Bianca Extra Band 145

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ZUHAUSE GESUCHT, FAMILIE GEFUNDEN von CATHY GILLEN THACKER
Weil ihr Haus renoviert werden muss, nimmt Tierärztin Tess das Angebot von Witwer Noah an, auf seiner Ranch zu wohnen. Ein Fehler? Ohne es zu wollen, verliebt sie sich in ihn, und seine Töchter sind bald wie eine Familie für sie. Aber wird Noahs Herz je frei für eine neue Frau?

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  • Erscheinungstag 08.02.2025
  • Bandnummer 145
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531245
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cathy Gillen Thacker

1. KAPITEL

„Wollen Sie da wirklich reingehen? Allein? Jetzt, bei Anbruch der Dunkelheit?“ hörte sie eine sanfte Männerstimme hinter sich auf der Straße.

Tess Gardner fuhr herum. Der raue Januarwind hier in Laramie, Texas, drang durch ihre Kleidung. Argwöhnisch betrachtete sie den Mann, der gerade aus seinem am Straßenrand geparkten Geländewagen gestiegen war. Anders als die Cowboys in dieser kleinen ländlichen Stadt, die nun ihre Heimat werden sollte, trug er einen legeren Business-Look: Anzughose, eleganten Schuhe, ein Hemd mit gelockerter Krawatte. Darüber trug er eine teuer aussehende Daunenjacke.

Zu einem anderen Zeitpunkt hätte dieser große selbstbewusste Mann, der im schwindenden Tageslicht über den Bürgersteig schlenderte, wohl ihr Interesse geweckt. Doch nach der langen Fahrt von Denver hierher wollte sie nur noch das von ihrem Onkel ererbte Haus kurz in Augenschein nehmen – und dann todmüde ins Bett fallen.

Der Mann ließ sich jedoch nicht abschütteln, sondern kam näher.

Ihr kurzer prüfender Blick erfasste sein kurzes dunkles Haar, seine markanten Gesichtszüge und seine tiefblauen Augen. Der Typ sah wirklich verdammt gut aus.

„Und wer genau sagt das?“

Sein Lächeln war noch gewinnender als seine Stimme. „Noah Lockhart.“ Er zog eine Visitenkarte aus seiner Hemdtasche.

Tess seufzte. „Lassen Sie mich raten: Noch ein Makler.“ Ein halbes Dutzend davon hatte sie bereits kontaktiert und reges Interesse an ihrem Haus bekundet, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut worden war.

Doch er schüttelte den Kopf und stieg die Hälfte der Verandastufen zu Tess hinauf, wobei ihr die frische Holznote seines Rasierwassers in die Nase stieg. Als er ihr seine Karte reichte, berührten sich ihre Finger ganz kurz, was Tess’ Aufmerksamkeit noch weiter schärfte. „Ich bin Inhaber eines Software-Unternehmens.“

Und weshalb hält er dann extra an und beglückt mich mit seinem ungebetenen Ratschlag? fragte sich Tess.

Ruhig erwiderte er ihren Blick. „Ich hatte versucht, über die Laramie-Tierklinik mit Ihnen in Kontakt zu treten.“

Und das hieß nun – was? War er ein Tierhalter, der tierärztliche Hilfe benötigte? Ein potentieller Geschäftspartner? Doch sicher nicht einer der vielen hiesigen dating-wütigen Männer, die sich laut scherzhafter Warnung ihrer neuen Kollegin und Vorgesetzten Sara Anderson McCabe hier gleich auf sie stürzen würden?

Irritiert blickte sie auf seine Visitenkarte.

„Noah Lockhart, Geschäftsführer und Gründer“ stand fettgedruckt in der ersten Zeile. Den Namen hatte sie schon mal irgendwo gehört.

„Lockhart Solutions. Apps für jeden Bedarf.“ besagte die nächste Zeile, daneben das Firmenlogo in Form zweier ineinandergreifender Diamanten.

Sie erinnerte sich dunkel, dass die Wetter-App, die sie nutzte, von Lockhart Solutions stammte. Auch der Restaurant-Finder. Und der Geschäftsführer dieser Firma, der nicht älter aussah als Mitte dreißig, stand gerade hier vor ihr. In Laramie, Texas. Wow!

„Aber obwohl ich ein halbes Dutzend Nachrichten hinterlassen habe, hat niemand zurückgerufen“, fuhr er stirnrunzelnd fort.

Sowas passiert einem so wichtigen Mann sicher nicht oft, vermutete Tess. Dumm gelaufen!

Sie bemühte sich, seine starke männliche Präsenz zu ignorieren, und wusste nicht recht, ob sie sich nun freuen oder enttäuscht sein sollte, dass er sie nicht um ein Date bat. Auf jeden Fall ließ sie sich nicht gern zu etwas drängen.

„Zuerst mal: Ich habe meinen Job hier noch gar nicht angetreten.“

„Weiß ich!“

„In der Klinik arbeiten vier weitere Tierärzte.“

„Aber keiner mit Ihrer Qualifikation!“

Tess war sich sicher, dass Sara sie in dem Fall zumindest angerufen hätte, um den Fall mit ihr zu besprechen. Vermutlich war ein einflussreicher Mann wie Noah es einfach nicht gewohnt, dass auf seine Anliegen nicht sofort reagiert wurde.

„Machen Sie einen Termin für nächste Woche!“, machte sie ihm eine klare Ansage und zurrte den Riemen ihrer Tasche über ihrer Schulter fest. Schließlich brauchte sie das Wochenende, um erstmal richtig anzukommen.

Sein Blick nahm einen bittenden Ausdruck an. „Ich hatte gehofft, ich könnte Sie um einen früheren Hausbesuch bitten.“ Er lächelte hoffnungsvoll.

Na prima! Wieder so ein reicher Schnösel wie diese arroganten Kunden aus der Klinik in Denver, die sie gerade hatte hinter sich lassen wollen. Oder wie ihr Ex-Verlobter, der ihr das Herz gebrochen hatte.

Entschlossen, dieselben Fehler nicht noch einmal zu machen, entgegnete sie kühl: „Sie müssen das trotzdem über die Klinik abwickeln.“

Er fuhr sich mit der Hand durch Haar und seufzte. „Das würde ich ja auch gern, aber …“

„Lassen Sie mich raten! Für sowas haben Sie keine Zeit?“, fiel sie ihm ungehalten ins Wort.

Er verzog unglücklich das Gesicht. „Tatsächlich … nein, die habe ich … haben wir … vermutlich nicht.“

„Dann sind wir diesbezüglich ja schon zwei!“ Damit sollte das Gespräch doch wohl beendet sein! „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden …“ Sie schloss die Haustür auf.

Da Noah Lockhart trotz ihrer Abfuhr noch immer hinter ihr stand, marschierte sie erhobenen Hauptes über die Schwelle – direkt in die größten, dicksten Spinnweben, die ihr je untergekommen waren.

Im selben Moment fiel ein großes, unheimliches Etwas auf ihren Kopf. „Iiihhh!“, schrie sie auf, ließ ihre Tasche fallen und schlug panisch nach dem, was da durch ihre dicken blonden Locken krabbelte.

Genau sowas hat Sara befürchtet, dachte Noah. Und dass Tess, wenn sie erstmal das Haus von innen gesehen hatte, schnurstracks zurückfahren würde in ihre schicke Klinik in Denver – ohne sich die hiesige Klinik und ihre neuen Kollegen überhaupt angesehen zu haben. Wobei nicht mal vorauszusehen gewesen war, dass sie als allererstes in ein Spinnennetz geraten würde, das einem Horrorfilm zur Ehre gereicht hätte.

In zwei Sätzen sprang er die Treppe hinauf zu Tess, die sich gefährlich nah an den ungesicherten Rand der Veranda geflüchtet hatte und noch immer schrie und sich wild durch das Haar fuhr. Die große graue Spinne steuerte derweil ihre Stirn an.

Mit einer Hand packte Noah Tess an der Schulter und schlug mit der anderen Hand das Ungetüm herunter. Es fiel auf die Veranda und verzog sich eilig nach unten in die Büsche.

Tess zitterte so stark, dass Noah es durch ihren Wintermantel, den sie offen über ihrem Kaschmirpulli trug, hindurch spürte. „Alles ist gut“, sagte er sanft und nahm den angenehmen Duft aus Citrus und Patschuli wahr, der sie umhüllte. „Ich habe es entfernt.“

Widerwillig ließ Noah sie los und sah zu, wie sie angeekelt die Reste des Spinnennetzes von ihrer Kleidung strich. Sie ist verdammt hübsch! dachte er und musterte ihre langen wilden Locken, ihre grünen Augen und ihre langen Wimpern. Circa eins zweiundsiebzig, schätzte er anhand seine eigenen ein Meter neunzig. Jedes Pfund perfekt verteilt und ein Gesicht wie ein Engel.

Ohne sich im Geringsten seiner Bewunderung bewusst zu sein, warf sie ihm einen Blick von der Seite zu, holte tief Luft und straffte die Schultern. „War das eine Spinne?“

„Ja.“

Sie kniff ihre schönen grünen Augen zusammen. „Eine Braune Einsiedlerspinne oder eine Schwarze Witwe?“

„Eine Wolfsspinne“.

Sie murmelte etwas, das nicht sehr ladylike klang. Dann deutete sie auf die Zimmerdecke direkt hinter der Eingangstür, wo noch immer beachtliche Reste des Spinnennetzes hingen, und sah Noah misstrauisch an. „Wussten Sie, dass das da hängt? Haben Sie mir deshalb gesagt, ich solle nicht allein reingehen?“

„Nein.“ Er hielt ihrem Blick stand. Seit dem Tod seiner Frau hatte er keine Frau mehr so bewusst wahrgenommen; doch Tess hatte etwas an sich, das seine Aufmerksamkeit fesselte. Vielleicht eine gewisse Verletzlichkeit hinter ihrem taffen Auftreten?

Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte ihn forschend an. „Wovor haben Sie mich dann gewarnt?“

Gute Frage. Eigentlich drängte er niemandem seine Hilfe auf. Wer seine Hilfe brauchte, würde ihn das sicher wissen lassen, und dann half er selbstverständlich. Ansonsten hielt er sich raus. Irgendwie war das heute Abend anders gelaufen, was er selbst nicht genau verstand.

Tess wartete noch immer auf seine Antwort.

Er zuckte die Achseln und ließ die Fakten Revue passieren. „Waylon war seit mindestens einem Jahr nicht mehr hier, bevor er vor vier Monaten starb. Und er hatte nicht gerade den Ruf eines begnadeten Hausmannes.“

Sie ließ ihren Blick über den Vorgarten schweifen. Obwohl es erst kurz nach fünf Uhr nachmittags war, versank die Sonne bereits am grauen Winterhimmel. „Aber der Rasen und die Fassade es Hauses sind tipptopp.“

„Die Nachbarn erledigen das im Angedenken an ihn.“

„Aber innen nichts?“

„Waylon wollte niemandem zur Last fallen, daher gab er niemandem einen Schlüssel.“

Tess lugte in das Hausinnere. Die Vorhänge waren zugezogen und da die Dämmerung bereits einsetzte, schien es im Haus von Minute zu Minute dunkler zu werden. Und das zerstörte Spinnennetz hing noch immer direkt hinter der Eingangstür.

Sie ist erwachsen und kann tun, was ihr beliebt, dachte Noah. Trotzdem musste er die Hilfe anbieten, die er sich auch für jedes Mitglied seiner Familie in einer solchen Situation gewünscht hätte.

„Sind Sie sicher, dass Sie hier allein bleiben wollen?“

„Ich habe keine Wahl“, sagte Tess wenig begeistert. „Ich habe kein Hotel gebucht und auf die Schnelle ist hier in der Nähe vermutlich nichts zu bekommen.“

Er nickte. „Die Lake Laramie Lodge und das Laramie Inn sind unter der Woche immer schon lange im Voraus für Konferenzen und Retreats ausgebucht und am Wochenende für Hochzeiten oder irgendwelche Hobby-Treffen. Aber Sie könnten mal online nachschauen.“

„Danke, ich komme schon zurecht. Und ich kann ja auch das Licht anmachen.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche, schaltete die Taschenlampe ein, suchte einen Lichtschalter im Raum und betätigte ihn. Nichts. Den nächsten. Wieder nichts.

„Vielleicht sind nur die Glühlampen hinüber“, mutmaßte Noah, drückte sich an den Spinnweben vorbei und versuchte, eine Tischleuchte im Raum einzuschalten. Wieder nichts.

Um nicht mit weiteren Spinnen Bekanntschaft zu machen, vergrub Tess ihre Hände in den Manteltaschen und folgte ihm. Hier drin schien fast noch kälter zu sein als draußen.

Auch die nächste Lampe, die Noah einzuschalten versuchte, funktionierte nicht.

„Glauben Sie, dass alle Glühlampen hin sind?“, fragte Tess.

„Oder …“, sagte er, ging, gefolgt von Tess, durch den Raum in die Küche auf der Rückseite des zweistöckigen Backsteinhauses und entdeckte dort einen Toaster, dessen Hebel er herunterdrückte. Keine Reaktion.

Noah ging zur Spüle und betätigte den Wasserhahn. Da kein Wasser kam, ging er vor dem Spülenschrank in die Hocke, schaute hinein und drehte an irgendwas – vergeblich. Als sich wieder aufrichtete, sausten drei kleine Mäuse aus dem Schrank und verschwanden hinter der Küchentür.

„Weder Strom noch Wasser funktionieren“, fasste Noah zusammen. Er zog die Gardine vor dem Fenster über der Spüle zur Seite und öffnete die dunklen Fensterläden. Sie waren von einer dicken Staubschicht bedeckt – wie auch alles andere im Raum, wie Tess in wachsender Verzweiflung feststellte.

Dicke Spinnweben klebten in allen Ecken, erstreckten sich über die Decke und hingen an den verschlissenen Möbeln. Als Tess den Boden beleuchtete, sah sie überall Mäusekot. Der stammte sicher nicht nur von den drei Mäusen aus dem Spülenschrank. Igitt!

„Haben Sie erstmal genug gesehen?“, fragte Noah.

Wie sehr hatte Tess sich auf dieses Haus gefreut in der Hoffnung, hier endlich das Zuhause zu finden, nach dem sie sich immer gesehnt hatte! Sie war bestürzt. Aber auch wenn das, was sie hier vorfand, ein großer Rückschlag war, würde sie sich davon nicht abschrecken lassen. Und ihr Onkel hatte ihr ja auch Geld aus seiner Lebensversicherung hinterlassen, mit dem sie das Haus in Ordnung bringen lassen konnte.

„Vielleicht ist es oben ja besser …“, murmelte sie und machte sich auf ins obere Stockwerk.

Doch ihre Hoffnung zerschlug sich sofort wieder. Das einzige Badezimmer sah aus, als sei es jahrelang nicht geputzt worden. Zwei der Schlafzimmer waren mit Angel- und Camping-Ausrüstung vollgestellt und im dritten fanden sich ein durchgelegenes Bett und Stapel von Kleidung des alten Haudegens, der die meiste Zeit seines Lebens auf irgendwelchen Bohrinseln verbracht hatte.

Wenig überraschend funktionierten auch hier weder Licht noch Wasser.

Noah war ihr mit einigen Schritten Abstand gefolgt. „Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben.“

Zu dem Schluss war Tess auch schon gelangt. Allerdings freute sie sich nach der zweitägigen Fahrt in ihrem SUV auch nicht gerade auf weitere zwei Stunden Fahrzeit nach San Antonio, um dort ein freies Hotelzimmer zu suchen.

Sie sah Noah an, und er erwiderte ruhig ihren Blick.

„Sie können mit zu mir kommen.“

2. KAPITEL

Tess blickte drein, als hätte Noah ihr vorgeschlagen, auf der Stelle mit ihr durchzubrennen. Wortlos ging sie an ihm vorbei die Treppe hinunter, immer im Schein ihrer Handy-Leuchte.

Mit einigem Abstand folgte Noah ihr. Er konnte nachfühlen, wie ihr zumute war. Nach dem Tod seiner Eltern hatte er als Kind zwei Jahre in drei verschiedenen Pflegefamilien verbracht, bevor er schließlich wieder mit seinen sieben Geschwistern vereint und von Robert und Carol Lockhart adoptiert worden war. Wie es sich anfühlte, allein in ein fremdes Umfeld zu kommen und nicht zu wissen, wem von denen, die einem dort Hilfe anboten, man auch vertrauen konnte, wusste er aus eigener Erfahrung.

Wenn er Tess also helfen wollte – und das wollte er auf jeden Fall – musste er sie davon überzeugen, dass seine Absichten ehrenhaft waren.

Noch immer auf der Hut vor Spinnweben, trat sie vor die Haustür hinaus auf die Veranda und atmete in der frischen kalten Luft tief durch. Dann straffte sie ihre Schultern und wandte sich unvermittelt zu Noah um.

„Weshalb sollten Sie das für mich tun wollen?“

„Weil wir hier in Laramie County sind, wo Nachbarn immer einander helfen. Außerdem …“, fügte er mit leichtem Augenzwinkern hinzu, „… kann ich damit vielleicht punkten bei der neuen Tierärztin. Und Sie können ja jederzeit Sara Anderson McCabe anrufen – als Leumundszeugin.“

„Mit Sara hatte ich heute bereits per FaceTime Kontakt. Ihre Kinder sind beide krank mit einer Halsentzündung. Abgesehen davon muss sie die Arbeiten am neuen Anbau ihres Haues im Auge behalten und in der Klinik für ihren Gründungspartner mit einspringen, der vor fünf Wochen in den Ruhestand gegangen ist. Ganz nebenbei ist sie noch im siebten Monat schwanger. Ich werde also den Teufel tun und sie noch mit sowas behelligen.“

So viel Mitgefühl beeindruckte Noah. Dass Tess trotz ihrer eigenen misslichen Lage das Wohl anderer so wichtig nahm, sagte viel aus über diese neue Mitbürgerin. Auch wenn er und Tess sich erstmal auf dem falschen Fuß erwischt hatten, sagte ihm sein Bauchgefühl, dass sie sehr gut in diese ländliche Gemeinde passte.

Einen Moment lang blickte sah Tess ihn schweigend an und sagte dann: „Außerdem weiß ich schon, was Sara über Sie sagen würde. Sie stehen auf ihrer Liste der Männer, die ich ihrer Meinung nach kennenlernen sollte, nämlich ganz oben.“

Er runzelte die Stirn. Betätigte seine alte Freundin Sara sich etwa als Kupplerin? Er versuchte, in Tess’ grünen Augen zu lesen.

„Anfangs dachte ich, dass Sie deshalb hier seien“, setzte sie trocken hinzu. „Wollten Sie einen Wettbewerbsvorteil haben?“

Offenbar bin ich hier nicht der Einzige, der so ziemlich jeder Situation eine gewisse Komik abgewinnen kann, dachte er und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, um seine Verlegenheit zu überspielen. Aber er hielt ihrem Blick stand.

„Äh, nein.“ Eine Romanze hatte er wirklich nicht im Sinn gehabt, als er auf gut Glück vor ihrem Haus gehalten hatte, um zu sehen, ob sie schon angekommen war und ob er der neuen Tierärztin irgendwie behilflich sein konnte. „Seit meine Frau vor drei Jahren verstorben ist, bin ich voll eingespannt mit meinen drei kleinen Mädchen. Und das wird sich auch so bald nicht ändern.“

Überrascht sah blickte ihn an und ging einen Schritt auf ihn zu. Gerade schalteten sich automatisch die Straßenlaternen an und tauchten die winterliche Szenerie in ein gelbliches Licht, in dem sie Noah genauer betrachten konnte. „Sie haben also kein Interesse an Dates?“

Er schüttelte den Kopf. Eine Frau wie sie konnte einen wirklich aus dem Konzept bringen! Und genau das durfte er nicht riskieren.

Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus.

„Und Sie?“, fragte er.

„Nein!“, sagte sie nachdrücklich. „Ich bin definitiv nicht zu haben.“

Sie sahen einander direkt in die Augen.

„Aber ich lerne gern neue Menschen kennen …“, sagte sie. „Freundschaftlich“, fügte sie dann hinzu.

„Freunde kann man nie genug haben“, bekräftigte Noah. Schließlich hatten seine Freunde und seine Familie ihm durch die letzten turbulenten Jahre geholfen.

Denn so schwer es auch war, den Verlust seiner ersten und einzigen großen Liebe emotional zu verkraften, so viel schwieriger war es noch, das Leben als alleinerziehender Vater zu bewältigen.

„Um auf Ihr gastfreundliches Angebot zurückzukommen …“, Tess ging zum Ende der Veranda und zurück, um zu einer Entscheidung zu gelangen, „Würde Ihnen das auch wirklich nichts ausmachen?“

„Nein. Ich habe ein großes Haus und ein nettes Gästezimmer. Und sollten Sie sich da aus irgendeinem Grund nicht wohlfühlen, können Sie immer noch im Ranch-Haus meiner Familie ein Stück weiter die Straße runter unterkommen. Die passen heute Abend auf meine drei Mädels auf, also können Sie sie auch gleich kennenlernen.“ Er atmete tief durch. „Und sollte auch das nicht das Richtige sein: Meine Mom ist Sozialarbeiterin für Laramie County und vielleicht könnte Sie ihre Beziehungen spielen lassen und noch eine andere Unterkunft für heute Nacht für Sie finden.“

„Und das wäre dann wo?“

„Hm … weiß ich ehrlich gesagt nicht. Vielleicht sowas wie ein ungenutztes Reservezimmer im Krankenhaus?“

Sie strich ihre Locken zurück. „Langsam wird es reichlich kompliziert.“

Da sie sie noch immer unentschlossen wirkte, setzte er hinzu: „Fahren Sie mir einfach hinterher und schauen Sie sich die Örtlichkeiten an, und dann treffen Sie Ihre Wahl.“

Fünfzehn Minuten später bog Noah von der Landstraße auf eine gewundene gepflasterte Zufahrt ab, Tess in ihrem roten SUV im Gefolge. „Welcome Ranch“ verkündete der schwarze eiserne Torbogen, den sie passierten.

In der Ferne tauchte ein weitläufiges zweistöckiges Haus auf. Beim Näherkommen machte Tess kalifornischen Baustil mit vielen Fenster aus. An der Peripherie erstreckte sich im Mondlicht eine grasbewachsene Pferdekoppel, die an eine schön gestaltete, offensichtlich neue Scheune grenzte.

Noah parkte vor einer viertürigen Garage neben einem Pick-up, Tess schloss sich an. Als sie ausstiegen, wurde die Haustür geöffnet und ein gutaussehendes Paar in den Fünfzigern trat hinaus unter das Dach des von Säulen gesäumten Vorbaus.

„Meine Familie“, erklärte Noah, während er und Tess auf die beiden zugingen. „Mom, Dad, dies ist Tess Gardner, die neue Tierärztin der Laramie Klinik. Tess, das sind meine Eltern Robert und Carol Lockhart.“

„O, Sie kommen, um nach Miss Coco zu sehen!“, rief Carol Lockhart, eine schlanke Frau mit kurzem dunklem Haar, die sportlich-leger und offensichtlich hochwertig gekleidet war.

Ihr ebenfalls dunkelhaariger, hochgewachsener Mann hatte das typisch wettergegerbte Gesicht von jemandem, der seine Jahre mit Arbeit an der frischen Luft verbracht hat. Er nickte Tess zu. „Wie schön, dass Sie hier sind!“

Noah hob die Hand, um den offensichtlichen Irrtum seiner Eltern aufzuklären. „Das mit Miss Coco wird heute Abend nichts mehr. Tess nimmt erst am Montag ihre Arbeit auf. Und sie hatte einen sehr langen Tag.“

In der Tat spürte Tess deutlich ihren verspannten Körper, nachdem sie in zwei Tagen die über achthundert Kilometer nach Laramie County gefahren war, streckenweise durch bergiges Gelände und in zumeist rauem Wetter. Trotzdem wollte sie selbst entscheiden, was heute Abend noch etwas wurde oder nicht.

„Wer ist Miss Coco?“, fragte sie Noahs Mutter.

„Der Zwergesel von Noah und den Mädchen. In den letzten Wochen hat Noah sich ständig Sorgen um die Stute gemacht. Deshalb war er ganz aus dem Häuschen, als er hörte, dass Sie sich während Ihres Studiums viel mit Eseln beschäftigt haben und eine Expertin auf dem Gebiet sind.“

Noah holte tief Luft und signalisierte seiner Mutter mit einem Blick, dass er es nicht sonderlich schätzte, wenn sie an seiner Stelle für ihn sprach. „‚Aus dem Häuschen‘ würde ich nicht gerade sagen.“

„Vielleicht ‚erleichtert‘?“, half sein Vater aus.

„Schon eher“, murmelte Noah.

Irritiert fragte Carol ihren Sohn: „Wenn Tess nicht wegen Miss Coco hier ist, weshalb …“

„Tut mir leid, ich habe meine Ankunft hier nicht gut vorausgeplant“, sagte Tess. „Ich ging davon aus, dass das Haus, das mir mein Onkel vererbt habe, sauber und ausgeräumt sei. Leider stimmt keins von beidem und es gibt auch weder Strom noch Wasser.“

„Und da die Handwerker erst Montag wieder arbeiten und alle Unterkünfte hier in der Gegend ausgebucht sind, habe ich ihr angeboten, vorübergehend bei uns unterzukommen“, ergänzte Noah. Seine Eltern lächelten verständnisvoll.

„Haben die Mädchen sich gut betragen?“, setzte er hinzu.

„Sie waren um acht im Bett und haben gleich geschlafen“, berichtete sein Vater.

Ein schokoladenbrauner Labrador trottete aus dem Haus auf die Veranda. Mit dem untrüglichen Instinkt eines Tieres, das weiß, wer es gut mit ihm meint, steuerte er direkt auf Tess zu. Sie hockte sich zu ihm herunter, ließ sich von ihm beschnüffeln und kraulte ihn hinter den Ohren. Mit einem glücklichen Schnaufen setzte er sich auf Tuchfühlung neben sie.

„Wir können gern noch etwas bleiben, falls Ihr doch noch ganz kurz in die Scheune hinübergehen wollt“, schlug Carol hoffnungsvoll vor. Offensichtlich sorgte auch sie sich um den Zwergesel, auch wenn bisher niemand den Grund erwähnt hatte.

Wie immer, wenn ein Tier in Not war, fiel Tess’ Müdigkeit sofort von ihr ab und sie wandte sich Noah zu. „Ist Miss Coco dort untergebracht?“

Er nickte.

„Ich hole nur schnell meine Arzttasche aus dem Auto!“

„Sie müssen das aber jetzt nicht machen“, versicherte Noah, als er mit Tess zu der Scheune hinüberging. Dort schob er das Tor zur Seite und schaltete die Deckenbeleuchtung an. Offensichtlich war der Raum beheizt. An den Gang mit Betonboden grenzte ein halbes Dutzend Boxen mit schönen Holzabtrennungen an.

Tess trat ein fühlte sich augenblicklich wohl. „Das ist wohl das Mindeste, was ich tun kann angesichts Ihrer großen Gastfreundschaft.“

„Danke.“ Er schloss das Tor hinter ihnen und ging voraus.

Als Tess zu ihm aufschloss, nahm sie erneut die Holznote seines Rasierwassers wahr und noch etwas anderes, vielleicht den Duft einer Seife oder eines Shampoos, das ebenfalls frisch und maskulin duftete und für einen Moment ihre Aufmerksamkeit dominierte – bis sie es bewusst beiseiteschob. Arbeit und Vergnügen zu vermischen, hatte sich als fatal erwiesen, besonders bei ihrem Ex. Sowas durfte nicht noch einmal passieren.

„Was genau macht Ihnen Sorgen?“, fragte sie geschäftsmäßig. „Können Sie mir den Verlauf schildern?“

Er blieb stehen und legte eine Hand auf das Gatter der mittleren rechten Box. „Vor acht Monaten war ich mit Lucy, meiner Ältesten, auf einer Tier-Ausstellung.“ Er öffnete das Gatter und blickte liebevoll auf die Zwergesel-Stute, die schläfrig im frischen Heu lag. „Lucy hat sich sofort in Miss Coco verliebt.“

Entzückt betrachtete Tess ihre neue Patientin. „Ach, Noah, sie ist wirklich bildschön!“ Auf dem hellbraunen Fell der Eselin, das aussah wie mit Kakao bepudert, verlief eine weiße Blesse von den Ohren bis zu ihrer Kehle und auch die Fesseln und der Schwanz waren weiß. Mit großen dunklen Augen musterte sie ihre Besucher. Tess schätzte ihre Größe auf fünfundsiebzig Zentimeter.

„Miss Coco hat auch ein sehr gewinnendes Wesen“, fuhr Noah fort. „Ihren leicht geschwollenen Bauch führte ich auf falsche Ernährung oder Bewegungsmangel zurück. Als ich herausfand, dass sie schwanger ist, hatte Lucy bereits eine enge Bindung zu ihr aufgebaut.“

Tess kniete sich neben Coco und streichelte sie. „Und zwei Esel wollen Sie nicht?“ Sie öffnete ihre Tasche.

„Das ist nicht das Problem. Wir haben ja genug Platz. Ich mache mir Sorgen wegen meiner dreijährigen Zwillinge. Lucy mit ihren acht Jahren versteht, dass Anweisungen zur Sicherheit und zum Wohlergehen unserer Tiere ohne Wenn und Aber befolgt werden müssen. Aber die Zwillinge sind noch reichlich ungezügelt. Angelica ist meist sanft und folgt. Aber Avery will ihren Dickkopf unbedingt durchsetzen.“

Tess untersuchte Cocos Bauch und den Bereich rund um den Geburtskanal und fand alles zu ihrer Zufriedenheit. Auch der starke, gleichmäßige Herzschlag und ihre Atmung waren in Ordnung und das galt auch für das Fohlen.

Sie zog die Ohrstöpsel des Stethoskops aus ihren Ohren und blickte zu Noah hoch. Wie er da so stand mit seiner offenen Jacke, die Arme vor der Brust verschränkt, strahlte er genau jene Mischung von Tatkraft und Sanftheit aus, die Tess anzog. Wäre sie offen für eine Beziehung, würde sie genau darauf abfahren.

„Und Sie befürchten, die Zwillinge könnten zu ungestüm mit dem Fohlen umgehen? Oder die Eselmama könnte sie verletzten, weil sie ihr Baby beschützen will?“

Er nickte. „Beides. Allerdings habe ich auch von dem Prägungs-Training gehört, mit dem man ein Tier von Geburt an darauf prägen kann, menschlichen Berührungen zu vertrauen und sie zu lieben. Sara sagte, dass Sie in Colorado dieses Training unterrichtet haben.“

In dem weichen Licht der Stallbeleuchtung sah er noch attraktiver aus. Was Tess aber lieber ausblendete, genauso wie seinem angenehmen Duft. Oder wie stark und fit sein Körper in dieser gepflegt-lässigen Kleidung aussah.

Seinen Blick spürte sie fast körperlich und zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln. „Ja, habe ich.“

„Werden Sie diese Kurse auch hier geben?“

„Wenn ich hier Fuß gefasst habe, ja.“ Auf seinen enttäuschten Blick hin fügte sie hinzu: „Aber bis dahin kann ich Ihnen schon mal zeigen, was Sie tun müssen.“

„Was meinen Sie, wann der Geburtstermin ist?“

„Ich schätze, so ein bis zwei Wochen.“

Sie packte das Stethoskop zurück, schloss ihre Tasche und erhob sich, wobei sie auf dem Heu leicht wegrutschte und ins Straucheln kam. Sofort griff Noah nach ihrem freien Handgelenk, um sie zu halten. Die feste und gleichzeitig sanfte Berührung seiner warmen Hand jagte ein Prickeln durch ihren Körper.

Noah hielt sie, bis sie sicher stand, löste langsam seinen Griff und trat dann einen Schritt zurück. Als er Tess’ Blick suchte, wurde ihr noch wärmer.

„Woher wissen Sie, wann es so weit ist?“

„Das Fohlen rutscht in den Geburtskanal, wodurch die Mutter sogar schlanker erscheinen kann. Außerdem wird sie unruhig. Und sie hält ihren Schwanz zur Seite. Ab da sollte sie rund um die Uhr überwacht werden.“

Im Hinausgehen fragte Noah: „Können Sie hier sein, wenn das Fohlen kommt? Würden Sie das für uns tun, damit alles gutgeht?“

„Gern!“ Tess lächelte. Neuem Leben auf die Welt zu helfen war das Beste an ihrem Job.

Zurück am Haus, spürte sie plötzlich wieder die Erschöpfung in ihren Knochen. Noah holte ihre beiden Reisetaschen aus ihrem Auto, während Carol ihr einen Tee aufbrühte. Als Noah zurückkam, waren seine Eltern schon im Aufbruch begriffen.

„Brauchen Sie noch irgendetwas?“, erkundigte er sich fürsorglich bei Tess.

„Nur noch eine heiße Dusche und ein Bett, bitte.“

Er nickte verständnisvoll. „Ich zeige Ihnen das Gästezimmer.“

Sie folgte Noah die Treppe hinauf vorbei an zwei Türen, in denen vermutlich seine Töchter schliefen.

Das Gästezimmer am Ende des Flures verfügte über ein eigenes Bad und außer einem Doppelbett noch über eine Récamiere zum gemütlichen Lesen.

Noah stellte Tess’ Taschen ab. „Falls im Bad noch etwas fehlen sollte, lassen Sie es mich bitte wissen.“ Er ging zurück auf den Flur. Als er sich noch einmal umwandte zu Tess und ihre Blicke sich trafen, durchflutete Tess ein warmes, wohliges Gefühl. Mit gedämpfter Stimme, um seine Töchter nicht zu wecken, fügte er hinzu: „Wenn Sie noch etwas essen oder trinken möchten, fühlen Sie sich bitte auch in der Küche ganz wie zu Hause.“

„Vielen Dank.“, gab Tess ebenso leise zurück. Angesichts seiner großen Freundlichkeit und Gastfreundschaft musste sie sich energisch in Erinnerung rufen, dass er – genau wie sie – gesagt hatte, dass eine Beziehung derzeit für ihn kein Thema sei.

„Tja, also …“, er räusperte sich und schien sich ebenso wenig losreißen zu können wie Tess.

Ob er diese körperliche Anziehung wohl auch spürt? fragte sie sich. Wenn, dann ließ er sich das zumindest nicht anmerken, nickte ihr nur nochmal zu und sagte: „Wir sehen uns morgen früh.“

Sie bemühte sich, bewusst zu atmen, um ihren erhöhten Herzschlag wieder runterzufahren. „Ja, bis dann“, gab sie lächelnd zurück. Als er gegangen war, lächelte sie noch immer.

3. KAPITEL

Am frühen Morgen weckte eine Kinderstimme Noah aus tiefem Schlaf.

„Daddy, da war eine hübsche Dame in der Küche und sagte, wir sollen dir dies geben, wenn du aufwachst“, berichtete Lucy in wichtigem Ton. Sie kletterte in sein Bett, und ihre Zwillingsschwestern enterten die andere Seite.

„Bist du jetzt wach?“, fragte Avery. „Wir wollen wissen, was in dem Brief steht und Lucy kann noch nicht gut Handschriften lesen.“

Noah setzte sich auf und bekam ein Stück Papier in die Hand gedrückt. „Noah,“, las er laut vor „vielen Dank für Ihre Hilfe und Gastfreundschaft letzte Nacht. Tess Gardner.“

Reichlich unpersönlich, dachte er enttäuscht.

Der Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie in das riesige Spinnennetz gelaufen war, war ihm noch immer präsent, und auch, wie es sich angefühlt hatte, als sie sich einen unglaublichen Moment lang flüchtig berührt hatten, als er ihr zu Hilfe geeilt war.

Seit Shelbys Tod war er niemandem mehr so nahegekommen. Anfangs hatte seine Trauer ihn auf Distanz gehalten. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass jemals jemand Shelbys Platz einnehmen könnte. Später hatte die Angst, noch einmal einen solchen Verlust erleiden zu müssen, ihn blockiert. Und dann waren da noch seine Mädchen, die neben seiner Arbeit seine ganze Kraft und Zeit in Anspruch nahmen, und die Ungewissheit, wie sie reagieren würden, falls er nochmal jemanden datete. Deshalb war er von seiner starken Reaktion auf Tess selbst überrascht.

„Wer ist sie denn?“, wollte Lucy wissen und strich sich ihr langes verwuscheltes Haar aus dem Gesicht. „Und was macht sie in unserem Haus?“

„Die nette Lady ist Doktor Tess Gardner, die neue Tierärztin, von der ich euch schon erzählt hatte. Die weiß ganz viel über Zwergesel und ihre Fohlen. Sie ist erst gestern hierhergezogen und kam gestern Abend vorbei, um Miss Coco zu untersuchen.“

Als er Tess während Miss Cocos Untersuchung beobachtet hatte, war ihm klargeworden, weshalb Sara sie unbedingt für die Klinik hatte gewinnen wollen. Tess war eine sehr erfahrene Ärztin. Freundlich. Gründlich. Sanft. Und professionell.

Ganz wichtige Eigenschaften.

Für eine Tierärztin.

Für eine Freundin …

Und natürlich war sie sehr schön. Und sexy – auf diese frische Mädchen-von-nebenan-Art.

Obwohl ihn das natürlich nichts anging …

Er seufzte und berichtete weiter: „Doktor Tess hat auch Miss Cocos Fohlen untersucht. Mit dem ist auch alles in Ordnung.“

Zunächst schienen die drei mit seiner Erklärung zufrieden, doch nach einigem Nachdenken fragte Lucy: „Sie war die ganze Nacht bei Miss Coco? Im Stall?

Noah schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat im Haus geschlafen.“

„Warum?“, insistierte Lucy.

Geduldig erklärte Noah: „Als sie nach Laramie kam, wusste sie nicht, dass es in dem Haus, in dem sie wohnen wollte, weder Strom noch Wasser gab. Die Hotels waren ausgebucht, und irgendwo musste sie ja schließlich schlafen. Deshalb habe ich ihr unser Gästezimmer angeboten.“

Die Achtjährige verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Schnute. „In unserem Gästezimmer schlafen nur Grandma und Grandpa. Oder unsere Tanten und Onkel.“

„Und gestern Nacht eben Doktor Tess.“

Lucy schmollte weiterhin. Da alle sieben Geschwister ihres Papas kürzlich geheiratet hatten, hatte sie schon mehrfach ihre Sorge kundgetan, er könne dasselbe tun. Auch wenn sie die Fürsorge erwachsener Frauen schätze, sollte doch niemand den Platz ihrer verstorbenen Mutter einnehmen.

So hatte Noah bislang auch gedacht.

Doch seitdem es nun nur noch Paare in seiner Familie gab, wurde ihm allmählich bewusst, wie einsam er war.

Kinder zu haben war wunderbar. Aber noch schöner war es, sie gemeinsam mit jemandem großzuziehen.

Doch dafür kam natürlich nicht einfach irgendjemand in Frage. Lebenslustig müsste sie sein. Und liebevoll. Unabhängig. Freundlich. Bereit, sich einzubringen.

Jemand wie … Tess Gardner. Moment mal! Wo zum Teufel kam denn jetzt dieser Gedanke her?

Lucy runzelte die Stirn. „Hm.“

Themenwechsel! beschloss Noah und bedeutete den Mädchen, aufzustehen. Dann schlug er die Bettdecke zurück und schwang seine Beine aus dem Bett.

„Wer kommt mit, Tank sein Frühstück zu geben und dann in der Scheune nach Miss Coco zu sehen?“

Ich!“, erklang es dreistimmig.

„Dann holt mal eure Gummistiefel!“ Er schob alle Gedanken an Tess und den tiefen Eindruck, den sie in den paar Stunden bei ihm hinterlassen hatte, beiseite. „Wir treffen uns in der Küche!“

„Also was meinst du dazu?“. Die Tour durch die Klinik, auf der Tess von Sara Anderson McCabe am Samstag kurz vor Beginn des Wochenenddienstes alle Mitarbeiter vorgestellt worden waren, endete in einem kleinen Raum, der als Tess’ privates Büro dienen sollte. Der gewienerte Linoleumfußboden und der Standard-Schreibtisch nebst Bürostuhl hatten mit Tess’ Luxusbüro in Denver nichts gemein; dafür wirkte alles viel persönlicher und irgendwie anheimelnd.

„Kannst du hier glücklich werden?“ schob Sara nach.

Tess nickte. „Ganz sicher!“. Jeder hier war so unglaublich nett, auch – und natürlich ganz besonders – Noah Lockhart. Obwohl sie an den eigentlich nicht schon wieder denken wollte …

Sara legte eine Hand auf ihren Schwangerschaftsbauch. „Bist du in einem Hotel untergekommen, bis das Umzugsunternehmen deine Sachen aus Denver bringt? Oder musstest du einfach so in dein geerbtes Haus einziehen?“

„Tja, das war nicht so einfach.“ Tess umriss kurz den Mangel an Strom und Wasser und den dafür vorhandenen Überfluss an Mäusen und Spinnen.

„Au weia!“, rief Sara, doch allzu überrascht wirkte sie nicht. „Nun ja, Waylon war nicht gerade als guter Hausmann bekannt. Außerdem war er nie lange zu Hause. Wenn er von den Bohrinseln kam, wollte er immer nur angeln gehen. Und dann war es auch schon wieder Zeit für die Bohrinsel.“ Sie seufzte. „Aber wer hätte gedacht, dass er vor seiner Abreise immer die ganze Energieversorgung abmeldet!“

Sie blickte Tess fragend an. „Und was hast du dann gemacht?“

„Ähm…“, Tess zögerte. Doch hier war man auf dem Land und es würde sich sowieso rumsprechen. „Noah Lockhart bot mir an, auf der Welcome Ranch zu übernachten.“

„Du hast Noah kennengelernt?“, rief Sara erfreut.

„Ja. Er kam vorbei und hielt an, als ich mir Onkel Waylons Haus ansah.“

„Und was dachtest du da?“

Dass ich noch nie jemanden getroffen habe, der mir so wie er mit einem einzigen Blick den Atem geraubt hat, schoss es Tess durch den Kopf. Doch das konnte sie ja schlecht sagen. Schließlich rang sie sich durch zu: „Er ist … äh … sehr groß.“ Und gutaussehend. „Und wirklich … hilfsbereit.“ Himmel, was war nur los mit ihr? Allmählich fühlte sie sich wie ein wortkarger Teenager.

Lachend winkte Sara ab. „Schon gut, ich will nicht indiskret sein. Themenwechsel. Was hast du jetzt vor mit dem Haus?“

„Montag kann ich Strom und Wasser wieder anstellen lassen. Heute Nachmittag habe ich vor Ort einen Termin mit einem Schädlingsbekämpfer, und den Rest des Tages will ich mich hier mal ein bisschen umschauen.“

„Hast du eine Unterkunft für die nächste Zeit?“

„Ich habe gerade zwei Nächte im River Walk Hotel in San Antonio gebucht. Obwohl ich natürlich hoffte, nicht so weit fahren zu müssen und mein neues Zuhause zumindest so weit sauber zu bekommen, dass ich provisorisch darin campen kann.“

Sie griff nach ihrer Tasche und ihrem Autoschlüssel. „Wie auch immer, ich sollte jetzt losfahren.“

„Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst – selbst wenn es ein Schlafplatz sein sollte. Matt und die Kids und ich können jederzeit zusammenrücken.“

Dafür war Tess dankbar, doch sie wollte von niemandem abhängig sein. Es war immer besser, die Dinge allein anzupacken. Und genau das wollte sie jetzt tun.

Ein paar Stunden später hatte Tess alles besorgt, um mit der Reinigung ihres neuen Hauses beginnen zu können. Kaum war sie aus dem Auto gestiegen, als ein vertrauter grauer Geländewagen hinter ihr einparkte.

Noah stieg aus. Anders als bei ihrer ersten Begegnung, trug er diesmal eine alte Jeans, ein Flanellhemd mit einer dicken Fleece-Weste darüber und Arbeitsstiefel.

Selbst darin sieht er verdammt gut aus! dachte Tess und schob den Gedanken sofort wieder zur Seite.

„Im Ernst, Cowboy, wir sollten aufhören, uns immer auf diese Weise zu treffen.“

„Ich dachte, Sie könnte Hilfe gebrauchen“, gab er grinsend zurück und in seinen seine tiefblauen Augen blitzte der Schalk auf. Auch das war Tess inzwischen vertraut und zu ihrem Leidwesen fand sie es sehr sexy.

Sollte sie seine Hilfe wirklich annehmen? Die alte Erfahrung, wie schmerzhaft es enden kann, sich auf jemanden zu verlassen, saß noch tief. Doch das konnte sie ja nicht ewig mit sich herumschleppen. Sie öffnete ihren Kofferraum.

„Ein Nass-/Trocken-Sauger– sehr nützlich!“, lobte er.

„Nützlich wird er am Montag, wenn ich hoffentlich Strom bekomme.“

Mühelos hob Noah den sperrigen Staubsauger-Karton aus dem Kofferraum.

„Bis dahin muss es auf die altmodische Weise gehen: mit Besen, Kehrblech und Müllsack“, erklärte Tess und nahm restlichen Sachen aus ihrem Auto.

Noah trat näher, auf sie zu und sie sog den maskulin-herbfrischen Duft seines Rasierwassers oder Shampoos ein. Seine körperliche Nähe dominierte schon wieder ihre Aufmerksamkeit.

Sein Blick glitt über ihr Gesicht und fixierte sich auf ihre Augen. „Eigentlich könnten wir auch heute schon saugen – wenn Sie nichts dagegen haben, Ihre Nachbarn um Strom zu bitten.“

Bei so viel geballter Männlichkeit musste sie sich ernstlich konzentrieren, um bei der Sache zu bleiben. „Ich kann doch nicht jemanden um etwas bitten, den ich noch gar nicht kenne!“

Er lachte leise – ein tiefes, angenehmes Geräusch. „Natürlich können Sie das!“ Sein Blick ruhte auf ihr, als könne er sich gar nicht wieder losreißen. Eine nicht näher definierbare Spannung lag zwischen ihnen.

„Hier helfen Nachbarn einander aus, wissen Sie noch? Aber falls es Ihnen unangenehm ist, Ihre neuen Nachbarn gleich beim ersten Treffen um einen Gefallen zu bitten, kann ich das verstehen. Wenn Sie also möchten …“, er legte eine Hand auf ihre Schulter und seine Körperwärme drang mühelos durch Tess’ dicke Fleece-Weste, „… kann ich ein paar Outdoor-Verlängerungskabel organisieren und nebenan nach Strom fragen und Ihnen dann helfen, den Staubsauger zusammenzubauen.“

Der Teil von ihr, der ihr Herz verschlossen halten wollte, meldete sich mit einem entschiedenem „Nein!“ Doch ihre praktische Seite sah das nüchterner: Immerhin musste sie in achtundvierzig Stunden für ihre Patienten zur Verfügung stehen. Und ihr Haus war in seinem jetzigen Zustand einfach nicht bewohnbar.

Sie atmete tief durch, erwiderte Noahs Blick, bemüht, sich davon nicht verwickeln zu lassen, schluckte und sagte: „Danke.“ Das wäre schön.

Noah verfrachtete den großen Karton auf die Veranda.

Als Tess mit den restlichen Utensilien ebenfalls oben war, sah sie ihn fragend an. „Nicht, dass ich nicht dankbar wäre für Ihre Hilfe, aber haben Sie nicht auch zu Hause Verpflichtungen?“

Er kam ihr so nahe, dass sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. „Meine Mädchen sind zum Spielen mit ihren Cousinen auf der Ranch meiner Eltern.“ Dann zog er sein Handy heraus und begann eine Textnachricht zu schreiben.

„Ich werde dort heute Abend um sechs zum Dinner erwartet“, erklärte er nebenbei.

Das heißt wohl, dass er bis dahin Zeit hat, schlussfolgerte Tess. „Schön!“ Sie stellte die Sachen auf und forschte in ihrer Hosentasche nach dem Hausschlüssel.

„Ihre Töchter sind übrigens richtig süß.“

Sein stolzer, liebevoller Blick zeigte ihr, dass ihm bewusst hatte, wieviel Glück er mit ihnen hatte.

Wehmütig dachte sie daran, dass auch sie heute mindestens ein Kind hätte, hätte sie sich damals nicht in einen Mann verliebt, der ihre Gefühle nicht aufrichtig erwiderte.

Noah hatte seine Nachricht beendet und schaute Tess aufmerksam an. „Ich hoffe, sie haben sich heute Morgen Ihnen gegenüber gut betragen.“

Die drei Mädchen in ihren Pyjamas, mit rosigen Wagen und verwuschelten Haaren, erschienen vor Tess’ geistigem Auge. „In erste Linie waren sie etwas erschüttert.“

Er hob fragend die Brauen.

Lächelnd erläuterte Tess: „Lucy hat klargestellt, dass auf der Welcome Ranch keine Frauen übernachten, die nicht zur Familie gehören.“

„Ah, okay.“ Er steckte sein Handy wieder ein. „Wie ich schon sagte, suche ich nicht nach einer neuen Frau.“

Das hatte er ja gestern bereits gesagt. Heute allerdings hinterließ der Satz bei Tess ein seltsames Gefühl, das sie immer befiel, wenn etwas, das sie sich wünschte, in unerreichbare Ferne rückte. So wie mit ihrem Ex, mit dem sie sich nach ihrer anstrengenden Ausbildung eine ruhige, glückliche Zukunft gewünscht hatte und die Familie, nach der sie sich immer gesehnt hatte.

Leider hatte er andere Vorstellungen und Pläne verfolgt.

Noahs Handy meldete den Eingang einer Nachricht. Er zog es wieder hervor, las sie und lächelte. „Mein Bruder Gabe wohnt nur einige Ecken weiter. Er bringt uns gleich ein paar Outdoor-Verlängerungskabel vorbei.“

„Wie nett von ihm!“ Tess schloss die Haustür auf und trat vorsichtig ein. Drinnen war es genauso eiskalt und roch modrig wie bei ihrem ersten Besuch.

„Die Spinnen waren fleißig“, stellte Noah fest.

Leider hatte er recht: Überall waren neue Netze gesponnen.

Hoffentlich war das kein schlechtes Omen!

4. KAPITEL

„Wollen Sie eine Pause machen?“, fragte Noah.

Erschöpft nickte Tess und strich ihre honigfarbenen Locken zurück.

Das von außen malerische Haus glich von innen eher dem Domizil eines Messies. Und obwohl sie und Noah seit über einer Stunde überall Spinnennetze entfernt und Dreck und Unrat zusammengekehrt hatten, schien es einfach nicht weniger zu werden.

Noah kam zu ihr und sah das verräterische Glitzern in ihren Augen. „Irgendwie komme ich mir vor, als müssten wir das Deck der Titanic wiederherrichten.“ Sie mühte sich ein Lächeln ab.

Er widerstand dem Impuls, sie einfach in die Arme zu nehmen und zu trösten. „Vielleicht sollten wir erstmal ein oder zwei Zimmer ausräumen, um einfach Platz zu schaffen?“, schlug er stattdessen vor.

„Ja, kann sein.“

Trotz allem genoss er ihre Nähe. „Fällt es Ihnen schwer, hier etwas auszusortieren?“

Entschlossen schüttelte Tess den Kopf. „Nein. Ich will nur zwei Sachen behalten: Die eiserne Gusspfanne in der Küche, die mit Sicherheit meiner Großmutter gehört hat. Und dann die Angelköder, die mein Onkel gebastelt hat, und eine der Schachteln, in denen er sie aufbewahrt. Alles andere kann verschenkt und der Rest entsorgt werden.“

„Bis wann soll das alles erledigt sein?“

Als ihre Blicke sich trafen, wurde Tess erneut ganz warm. „Am besten bis gestern.“

Die Mittagssonne, die durch die schmutzigen Fenster, fiel, verlieh ihrem Haar einem goldenen Schimmer. Was wohl passieren muss, damit auch Tess so eine verrückte Sehnsucht verspürt wie ich gerade? fragte sich Noah und ergriff instinktiv ihre Hand. „Und wenn ich dafür sorgen könnte?“

Die Mundwinkel ihrer schönen vollen Lippen hoben sich ein wenig. „Im Ernst?“

Wie gern hätte er sie jetzt geküsst! Stattdessen atmete er tief durch. „Na ja, nicht gerade gestern, Zeitreisen habe ich bisher noch nicht hingekriegt.“ Um ihr nicht zu nahe zu treten, ließ er ihre Hand wieder los, wenn auch ungern. „Aber ich könnte wahrscheinlich dafür sorgen, dass das Haus noch heute ausgeräumt wird.“

Sie stemmte die Hände in die Hüfte, was die sanften Kurven ihrer Brust betonte. „Haben Sie etwa eine Hotline zu Entrümplern und Spendensammlern?“

„So ähnlich. Sechs meiner sieben Geschwister wohnen in Laramie County. Und meine Schwester, die weiter weg wohnt, ist an diesem Wochenende mit Mann und Zwillingen zu Besuch auf der Ranch meiner Eltern.“

„Aber trotzdem … Das ist verdammt kurzfristig.“

Was muss ich noch tun, um ihre Schutzmauer zu überwinden? Und meine eigene gleich dazu? „Lassen Sie mich raten: Sie wollen niemandem Umstände machen.“

„Das stimmt“, räumte sie widerstrebend ein.

Er blickte tief in ihre Augen. „Wie wäre es denn damit: Ich sende der Familie eine Nachricht und frage nach Freiwilligen. Und dann schauen wir, was passiert.“

„Einfach unglaublich!“ Tess winkte dem Schädlingsbekämpfer hinterher, der rückwärts aus ihrer Einfahrt fuhr. Über das ganze Gesicht strahlend ging sie mit Noah ins Haus zurück. Alle Räume waren entrümpelt und ausgefegt, und das Haus erschien auf einmal viel geräumiger. „Ich kann einfach nicht fassen, dass all dies in nur fünf Stunden passiert ist!“

Auch Noah sah sich anerkennend um. „Ist meine Familie nicht fantastisch?“

„Das ist sie wirklich!“ Nur Minuten nach Noahs Hilferuf waren die ersten Familienmitglieder aufgetaucht. Seine Schwägerin Allison, Lifestyle-Bloggerin, hatte einen Blick dafür, was von den Sachen noch verwendbar war. Schwager Zach war mit dem Lieferwagen seiner Schreinerei gekommen, andere mit Pick-ups und SUVs. Die Frauen hatten drinnen die Sachen sortiert und die Männer alles hinausgetragen, wobei viel geredet und gelacht wurde. Und alle hatten Tess in ihrer Gemeinschaft herzlich willkommen geheißen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben bekam Tess eine Ahnung davon, wie ist, Teil einer großen liebevollen Familie zu sein, Menschen zu haben, auf die man sich verlassen konnte, selbst kurzfristig. Als Kind einer alleinerziehenden Mutter in Texas aufgewachsen, das seine einzigen Blutsverwandten – ihren Onkel und ihre Großmutter – nie persönlich kennengelernt hatte, hatte Tess früh lernen müssen, sich nur auf sich selbst und ihre Mutter zu verlassen. Nach Mutters Tod war da ihr Exfreund Carlton gewesen; doch nachdem die Beziehung mit ihm kaputt war, es waren ihr nur Bekannte geblieben, die alle mit ihrem eigenen Leben beschäftigt gewesen waren. Nun plötzlich von so vielen warmherzigen, großzügigen Menschen umgeben zu sein, war eine Offenbarung.

Tess setzte sich neben Noah auf die Treppenstufen, bedacht, ihn nicht zu berühren, was gar nicht so einfach war neben seiner großen männlichen Statur. Jeder hatte eine Wasserflasche in der Hand, die eines der Geschwister mitgebracht hatte. „Du bist aber offensichtlich nicht wirklich überrascht, wie schnell sie das geschafft haben, oder?“, fragte sie.

Er drehte sich zu ihr, wobei seine breiten Schultern sie streiften. „Als die Mädchen und ich vor einigen Jahren aus Kalifornien hierher zurückzogen, haben sie das auch für uns getan. In nicht mal einem Tages waren all unsere Sachen ausgepackt und weggeräumt. Daher wusste ich, dass wir es schaffen können, wenn wir alle zusammenarbeiten.“

„Helfen sie dir auch jetzt noch?“ Tess hatte all seine Geschwister kennengelernt bis auf Mackenzie, die seiner Mutter bei den Vorbereitungen für das Familiendinner am Abend half.

„Ja. Wir helfen uns alle gegenseitig, wobei ich als einziger Alleinerziehender mit meinen drei kleinen Töchtern zumindest im Moment wohl mehr nehme als gebe. Aber die Zeiten werden sich ändern und dann werde ich ihnen alles zurückgeben, was sie jetzt für mich tun.“

Sie betrachtete sein schönes Gesicht. „Was tun sie denn so für dich?“

„Meine Brüder helfen mir bei allem, was man nur zu mehreren erledigen kann, wie die Weihnachtsdeko draußen anzubringen oder Heu für die Scheune zu machen. Meine Schwestern helfen mir beim Shoppen von Kinderklamotten, weil die Mädels meinen, ich hätte keine Ahnung, was hübsch ist und was nicht.“ Er verzog sein Gesicht wie ein wütendes kleines Mädchen.

Tess lachte und musste dem Impuls widerstehen, nach seiner Hand zu greifen. „Und sonst noch?“

„Wir bilden eine Fahrgemeinschaft, damit ich unter der Woche nicht zweimal am Tag in die Stadt fahren muss. Außerdem kochen meine Eltern und Geschwister auch schon mal was für uns mit und bringen es vorbei. Und die Mädchen sind öfter zum Spielen oder Übernachten bei ihnen.“

„Das klingt wirklich wunderbar.“

„Ist es auch.“

Obwohl sie sehr froh war, dass er hier bei ihr war, wurde sie unruhig, stand auf und begann, auf und ab zu gehen. „Ich werde mir etwas überlegen, womit ich ihnen allen danken kann.“

Noah erhob sich ebenfalls und warf seine inzwischen leere Wasserflasche in Karton, der vorübergehend als Plastikmüll-Sammler diente. „Sie erwarten keine Gegenleistung, außer vielleicht einem Dankeschön. Und das hast du ja bereits gesagt.“

Trotzdem war Tess entschlossen, sich etwas einfallen zu lassen. Später.

„Und nun?“, fragte Noah.

Ein Blick auf die Uhr sagte Tess, dass es bereits fünf war. Eilends zog sie ihr Handy hervor. „Ich muss meine Zimmerreservierung in San Antonio absagen!“. Mit zwei Klicks auf der Website des Hotels war das erledigt.

Noah hob die Brauen. „Bleibst du heute Nacht etwa hier?“

Sie ging hinüber zum Kamin und kniete sich davor. Holz hatte sie keines, aber sie wusste, wo sie welches kaufen konnte. Ihre Selbstversorger-Mentalität kam wieder hervor. „Das habe ich vor.“ Sie zog am Griff der Lüftungsklappe des Kamins, doch die klemmte.

„Lass mich mal!“ Noah kniete sich neben sie und zog einmal kräftig an dem Griff. Die Klappe öffnete sich mit einem kreischenden Geräusch, als sei sie eingerostet.

„Das klingt nicht gut“, stellte Tess widerstrebend fest.

„In der Tat.“ Noch immer auf dem Boden, schaltete er die Taschenlampe seines Handys ein und leuchtete in den Kaminschacht. Lautes Flügelschlagen und mehrere Piepsgeräusche waren das Resultat. Noah und Tess zogen unwillkürlich die Köpfe ein. Glücklicherweise entwich sich der Vogel – oder vielleicht auch mehrere – nach oben anstatt nach unten.

„Guck mal!“, forderte Noah Tess auf. Sie lehnte sich zu ihm hinüber, und ihr Blick folgte dem Lichtstrahl. „O nein, ein Nest!“ Offenbar hatten sich die tierischen Hausbesetzer auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet.

Noah leuchtete die Wände ab. „Und außerdem eine ganze Menge Ruß. Hier muss erstmal der Schornsteinfeger kommen, bevor du ein sicheres Feuer anzünden kannst.“

Seufzend barg Tess ihr Gesicht in den Händen.

Noah stand auf und streckte die Hand aus. „Komm!“

Das es albern gewesen hätte, seine Hand auszuschlagen, griff sie zu und spürte sofort wieder dieses Prickeln, das sich von ihren Fingern über ihren ganzen Körper ausbreitete. Rasch ließ sie ihn los. „Vielleicht finde ich im Kaufhaus einen richtig warmen Schlafsack, dann muss ich vielleicht heute Nacht gar nicht heizen.“

„Oder …“, er schaute sie liebevoll an, „… du bleibst bei uns, bis dein Haus wirklich bewohnbar ist und deine Sachen aus Denver hier sind. Es sei denn, die Welcome Ranch ist dir zu kalifornisch und du möchtest lieber texanischer untergebracht werden“, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Tess rollte mit den Augen. „Du weißt, dass es nicht darum geht!“ Sie seufzte. „Ich möchte nur niemandem Umstände machen.“

„Dann machen wir doch einen Deal: Du schaust zweimal täglich nach Miss Coco und ihrem Fohlen, bis das auf der Welt ist und es ihm gutgeht – und die Mädchen und ich bieten Dir eine Unterkunft und so viel Privatsphäre, wie du möchtest.“

Unschlüssig nagte sie an ihrer Unterlippe. Diese Absprache fiele klar zu ihrem Vorteil aus, was ihrem Anspruch, niemandem zur Last zu fallen, widersprach. Andererseits wäre es einfach wunderbar, ihren neuen Job anzutreten, ohne gleichzeitig ihr Haus bewohnbar machen zu müssen.

Sie blickte ihn forschend an. „Dir ist aber schon klar, dass wir hier vermutlich von einigen Wochen reden?“ Eine lange Zeit für einen Hausgast, besonders, wenn man ihn erst seit vierundzwanzig Stunden kennt. Dabei erschien Noah ihr inzwischen vertrauter erschien als die meisten Menschen, die sie schon ihr Leben lang kannte.

Sein schöner Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. „Mindestens!“

O je, das kann gefährlich zu werden! dachte Tess. Sehr gefährlich sogar, falls sie dieser Anziehung zwischen ihnen jemals nachgeben und sich zu etwas so Verrücktem hinreißen ließe, wie ihn zu küssen. Oder zuzulassen, dass er sie küsste.

Aber schließlich waren sie beide erwachsen und würden schon vernünftig sein.

„Also …?“, hakte er hoffnungsvoll nach.

„Würde dir das wirklich nichts ausmachen?“

„Dann hätte ich es nicht angeboten.“

„Bist du sicher, dass das ein fairer Deal für dich ist?“

„Gemessen an meiner Nervosität hinsichtlich meiner ersten und vermutlichen einzigen Zwergesel-Geburt ist das mehr als fair“, versicherte er mit todernster Miene.

Angesichts seiner gespielten Verzweiflung konnte sie sich ein Lachen nicht verkneifen. „Okay, ich nehme an. Aber jeder macht sein Ding. Euer Alltag soll bitte ganz normal weiterlaufen und ich werde mich bemühen, euch nicht im Wege zu sein.“

„Das klingt doch gut. Einstweilen bist du heute Abend erst mal zu unserem Familien-Dinner eingeladen. Die meisten Familienmitglieder kennst du ja schon.“

Wieder war Tess hin- und hergerissen. Noahs Verwandte waren wirklich total nett, und die Aussicht auf einen solchen Abend war höchst verlockend. Andererseits hatte sie sich schon einmal in einer Situation emotionaler Bedürftigkeit verliebt und auch wenn die Beziehung ihr Studium, das Zusammenziehen und ihren ersten Job überstanden hatte, war die Verlobung nicht gut ausgegangen.

Diesen Fehler durfte sie nicht wiederholen.

„Vielen Dank für die Einladung, aber ich muss heute Abend unbedingt noch was waschen und einiges mehr.“ Verflixt, schon wieder ein Fallstrick! Eilig setzte sie hinzu: „Aber falls es dir nicht recht sein sollte, dass ich deine Waschmaschine und deinen Trockner benutze … Ich habe einen Waschsalon in der Stadt gesehen, da könnte ich hinfahren.“

„Sei nicht albern! Als ich sagte, du sollst dich wie zu Hause fühlen, habe ich das auch genau so gemeint!“

„Du bist nicht fair, Daddy!“

O je! dachte Tess, als das schrille Stimmchen näherkam. Sie saß mit ihrem Laptop am Küchentisch und checkte ihre E-Mails.

Lucy war im Anmarsch auf die Küche. „Ich gehe immer eine halbe Stunde später ins Bett als die Zwillinge!“

„Normalerweise ja“, gab Noah ruhig zurück. Er schloss die Tür hinter sich und schob die müde aussehenden Zwillinge vor sich her. Ein Rucksack hing über seiner Schulter, und in der Hand trug er ein großes Paket in Alufolie, vermutlich Reste vom Dinner.

Avery und Angelica drehten sich zu ihm um. „Ich will heute Abend nicht mehr baden“, sagte Avery und gähnte. „Nur noch Gesicht waschen und Zähne putzen.“

Wie meistens, folgte umgehend das Echo von Angelica: „Ich auch!“

Inzwischen war Lucy in die Küche gestapft und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.

Noah stellte das Alu-Paket auf die Arbeitsplatte und zog ein Tablet aus dem Rucksack mit den Kindersachen. „Okay, Lucy, du hast noch zwanzig Minuten Computerzeit. Aber dann gehst du ohne Wenn und Aber ins Bett. Klar?“

Autor

Nancy Robards Thompson
<p>Nancy Robards Thompson, die bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, lebt in Florida. Aber ihre Fantasie lässt sie Reisen in alle Welt unternehmen – z. B. nach Frankreich, wo einige ihrer Romane spielen. Bevor sie anfing zu schreiben, hatte sie verschiedene Jobs beim Fernsehen, in der Modebranche und in der...
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