

Jacks kleine Finger umklammerten ihre Hand. „Jetzt ist Opa bei Mami im Himmel.“

3. KAPITEL

Marcus konnte es kaum erwarten, sich endlich in seinem Flügel des Haupthauses mit einem Schluck 16-jährigen Whiskeys zu verkriechen und mit den Zwillingen einen ihrer Lieblingsfilme zu schauen. Der Tag war ein Albtraum gewesen und sie hatten eine Ablenkung bitter nötig.

Doch zuerst musste er seine Ex-Freundin loswerden.

Nach einer schweigsamen Fahrt den Hügel hinunter waren die beiden Jungen zu ihrem Onkel Duke gerannt, der auf der Veranda vor dem Haupthaus auf sie gewartet hatte. Sein Bruder hatte wohl gesehen, wie sie gemeinsam auf dem Friedhof gestanden hatten, und wusste, dass Marcus einen Moment mit Violet allein haben musste. Nun standen sie neben seinem Geländewagen auf dem Parkplatz neben dem Eingang zur Küche.

„Ähm … möchtest du hereinkommen?“, fragte er wider besseres Wissen.

„Ich sollte besser gehen“, antwortete sie. „Ich habe meinen Flug nach Dallas verpasst und muss nach Jackson Hole, um einen späteren Flug zu buchen.“

Er nickte – gleichzeitig enttäuscht und erleichtert. Sie machte aber keine Anstalten, sich zu verabschieden.

„Ich … ich wollte dir noch sagen, dass es mir leid tut mit deiner Frau. Einer deiner Zwillinge, ich glaube Jack, hat mir von ihr erzählt. Es geht mich zwar nichts an, aber warum ist sie gestorben?“

Marcus fürchtete sich vor den mitleidigen Blicken und gutgemeinten Ratschlägen, wann immer es zur Sprache kam, dass er ein junger Witwer und alleinerziehender Vater von zwei kleinen Kindern war. Der einfachste Weg, über seine verstorbene Frau Brie zu sprechen, war, sich an pure Fakten zu halten.

„Sie hatte ein Blutgerinnsel im Gehirn. Die Zwillinge waren erst achtzehn Monate alt. Es war ein großer Schock. Mit etwas so Furchtbarem rechnet keiner. Vielleicht ist Jordan deswegen besessen von Medizin. Er versucht zu verstehen, warum seine Mutter gestorben ist.“

„Deine Söhne sind sehr aufmerksam und mitfühlend.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Du kannst dich glücklich schätzen, sie zu haben. Sie sind ein Segen. Nicht jedem sind Kinder beschert, geschweige denn Zwillinge.“

Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus. „Vorhin in der Kirche … ähm, kurz bevor du dich übergeben hast, schienst du total überrascht, dass ich Zwillinge habe.“

Sie senkte den Kopf und schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen an, als ob die Antwort offensichtlich wäre.

„Weil wir Zwillinge hätten haben sollen. Es waren zwei Babys bei meiner Fehlgeburt.“

Marcus’ Knie gaben nach und er musste sich mit der Hand am Wagen abstützen, um nicht zusammenzubrechen.

„Was? Du … hattest eine Fehlgeburt?“

„Ja!“ Violet hielt einen Moment inne. Jeder ihrer Augenaufschläge stach ihm erneut ins Herz. „Halt. Du dachtest doch nicht etwa … dass ich abgetrieben hätte?“

Marcus fuhr sich frustriert mit der Hand übers Gesicht.

„Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich habe nie wieder von dir gehört! Du hast den Schwangerschaftstest gemacht, und dann musste ich direkt ins Ausbildungslager. Später habe ich meine Eltern gefragt, ob sie irgendetwas von dir gehört hätten. Mein Vater erzählte mir, dass deine Mutter zu ihm gekommen sei und ihm mitgeteilt habe, dass du eine schwierige Entscheidung getroffen hättest.“ Er deutete mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft an. „Dir ginge es aber gut, und du würdest dich jetzt auf dein Studium und deine Zukunft konzentrieren. Zuerst war ich stocksauer und dann äußerst verletzt, wie du mir das antun konntest. Nicht wegen deiner Entscheidung, sondern weil du mir nichts davon erzählt hast.“

„Ich habe eine schwierige Entscheidung getroffen, Marcus.“ Ihre Stimme war eiskalt. „Ich habe mich für die Babys entschieden. Aber am Ende ist mir die Entscheidung aus der Hand genommen worden. Wie auch immer. Wie kommst du darauf, dass ich dir nichts gesagt hätte?“

In seinem Kopf herrschte völlige Verwirrung. Jahrelang hatte er geglaubt, dass Violet ihre Meinung geändert hätte und sich gegen ihn und ihre gemeinsame Zukunft gestellt hatte. Trotzdem hatte er sie nicht verurteilt. Immerhin waren sie damals erst achtzehn Jahre alt gewesen.

„Ich habe nichts davon gewusst“, brachte er schließlich gequält hervor.

„Im Ausbildungslager haben sie keine Anrufe entgegengenommen. Ich konnte dich nicht erreichen. Also habe ich einen Brief geschrieben“, fuhr Violet fort.

Einen Brief? Er hatte nie einen Brief erhalten.

„Violet, ich schwöre dir, dass ich nie einen Brief bekommen habe. Wenn ich von deiner Fehlgeburt gewusst hätte, hätte ich alles stehen und liegen lassen, um bei dir zu sein.“

Plötzlich schlug seine Verbitterung in Ärger um. Hatte sie so wenig von ihm gehalten? Wie hatte sie denken können, dass er sie einfach im Stich gelassen hätte? Er wollte ihr gerade diese Frage stellen, als sein jüngster Bruder aus der Küchentür ins Freie stürmte.

„Violet? Hallo, was machst du denn hier?“ Mitchell Junior, kurz MJ genannt, war das Nesthäkchen der Familie. „Ich habe dich nicht mehr gesehen, seit wir auf dem Jahrmarkt waren und ihr beide mich im Riesenrad alleine gelassen habt, während ihr rumgeknutscht habt.“

„Daran erinnere ich mich nicht“, warf Marcus genervt ein, weil sein Bruder ihre Unterhaltung unterbrochen hatte.

„Ich schon.“ Violet zog eine schuldbewusste Miene. „Das war ziemlich egoistisch von uns. Hast du nicht in die Gondel gekotzt und der Riesenradbetreiber hat uns gezwungen, die Sitze mit einem Gartenschlauch abzuspritzen?“

Jetzt fiel auch Marcus die Szene wieder ein. Violet hatte sich rührend um seinen kleinen Bruder gekümmert, während er dessen Sauerei weggemacht hatte.

„Wo willst du denn hin?“, fragte er MJ.

„Tante Freckles braucht fettarme Margarine. Ich soll mich rausschleichen, bevor Onkel Rider etwas davon mitbekommt.“

Onkel Rider war Ropers Zwillingsbruder. Ein taffer achtzigjähriger Cowboy, der Tabak kaute und die Ernährungshinweise seines Arztes gern ignorierte. Tante Freckles hatte sich zwar vor einiger Zeit von ihm getrennt, liebte es aber immer noch, für die ganze Familie zu kochen und ihren Ex-Mann in den Wahnsinn zu treiben.

Marcus schaute den Rücklichtern hinterher, als MJ vom Hof fuhr.

Violet war zutiefst betroffen über die Erkenntnis, dass Marcus nichts von ihrer Fehlgeburt gewusst hatte. Es machte sie sehr traurig, dass Marcus so lange Zeit gedacht hatte, dass sie ihre Kinder nicht hatte haben wollen. Viel Schmerz und Liebeskummer hätte vermieden werden können, falls es ihnen damals möglich gewesen wäre, miteinander zu sprechen.

Gerade als sie ihre Gedanken in Worte fassen wollte, öffnete sich die Hintertür zur Küche erneut und Sherilee Kings Kopf erschien im Türspalt.

Die Mutter von Marcus war eine geborene Matriarchin und heimliches Oberhaupt an der Seite ihres Ehemannes gewesen. Sie navigierte geschickt im politischen Umfeld mit tadellosem Stil und dem Herz einer Löwin, wenn es um die Belange ihrer Familie ging. Obwohl Violet dem Rest der Familie King damals sehr nahe gestanden hatte, hatte sie doch nie einschätzen können, ob Sherilee sie mochte oder hasste – wahrscheinlich ein wenig von beidem. Sie hatte sich sogar gefragt, ob Sherilee irgendetwas damit zutun hatte, dass Marcus sich nie bei ihr gemeldet hatte. Aber laut Marcus war es Violets eigene Mutter, die offenbar intrigiert hatte.

Als Tochter einer einflussreichen und redegewandten Senatorin mit starkem Charakter war Violet an weibliche Autoritäten gewöhnt. Doch Sherilee King war regelrecht einschüchternd. Zumindest hatte Violet dies so empfunden, als sie noch ein Teenager war und „Der Pate“ gesehen hatte. Marcus’ Mutter erschien ihr wie die perfekte Matrone der Mafia im Mantel einer Hausfrau aus der Oberschicht. Violet rang sich ein Lächeln ab.

„Hallo, Mrs. King.“ Sie hätte sich nie getraut, die Dame beim Vornamen anzurufen. „Mein herzliches Beileid. Mr. King war stets sehr liebenswürdig mir gegenüber. Ich werde ihn in guter Erinnerung behalten.“

Sherilees Gesichtsausdruck nahm eine warme Note an. Ihr perfekt gestyltes Haar bewegte sich keinen Zentimeter, während sie den Parkplatz und die Auffahrt scannte.

„Deine Mutter ist nicht hier, oder?“

„Nein, Mrs. King.“ Violet schüttelte schnell den Kopf. Es war kein Geheimnis, dass Sherilee King und Eva Cortez-Hill eine tiefe Feindschaft gegeneinander führten, die sie nur zeitweilig vor laufenden Kameras aussetzten. „Meine Eltern sind bereits auf dem Rückflug. Und ich sollte mich auch auf den Weg machen.“

„Auf keinen Fall“, entgegnete Sherilee bestimmt. „Du kommst erst einmal mit ins Haus und isst eine Kleinigkeit. Und sei nicht so förmlich, mein Liebes. Marcus, hol Violet ein Glas Wein.“

Marcus rollte mit den Augen. „Mutter, wir sind keine Teenager mehr.“

„Schon gut“, versuchte Violet die Wogen zu glätten. „Ich komme für ein paar Minuten mit rein. Danke für die Einladung.“

Das Haupthaus der Twin King Ranch war in Wahrheit eine riesige Villa mit Seitenflügeln, unzähligen Zimmern und hohen Decken. Das stilvoll eingerichtete Wohnzimmer, wo das Trauermahl stattfand, hatte die Größe einer Empfangshalle. Obwohl sich etliche Gäste nach der Kirche bereits verabschiedet hatten, waren noch viele Freunde und Nachbarn anwesend.

Die gesamte Familie King freute sich ehrlich, Violet zu sehen, und begrüßte sie herzlich. Alle drei Schwestern von Marcus – Tessa, Dahlia und Finn – umarmten sie. Fast so, als ob nicht vierzehn Jahre zwischen heute und ihrem letzten Wiedersehen lägen. Duke, der noch immer seine Uniform von der Marine trug, hob sie ausgelassen hoch und wirbelte sie im Kreis herum.

Als er sie wieder zu Boden ließ, flüsterte er: „Ich hatte gehofft, dass Marcus den ersten Schock eures Wiedersehens schnell überwinden würde und dich mitbringt. Es ist schön, dass du hier bist.“

Duke war nur ein Jahr jünger als Marcus, und er war der Einzige der Familie King, der von ihrer Schwangerschaft gewusst hatte. Seine Worte entspannten Violet und sie fühlte sich gleich viel wohler in der Runde. Dann stellte Duke seinen charmanten Ehemann Tom vor, der als Chirurg bei der Marine arbeitete.

Nur Marcus stand in einer Ecke und starrte sie stirnrunzelnd an.

Während der folgenden Stunde aß und trank sie eine Kleinigkeit, was ihrem Magen gut tat, und unterhielt sich mit einigen Bekannten von früher. Dabei versuchte sie, Marcus möglichst aus dem Weg zu gehen.

Nur bei einer Gelegenheit konnte sie den Blick nicht von ihm lassen. Gott sei Dank hatte er ihr gerade den Rücken zugekehrt, als er sein Jackett auszog und die Ärmel seines Hemdes aufrollte. Er nahm die Schultern zurück und die Muskeln seiner Oberarme spannten sich an. Plötzlich schoss ihr durch den Kopf, wie gern sie diese starken Muskeln unter ihren Händen gespürt hätte. Wie sie langsam seine Schultern und Rücken massierte, um ihm die Anspannung dieses Tages zu nehmen. Die Innenflächen ihrer Hände wurden feucht bei dem Gedanken.

Schnell trank sie einen Schluck kaltes Wasser, denn ihr Mund war trocken und ihre Wangen glühten. Sie musste von hier verschwinden, bevor sie noch die Kontrolle über sich verlor.

Ohne sich zu verabschieden, schlich sie sich aus der Hintertür.

Gedankenverloren saß Violet auf der Rückbank eines Wagens vom Secret Service. Einer der Agenten, dessen Schicht gerade zu Ende war, hatte ihr angeboten, sie mit nach Jackson Hole zu nehmen.

Sie musste unbedingt mit ihrer Mutter sprechen. Ob sie tatsächlich Roper King gesagt hatte, dass Violet eine Abtreibung gehabt hätte? Sie glaubte Marcus zwar, doch sie wollte herausfinden, warum ihre Mutter etwas Derartiges getan hatte.

Ach, sie machte sich doch nur etwas vor … Ihre Mutter würde argumentieren, dass sie lediglich das Beste für ihre Tochter getan hätte. Immerhin war sie es gewesen, die sich nach der Fehlgeburt rund um die Uhr um Violet gekümmert hatte. Auch in der schweren Zeit danach, als sie unter Wochenbettdepressionen litt.

In Jackson Hole angekommen, wartete jedoch eine böse Überraschung auf sie: Der Nachtflug und auch die Flüge am kommenden Tag waren komplett ausgebucht und in den Hotels gab es keine freien Zimmer mehr. Sie hatte Glück, noch in einem kleinen Motel am Stadtrand unterzukommen, wenigstens für diese Nacht.

Das schrille Klingeln ihres Handys weckte Violet am nächsten Morgen. Schlaftrunken tippte sie auf die Taste mit dem grünen Hörer.

„Violet! Du hast die Stadt noch nicht verlassen, richtig?“

„Mrs. King?“ Violet warf einen Blick auf die Digitalanzeige des Radioweckers neben sich. Es war erst 7:03 Uhr. „Ist alles in Ordnung?“

„Ich brauche eine Strafverteidigerin.“

Strenggenommen war Violet eine Pflichtverteidigerin, was bedeutet, dass man sie nicht einfach anheuern konnte. Aber wenn Sherilee King im Stande war, herauszufinden, wo sich Violet aufhielt, kannte sie gewiss auch Mittel und Wege, diesen kleinen Stolperstein auszuräumen.

Violet setzte sich im Bett auf. „Für Sie selbst?“

„Nein, Gott bewahre.“ Dann stieß die Frau am anderen Ende der Leitung einen leisen Fluch aus. „Für MJ. Marcus hat seinen eigenen Bruder gestern Abend verhaftet! Kannst du zum Gericht von Ridgecrest County kommen?“

„Auch wenn du Violet mit in dieses Schlamassel ziehst, werde ich die Anklage gegen MJ nicht fallen lassen“, drohte Marcus, als er seiner Mutter von der Veranda des Haupthauses in die Küche folgte.

„Ich beschütze nur meinen jüngsten Sohn“, schnappte Sherilee zurück. „Das Gefängnis würde ihn zerstören.“

Marcus stöhnte auf. „MJ kommt nicht ins Gefängnis. Ihm wird Trunkenheit und Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen. Dafür gibt es keine Freiheitsstrafe.“

„Wenn es keine große Sache ist, dann lass ihn doch gehen!“

„Ich habe nicht gesagt, dass es keine große Sache sei“, verteidigte sich Marcus. „Er hat mit der minderjährigen Tochter von Deputy Broman getrunken. Und als der die beiden erwischte, hat MJ ihn ins Gesicht geschlagen – einen Polizeibeamten, zum Donner.“

„Das behauptet zumindest Deputy Broman.“ Seine Mutter hielt anklagend einen perfekt manikürten Finger hoch. „Ist dir vielleicht in den Sinn gekommen, dass er die Angelegenheit übertreibt, weil er unsere Familie nicht mag und weil wir kurz vor den Wahlen stehen?“

„Nun, abgesehen von Bromans blauem Auge und MJs nachgewiesenem Alkoholspiegel, der doppelt so hoch wie erlaubt war, tragen meine Deputies Bodykameras. Es existiert ein Videobeweis.“

„Verdammt!“, rief Sherilee aus. „Wie wäre es mit einem Kompromiss: Du verwarnst MJ, gibst ihm einen saftigen Strafzettel und dann stelle ich ihn höchstpersönlich hier unter Hausarrest.“

„Als ob ihn das abschrecken würde, Mutter.“ Marcus seufzte. „Wenn wir ihm jetzt keine Lehre erteilen, wird er beim nächsten Mal vielleicht in noch ernsthaftere Schwierigkeiten geraten. Willst du das?“

„Ich will, dass meine Kinder sich gegenseitig beschützen und füreinander da sind.“

„Genau das tue ich ja. Damit es nicht wieder dazu kommt, dass er einen Liter Wodka säuft und die Tochter des Deputys anmacht.“

Angeblich die Tochter des Deputys angemacht hat, solltest du sagen.“ Er erkannte die Stimme, noch bevor er sich umdrehte. Violet stand im Eingang zur Küche. Beim Anblick seiner Ex-Freundin spürte er, wie Adrenalin durch seinen Körper pumpte.

Ihr tiefschwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und ihr Gesicht war rein und ohne jegliches Make-up. Sie sah fast so aus wie früher, als sie noch jung und unschuldig waren und dachten, dass sie für immer zusammen sein würden. Der geschäftsmäßige Tonfall verriet ihm jedoch, dass sie bereit fürs Gefecht war.

„Wie bitte?“, brachte er endlich heraus.

„Mein Klient hat angeblich Wodka mit der Tochter von Deputy Broman getrunken. Außerdem handelte der Polizeibeamte aus fragwürdigen Motiven.“

Sie wollte Krieg? Bitte! Marcus sog scharf die Luft ein. „Es überrascht mich zwar nicht im Geringsten, dass Anwälte die Fakten in-frage stellen oder verdrehen. Es schockiert mich jedoch, wie meine Mutter es geschafft hat, dich dafür zu missbrauchen.“

Violet hob mit einer gelassenen Geste die Schultern. „Ich nenne dies ein faires Verfahren, das jedem Bürger der Vereinigten Staaten per Gesetz zusteht. Jeder Angeklagte hat ein Recht auf einen Anwalt. Selbst wenn dieser Angeklagte dein kleiner Bruder ist und dich in den Wahnsinn treibt.“

Marcus schnaubte ärgerlich. „Und warum musst ausgerechnet du die Verteidigerin sein?“

„Weil ich die Beste bin, Marcus!“

„Die Beste?“ Seit wann war sie denn so furchtbar selbstgerecht und überheblich? Die Violet, die er gekannt hatte, war freundlich und lieb und ein wenig schüchtern gewesen.

Da mischte sich Sherilee wieder ein. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Violet, ich zeige dir jetzt dein Zimmer, damit du dich fürs Gericht fertigmachen kannst.“

Marcus erstarrte. Meinte seine Mutter ein Zimmer im Haupthaus? Auf der King Ranch? „Violet bleibt hier?“

Seine Mutter warf ihm einen scharfen Blick zu. „Natürlich. Du weißt sehr wohl, dass es kein gescheites Hotel in Teton Ridge gibt.“

Er war geschlagen. Ohne ein weiteres Wort stürmte Marcus zur Tür, um so weit weg von diesem Desaster zu gelangen wie möglich. Er flüchtete regelrecht hinaus auf den Parkplatz und stieg in seinen Wagen.

Es sah so aus, als ob er und die Zwillinge wieder in ihr Haus drüben am Waldrand ziehen würden. Denn eines war klar: Marcus würde auf keinen Fall unter demselben Dach wohnen wie seine Ex-Freundin.

4. KAPITEL

Violet verbrachte den Vormittag am Laptop, kümmerte sich um die nötigen Formalitäten und schickte einer Kollegin und Freundin, die im selben Apartmentkomplex wohnte, eine E-Mail, in der sie sie bat, einige Kleidungsstücke und Unterlagen nach Wyoming zu senden.

Zwischendurch fragte sie sich immer wieder, warum sie überhaupt so viel Mühe auf sich nahm, wo es doch offensichtlich war, dass Marcus sie nicht in seiner Nähe haben wollte.

Seltsamerweise fühlte sie sich gerade dadurch angespornt. Suchte sie tatsächlich eine Auseinandersetzung, wie Marcus es ihr unterstellt hatte? Anscheinend war sie nicht die Einzige, die verletzt war. Marcus schien ebenfalls verärgert und gereizt. Wahrscheinlich, weil er nur die alte Violet kannte, die lieb und nett gewesen war und versucht hätte, mit ihm in Ruhe zu reden, um ihre Probleme aus der Welt zu schaffen. Die neue Violet hingegen war während der vergangenen vierzehn Jahre abgehärtet, hatte sich behaupten müssen und wollte sich nicht fügen. Besonders nachdem Marcus nicht einmal den Anstand besessen hatte, sie wenigstens nach dem Ausbildungslager aufzusuchen.

Wenig später stand sie bereits am Pult der Verteidigung im Gerichtssaal von Ridgecrest County, während ihr Ex-Freund sie von der gegenüberliegenden Seite aus anstarrte.

„Euer Ehren“, trug Violet dem zuständigen Richter mit ergrautem Haar vor. „Mein Klient ist erst achtzehn Jahre alt und ein integriertes Mitglied dieser Gemeinde. Mitchell King Junior hat sich bisher nichts zu Schulden kommen lassen und wird die King Ranch vorerst nicht verlassen. Daher schlage ich vor, ihn während des Verfahrens auf Kaution freizulassen.“

„Miss Cortez-Hill“, antwortete Richter Calhoun, „ich stimmte der Freilassung auf Kaution zu, unter der Bedingung, dass alle Beteiligten eine Verschwiegenheitspflicht gegenüber der Presse vereinbaren. Ich möchte nicht, dass sich mein Gerichtssaal in einen Zirkus verwandelt, nur weil der Angeklagte den Namen King trägt.“

Alle Seiten stimmten zu. MJ sank erleichtert auf seinen Stuhl. „Heißt das, ich darf nach Hause?“

„Ja.“ Violet nickte ihm aufmunternd zu, wisperte dann mit gesenkter Stimme: „Nur damit das klar ist, solange ich deine Anwältin bin, bleibst du zu Hause und verhältst dich wie ein vorbildlicher Bürger. Kein Alkohol, keine Dates mit der Tochter des Deputys.“

„Hat dir das mein Bruder eingetrichtert?“

„Nein, das ist mein professioneller Rat. Mein Ruf steht ebenfalls auf dem Spiel.“

Ein Funkeln trat in MJs Augen. „Stimmt es, dass Marcus nicht wollte, dass du meine Anwältin wirst?“

Violet wusste, dass es besser war, ein ehrliches Verhältnis mit einem Klienten aufzubauen. „Ja, das ist richtig.“

„Sehr gut. Dann tue ich, was immer du von mir verlangst, solange es ihn ärgert!“

„Es geht mich nichts an, wie das Verhältnis zwischen dir und Marcus ist. Doch ich rate dir dringend, den Mann, der jeden Mittwoch bei Biscuit Betty’s mit dem Staatsanwalt zu Mittag isst, nicht gegen dich aufzubringen.“

„Du bist noch keine vierundzwanzig Stunden in der Stadt und kennst schon meinen Terminplan?“ Marcus trat zu ihnen.

„Ich informiere mich eben über meine Gegner.“

„Ernsthaft, Violet? Bin ich jetzt dein Gegner? Am Ende wollen wir doch alle nur das Beste für MJ.“

Nun sprang MJ entnervt auf. „Das Beste für mich wäre, wenn du aufhörst, mich wie ein kleines Kind zu behandeln.“

„Dann verhalte dich nicht wie ein kleines Kind, MJ.“

Aus dem Augenwinkel heraus sah Violet, wie sich MJs Fäuste ballten. Schnell legte sie ihm eine Hand auf den Arm. „MJ, begleitest du bitte deine Mutter nach draußen? Ich kümmere mich um deinen Bruder.“

MJ tat, wie ihm geheißen.

Als Violet und Marcus allein waren, fragte er: „Und wie genau stellst du dir das vor?“ Herausfordernd kreuzte er die Arme vor der Brust und ließ die Muskeln unter seinen engen Hemdsärmeln spielen. Warum sah er bloß so verflucht scharf in seiner Uniform aus?

„Wir werden sehen.“ Violet griff sich ihre Aktentasche und ging Richtung Ausgang. Marcus folgte ihr. Kühle Luft empfing sie draußen auf den Stufen des Gerichtsgebäudes.

„Wenigstens habe ich keine Angst davor, meine Familie mit ungemütlichen Fragen zu konfrontierten. Hast du deiner Mutter überhaupt verraten, dass du noch für eine Weile in Teton Ridge bleibst, Violet?“

„Mir ist schon klar, dass meine Mutter dich nicht immer mit offenen Armen empfangen hat, als wir noch jung waren.“

„Himmel, Violet! Sie hat mich glauben lassen, dass du eine Abtreibung hattest!“

„Glaub mir, Marcus, ich werde mit ihr zu gegebener Zeit darüber sprechen. Und anschließend kannst du mir erklären, warum du ihr so leicht geglaubt hast und dich nie wieder hast blicken lassen.“

„Denkst du etwa, ...“

„Violet!“, rief einer der Zwillinge vom Gehweg hinauf und unterbrach ihr Gespräch erneut. Er riss sich von seiner Tante Dahlia und seiner Großmutter Sherilee los und rannte auf Violet zu. Sein Bruder Jordan blieb gehorsam an Ort und Stelle, während er an einem Eis leckte. Jacks Mund war mit dunklem Schokoladeneis verschmiert, was ihn nicht davon abhielt, sie überschwänglich zu umarmen. Sie zögerte einen Augenblick.

„Ich dachte schon, du hättest dich einfach aus dem Staub gemacht, ohne dich von uns zu verabschieden.“ Jack lächelte sie zwischen seinen Zahnlücken an.

Sie war so gerührt, dass sie ihn endlich liebevoll in die Arme nahm.

„Das tut mir leid! Ich war sehr in Eile. Aber ich hätte trotzdem nicht so rücksichtslos sein dürfen. Vergibst du mir?“

„Okay“, antwortete der Junge leichthin. „Darf ich beim Abendessen neben dir sitzen?“

Violet schaute auf ihre Armbanduhr. Es war schon nach vier.

Marcus reichte Jack ein Taschentuch. „Hier, wisch dir den Mund ab. Ich glaube nicht, dass wir heute Abend im Haupthaus essen.“

Sherilee mischte sich ein. „Sei nicht albern, Marcus. Natürlich kommst du mit den Jungen zum Essen.“ Sie machte eine Pause und blickt eindringlich zu Violet. „Wir alle werden gemeinsam im Haupthaus speisen.“

„Ja!“, frohlockte Jack. „Hey Jordan, wir dürfen neben Violet sitzen.“

Wenigstens freuten sich die beiden Kinder, dachte Violet. Während sie dem Kreuzfeuer der Familie King ausgesetzt sei würde …

„Das war sehr nett von dir, dass du dich bei meinem Sohn entschuldigt hast“, sagte Marcus zu Violet kurz vor dem Abendessen im Haupthaus.

Sie hatte den strengen Knoten gelöst, sodass das schwarze Haar locker auf die Schultern fiel. Als sie eine Strähne hinter ihr Ohr strich, wurde Marcus’ M...

Autor

Christy Jeffries
Christy Jeffries hat einen Abschluss der University of California in Irvine und der California Western School of Law. Das Pflegen von Gerichtsakten und die Arbeit als Gesetzeshüterin haben sich als perfekte Vorbereitung auf ihre Karriere als Autorin und Mutter erwiesen. Mit zwei Energiebündeln von Söhnen, der eigenwilligen Großmutter und einem...
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Brenda ist eine ehemalige Rechtsanwältin, die einst das Privileg hatte vor dem obersten Gerichtshof von Kanada vorzusprechen. Vor fünf Jahren gab sie ihre Anwaltskanzlei auf um sich um ihre Kinder zu kümmern und insgeheim ihren Traum von einem selbst geschriebenen Buch zu verwirklichen. Sie schrieb sich in einem Liebesroman Schreibkurs...
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