Bianca Extra Band 87

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WEIL ES NUR EINE GROSSE LIEBE GIBT von KATHY DOUGLASS

Donovan ist zurück! Als Ravens große Liebe nach zehn Jahren plötzlich wieder auftaucht, steht ihre Welt Kopf. Trotz ihrer Wut, dass er einst spurlos verschwand, fühlt sie sich insgeheim sofort zu ihm hingezogen. Doch gerade erst hat sie den Heiratsantrag eines anderen angenommen …

ZUM SCHEIN VERLOBT - UND VERLIEBT? von BRENDA HARLEN

Für seine süße, sexy Nachbarin Alyssa würde der überzeugte Junggeselle Jason alles tun - sogar kurzfristig ihren Verlobten spielen. Ein Fehler? Alyssa überrascht ihn mit einem so verführerischen Kuss, dass es sich jäh so anfühlt, als sei ihre Scharade wahr …

VERBOTENE GEFÜHLE FÜR DICH von LAUREL GREER

Zach kann es nicht länger leugnen: Zwischen Cadence und ihm prickelt es verlockend. Allerdings ist die hübsche Singlemom die Witwe seines besten Freundes! Er hat versprochen, sich um sie zu kümmern - mehr nicht. Seine romantischen Gefühle stürzen ihn in einen Gewissenskonflikt …

EINE NACHT MIT SÜSSEN FOLGEN von NANCY ROBARDS THOMPSON

Kaum gesteht Lucy ihrem Jugendschwarm Zane, dass sie nach einer einzigen leidenschaftlichen Nacht sein Kind unter dem Herzen trägt, will er heiraten. Auf die drei magischen Worte wartet sie jedoch vergebens. Was jetzt? Ohne Liebe kann sie nicht leben - aber ohne Zane auch nicht …


  • Erscheinungstag 25.08.2020
  • Bandnummer 87
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748135
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kathy Douglass, Brenda Harlen, Laurel Greer, Nancy Robards Thompson

BIANCA EXTRA BAND 87

KATHY DOUGLASS

Weil es nur eine große Liebe gibt

Raven war und ist Donovans Traumfrau! Aber wird sie ihm je verzeihen, dass er sie einst ohne ein Wort des Abschieds verlassen musste? Was kann er tun, damit sie ihrer Liebe eine zweite Chance gibt?

BRENDA HARLEN

Zum Schein verlobt – und verliebt?

Spontan küsst Alyssa ihren attraktiven Nachbarn Jason und gibt ihn als ihren Freund aus. Natürlich nur, um den Verkupplungsversuchen ihrer Mutter ein Ende zu bereiten! Bis ungeahnte Gefühle erwachen …

LAUREL GREER

Verbotene Gefühle für dich

Nach dem Tod ihres Mannes kann Cadence es gut gebrau-chen, dass dessen bester Freund Zach ihr eine Schulter zum Anlehnen bietet. Wenn es nur nicht so gefährlich sinnlich zwischen ihnen knistern würde!

NANCY ROBARDS THOMPSON

Eine Nacht mit süßen Folgen

Den Glauben an ein Happy End hat Zane nach seiner Scheidung verloren. Doch als Lucy ihm die süßen Folgen ihres One-Night-Stands gesteht, macht er ihr sofort einen Heiratsantrag. Nur aus Pflichtgefühl?

1. KAPITEL

Alles sieht tatsächlich aus wie früher.

Nach zehn Jahren in der Fremde, in denen er sich gefragt hatte, ob er die Ranch, auf der er geboren und aufgewachsen war – die Cordero-Ranch –, jemals wiedersehen würde, kehrte Donovan Cordero nach Hause zurück.

Es überraschte ihn schon, dass sich nichts verändert zu haben schien. Das große Haus war noch immer im Weißton gestrichen, den seine Mutter so schätzte. Die Fensterläden waren noch immer schwarz. Beides zusammen bildete den perfekten Hintergrund für den prächtigen Blumengarten, in dem seine Mutter jeden Tag mehrere Stunden verbracht hatte. Zu seinen ersten Erinnerungen gehörte es, mit ihr zusammen Unkraut in den Blumenbeeten zu jäten und alles über Pflanzen zu erfahren.

Später war er seinem Vater über die Ranch gefolgt und hatte ein schlechtes Gewissen bekommen, weil er seine Mutter auf diese Weise vernachlässigte, doch wenn er sich dafür entschuldigte, lachte diese nur und schickte ihn zum Vater zurück. Nachdem er den Tag über viel über Pferde und Kühe gelernt hatte, rannte er ins Haus und zu seiner Mutter, die ihn jedes Mal umarmte und küsste. Als er älter geworden war, verbrachte er die meiste Zeit mit seinen drei besten Freunden – auf der Double J Ranch mit Jericho Jones sowie Tony Wilson und Billy Campbell. Egal, wie spät er heimkehrte – seine Mutter wartete jeden Abend mit offenen Armen auf ihren Jungen, um ihn daheim willkommen zu heißen.

Würde sie das auch jetzt tun? Heute? Sie hatte die vergangenen zehn Jahre geglaubt, dass er tot sei.

Aus Furcht um ihr Leben und das der anderen, die ihm nahestanden, hatte er seine eigene Mutter in diesem Irrglauben gelassen. Damals war er jung und vollkommen verängstigt gewesen und hatte keinen anderen Ausweg gesehen, als unterzutauchen. Was wäre ihm anderes übrig geblieben, nachdem er miterlebt hatte, wie Karl Rivers kaltblütig einen anderen Mann getötet hatte? An wen hätte er sich wenden können? An den Sheriff? Wohl kaum, denn der Sheriff hatte neben Rivers gestanden und bei der Tat zugesehen. Zweifellos hatte der Sheriff mitgeholfen, die Sache zu vertuschen.

Bis heute erinnerte Donovan sich an das Entsetzen, das ihn packte, als die beiden ihn bemerkt hatten. Er flehte um sein Leben und schwor, keiner Menschenseele zu erzählen, was er gerade gesehen hatte. Er war fest davon überzeugt, dass sie ihn umbringen würden. Dann ließ Rivers seine Waffe allerdings sinken und erklärte ihm, ihn am Leben zu lassen, weil sich Donovan in der Schule immer für seinen Sohn Carson Rivers eingesetzt hatte. Allerdings stellte Rivers die Bedingung, dass Donovan sofort die Stadt verließ und niemals zurückkehrte. Wenn er jemandem erzählte, was er gesehen hatte, würde Rivers nicht nur ihn und seine Eltern töten, sondern auch seine Freundin Raven Reynolds – die Leiche, die in einer Blutlache auf der Erde lag, bewies, dass Rivers seine Drohung ernst meinte.

Karl Rivers war in North Carolina ein mächtiger Mann gewesen, der sowohl Demokraten als auch Republikanern Geld spendete und mit dem Gouverneur und einem US-Senator verwandt war. Als Sohn eines einfachen Ranchers war Donovan ihm sowieso nicht gewachsen. Also war er geflüchtet und hatte seine Eltern und Raven zurückgelassen, um sie und sich selbst vor einem gewaltsamen Tod zu bewahren.

Vor drei Tagen hatten die großen Fernsehsender berichtet, dass Rivers einem Herzinfarkt erlegen war. In ohnmächtigem Zorn hatte Donovan hören müssen, wie Politiker und Politikerinnen aus dem ganzen Land dem Verstorbenen Respekt zollten und sein Lebenswerk lobten. Niemand würde jemals erfahren, was für ein Ungeheuer der Verstorbene gewesen war. Dann kam die Erleichterung, denn jetzt konnte Donovan endlich nach Hause zurückkehren, ohne das Leben seiner Angehörigen zu riskieren.

Also hatte er den Job auf der Ranch aufgegeben, auf der er seit sieben Jahren unter falschem Namen arbeitete. Obwohl er Della und Gabe Turner sehr mochte, wollte er so schnell wie möglich nach Hause. Er hatte sich von den Männern und Frauen verabschiedet, die seine Freunde geworden waren, seinen Pick-up beladen und war nach Osten gefahren.

Jetzt sah er auf die Uhr: zwei Minuten vor sechs. Er saß seit drei Minuten in seinem Pick-up und fühlte, wie heftig sein Herz klopfte. Auf der Interstate 20 quer durch mehrere Bundesstaaten hatte er sich noch gut gefühlt, aber als er die Grenze zu North Carolina passierte, war er immer nervöser geworden. Je näher er seinem alten Zuhause kam, desto unsicherer hatte er sich gefühlt.

Abendessen gab es bei den Corderos immer um sechs, und Donovans Vater kam niemals zu spät, selbst wenn die Arbeit noch nicht erledigt war. Daher wusste Donovan, dass er gleich beiden Elternteilen begegnen würde.

Er atmete tief durch, stieg aus dem Wagen und rannte die Stufen zur Veranda hinauf. In seinen neunzehn Jahren in diesem Haus hatte er kein einziges Mal an der Tür geläutet, und es jetzt zu tun, fühlte sich eigenartig an. Aber nachdem er so lange fort gewesen war, hätte er es als falsch empfunden, einfach einzutreten und zu fragen, was es zum Abendessen gab. Sein Herz schlug schneller, als er Schritte hörte. Als sie näher kamen, hielt er unwillkürlich die Luft an.

„Ja?“

Es war die Stimme seiner Mutter. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er schaute durch die Fliegennetztür. „Ma?“

Sie schrie leise auf. Eine Sekunde lang glaubte er, sie würde in Ohnmacht fallen, aber dann hielt sie sich an der Tür fest. Tränen rannen über ihre glatten Wangen. „Donovan! Du bist wieder da. Mein kleiner Junge ist zu Hause.“

Er riss die Tür auf und zog seine schluchzende Mutter an sich. „Ich bin zu Hause, Ma. Ich bin zu Hause.“

„Lena, wer ist es?“ Donovans Vater kam nach vorn.

Donovan hob den Kopf. „Ich bin es, Dad.“

Sein Vater stieß einen Freudenschrei aus und legte die Arme um Donovan und seine Ehefrau. „Mein Sohn! Du bist zu Hause. Darauf habe ich zehn Jahre gewartet.“

Sie hielten sich lange fest, gingen Arm in Arm ins Wohnzimmer und ließen sich auf das Sofa fallen, in das seine Mutter sich im Möbelgeschäft auf Anhieb verliebt hatte.

Donovan sah sich um. Alles war herrlich vertraut. Die Möbel standen exakt so wie früher, und das Familienfoto hing noch immer über dem Kamin.

„Ich wusste, dass du nach Hause kommst!“, sagte seine Mutter und tupfte sich die Augenwinkel mit dem Saum ihrer Bluse ab. „Alle haben gesagt, dass du tot bist und dass wir nach vorne schauen müssen, aber ich wusste, dass du lebst. Ein Mutterherz weiß so etwas.“

„Ein Vaterherz auch.“

Donovan lachte.

„Du kommst gerade rechtzeitig zum Abendessen.“ Donovans Mutter stand auf, nahm seine Hand und zog ihn in die Küche.

Er wusch sich die Hände und setzte sich auf seinen alten Stuhl. Seine Mutter hatte einen Braten mit Gemüse zubereitet, eins seiner Lieblingsgerichte. Aber egal, was es gegeben hätte, er wäre begeistert gewesen. In all den Jahren hatte er an vielen Tischen gegessen, aber nichts war mit seinem Platz an der vernarbten Eichenholzplatte zu vergleichen.

Beim Essen sprachen sie über alles und nichts. Sie waren viel zu gerührt, um ein ernstzunehmendes Gespräch zu führen, und wischten sich immer wieder die Freudentränen ab. Danach tranken sie Kaffee mit jeder Menge Zucker, bis sie zur Frage kamen, die noch niemand gestellt hatte.

„Warum bist du damals verschwunden, mein Junge?“, fragte Lena leise.

Donovan hatte gewusst, dass dieser Moment eintreten würde. Er hatte sich überlegt, wie er antworten konnte, ohne die schreckliche Vergangenheit zur Sprache zu bringen. Aber jetzt, da er die Liebe in den Augen seiner Eltern sah, konnte er die beiden nicht anlügen. Er schätzte sie zu sehr, und nach all den Jahren der Sorge verdienten sie nichts als die Wahrheit. „Ich habe etwas gesehen, was ich nicht hätte sehen sollen – einen Mord. Der Täter hat gedroht, uns und Raven etwas anzutun, wenn ich nicht sofort die Stadt verlasse und niemals wieder zurückkehre. Also bin ich gegangen.“

„Oh mein Gott“, flüsterte Lena.

„Bist du jetzt in Sicherheit?“, fragte Mario und stand auf. Zweifellos wollte er eine der Waffen holen, die er im Safe in seinem Arbeitszimmer aufbewahrte.

„Ich glaube schon. Der Mörder ist zumindest tot.“

„Ich habe damals überhaupt nichts von einem Mord gehört.“ Mario setzte sich wieder. „Warum bist du nicht zu mir gekommen? Wir hätten zusammen zum Sheriff gehen können.“

Donovan schüttelte den Kopf. „Nein, das hätten wir nicht.“

Es dauerte nur eine Sekunde, bis sein Vater begriff, was Donovan andeutete.

„Oh, ich wusste immer, dass der Typ eine Schlange ist!“, sagte Mario zornig. „Kein Wunder, dass er vor drei Jahren unter verdächtigen Umständen gestorben ist. Wer weiß, wie viele Verbrechen er vertuscht hat?!“

„Das spielt jetzt keine Rolle mehr.“ Lena streichelte Donovans Wange. „Du bist zu Hause, nur darauf kommt es an.“ Sie sprang auf. „Und du musst müde sein, oder? Dein Zimmer wartet auf dich.“

Donovan war erschöpft, aber viel zu aufgedreht, um schlafen zu können. Dennoch folgte er den beiden. Die Zimmertür war geschlossen, aber als er sie öffnete, kam es ihm wie eine Reise in die Vergangenheit vor. Sein Zimmer sah genauso aus, wie er es zurückgelassen hatte. Nur das Bett war nicht bezogen. Seine Mutter nahm Laken aus dem Schrank und eilte hinüber.

„Das kann ich doch machen, Ma“, sagte Donovan.

„Ich weiß schon, aber ich habe mir so oft ausgemalt, wie du wieder in diesem Bett schläfst. Lass mich das für dich machen.“

Donovan verstand, warum es ihr so wichtig war, und gab nach. Während sie das Bett bezog, ging er umher und berührte all die Dinge, die ihn an seine Jugend erinnerten. Der altmodisch wirkende Computer stand noch auf dem Schreibtisch, zusammen mit einem aufgeschlagenen Comicheft.

„Fertig.“ Seine Mutter strahlte ihn an.

„Danke, Ma.“ Er drückte sie an sich und brachte sie zur Tür. Sie hatte ihn nicht mehr zugedeckt, seit er sieben oder acht Jahre alt gewesen war, aber er sah ihr an, wie gern sie es jetzt wieder täte, wenn er sie nur ließe. Er küsste sie auf die Stirn. „Wir sehen uns morgen früh.“

Nach einer letzten Umarmung wünschten seine Eltern ihm eine gute Nacht, und er schloss die Zimmertür hinter ihnen. Donovan nahm ein Foto von seinem Bücherregal: Raven. Sein Herz schlug schneller, als er das Mädchen betrachtete, das er liebte, seit er sechzehn war. Mit ihrer schwarzen Haut und den großen dunklen Augen war sie eine Schönheit gewesen. Ihr langes, dichtes Haar war rabenschwarz und passte bestens zur Bedeutung ihres Vornamens Raven.

Ihren Eltern gehörte die Nachbarranch. In den ersten Jahren seiner Kindheit war Raven für ihn nur ein Kumpel gewesen. Ihre Mütter waren befreundet, also spielten Raven und er zusammen. Als er neun oder zehn war, gründeten er und seine drei besten Freunde Jericho, Tony und Billy einen Klub nur für Jungen. Er erinnerte sich an die Tränen in Ravens Augen, als er ihr erklärte, dass Jungen und Mädchen nicht zusammen spielten und dass sie beide deshalb nicht länger miteinander befreundet sein konnten.

Als er sechzehn wurde, sah er Raven am Zaun entlangreiten, der die beiden Ranches trennte. Er rief ihren Namen, aber sie ritt davon. Er wollte sie einholen, aber sie war eine großartige Reiterin und ließ ihn in einer riesigen Staubwolke zurück. Verzaubert von Ravens Schönheit, war er entschlossen, ihre Freundschaft wiederzubeleben. Zwei Tage später nahm er all seinen Mut zusammen und erschien unangemeldet vor ihrer Haustür. Sie war zuerst völlig unbeeindruckt und nahm ihn erst dann richtig wahr, als er ihr einen Strauß pinkfarbener Rosen überreichte. Sie lächelte, und sein Herz machte einen Freudensprung.

An jenem Tag saßen sie stundenlang auf ihrer Terrasse, und Ravens Mutter Marilyn lud ihn zum Abendessen ein. Als er danach nach Hause ging, wusste er, dass Raven das Mädchen war, das er heiraten würde. Raven war zwar nicht überzeugt, dass er es ernst meinte, und es kostete ihn große Mühe, ihr Herz zu gewinnen. Am Ende des Sommers aber war es ihm gelungen. Sie waren unzertrennlich gewesen – bis zu dem Tag, an dem er sie zurücklassen musste, ohne auch nur ein Wort zum Abschied sagen zu können.

Ob sie inzwischen verheiratet war? Als jüngstes von fünf Kindern hatte sie immer eine eigene große Familie gewollt. Nur weil seine Eltern auf ihn gewartet hatten, musste Raven es nicht auch getan haben.

Donovan zog die Vorhänge zurück und schaute aus dem Fenster. Der Vollmond und die Sterne erhellten die Nacht. Plötzlich sehnte er sich danach, mehr von der Cordero-Ranch zu sehen. Auf Zehenspitzen ging er nach unten, um seine Eltern nicht zu wecken, und nahm seine Stiefel mit auf die hintere Veranda. Rasch zog er sie an und eilte zu den Stallungen.

Er zog das Tor auf und ging langsam den Mittelgang entlang. An der dritten Box blieb er stehen. Zeus. Sein Pferd. Er hatte Zeus zum fünfzehnten Geburtstag bekommen. Er streckte den Arm aus und streichelte den Kopf seines Pferds. Zeus schnaubte und stampfte aufgeregt mit den Hufen. Als sich der Hengst beruhigt hatte, führte Donovan ihn aus dem Stall und sattelte ihn. Dann stellte er den Fuß in den Steigbügel und schwang sich hinauf.

Er und Zeus waren oft so unterwegs gewesen. Als er und Raven zusammen gewesen waren, hatten sie einen besonderen Treffpunkt gehabt. Er befand sich auf dem Land der Corderos, aber nicht allzu weit von der Ranch der Reynolds entfernt an einem plätschernden Bach. Donovan hatte beiderlei Initialen in den Stamm eines der vielen großen Bäume geschnitzt. Die Inschrift R + D war keine sehr originelle Idee gewesen, aber Raven hatte trotzdem vor Rührung geweint.

Als er sich jetzt dem Bach näherte, hörte er Hufgetrappel und sah, wie in der Ferne jemand davonritt. Ob es ein Mann oder eine Frau war, konnte er nicht erkennen, und als er sein Ziel erreichte, dachte er auch schon nicht mehr daran. Er war hier, um einen Ort wiederzuentdecken, der ihm einmal viel bedeutet hatte.

Donovan stieg ab und ging zum Baum. Obwohl es ein Jahrzehnt her war, hätte er das in die Rinde geschnitzte Herz wahrscheinlich mit verbundenen Augen gefunden. Er strich über die Buchstaben und setzte sich darunter. Morgen würde er die Nachbarranch besuchen und herausfinden, wie es Raven ergangen war.

Sein Pferd wieherte, und er stand auf. Auf einer Ranch begann die Arbeit früh, und er wollte seinem Dad helfen, wie er es immer getan hatte. Nachdenklich stieg er wieder in den Sattel und ritt nach Hause.

Raven Reynolds schlich in die Küche und hoffte, dass sie es in ihr Zimmer schaffen würde, ohne jemandem zu begegnen. Nicht, dass sie etwas Verbotenes getan hatte – sie hatte einfach nur keine Lust, mit ihrer Mutter darüber zu diskutieren, wo sie gewesen war. Marilyn Reynolds war nämlich keineswegs naiv und konnte schneller als jeder andere eins und eins zusammenzählen. Eigentlich war es kein Geheimnis, wohin ihre Tochter so spät am Abend geritten war. Als Teenager war sie oft genug erwischt worden, wenn sie von einem Treffen mit Donovan heimkam. Sie beide waren so verliebt gewesen, dass sie es nicht aushielten, eine ganze Nacht getrennt zu sein.

Aber dann war der Nachbarsjunge vor zehn Jahren spurlos verschwunden. Alle Rancher und Einwohner von Sweet Briar, der nächstgelegenen Stadt, hatten nach ihm gesucht und keinerlei Hinweis auf seinen Verbleib gefunden. Es war, als hätte Donovan von einem Tag auf den anderen aufgehört zu existieren. Raven hatte jedoch nie daran gezweifelt, dass er noch lebte, und selbst jetzt konnte sie nicht glauben, dass er tot sein sollte.

Trotzdem war es an der Zeit, nach vorn zu schauen. Selbst wenn Donovan noch am Leben war, würde er wohl nicht zurückkehren. Damit hatte sie sich abgefunden, und sosehr sie ihn auch liebte, sie musste ihm Lebewohl sagen. Sie war davon ausgegangen, es getan zu haben, als sie vor fünf Monaten Carson Rivers’ Heiratsantrag angenommen hatte, doch anscheinend täuschte sie sich. Ein Teil von ihr hielt noch immer an Donovan fest und an der gemeinsamen Zukunft, von der sie beide geträumt hatten. Doch eine Zukunft würde es nicht geben. Wenn sie ehrlich und aufrichtig zu Carson sein wollte und ihrer Ehe eine Chance gab, dann musste sie Donovan für immer hinter sich lassen.

Also war sie heute Abend zu ihrem alten Treffpunkt geritten und hatte beobachtet, wie die Sonne verschwand und der Mond aufging. Eine Erinnerung nach der anderen war ihr gekommen, und sie hatte mehr als nur ein paar Tränen vergossen.

Zum Glück war jetzt niemand in der Küche, und sie schaffte es nach oben in ihr Zimmer, ohne dass jemand sie bemerkte. Sie schaute nach Elias und sah, dass er mal wieder beim Lesen eingeschlafen war. Sie schaltete seine Nachttischlampe aus, markierte die Seite mit einem Lesezeichen und legte das Buch auf das Nachtschränkchen. Seine Mathehausaufgaben machte er äußerst ungern, aber er las mindestens zwei Bücher pro Woche, ohne die Comics einzurechnen, von denen er ein halbes Dutzend verschlang. Sie küsste ihren Sohn auf die Stirn und schloss die Tür leise hinter sich.

In ihrem Zimmer warf Raven sich aufs Bett und schluchzte. Sie hatte geglaubt, die letzten Tränen vergossen zu haben, als sie mit der Hand über die in den Stamm geschnitzten Buchstaben strich – R + D –, aber das war offensichtlich ein Irrtum gewesen. Es waren noch welche da, und als sie ihnen freien Lauf ließ, schwor sie sich, dass dies das letzte Mal war. Sie musste sich zu hundert Prozent auf die Gegenwart und ihre Verlobung konzentrieren und Donovan Cordero endgültig in der Vergangenheit belassen.

2. KAPITEL

„Ich organisiere eine Party!“, sagte Lena und legte drei Scheiben Schinkenspeck auf Donovans schon überquellenden Teller. Er war beim Morgengrauen aufgewacht und aufgestanden, um seinem Vater bei den ersten Arbeiten des Tages zu helfen. Seine Mutter war auch schon wach gewesen und hatte sich fröhlich summend in der Küche zu schaffen gemacht. Sie hatte für sie immer ein herzhaftes Frühstück zubereitet, aber die heutige Portion war mehr, als sie jemals auf den Tisch gestellt hatte.

„Was für eine Party?“, fragte Donovan und hob eine Hand, damit seine Mutter ihm nicht auch noch Kochschinken auftat.

„Na für die Nachbarn und alle in Sweet Briar. Jeder soll wissen, dass du wieder zu Hause bist.“ Lena setzte sich zu ihnen. „Wir könnten groß grillen.“

Donovan überlegte, wie er es ihr ausreden konnte. Er verstand ihre Begeisterung, wollte aber nicht im Mittelpunkt stehen. Am liebsten würde er aus seiner Rückkehr keine allzu große Sache machen. „Vielleicht später. Im Moment wäre es mir zu viel. Ich möchte zur Ruhe kommen und Zeit mit meiner Familie und den besten Freunden verbringen.“

„Ich freue mich nur so sehr, dass du zurück bist, und will es der ganzen Welt erzählen.“

„Ich sage nicht, dass du ein Geheimnis daraus machen sollst. Du kannst es jedem erzählen. Ich möchte nur keinen großen Trubel.“

Seine Mutter seufzte enttäuscht.

„Lena, lass den Jungen erst mal richtig ankommen.“ Mario tätschelte ihre Hand. „Du kannst ja deine Riesenparty planen, damit wir loslegen können, sobald er bereit ist.“

„Na gut“, gab Lena nach.

Beim Essen unterhielten sie sich angeregt. Danach stand Mario auf, und Donovan folgte ihm. Er hatte die letzten zehn Jahre auf anderen Ranches gearbeitet und sich jeden Cent, den er bekam, redlich verdient. Jetzt tat es gut, auf dem Land seiner Familie ebenso hart zu arbeiten. „Wir sehen uns beim Lunch.“

Donovan verbrachte den Vormittag mit seinem Vater und den Rancharbeitern, von denen er nur zwei kannte. Die anderen hatte sein Vater im Lauf der Jahre eingestellt. Mario zahlte einen fairen Lohn und erwartete von seinen Leuten, dass sie ihn sich verdienten. Erst jetzt, nach seiner Zeit in der Fremde, wusste Donovan es zu schätzen, wie sein Vater mit den Männern umging.

Nach dem Lunch fühlte er sich rastlos und beschloss, dass er Raven sehen musste. Er schnappte sich seine Autoschlüssel und den Hut, erzählte seinen Eltern, dass er eine Weile wegbleiben würde, und fuhr zur Ranch der Reynolds. Vielleicht war Raven wie ihre älteren Brüder schon ausgezogen. Sie konnte durchaus verheiratet sein und Kinder haben. Er hätte seine Eltern fragen sollen. Jetzt war es zu spät dafür, aber wenn sie nicht mehr dort lebte, würden ihre Eltern Marilyn und Rudy ihm sicher erzählen, wie er sich mit ihr in Verbindung setzen konnte.

Während der zehnminütigen Fahrt erinnerte Donovan sich an ihre letzte Begegnung. Er hatte sich mit Raven an ihrem ganz besonderen Ort getroffen. Sie wollte ihm etwas erzählen, aber sein Freund Billy Campbell war auf Heimaturlaub von der Armee gewesen und rief Donovan an, bevor Raven ihr Geheimnis mit ihm teilen konnte. Er wollte bei ihr bleiben, aber sie schlug ihm vor, erst einmal zu seinem Freund zu fahren. Er versprach, später bei ihr vorbeizukommen, aber dann war er Augenzeuge des Mords geworden, und sein Leben änderte sich unwiderruflich.

Jetzt wünschte er zum wiederholten Mal, er wäre bei Raven geblieben.

Seitdem waren zehn Jahre vergangen. Ihr letztes Treffen war ihm nicht aus dem Sinn gegangen, aber er bezweifelte, dass es sich bei ihr auch so verhielt. Als er vor dem Haus der Reynolds hielt, sah er, dass sie – anders als seine Eltern – einige Veränderungen vorgenommen hatten. Die Hollywoodschaukel, auf der er und Raven viele angenehme Abende verbracht hatten, war durch dunkelbraune Korbmöbel mit geblümten Polstern ersetzt worden.

Als er läutete, wurde ihm bewusst, dass er zum zweiten Mal an zwei Tagen auf einer Veranda wartete – um jemandem zu erzählen, dass er noch am Leben war. Er überlegte kurz, ob er lieber wieder gehen sollte, aber er hatte Raven seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte sie zu sehr vermisst, um noch länger zu zögern. Er war mit anderen Frauen ausgegangen, hatte aber keiner davon sein Herz geschenkt. Er hatte eine Lüge gelebt, denn er hatte zu niemandem ehrlich sein können, ohne auch dessen Leben in Gefahr zu bringen. Falls er wieder abrupt untertauchen musste, hätte er niemanden mitnehmen können. Obwohl so viel Zeit vergangen war, gab es nur ein Mädchen, das er jemals geliebt hatte.

Die Tür ging auf, und da stand sie: Raven. Sein Herz schlug noch schneller, und er brachte kein Wort heraus.

Sie war noch schöner, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Als Teenager war sie groß und schlaksig gewesen, jetzt war sie zu einer atemberaubenden jungen Frau herangewachsen. Das glatte schwarze Haar hing bis über die Schultern und umspielte die Brüste. Aber es war das Gesicht mit den großen braunen Augen, hohen Wangenknochen und vollen Lippen, das ihn faszinierte.

„Hi. Kann ich Ihnen helfen?“ Obwohl sie ihn fragend musterte, lächelte sie.

Jahrelang hatte er darüber nachgedacht, was er sagen würde, wenn er sie wiedersah. Was er fühlen würde. Jetzt verschwamm sie vor seinen Augen, und er musste heftig blinzeln. Er liebte sie nicht mehr so wie mit neunzehn, aber da war noch etwas – eine Verbindung, die ihn angezogen hatte, obwohl ihr Leben ohne ihn weitergegangen war.

„Sir? Geht es Ihnen gut?“

„Raven.“

Ihre Augen wurden groß, noch größer. Sie starrte ihn an. „Donovan?!“

„Ja.“

Sie erblasste. Dann begann sie zu zittern. Sie streckte die Arme aus und sank wie in Zeitlupe zu Boden. Donovan hielt Raven fest, hob sie hoch, trug sie ins Haus und legte sie aufs Sofa.

Wie hatte er nur so dumm sein können? Unangemeldet aufzutauchen, war egoistisch und rücksichtslos. Nachdem sie zehn Jahre nichts von ihm gehört hatte, musste sie ja glauben, dass er tot war. Er hätte mit ihrer Reaktion rechnen müssen. Selbst seine Mutter, die nie die Hoffnung aufgegeben hatte, war fast in Ohnmacht gefallen.

Er hätte seine Mutter ihre Willkommensparty veranstalten lassen sollen. Dann hätte ihn niemand für ein Gespenst gehalten. Er hatte seiner Mutter zwar gesagt, sie könne jedem erzählen, dass er zurück war, aber er wusste nicht, mit wem sie bisher gesprochen hatte – nicht, dass es jetzt eine Rolle spielte. Klar war, dass Raven nicht dazugehörte.

Das Haar war ihr ins Gesicht gefallen, und er strich es zur Seite. Er ließ sie nicht aus den Augen und wartete. Nach einer Minute zuckten ihre Lider, und sie begann sich zu bewegen. Sie öffnete die Augen und sah ihn an, dann hob sie eine Hand und berührte sein Gesicht. „Du bist es wirklich.“

„Ich bin es wirklich.“

Sie setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Obwohl die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte, wirkte sie noch angeschlagen.

„Mach langsam, lass dir Zeit.“ Donovan atmete den vertrauten Duft ein, als Raven die Arme um ihn legte. Sie roch nach Wind und Sonnenschein und einem Hauch Lavendelseife. Er schloss die Augen und genoss es, sie zu fühlen. Obwohl ihre Körper sich im Lauf des Jahrzehnts verändert hatten, passte sie noch immer perfekt in seine Arme.

Nach einem Moment hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen. Die Freude in ihrem Blick war unmissverständlich. „Seit wann bist du zurück?“

„Seit gestern Mittag.“

Sie berührte sein Gesicht noch einmal, als wollte sie sich davon überzeugen, dass sie nicht träumte. „Wo warst du die ganze Zeit?“

„Ich habe auf Ranches in Texas gearbeitet.“

„Aber du hast nie angerufen.“ Sie klang verwirrt und verletzt.

Er hatte gewusst, dass dies kein einfaches Gespräch sein würde. „Jetzt bin ich wieder da.“ Er wünschte, er könnte ihr den Schmerz nehmen, aber dafür gab es keine Worte. Er wollte ihr die Wahrheit sagen, aber in ihrem Zustand wäre es wohl zu schockierend. Er würde es nachholen, sobald sie wieder bei Kräften war.

Sie schnaubte. „Mehr hast du nicht zu sagen? Als dass du wieder da bist?“ Sie stand auf und taumelte.

Er griff nach ihrem Ellbogen. „Ja“, erwiderte er. „Es ist gut, dich zu sehen.“

Sie riss sich los. „Du musst gehen. Sofort.“

„Raven?“

„Hast du eine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht habe?! Die ganze Stadt hat dich Tag und Nacht gesucht. Jericho, Tony und Billy sind kreuz und quer durchs Land gefahren, um Hinweise zu finden. Deine Eltern haben Flugblätter verteilt. Die Kirche hat Geld für eine Belohnung gesammelt. Mr. Rivers hat fünfundzwanzigtausend Dollar gespendet, damit wir auf fünfzigtausend kommen.“

Donovan erstarrte, als er Karl Rivers’ Namen hörte. Der alte Heuchler. Zweifellos hatte er sein Geld nur investiert, um an alle Informationen zu kommen und dabei auch noch gut auszusehen. Je besser sein Ruf war, desto leichter fiel es ihm, seine schmutzigen Geschäfte abzuwickeln, Politiker zu kaufen und die Polizei im Zaum zu halten.

„Weißt du, wie viele Nächte ich nicht schlafen konnte?! Ich habe für dich gebetet und monatelang geweint. Ich musste mich zwingen zu essen, weil … Jeder hat mir gesagt, dass du tot bist, aber ich habe es nicht geglaubt. Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, dass du zurückkommst. Irgendwann habe ich mir gesagt, dass du verletzt bist und nur deshalb nicht zu mir zurückkehrst. Ich habe Gott versprochen, dass ich mich um dich kümmere, wenn er dich mir nur zurückgibt. Und die ganze Zeit ging es dir gut. Du hättest heimkehren können, wenn du gewollt hättest. Du wolltest es bloß nicht.“

„Das ist nicht wahr.“ Er hatte sich nicht rechtfertigen wollen, aber ihre Worte trafen ihn ins Herz. Er hätte sein Leben dafür gegeben, zu ihr zurückzukehren. Er war nur nicht bereit gewesen, ihr Leben in Gefahr zu bringen und es möglicherweise zu opfern.

„Warst du im Gefängnis? Im Koma? In Geiselhaft?“

Er war tatsächlich eine Geisel gewesen, aber nicht so, wie Raven es sich vorstellte. Seine Liebe zu ihr und seiner Familie hatte es unmöglich gemacht zurückzukehren, solange Karl Rivers am Leben war.

„Sag schon“, drängte Raven.

Er wollte sie nicht noch mehr schockieren. Lieber ertrug er ihren Vorwurf, ohne sich zu verteidigen. „Nein, nichts davon.“

Raven hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, warum Donovan sie verlassen hatte und so lange weggeblieben war. Er musste einen sehr guten Grund dafür gehabt haben. Vielleicht war ihm etwas zugestoßen. War er nach einem Unfall entstellt oder gelähmt und glaubte, sie würde ihn nicht länger lieben können? Manchmal hatte sie sich ausgemalt, dass er das Gedächtnis verloren und vergessen hatte, wer er war und wohin er gehörte. Sie hatte im Internet nach Berichten über junge Männer ohne Identität gesucht und drei oder vier derartige Fälle gefunden, aber keiner war der Mann gewesen, den sie von ganzem Herzen liebte. Sie war verzweifelt gewesen, und er hatte es sich die ganze Zeit in Texas gut gehen lassen.

Wie hatte er ihr so etwas antun können? Ihr und seinen Eltern? Nach einer Weile hatten die Leute die Hoffnung aufgegeben, dass Donovan irgendwann zurückkehren würde und sein spurloses Verschwinden als unlösbares Rätsel angesehen. Nur Mr. und Mrs. Cordero hatten wie Raven immer daran geglaubt, dass er eines Tages wieder auftauchen würde.

„Wussten deine Eltern, wo du warst?“, fragte Raven.

„Nein. Das wusste niemand.“

„Na ja, wenigstens warst du zu ihnen ebenso grausam wie zu mir.“

„Bitte, hör auf zu weinen, Raven. Ich bin nicht hergekommen, um dir wehzutun.“

Wütend wischte sie die Tränen ab. „Warum bist du dann hier?“

Er schien darüber nachzudenken. Das war neu. Der Donovan ihrer Jugend war impulsiv gewesen, ein Draufgänger, der erst handelte und dann überlegte. Er hatte sich verändert.

Auch äußerlich.

Vor zehn Jahren war er schlank, fast schmächtig gewesen. Jetzt waren die Schultern breiter, aber der Bauch noch immer flach. Der muskulöse Körper verriet harte Arbeit. Er wirkte gesund und fit und schien im vergangenen Jahrzehnt kein schlechtes Leben geführt zu haben.

Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Er hätte zu ihr zurückkehren können, hatte sich aber dagegen entschieden. Stattdessen hatte er es sich in Texas gut gehen lassen. Natürlich wollte sie nicht, dass er gelitten hatte. Aber zu wissen, dass sie so lange auf ihn gewartet hatte, während sie ihm ganz offenbar gleichgültig gewesen war, brach ihr das Herz. Sie würde ihm niemals verzeihen können.

„Du musst gehen. Jetzt.“

„Es tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe. Ich hoffe, wir können wieder Freunde werden.“

Freunde. Wohl kaum. Sie hasste ihn, und wenn es nach ihr ging, konnte er für immer verschwinden. Er hatte ihr jahrelang verheimlicht, dass er noch am Leben war. Wenn er Geheimnisse hatte … konnte sie das auch. „Nein. Wir sind fertig miteinander.“

Sie hörte die Schritte, bevor die Stimme an ihr Ohr drang. Und da wurde ihr klar, dass sie ihr Geheimnis nicht bewahren konnte.

„Mom?“

3. KAPITEL

Mom? Donovan erstarrte. Hatten Raven ein Kind? Einen Ehemann? Obwohl er sich eingeredet hatte, dass er wünschte, sie wäre ohne ihn glücklich geworden, stockte ihm der Atem. Raven hatte sich in einen anderen Mann verliebt? Er versuchte erst gar nicht, die widersprüchlichen Gefühle in Einklang zu bringen. Emotionen waren nicht logisch und mussten kein Sinn ergeben.

Als er sich nach der Stimme umdrehte, sah er einen acht oder neun Jahre alten Jungen, dessen Blick eine einzige Frage war. Als Raven nicht antwortete, wandte der Junge sich Donovan zu. „Wer bist du?“

Donovan öffnete den Mund, aber als er dem Jungen ins Gesicht schaute, brachte er kein Wort heraus. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Die Augen des Jungen wiesen exakt den gleichen Grauton auf wie die, die Donovan an jedem Morgen beim Rasieren aus dem Spiegel entgegenblickten. Es waren die gleichen grauen Augen, die Donovan von seinem Vater Mario geerbt hatte. Seine Knie wurden weich. Das ist mein Sohn. Raven war schwanger gewesen, und er hatte es nicht gewusst? War es das, was sie ihm an jenem letzten Tag hatte erzählen wollen?

„Wer ist das, Mom?“

Donovan wollte ihm sagen, dass er sein Vater war, beherrschte sich aber. Es wäre egoistisch. Vielleicht war Raven verheiratet, und der Junge hielt seinen Stiefvater für seinen Dad. War sie verheiratet? Donovan schaute auf ihre linke Hand – kein Ring. Das musste nichts bedeuten. Sie konnte ihn abgenommen haben, weil er bei der Arbeit auf der Ranch störte. Oder sie hatte ihn heute Morgen einfach vergessen. Es gab jede Menge Erklärungen dafür, dass sie keinen Ring trug.

Raven warf Donovan einen Blick zu, bevor sie den Jungen anlächelte. „Das ist Donovan Cordero. Er ist Mr. und Mrs. Corderos Sohn und ein Freund von mir.“

„Mr. und Mrs. Cordero sind nett.“ Er machte einen Schritt auf Donovan zu. „Bist du der Typ, der verschwunden ist?“

Donovan brachte ein Nicken zustande.

„Wow. Wo warst du? Warum bist du nicht nach Hause gekommen?“

„Elias, hör auf, ihn auszufragen. Was wolltest du?“

Elias lächelte, und an seiner linken Wange erschien ein Grübchen. Donovan war, als würde er sich selbst mit neun Jahren sehen. „Ich wollte dir erzählen, dass am Wochenende ein Jahrmarkt in Sweet Briar ist, und ich wollte dich fragen, ob du mit mir hingehst.“

Raven lächelte. „Ob ich mit dir hingehe? Du bist ganz schön gerissen, mein Lieber. Ich habe dir nämlich noch gar nicht erlaubt hinzugehen.“

„Ach, Mom. Alle Kinder gehen hin, bitte.“

„Das entscheide ich, wenn ich deine Note beim Mathetest gesehen habe.“

„Mom …“

„Ich muss jetzt mit Donovan reden. Mach deine Hausaufgaben.“

„Okay.“ Der Junge machte zwei Schritte zur Tür, drehte sich noch einmal um und strahlte Donovan an. „Willkommen zu Hause.“

„Danke“, sagte Donovan, aber der Junge war schon abgezischt.

Fast eine Minute lang sprachen Raven und Donovan nicht. Donovan war zu schockiert, um einen zusammenhängenden Satz über die Lippen zu bringen. Ich habe einen Sohn. Und er weiß nicht, wer ich bin.

Er atmete tief durch und sah Raven an. Vor Elias hatte sie sich zusammengenommen, aber jetzt zitterte sie wieder.

Er streckte eine Hand nach ihr aus. „Raven.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Was?“

„Er ist von mir, nicht wahr? Elias ist mein Sohn.“ Er musste es von ihr hören.

„Ja.“ Das leise Wort stellte sein ganzes Leben auf den Kopf. Er war Vater.

Donovan lächelte. „Danke.“

„Wofür?“

„Dass du meinen Sohn bekommen hast. Ich weiß, dass es für dich nicht leicht gewesen sein kann.“

Ihre braunen Augen wurden groß. „Du bist nicht wütend?!“

„Wütend?! Nein. Warum sollte ich das sein?“

„Weil …“ Sie lachte nervös. „Ich weiß nicht. Damals hatte ich große Angst, dass du mir böse sein würdest, weil ich schwanger war. Ich habe mir Sorgen gemacht, du könntest glauben, dass ich dich … in die Falle locken will.“

Jetzt war Donovan zornig, aber nicht auf Raven. Sie hatte ihm einen Sohn geschenkt. Er war zornig auf Karl Rivers, der schuld daran war, dass Donovan neun Jahre lang Vater gewesen war, ohne davon zu wissen. Er hatte nicht miterlebt, wie Ravens Bauch immer runder geworden war, während ihr gemeinsames Kind darin heranwuchs. Er hatte nicht ihre Hand halten können, als sie ihren Sohn zur Welt brachte. Er hatte jeden einzelnen Tag im Leben seines Sohns verpasst.

Die Wut auf Karl Rivers drohte ihn zu überwältigen. Er unterdrückte sie nur mühsam. Er musste es, denn Raven durfte nicht glauben, dass er sich über sie aufregte.

„Bist du verheiratet?“

„Wie bitte?“

„Bist du verheiratet? Hast du einen Ehemann? Noch mehr Kinder?“

Raven machte zwei Schritte in seine Richtung. Ihre Augen blitzten. Er verstand nicht, warum sie sich ärgerte, denn es war eine naheliegende und logische Frage in seinen Augen. „Du hast ja Nerven. Du verschwindest, lässt mich schwanger und allein und voller Sorge um dich zurück. Dir ging es gut, und du hättest jederzeit nach Hause kommen können. Aber dich hat nicht interessiert, was ich durchmache – also brauchst du jetzt nichts über mein Leben zu wissen. Es geht dich einfach nichts an!“

„Doch, das tut es. Elias ist mein Sohn. Wenn er bei einem anderen Mann aufwächst, habe ich ein Recht, das zu wissen.“

„Ein Recht?!“ Sie ballte die Hände zu Fäusten.

Vorsichtshalber machte er einen Schritt zurück. „Ja. Ich bin Elias’ Vater.“ Raven schnappte nach Luft, und er sprach rasch weiter. „Irgendwie drücke ich mich nicht richtig aus.“

„Was du nicht sagst.“

„Also lass es mich noch einmal versuchen. Ich stehe noch unter Schock, also suche ich nach besseren Worten. Entschuldige.“

„Da bist du nicht der Einzige. Ich habe auch etwas zu verkraften.“

„Ich bin dir dankbar, dass du meinen Sohn bekommen hast, unseren Sohn, ihn aufgezogen hast. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr. Aber er ist auch mein Sohn, und ich möchte zu seinem Leben gehören. Ich will ihn kennenlernen, Zeit mit ihm verbringen.“

„Du glaubst, du könntest einfach in der Stadt und in Elias’ Leben auftauchen und so tun, als wärst du die letzten zehn Jahre nicht verschollen gewesen? Willst du das sagen?“

„Ich weiß, dass ich nicht zu seinem Leben gehört habe, aber ab jetzt will ich es. Ich bin zurück.“

„Für wie lange?“

„Ich bleibe.“

Sie legte eine Hand an die Stirn. Er wünschte, er wüsste, was sie dachte. Aber vielleicht war es besser, es nicht zu wissen. Sein Kopf war so voll, dass kein Platz mehr darin war. „Ich habe zehn Jahre lang nichts von dir gesehen oder gehört, Donovan. Zehn Jahre. Du erwartest doch wohl nicht, dass ich dir so einfach den Umgang mit meinem Sohn erlaube. Dazu vertraue ich dir nicht genug, besser gesagt: überhaupt nicht. Du könntest ihn nehmen und für weitere zehn Jahre verschwinden.“

Unser Sohn. Und nein, ich erwarte nicht, dass du mir erlaubst, mit ihm Ausflüge zu unternehmen. Jedenfalls noch nicht. Ich will ihn erst einmal in aller Ruhe kennenlernen.“

Sie ging mehrmals auf und ab, bevor sie ihn ansah. „Ich werde ihm noch nicht erzählen, wer du bist. Finde dich damit ab.“

Donovan war enttäuscht, wollte sich aber nicht mit ihr streiten. Vielleicht war es einfacher, Elias kennenzulernen, wenn er nichts von Donovans wahrer Identität wusste. Er konnte erst eine Beziehung zu ihm aufbauen, bevor der Junge erfuhr, dass sein Vater sein ganzes bisheriges Leben verpasst hatte.

„Okay.“

„Und noch etwas. Du wirst nicht mit Elias allein sein. Wenn du bei ihm bist, bin ich es auch. Das ist nicht verhandelbar.“

Er verstand. Sie vertraute ihm nicht. Trotzdem freute er sich auf die nächsten Tage und Wochen. „Einverstanden. Wann kann ich ihn wiedersehen?“

Sie seufzte und sah plötzlich erschöpft aus. „Ich weiß nicht, Donovan. Du kehrst von den Toten zurück und willst zum Leben unseres Sohns gehören. Darüber muss ich erst nachdenken. Ich muss mich sammeln.“

„Das ist okay.“

„Ich rufe dich in ein paar Tagen an, dann können wir etwas arrangieren.“

„Einverstanden.“ Er gab ihr seine Handynummer und ließ sich ihre schicken. Sie öffnete die Haustür. Bevor er ins Freie trat, berührte er ihre Hand. Ihre Blicke trafen sich. „Nochmals danke für meinen Sohn“, sagte er leise.

Raven sah durchs Fenster Donovan nach, als er zu seinem Pick-up ging. Erst als er davonfuhr, ließ sie sich in einen Sessel fallen.

Donovan lebt. Und er wohnte nebenan. Zum Glück bedeutete das hier etwas anderes als in der Stadt. Sie konnte ihr Leben in Ordnung bringen, ohne von ihm dabei beobachtet zu werden.

In Ordnung? Wohl kaum. Raven unterdrückte den Wutschrei, der herauswollte. Sie hatte sich an ihre Liebe zu ihm geklammert, solange sie Angst um ihn gehabt hatte. Dabei war es ihm gut gegangen. Sie konnte nicht fassen, dass der Mann, den sie geliebt hatte, ihr das angetan hatte.

Sie musste an die frische Luft. Als ihre Eltern vom Einkaufen zurückkehrten, bat sie ihre Mutter, auf Elias aufzupassen, und sattelte Evening Dream, ihr Lieblingspferd. Dann ritt sie zu dem Ort, an dem sie ungestört sein würde. Als sie und Donovan jung und verliebt gewesen waren, hatten sie an ihrem geheimen Treffpunkt glückliche Stunden verbracht. Nachdem Donovan verschwunden war, hatte sie ihn gemieden, weil sie dort immer an die gemeinsame Zeit denken musste. Sie hatte sich einen anderen Ort gesucht, um etwas Frieden zu finden – einen Ort, der sie nicht an Donovan erinnerte und an dem sie zur Ruhe kommen konnte. Er lag so weit wie möglich von der Ranch der Corderos entfernt. Dorthin ritt sie jetzt.

Evening Dream schien zu spüren, wohin sie wollte, und sie konnte ihre Gedanken schweifen lassen. Am Ziel angekommen, stieg sie aus dem Sattel und ließ das Pferd aus dem Bach trinken. Anstatt sich hinzusetzen, riss sie lange Grashalme aus und zerrupfte sie. Als sie die Stille nicht mehr aushielt, legte sie den Kopf in den Nacken und stieß einen lauten Schrei aus, um den Stress, die Verwirrung und den Schmerz herauszulassen. Vögel flatterten erschrocken auf und flogen davon. Selbst Evening Dream hob den Kopf und stampfte mit einem Huf auf. Dann trank die Stute weiter.

Raven strich sich das Haar aus dem Gesicht und stellte überrascht fest, dass ihre Wangen feucht waren. Sie sank zu Boden und begann zu schluchzen. Sie war sich nicht sicher, warum sie weinte, aber sie wusste, dass es mit der verlorenen Zeit zu tun hatte. Zehn Jahre lang hatte sie sich um Donovan gesorgt und auf dessen Rückkehr gehofft, und in gewisser Weise war das Leben an ihr vorbeigegangen.

Sie liebte ihren Sohn und tat alles, um ihm eine gute Mutter zu sein. Die ersten Jahre waren hart gewesen, und sie war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass sie Elias vernachlässigt hatte. Zum Glück waren ihre Eltern für ihn da gewesen und hatten ihm die Liebe und Aufmerksamkeit geschenkt, die er gebraucht hatte.

Wenn es Abend wurde und Elias schlief, dachte sie an Donovan. In der stillen Stunde um Mitternacht schrieb sie ihm Briefe, die er niemals bekommen würde. Erst vor zwei Tagen hatte sie eingesehen, dass sie die Vergangenheit hinter sich lassen musste. Sie war mit einem guten Mann verlobt, und der verdiente es nicht, nur als Ersatz angesehen zu werden.

Und jetzt war Donovan zurück. Sie durfte nicht zulassen, dass er ihr Leben beherrschte. Ihr war klar, dass sie ihn mehr geliebt hatte als er sie. Offenbar hatte er ihr vor Jahren Lebewohl gesagt, und sie würde dies endlich akzeptieren müssen. Sie war mit einem anderen Mann verlobt und würde in vier Wochen heiraten. Donovan mochte sich in der Stadt aufhalten, aber er war nicht länger ein Teil ihres Lebens. Er gehörte zu ihrer Vergangenheit und dort musste er bleiben.

„Ich glaube, ich setze mich eine Weile nach draußen“, sagte Raven zu ihren Eltern. Sie hatte erwartet, dass ihre Mutter sie nach Donovans Rückkehr fragte, aber Marilyn schien zu spüren, dass ihre Tochter nicht darüber sprechen wollte.

„Kommt Carson heute nicht vorbei?“, fragte ihr Vater.

„Nein. Er verbringt den Abend mit seiner Mutter. Der Tod seines Vaters hat sie hart getroffen.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Und da er ihr einziges Kind ist, braucht sie ihn jetzt besonders.“

„Er ist ein guter Sohn und ein guter Mann“, sagte Marilyn. Sie war Carsons größter Fan. Raven wusste, was ihre Mutter damit andeuten wollte – dass sie sich von Donovan fernhalten sollte, um ihre Beziehung zu Carson nicht zu gefährden.

Raven nickte. „Ich weiß.“

„Ich mache einen Auflauf und einen Kuchen und bringe ihr die Sachen morgen“, fügte Marilyn hinzu.

„Ich begleite dich.“ Seit dem Tod seines Vaters hatte Raven ein paarmal mit Carson gesprochen, aber sie hatten nicht viel Zeit für sich allein gehabt.

Ihr Vater schaltete den Fernseher ein. Seine Lieblingssendung begann gleich. Ihre Mutter setzte die Brille auf und begann zu sticken.

Raven ging auf die Veranda, setzte sich auf das Korbsofa und legte die Füße auf die hölzerne Truhe davor. Sie atmete tief durch, legte den Kopf zurück und schloss die Augen.

Sie fragte sich, auf wen sie wütender war – auf Donovan oder auf sich selbst? Ihre Mutter hatte sie immer wieder ermutigt, mit dem Kapitel Donovan abzuschließen, aber sie war so naiv gewesen, an eine Liebe zu glauben, die keine Chance hatte. So dumm würde sie nie wieder sein. Sie würde Zeit mit Donovan verbringen, damit er eine Beziehung zu Elias aufbauen konnte. Aber nie wieder würde sie ihn in die Nähe ihres Herzens lassen.

Als ihr Telefon läutete, schaute sie aufs Display: Donovan. Was wollte er? Er hatte sie zehn Jahre lang ignoriert, und jetzt ließ er sie nicht in Ruhe. Sie dachte kurz daran, den Anruf wegzudrücken, aber dazu war sie doch zu neugierig. Außerdem war es nicht weit zur Nachbarranch, und vielleicht würde er einfach vorbeikommen, wenn sie sich nicht meldete.

„Ja?“ Selbst ein schlichtes Hallo hätte ihre Gereiztheit nicht verbergen können.

„Raven?“ Donovans Stimme klang ruhiger und tiefer als am Nachmittag. Raven musste daran denken, wie sie früher stundenlang miteinander telefoniert hatten. Sie hatten einfach nicht genug voneinander bekommen können.

Als sie merkte, dass sie lächelte, verscheuchte sie die Erinnerung. Die nächtlichen Telefonate hatten ihm ja anscheinend nichts bedeutet. „Hast du jemand anderen erwartet? Du hast meine Nummer gewählt.“

Er lachte. „Stimmt. Ich hoffe, ich störe nicht. Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, was Elias und ich zusammen unternehmen können.“

„Elias, du und ich.“

„Natürlich. Und du. Dich würde ich nie vergessen, Raven.“

Wie mühelos ihm die Lüge über die Lippen kam. „Sicher.“

„Ich habe dich nie vergessen“, beteuerte er, als könnte er ihre Gedanken lesen.

„Du hattest nur nie Zeit, mich anzurufen.“ Sie hasste es, wie traurig sie klang. Er durfte nicht wissen, wie sehr er ihr wehgetan hatte. „Aber du rufst bestimmt nicht an, um alte Geschichten aufzuwärmen. Was kann ich für dich tun?“

„Elias hat einen Jahrmarkt in Sweet Briar erwähnt. Ich dachte mir, wir könnten zusammen hingehen.“

„Lass mich darüber nachdenken, okay?“

„Was hast du ihm über mich erzählt?“

„Du warst dabei und hast jedes Wort gehört. Er hat es nicht wieder angesprochen. Ich auch nicht.“

„Über seinen Vater, meine ich. Offenbar hast du ihm nicht meinen Namen genannt.“

„Nein. Ich habe ihm gesagt, dass sein Vater ihn liebt und wegmusste.“

„Noch etwas?“

„Mehr wusste ich nicht!“, entgegnete sie scharf. „Mehr weiß ich noch immer nicht.“

„Raven …“

„Schon gut. Es macht mir nichts mehr aus. Was wir hatten, ist vorbei. Ich möchte nicht darüber diskutieren.“

„Na gut. Vorläufig.“

„Nein, nicht vorläufig. Gar nicht mehr. Das ist mein Ernst! Wenn du Elias sehen willst, wirst du die Vergangenheit nicht erwähnen. Und spar dir die Ausreden, warum du verschwunden bist und dich nicht gemeldet hast. Sonst musst du mich auf ein Besuchsrecht für Elias verklagen. Nach deiner langen Abwesenheit bezweifle ich, dass ein Gericht es dir zuspricht.“

Er seufzte.

„Ich sage dir wegen des Jahrmarkts Bescheid.“

„Danke.“

Raven beendete das Gespräch, ohne sich zu verabschieden. Ihr stand eine unruhige, schlaflose Nacht bevor.

Donovan starrte auf das Telefon. Raven hatte gedroht, ihm Elias vorzuenthalten. Was machte es schon, ob sie wusste, warum er damals verschwunden war? Sie wären trotzdem die letzten zehn Jahre lang getrennt gewesen. Ihre Liebe wäre auch so verblasst, als hätten die Gefühle füreinander nie existiert.

Irgendwann, wenn es keinen Schaden mehr anrichtete, würde er ihr von Karl Rivers erzählen. Bis dahin musste er damit leben, dass sie schlecht von ihm dachte.

Rastlos ging er nach unten. Seine Eltern saßen auf der Veranda, wie so oft an einem schönen Abend. Es war tröstend zu wissen, dass sich manche Dinge nicht änderten.

Er hatte Raven geliebt, und allein wegen des Babys hätten sie bestimmt geheiratet. Vielleicht hätten sie eine glückliche Ehe geführt und weitere Kinder bekommen. Aber jetzt war es zu spät. Er musste nach vorn schauen. Zehn Jahre seines Lebens hatte er schon verloren. Er wollte nicht noch mehr Zeit mit sinnlosen Spekulationen vergeuden.

Er ging auf die Veranda. „Ich bin heute meinem Sohn begegnet.“

„Elias?“, fragte sein Vater leise und schuldbewusst.

„Wolltest du es mir sagen?“

„Nur, wenn Raven es nicht selbst getan hätte.“

„Was? Und wie lange wolltest du damit warten?“ Donovan verstand nicht, wie sie ihm seinen Sohn verheimlichen konnten.

„Wir wussten, dass du sie gleich besuchen würdest“, sagte seine Mutter. „Auch nach zehn Jahren bedeutet sie dir etwas.“

Seine Mutter war eine hoffnungslose Romantikerin, die glaubte, dass die Liebe alles überstand – selbst eine zehnjährige Trennung.

„Raven hat es hart getroffen, als du verschwunden bist“, fuhr Mario fort. „Das arme Kind war ein Wrack. Eine Weile sah es so aus, als würden wir sie verlieren. Als ihre Eltern herausfanden, dass sie schwanger war, haben sie es uns erzählt. Um ehrlich zu sein, uns ging es kaum besser als Raven. Wir haben sie darin unterstützt, das Baby zu behalten, aber wir konnten ihr nicht die emotionale Unterstützung geben, die sie brauchte. Wir hatten genug mit unserer eigenen Trauer zu tun.“

„Und wir versuchten noch immer, dich zu finden“, ergänzte Lena. „Als die Polizei die Suche einstellte, haben wir Flugblätter verteilt und Plakate aufgehängt.“

„Elias weiß nicht, dass ihr seine Großeltern seid?“

„Nein. Wir lieben ihn und sehen ihn hin und wieder. Wir schenken ihm etwas zu Weihnachten und zum Geburtstag. Er hält uns für Freunde seiner Großeltern.“

„Und das reicht euch?“

Mario nickte. „Wir waren am Boden zerstört, als wir dich nicht finden konnten. Wir hätten keine Freude in sein Leben gebracht.“

Donovan nickte. Er verstand. Alle hatten das Beste aus der Situation gemacht. Er selbst war jung und verängstigt gewesen und hatte sich dauernd umgeschaut, weil er damit rechnete, dass Karl Rivers sein Wort brechen und ihn aufspüren würde. Es hatte Jahre gedauert, bis Donovan sich sicher genug fühlte, um länger an einem Ort zu verweilen. Davor war er alle paar Monate von einer Stadt und einer Ranch zur nächsten gezogen.

Dann begegnete er Della und Gabe Turner, denen eine riesige Rinderranch in Texas gehörte. Dort fühlte er sich zu Hause, und nach einigen Monaten lud Della ihn ein, Weihnachten mit ihnen zu feiern. Er freundete sich mit Dustin und Austin an, zwei ihrer Söhne in seinem Alter, die aufs College gingen und die Winterferien bei ihren Eltern verbrachten.

Wie von selbst wurde er ein Teil der Familie und übernahm die Rolle des großen Bruders für die fünfzehn Jahre alte Amelia. Eines Abends musste er eingreifen, als eines ihrer Dates außer Kontrolle geriet. Zu sehen, wie das Mädchen die zerrissene Bluse zusammenhielt, ließ ihn fast die Beherrschung verlieren, aber ihr Bedürfnis nach Trost war größer als seins nach Rache an dem Kerl.

Nach jenem Abend gab es zwischen ihnen eine ganz besondere Verbindung. Amelia beschloss, dass Donovan dringend eine Freundin brauchte, und machte ihn mit allen möglichen jungen Frauen bekannt. Obwohl er manche davon durchaus attraktiv fand, ließ er keine an sich heran.

Raven zurückzulassen hatte sein Herz gebrochen. Nie wieder hatte er jemanden so sehr lieben wollen.

„Das kann ich nachvollziehen“, sagte er jetzt, „aber irgendwann werde ich Elias erzählen, dass ich sein Vater bin. Ich will zu seinem Leben gehören.“

Seine Eltern wechselten einen Blick. „Hat Raven sonst noch etwas gesagt?“

„Nein. Sobald wir unsere Beziehung geklärt haben, wird Elias erfahren, dass ihr seine Großeltern seid. Seid ihr dazu bereit?“

Seine Mutter lächelte. „Natürlich.“

„Gut.“

Donovan hatte endlich wieder eine richtige Familie. Sie sah nicht so aus, wie er sie sich vor all den Jahren vorgestellt hatte, aber er freute sich trotzdem.

4. KAPITEL

Raven stand neben ihrem Verlobten und bedankte sich bei den vielen Gästen, die gekommen waren, um Karl Rivers die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatte den älteren Mann nicht sehr gut gekannt und sich in seiner Gegenwart nie besonders wohl gefühlt, aber sie fühlte sich verpflichtet, Carson in dieser schweren Stunde beizustehen. Er war für sie da gewesen, als sie ihn gebraucht hatte. Obwohl ihre Eltern sie während der Schwangerschaft unterstützt und ihr geholfen hatten, Elias großzuziehen, war Carsons Freundschaft unbezahlbar gewesen.

In der Schule war Carson trotz oder wegen seines reichen und einflussreichen Vaters ein Außenseiter, und als er regelrecht gemobbt worden war, hatte Donovan ihn in Schutz genommen. Donovan war einer der beliebtesten Schüler gewesen, und niemand mochte es sich mit ihm verscherzen, also ließen sie Carson Rivers in Ruhe.

Als Donovan verschwand, verbrachte Carson immer mehr Zeit mit Raven und dem kleinen Elias und wurde zu dem Freund, den Raven dringend brauchte. Er begleitete sie, wenn sie bei der Suche nach Donovan eine Spur verfolgte, nahm sie in die Arme, wenn sie vor Enttäuschung weinte. Egal, wie oft sie ihm erzählte, wie sie und Donovan sich ineinander verliebt hatten, er hörte geduldig zu und drängte sie nie dazu, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Sie war überrascht, als er ihr einen Brillantring schenkte und ihr vor Elias und ihren Eltern an Weihnachten einen Heiratsantrag machte. Ihre Mutter klatschte begeistert in die Hände, aber ihr Vater sagte kein Wort. Elias war viel zu sehr mit seinen neuen Büchern beschäftigt, um darauf zu achten, was die Erwachsenen taten. Raven musste an Donovan denken und daran, dass sie eines Tages hatten heiraten wollen. Aber dann sagte sie sich, dass Donovan fort war und dass das Leben weiterging. Mit wem ging das besser als mit einem vertrauten Freund?

Sie war nicht in Carson verliebt, aber sie war zuversichtlich, dass sie beide einander glücklich machen würden.

Also hatte sie Ja gesagt.

„Ich brauche eine Pause“, flüsterte Carson und holte sie in die Gegenwart zurück.

„Natürlich.“ Die meisten Leute hatten den Leichenschmaus schon genossen und waren gegangen. Nur ein paar Nachzügler waren noch anwesend.

Raven und Carson schlenderten auf die überdachte Terrasse und suchten sich im Garten eine ruhige Ecke. „Ich verstehe nicht, warum Leute nach einer Beerdigung noch so lange sitzen bleiben. Kommt keiner auf die Idee, dass meine Mutter und ich jetzt allein sein möchten?“

„Sie meinen es nur gut.“

Carson zuckte mit den Schultern. Er sah müde und traurig aus.

„Wo ist deine Mutter?“

„Sie hat sich hingelegt. Selbst diesen Wink mit dem Zaunpfahl haben die Leute nicht kapiert.“ Er starrte über ihre Schulter, bis sie sich umdrehte. Aber dort war niemand.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt.

„Ich finde, wir sollten die Hochzeit vorverlegen.“

„Was? Warum?“

„Wir haben ohnehin keine große Feier geplant.“

„Stimmt.“ Ursprünglich hatte er eine gewollt, aber sie hatte auf einer schlichten Trauung bestanden, nur mit Freunden und Familie. „Aber wir haben schon einer Termin vereinbart.“

„War nur so ein Gedanke.“

Er klang verärgert, aber er hatte seinen Vater erst vor wenigen Stunden begraben, daher sah sie es ihm nach.

„Ich habe gehört, dass Donovan wieder in der Stadt ist.“

Sie erstarrte. Natürlich wusste er es bereits. In Sweet Briar verbreiteten sich Neuigkeiten in Windeseile.

„Ja, seit zwei Tagen.“

„Und du hast es mir nicht erzählt?“

„Dein Vater ist gerade gestorben. Ich dachte, da ist es nicht so wichtig.“

„Doch, ist es.“

„Ich verstehe. Willst du die Hochzeit deshalb vorziehen?“

„Du trägst deinen Ring nie.“

Er beantwortete ihre Frage nicht, sondern wechselte das Thema, aber auch das ließ Raven ihm durchgehen. „Ich arbeite auf einer Ranch. Soll ich wirklich einen Diamantring tragen, wenn ich den ganzen Tag mit Tieren umgehe?“

„Ist das der einzige Grund?“, entgegnete er.

„Was soll das jetzt?“

„Vergiss es. Ich bin nur vollkommen am Ende. Mein Vater ist tot, und ich weiß nicht, wie ich meiner Mutter helfen soll. Sie hat seit Tagen kaum etwas gegessen.“

„Bestimmt steht sie noch unter Schock und muss das alles erst einmal verkraften. Die beiden waren fünfunddreißig Jahre verheiratet! Er war die Liebe ihres Lebens. Und jetzt ist er weg. Sie trauert.“

„Genau wie du, als Donovan damals verschwunden ist. Ist er die Liebe deines Lebens? Oder bin ich es?“

„Warum fragst du mich das?“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“

Wollte er, dass sie log? Sie hatte nie so getan, als wäre sie in ihn verliebt.

„Entschuldigen Sie bitte.“

Sie wirbelten herum und sahen sich Sarah Thomas, der Frau des Geistlichen, gegenüber. Sie wirkte verwirrt. Offenbar hatte sie genug von dem Gespräch mitbekommen. Aber Raven wusste, dass die gute Frau kein Wort weitererzählen würde.

„Es tut mir leid, wenn ich störe, aber alle Gäste sind jetzt gegangen. Wir haben die Reste in den Kühlschrank gestellt und die Küche aufgeräumt. Mein Mann und ich wollen nur wissen, ob wir noch etwas für Sie tun können.“

„Danke.“ Carson legte den Arm um Mrs. Thomas’ Schultern. „Ich weiß nicht, wie meine Mutter und ich es ohne Ihre Hilfe geschafft hätten.“

Es waren die richtigen Worte in dieser Situation, aber Raven ahnte, dass er ihr damit vorwarf, nicht genug für ihren Verlobten getan zu haben. Aber sie war so oft für die beiden da gewesen, wie sie vermocht hatte. Sie war nun einmal eine alleinerziehende Mutter, und ihr Kind brauchte sie auch. Außerdem spürte sie, dass es weniger darum ging als um die Tatsache, dass sie Carson nichts von Donovans Rückkehr erzählt hatte. Carson war zutiefst verunsichert.

„Ich sollte auch gehen“, sagte Raven, nachdem der Geistliche und seine Frau abgefahren waren.

„Ja, wahrscheinlich ist es besser so.“

Sie sammelte ihre Sachen zusammen und ging zum Wagen. Carson war zu aufgebracht, um jetzt diskutieren zu können. Aber sie beide würden vor der Hochzeit reden müssen.

Donovan ließ Zeus auf die Weide und ging über die Wiese zum Haus. Es war ein langer, aber guter Tag gewesen. Doch er wollte mehr, als nur wieder daheim sein. Er wollte eine Frau in seinem Leben. In den Jahren, in denen er fort gewesen war, hatte er sich auf niemanden eingelassen. Jetzt war er bereit für eine Beziehung. Er wünschte sich eine Liebe, wie seine Eltern sie teilten – eine Liebe, wie Della und Gabe Turner sie lebten.

Als er sich der Terrasse näherte, sah er seine Mutter mit jemandem am Tisch sitzen. Erst nach einem Moment erkannte er Carson Rivers. Er musste sich beherrschen, um den Mann nicht zu packen und von der Ranch zu werfen. Stattdessen blieb er kurz stehen, atmete tief durch und erinnerte sich daran, dass er Carson nicht die Sünden seines Vaters vorwerfen durfte.

„Carson, hallo. Wie geht es dir?“

Carson schüttelte Donovans Hand.

Lena sprang auf. „Ich lasse euch Jungs allein. Carson will nichts trinken, aber du vielleicht, Donovan?“

„Nein danke, Ma.“

Donovan winkte Carson auf den Stuhl zurück und setzte sich, während Lena im Haus verschwand. Donovan wusste, dass Carson seinen Vater am Vormittag begraben hatte, aber er brachte es nicht fertig, ihm sein Beileid auszusprechen. Niemand freute sich mehr darüber als Donovan, dass Karl Rivers tot war. Er wünschte nur, der alte Mann wäre früher gestorben.

„Was bringt dich her?“

„Ich habe gehört, dass du zurück bist, und wollte dich willkommen heißen.“

Carsons Stimme und sein Gesichtsausdruck straften ihn Lügen.

„Danke.“ In den Jahren allein hatte Donovan gelernt zu warten. Carson würde schon noch zum eigentlichen Grund seines Besuchs vorstoßen.

„Es ist viel passiert, seit du verschwunden bist.“

„Stimmt. Aber einige Veränderungen sind positiv.“ Vor allem Elias – und das Wissen, dass Karl Rivers unter der Erde lag.

Carson trommelte mit den Fingern auf der Glasplatte. „Ich weiß, dass du bei Raven warst.“

Raven? Was hat Carson mit Raven zu tun? „Ja, das war ich.“

„Und du weißt von Elias?“

„Von meinem Sohn? Ja.“

„Er ist ein guter Junge. Und du sollst wissen, dass ich ihn wie meinen eigenen behandelt habe“, sagte Carson leise.

„Wovon sprichst du?“

„Hat sie es dir nicht erzählt?“

„Was?“

„Raven und ich sind verlobt. Wir heiraten nächsten Monat. Früher, wenn es nach mir geht. Ich habe vor, Elias zu adoptieren.“

„Das wirst du ganz sicher nicht.“

Donovan umklammerte die Armlehnen seines Stuhls. Karl Rivers hatte ihm zehn Jahre seines Lebens gestohlen, niemals würde er dessen Sohn erlauben, die Rolle zu übernehmen, die rechtmäßig Donovan zustand. „Ich weiß nicht, was du und Raven geplant habt. Wenn ihr heiratet, ist das eure Sache. Aber was meinen Sohn betrifft, bin ich der Vater. Er braucht dich nicht als meinen Ersatz. Nein, ich werde niemals in eine Adoption einwilligen.“

„Du denkst, nach zehn Jahren kannst du einfach auftauchen und dort weitermachen, wo du aufgehört hast?“

„Was ich denke, geht dich verdammt noch mal nichts an.“

„Du bist gegangen. Raven hat nach vorn geschaut. Mit mir. Wenn du glaubst, ich verzichte, nur weil du wieder hier bist, dann irrst du dich gewaltig.“

Donovan sprang auf, und Carson erhob sich ebenfalls. „Ich habe Sweet Briar nicht freiwillig verlassen. Ohne deinen Vater wäre ich bei der Geburt meines Sohns dabei gewesen und hätte ihn aufwachsen sehen. Ich habe Elias’ Kindheit verpasst und denke gar nicht daran, dir auch noch den Rest seines Lebens zu überlassen. Ich schlage vor, du verlässt jetzt meine Ranch, solange du noch aufrecht gehen kannst.“

„Wie bitte?!“ Carsons Augen wurden groß, und seine Stimme zitterte, als hätte er ein Gespenst gesehen. „Was soll das heißen, ohne meinen Vater hättest du Sweet Briar nicht verlassen? Er hat Geld für die Suche nach dir gespendet!“

„Dein lieber alter Dad hat gedroht, mich zu töten. Und meine Familie. Und Raven.“

Donovan hatte Raven die Wahrheit verheimlichen wollen, aber jetzt war sie mit Carson verlobt, und ihm war egal, wie sie darauf reagierte. Sollte ihr Verlobter sich um sie kümmern, falls sie die Nachricht vom Mord vollkommen aus der Bahn werfen würde.

„Das glaube ich nicht. Du würdest jetzt alles sagen, um Raven zurückzugewinnen.“

Donovan hörte Carson an, dass er nicht überzeugt war. Und wenn schon. Wichtig war nur Elias.

„Ich habe überhaupt kein Interesse, Raven zurückzugewinnen. Wie du selbst gesagt hast, sind zehn Jahre vergangen. Ich liebe sie nicht mehr, warum sollte ich lügen? Dein Vater hat mich bedroht. Glaub es oder glaub es nicht. Und jetzt verschwinde. Und komm nicht wieder.“

Donovan sah Carson nach, als der zu seinem Pick-up ging. Konnte es sein, dass Carson nicht gewusst hatte, was für ein Mensch sein Vater gewesen war? Vielleicht. Donovan wehrte sich gegen das aufkeimende schlechte Gewissen.

Der Mann war gekommen, um ihm zu erzählen, dass er mit Raven verlobt war. Seine Gefühle waren Carson egal. Warum hätte er ihn schonen sollen? Pech für Carson. Das Leben war hart.

Donovan atmete tief durch und versuchte, die Verbitterung zu unterdrücken. Aber der andere Mann hatte einen wunden Punkt getroffen. Carson war dabei, ihm die Frau zu nehmen, die er mal geliebt hatte.

Raven wollte wieder heiraten.

„Warum gehst du nicht zu Granddad und hilfst ihm?“

„Okay, aber wir fahren trotzdem, oder?“, fragte Elias zum x-ten Mal, obwohl Raven Wort hielt. Der Besuch des Jahrmarkts musste ihm sehr wichtig sein.

„Ja, aber erst in zwei Stunden. Bis dahin kannst du etwas tun, anstatt dauernd auf die Uhr zu starren.“ Und sie verrückt zu machen.

„Na gut.“ Er stellte den Wecker seines Smartphones und öffnete die Hintertür. „Ich bin in genau zwei Stunden zurück.“

Die Tür knallte, und Raven seufzte laut. Sie hatte zugestimmt, dass Donovan sie und Elias zum Jahrmarkt begleitete. Er hatte zusammen mit ihnen nach Sweet Briar fahren wollen, aber das hatte sie abgelehnt. Dies war kein Date, und sie wollte keine neugierigen Fragen beantworten. Elias wusste, dass sie und Carson Rivers demnächst heiraten wollten. Selbst in seinem Alter war ihm bekannt, dass eine verlobte Frau nicht mit anderen Männern ausgehen sollte. Carson war auch nicht gerade begeistert, und sie hatten sich darüber gestritten, aber sie musste tun, was das Beste für ihren Sohn war.

Sie hatte Donovan vorgeschlagen, ihnen in der Stadt rein zufällig über den Weg zu laufen. Dann würde sie ihn einladen, mit ihnen über den Jahrmarkt zu schlendern. Das dürfte nicht allzu viel Verdacht erregen. Jedenfalls nicht bei Elias. Raven war sich sicher, dass es einige hochgezogene Augenbrauen zu sehen geben würde. Zweifellos würde es sich noch vor Sonnenuntergang herumgesprochen haben.

Aber ob man sie und Donovan zusammen in einem Autoscooter sitzen sah, was sie nicht vorhatte, es würde Gerede geben. Schließlich passierte es nicht jeden Tag, dass jemand als tot galt und dann heil und gesund wieder auftauchte. Hinzu kam der noch immer rätselhafte Grund seines Verschwindens. Und da sie damals zusammen gewesen waren, würde unweigerlich auch Ravens Name fallen.

„Ich glaube, du machst einen Fehler.“

Raven zuckte zusammen, denn sie hatte ihre Mutter nicht kommen hören. Sie tat gar nicht erst so, als wüsste sie nicht, wovon Marilyn sprach. „Das ist deine Meinung.“

Marilyn stützte eine Hand auf die Hüfte. „Raven …“

„Donovan ist Elias’ Vater. Er hat ein Recht darauf, seinen Sohn kennenzulernen.“

„Auf das Recht hat er verzichtet, als er dich schwanger zurückgelassen hat.“

Nicht schon wieder, dachte Raven. Seit Donovan zurück war, fing ihre Mutter dauernd davon an. „Er wusste nichts von dem Baby. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, es ihm zu erzählen.“

Marilyn machte eine wegwerfende Handbewegung. „Und was ist mit Carson? Ich wette, dein Verlobter ist nicht begeistert, dass Donovan wieder um dich herumschnüffelt.“

„Er schnüffelt nicht um mich herum, wie du es nennst. Er will lediglich seinen Sohn kennenlernen.“

„Und Carson?“

Raven runzelte die Stirn. „Natürlich gefällt ihm die Situation nicht. Aber er wird sich damit abfinden müssen. Genau wie wir alle. Donovan wird nicht wieder verschwinden.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Der Junge ist unzuverlässig.“

„Er ist kein Junge mehr. Er ist ein Mann. Und du hast ihn mal vergöttert.“

„Das war, bevor er dir das Herz gebrochen und dich als ein Häufchen Elend zurückgelassen hat, genau wie Lena und Mario. Carson Rivers dagegen ist beständig und treu. Er wird dich nicht im Stich lassen.“

„Und das soll mir reichen? Dass ich mich auf ihn verlassen kann, soll Grund genug sein, ihn zu heiraten?“ Raven wusste nicht, woher die Zweifel kamen, aber sie stürmten geradezu auf sie ein. Oder sie hatten schon unter der Oberfläche gelauert.

„Donovan hat wahrscheinlich noch nicht einmal ausgepackt, und du stellst schon deine Beziehung mit einem rechtschaffenen Mann infrage. Sei nicht dumm, Raven. Wirf deine Beziehung nicht weg, nicht für einen Traum. Das Leben ist kein Märchen. Ich weiß, Donovan ist Elias’ biologischer Vater, aber er ist nicht gut für dich. Er liebt dich nicht. Wenn du ihn nur lässt, dann wird er dir wieder das Herz brechen. Bleib bei Carson.“

„Was ist mit Liebe?“

„Was soll damit sein? Du hast Carson geliebt, als du vor fünf Monaten seinen Heiratsantrag angenommen hast. Du bist nur durcheinander, weil Donovan zurück ist. Glaub mir, was du für ihn fühlst, ist keine Liebe. Geh auf Nummer sicher, anstatt alles aufs Spiel zu setzen und am Ende nichts in der Hand zu haben.“

„Hast du das denn getan?!“ Raven wusste, dass ihre Eltern aus Liebe geheiratet hatten. Marilyns Eltern hatten Rudy abgelehnt, weil er ihrer Ansicht nach zu alt für sie war. Außerdem hatten sie darauf bestanden, dass sie aufs College ging. Rudy und Marilyn waren am Tag nach ihrem Highschoolabschluss miteinander durchgebrannt. Ravens Großeltern waren außer sich gewesen – bis Marilyn im Herbst darauf ein Studium begonnen hatte. Und als sie es vier Jahre später als Jahrgangsbeste abschloss, waren sie vor Stolz fast geplatzt.

Ihre Mutter errötete. „Nein, nein, aber das ist nicht zu vergleichen.“

„Weil ich eine ledige Mutter bin?“

„Natürlich nicht.“

„Warum dann?“

Marilyn schmunzelte. „Weil du mein kleines Mädchen bist und ich nicht will, dass dir wieder wehgetan wird.“

„Ich will für mich haben, was du mit Dad teilst. Ich will eine Liebe, die mir von den Lippen abliest.“

„Die kannst du mit Carson bekommen.“

„Da bin ich mir nicht so sicher.“

„Du glaubst doch nicht etwa, dass du sie mit Donovan haben kannst?!“ Ihre Mutter klang entsetzt.

„Ich weiß es nicht. Wir haben uns jahrelang nicht gesehen. Ich kenne ihn eigentlich gar nicht.“

„Ich wäre ja nicht bereit, alles, was ich mit Carson haben könnte, für einen Mann wegzuwerfen, den ich kaum kenne.“

Zufrieden, das letzte Wort gehabt zu haben, stolzierte Marilyn davon.

Raven hatte nicht erwartet, dass ihre Mutter ihre Meinung änderte. Ihr Vater dagegen war ein Romantiker und würde ihr raten, der Stimme ihres Herzens zu folgen. Aber egal, auf wen sie hörte, sie würde Donovan schon bald wiedersehen.

Ob sie nun bereit war oder nicht, in etwas über einer Stunde würden sie und Elias in die Stadt fahren, um ihm dort rein zufällig zu begegnen.

Donovan wartete im Schatten eines Gebäudes am Eingang zum Jahrmarkt. Er hatte in der Nähe des Rathauses geparkt und war eine Stunde lang durch die Stadt gelaufen. Auf der Fahrt war er an dem Ort vorbeigekommen, an dem sich sein Leben so dramatisch verändert hatte. Aber er hatte nichts gefühlt – keine Furcht, keinen Zorn, nichts.

Jetzt blickte er auf die Uhr. Raven und Elias würden erst in zehn Minuten auftauchen.

„Donovan?“

Er drehte sich um und sah einen Mann und eine Frau auf sich zukommen. „Jericho“, sagte er lächelnd.

„Gut, dich zu sehen. Ich habe schon gehört, dass du wieder hier bist, konnte es aber kaum glauben.“ Lachend schüttelte Jericho Jones den Kopf. „Wir haben überall nach dir gesucht, aber es war, als hättest du dich in Luft aufgelöst. Wo hast du die ganze Zeit bloß gesteckt?“

„In Texas. Jedenfalls die letzten sieben Jahre.“ Mehr wollte Donovan im Moment nicht preisgeben. Er wollte seinem alten Freund nicht den Abend verderben. Von Karl Rivers konnte er ihm immer noch erzählen.

Die Frau neben Jericho räusperte sich, und Donovan war ihr dankbar dafür.

„Entschuldigung. Dies ist meine Frau Camille.“

Donovan schüttelte ihre Hand. „Schön, dich kennenzulernen, Camille.“

„Dich auch. Ich habe so viel über dich gehört, aber lass dich nicht dazu drängen, mehr zu erzählen, als du willst. Ich musste selbst mal schnell aus der Stadt verschwinden, deshalb verstehe ich dich. Zum Glück bin ich dann diesem Rancher begegnet. Er hat mich gerettet.“ Sie und Jericho wechselten einen zärtlichen Blick. Donovan beneidete die beiden, freute sich aber auch für sie.

„Camille hat recht“, sagte Jericho. „Ich will nicht neugierig sein. Ich bin bloß froh, dass du wieder da bist. Du bleibst doch, oder?“

„Ja. Die Cordero-Ranch ist mein Zuhause.“ Und das Leben und die Menschen, die er in Texas zurückgelassen hatte? Darüber würde er später nachdenken. Jetzt war ihm erst einmal wichtig, eine Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen. Donovan sah Camille an. „Jetzt bin ich neugierig. Warum musstest du plötzlich weg? Aber erzähl es mir nur, wenn du willst.“

Sie lächelte. „Kein Problem. Ich musste New York verlassen, weil ich in meiner Firma an der Wall Street Geldwäschern auf die Spur gekommen war. Als ich zufällig mitbekam, dass sie einen Killer auf mich ansetzen wollten, bin ich auf die Double J Ranch im Landesinneren geflüchtet, eine Stunde Fahrzeit von Sweet Briar entfernt. Dieser heldenhafte Rancher hat mich aufgenommen. Wir haben uns verliebt, und der Rest ist – wie man so schön sagt – Geschichte.“

„Wow“, entfuhr es Donovan. Vielleicht konnte es für ihn ja auch ein Happy End geben. „Leben Billy Campbell und Tony Wilson auch noch hier?“

„Tony ist nach dem Studium in Kalifornien geblieben. Seine Eltern genießen seit fünf Jahren ihren Ruhestand in Hilton Head. Ihre Ranch hat früher mal zur Double J gehört, deshalb habe ich sie gekauft. Wenn Tony sie besucht, schaut er bei uns vorbei.“

„Und Billy?“

Jericho lächelte traurig. „Der ist vor acht Jahren im Irak getötet worden.“

„Oh.“

„Ja. Komm uns besuchen, ja?“

„Gern. Wie wäre es nächste Woche?“

Jericho nickte. „Tu das.“ Er zeigte zum Jahrmarkt. „Kommst du mit?“

Donovan schüttelte den Kopf. „Vielleicht sehen wir uns noch.“ Er schaute Jericho und Camille nach, als sie in der Menge verschwanden. Vielleicht hatte er ja auch so viel Glück wie sein alter Freund und fand eine Frau, die er liebte. Aber erst einmal war er mit Raven und Elias verabredet.

Er entdeckte sie, als sie zur Kasse gingen. In einem pinkfarbenen Top und geblümten Shorts sah Raven unglaublich sexy aus.

„Komm schon, Mom.“ Elias nahm ihre Hand und zog sie mit sich.

„Okay.“ Sie schaute noch einmal suchend in die Runde.

Donovan atmete tief durch und trat aus dem Schatten. „Raven? Elias?“ Er schaffte es, überrascht zu klingen.

„Hi.“ Raven strich sich eine Locke hinters Ohr, an dem ein winziger Diamant glitzerte.

„Hey“, sagte Elias und schaute über die Schulter auf die Karussells.

„Ich bin allein hier. Darf ich mich euch anschließen?“

„Natürlich“, erwiderte Raven. „Ist doch okay, oder, Elias?“

„Ja. Aber du hast gesagt, dass ich mit meinen Freunden losziehen darf.“

„Darfst du. Wir behalten dich im Auge.“

„Ich bin neun und kann selbst auf mich aufpassen.“

„Ich weiß.“

Donovan unterdrückte einen Seufzer. Zeit mit seinem Sohn zu verbringen, war anscheinend gar nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte. Aber er konnte sich gut daran erinnern, auch einmal so jung gewesen zu sein.

„Keine Sorge. Du wirst noch reichlich Zeit mit ihm verbringen“, sagte Raven, als Elias zu einer Gruppe von Jungen rannte.

„Du gehst entspannter damit um, als ich erwartet habe.“

„Was dachtest du denn? Dass ich mir unser Kind schnappe und mich mitten in der Nacht davonschleiche?“

Er schnappte nach Luft.

„Entschuldige, das war gemein.“

„Ich bin nur etwas empfindlich, nehme ich an.“

„Und ich fühle mich etwas unwohl. Ist dir aufgefallen, wie viele Leute uns anstarren?“

Auf seinem Spaziergang durch die Stadt war er mehreren Bekannten von früher begegnet. Alle hatten ihn lächelnd zu Hause willkommen geheißen. „Sie starren dich an. Du bist das hübscheste Mädchen hier.“

Raven lachte. „Du brauchst mir nicht zu schmeicheln. Ich habe doch schon gesagt, dass du Zeit mit Elias verbringen darfst.“

„Das ist nicht geschmeichelt, sondern wahr. Du siehst toll aus.“

Ihre Miene wurde ernst. „Hör auf, mit mir zu flirten. Das hier ist kein Date. Wir sind Elias’ wegen hier.“

„Ich weiß, dass du verlobt bist, und respektiere es.“

„Wer hat dir erzählt, dass ich verlobt bin?!“

„Carson Rivers. Er ist bei mir vorbeigekommen. Übrigens, Glückwunsch. Ich hoffe, ihr werdet zusammen glücklich. Ich habe nicht vor, mich in dein Leben einzumischen. Aber wenn wir uns beide um Elias kümmern wollen, sollten wir wieder Freunde sein. Das waren wir doch, oder?“

Sie nickte, und ihr Lächeln kehrte zurück. Offenbar hatte er das Richtige gesagt. „Bis du entschieden hast, nicht mehr mit mir befreundet zu sein, du und dein Jungenklub.“

„Der Klub war Jerichos Idee.“

„Aha, jetzt ist also dein Freund schuld.“

„Genau, zumal er mich in diesem Moment nicht hören kann.“

Raven lachte wieder. Es ging ihm ans Herz – an die Stelle, die ihr mal gehört hatte.

„Ich bin ihm vorhin übrigens begegnet und habe seine Frau kennengelernt.“

„Camille? Sie ist großartig. Ich bin so froh, dass sie ihn ins Leben zurückgeholt hat. Er war zeitweise ein echter Einsiedler.“

„Jericho Jones? Der Mann war die Seele jeder Party.“

„Ja, bevor seine erste Frau Janet bei der Geburt gestorben ist. Zusammen mit dem Baby. Danach hat er sich von allen zurückgezogen und hat die Double J kaum verlassen.“

„Das wusste ich nicht.“

„Du warst nicht hier.“

„Stimmt.“ Während seiner Jahre in Texas hatte Donovan immer angenommen, dass er der Einzige war, dem seine Träume geraubt worden waren. Er hatte sich ganz offensichtlich geirrt. Das Leben war auch zu anderen grausam gewesen.

Er sah Raven an. Er wusste, dass auch sie schlimme Zeiten durchgemacht hatte. Das hatte sie ihm an ihrem ersten Tag erzählt. Und dann hatte sie ihn verloren wie er sie. Aber er hatte gewusst, warum er so abrupt verschwunden war – sie hatte mit der Ungewissheit fertigwerden müssen und sich um ihn gesorgt. Nicht zu wissen, ob er tot oder lebendig war, musste äußerst quälend gewesen sein.

Er nahm ihre Hände in seine. Obwohl sie auf der Ranch arbeitete, war die Haut zart. „Es tut mir leid.“

„Was?“

„Dass ich dir zehn schwere Jahre zugemutet habe. Dass ich nicht für dich da war, als du schwanger warst, und nicht geholfen habe, unseren Sohn großzuziehen. Bitte verzeih mir.“

Ihre Augen wurden groß, und sie blinzelte. Warum war sie überrascht? Er fragte sich, ob er ihr von Karl Rivers erzählen sollte. Nein, besser nicht. Sie wollte mit der Vergangenheit abschließen, und er durfte nicht riskieren, dass sie ihre Drohung wahrmachte und ihm den Umgang mit Elias verbot. Er wollte nicht vor Gericht darum kämpfen müssen. Außerdem war Raven mit einem anderen Mann verlobt, also spielte es keine Rolle mehr, warum er damals untergetaucht war. Sie beide würden in jedem Fall von vorn anfangen müssen.

„Ich verzeihe dir.“

„Wirklich?“

Sie lächelte. „Ja, wirklich. Und jetzt lass uns Elias einholen. Ich will einen dieser großen Teddybären gewinnen.“

Als sie weitergingen, atmete Donovan auf. Er machte sich nicht vor, dass zwischen ihm und Raven alles in Ordnung war. Dazu gab es zu viele unbeantwortete Fragen. Für den Moment war er mit dem Waffenstillstand zufrieden.

5. KAPITEL

Raven hob das Luftgewehr, zielte und schoss die letzte Blechente ab. Sie hob die Hände über den Kopf und jubelte. „Ich habe gewonnen!“

„Hast du“, bestätigte Donovan. „Glückwunsch.“

Was als freundlicher Wettstreit zwischen einigen Eltern begonnen hatte, war zu einem harten Kampf geworden und hatte etliche Zuschauer angelockt. Raven ging als die Siegerin hervor.

„All die Jagdausflüge mit Dad und meinen Brüdern haben sich wohl ausgezahlt.“ Rudy hatte immer darauf bestanden, dass die Kinder, auch Raven, ihn begleiteten. Bis heute vermutete sie, dass ihre Mutter dahintersteckte, um mal ein ruhiges Wochenende ohne ihre fünf lauten Sprösslinge zu haben.

„Du hast gewonnen, Mom. Du hast als Einzige alle Enten erlegt, deshalb bekommst du einen richtigen Preis und nicht nur diese Ringe oder Halsketten aus Plastik.“ Obwohl seine Freunde dabei waren, umarmte Elias seine Mutter. „Such dir einen aus, Mom. Du hast die Wahl zwischen dem großen Kaninchen und dem Pony.“

„Ich will den Teddybären.“

„Aber du hast doch schon einen zu Hause“, sagte Elias, als würde sie das übergroße Plüschtier nicht jeden Morgen sehen, denn es saß im Schaukelstuhl am Fenster.

„Ich weiß. Aber dann hat der Bär einen Freund und ist nicht mehr so einsam.“

„Die leben nicht, Mom. Es sind Spielzeuge. Sie haben keine Gefühle.“

Raven schüttelte den Kopf. Wenn es um Superhelden ging, hatte Elias kein Problem, sich seiner Fantasie hinzugeben. Bei Kuscheltieren verhielt es sich offenbar anders. „Das kann man nie wissen.“

„Aber …“

Donovan legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Diskutier nie mit einer Frau. Du hast keine Chance. Wenn sie glauben will, dass ihre Stofftiere Gefühle haben, dann nicke das einfach ab.“

„Aber was sie sagt, stimmt nicht.“

Donovan zwinkerte Elias zu. „Sie fühlt sich besser, wenn sie es glaubt. Okay?“

„Wenn du meinst.“ Elias zuckte mit den Schultern. „Kann ich jetzt zu meinen Freunden? Wir wollen Autoscooter fahren.“

Raven nickte. „Pass auf dich auf.“

„Das mache ich.“ Elias und die anderen Jungen rannten davon. Raven war mit Donovan allein.

Sie nahm den Teddybären entgegen und drückte ihn an sich. Als sie den Kopf hob, sah sie, dass Donovan sie beobachtete. „Was ist denn?“

„Hast du noch den Bären, den ich dir geschenkt habe?“

„Ja.“ Er hatte ihn im Vergnügungspark in Charlotte für sie gewonnen, nachdem er über zwanzig Dollar beim Ringwerfen ausgegeben hatte. Auf der Heimfahrt hatte er ihr gesagt, dass der Bär auf sie aufpassen würde, wenn sie schlief, und sie immer daran erinnern würde, dass er sie liebte.

Er nickte zufrieden. „Ich kann ihn für dich tragen.“

„Damit alle denken, du hättest ihn gewonnen?“

„Keine Sorge. Alle auf dem Jahrmarkt haben deinen Jubelschrei gehört. Und ich wette, Elias gibt überall mit dir an.“

„Na gut.“ Raven gab ihm das Stofftier, und sie schlenderten zu den Karussells. Die Musik wurde lauter, und Kinder mit Zuckerwatte in der Hand und Eiscremeflecken auf den T-Shirts eilten umher, gefolgt von erschöpft aussehenden Eltern.

„Das hat Spaß gemacht“, sagte Donovan.

„Ja, hat es.“ Sie war zwar nervös gewesen, aber zu ihrer Überraschung hatte sie sich in seiner Nähe wohlgefühlt. Es war wie früher gewesen, nur ohne das Händchenhalten und die Küsse. Sie hatte nicht vor, ihn wieder ihr Herz erobern zu lassen, aber Elias’ wegen war sie bereit, ihre alte Freundschaft wiederzubeleben.

Bei den Autoscootern sahen sie eine Weile zu, wie der Junge sich mit seinen Freunden amüsierte. Dann kam er zu ihnen. „Kennys Mom und Dad meinen, es ist spät und er muss nach Hause.“

„Sehe ich auch so“, sagte Raven.

Donovan und Elias stöhnten wie aus einem Mund auf und lachten fröhlich. Raven war erleichtert. Die beiden hatten sich auf Anhieb verstanden und ihre gemeinsame Liebe zu Comicbüchern entdeckt. Sie hatten zusammen Maiskolben und Tacos gegessen und sich über ihre Superhelden ausgetauscht.

„Noch eine Fahrt, bevor wir gehen?“, schlug Donovan vor. Elias warf ihr einen flehentlichen Blick zu.

„Na gut. Eine Fahrt.“

Donovan und Elias sahen sich an. „Die Achterbahn.“

„Ohne mich.“ Raven war für einen Tag schon genug durchgeschüttelt worden.

Auf dem kurzen Weg zur Achterbahn nahmen die beiden ihr Gespräch über Superhelden wieder auf.

„Welche Superkraft würdest du dir aussuchen?“, fragte der Junge.

„Darüber muss ich erst nachdenken. Und du?“

„Ich würde unsichtbar sein wollen. Dann könnte ich überall hingehen, und niemand würde mich sehen. Und abends könnte ich so lange lesen, wie ich will, und Mom würde es nicht mitbekommen.“

„Doch, das würde sie.“

„Wie denn? Ich wäre unsichtbar.“

„Du vielleicht, aber das Buch nicht. Deine Mom würde es in der Luft schweben sehen.“

„Stimmt. Daran habe ich nicht gedacht.“ Elias kickte einen Kieselstein weg. „Und welche Kraft würdest du nehmen, Donovan?“

„Die Zeitreise.“

„In die Zukunft schauen, meinst du? Oh ja, das wäre gut. Ich würde die Aufgaben im Mathetest vorher kennen.“

„Oder du könntest üben und dich vorbereiten“, warf Raven trocken ein.

Elias verdrehte die Augen.

„Ich würde nicht in die Zukunft schauen. Mit Überraschungen kann ich gut umgehen. Ich würde die Kraft nutzen, um in die Vergangenheit zurückzukehren und sie zu ändern. Ich würde einige Dinge anders machen und dadurch bestimmte Probleme vermeiden, aber ich würde nicht dorthin gehen, wo ich schon mal war, oder mir das ansehen, was ich schon kenne.“ Donovan klang ernst, und Raven wusste, dass er nicht nur ein belangloses Gespräch führte, um Elias zu unterhalten. Sie fragte sich, was er alles lieber nicht erlebt hätte. War er deshalb so abrupt verschwunden und so lange fortgeblieben?

„Aber wenn du die Vergangenheit ändern könntest, wäre jetzt alles anders“, warf Elias ein.

„Ich weiß.“

„Aber was, wenn du in der Vergangenheit jemanden gerettet hättest? Wenn du nicht dort gewesen wärst, wäre demjenigen etwas zugestoßen.“

Wie Amelia. Sie hatte ihn gebraucht, als das Date aus dem Ruder gelaufen war. Wenn er nicht eingegriffen hätte, wäre ihr Leben anders verlaufen. Vielleicht wäre sie nicht die lebensfrohe Frau, die sie geworden war. „Das habe ich nicht bedacht. Ja, vielleicht ist es ganz gut, dass wir keine Superkräfte haben.“

„Ich fände es trotzdem toll, unsichtbar zu sein.“

Raven und Donovan wechselten einen Blick und lachten. Er gab ihr den Bären, stieg mit Elias in den nächsten freien Waggon, schnallte sie beide an und zog den Sicherheitsbügel aus Metall nach unten.

Raven setzte sich auf eine Bank, winkte einigen Leuten zu, mit denen sie zur Schule gegangen war, und freute sich, als ein paar kleine Kinder den Teddy streicheln wollten. Alles in allem war es ein schöner Ausflug gewesen. Wenn jeder Tag so problemlos verliefe, wäre die gemeinsame Elternschaft ein Vergnügen.

An ihrem Auto verabschiedete sich Elias von Donovan und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Donovan setzte den Bären auf den Rücksitz und lehnte sich gegen die Fahrertür. „Das hat Spaß gemacht. Danke, dass ich euch begleiten durfte.“

Raven nickte. Plötzlich fühlte es sich wie das Ende eines Dates an, und sie wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Donovan half ihr, indem er zurücktrat und die Tür für sie öffnete. Er hielt sie auf und schloss sie hinter ihr. Beim Losfahren sah sie in den Rückspiegel. Er stand allein da und schaute ihnen nach.

Donovan starrte lange auf das Telefon, bevor er es auf den Terrassentisch legte, und schüttelte betrübt den Kopf. Gestern war es mit Raven so gut gelaufen, dass er sie angerufen und um ein paar Fotos von Elias gebeten hatte. Dass er die ersten Lebensjahre seines Sohns verpasst hatte, war nicht mehr zu ändern, aber vielleicht würden die Fotos den Schmerz etwas lindern. Er hatte es für eine harmlose Bitte gehalten, aber Raven war offenbar anderer Ansicht. Sie hatte abgelehnt und gesagt, er sei selbst schuld daran, dass er nicht da gewesen war. Dann hatte sie aufgelegt, bevor er noch etwas sagen konnte.

„Ärger?“

Donovan hob den Kopf. Er hatte seine Eltern gar nicht bemerkt. „Nein.“ Er wollte nicht, dass sie sich seinetwegen sorgten.

„Wie war es auf dem Jahrmarkt?“, fragte Lena und setzte sich zu ihm. Es war früher Nachmittag und nicht zu heiß. Die kühle Brise tat gut, und nach seiner Zeit in Texas genoss er das angenehme Wetter in North Carolina.

„Hat Spaß gemacht.“

„Ich bin froh, dass du dich mit Raven verstehst.“ Lena seufzte. „Ich habe sie immer gemocht. Ihr zwei wart ein schönes Paar.“

Donovan wusste, worauf seine Mutter hinauswollte. „Wir waren Kinder. Es ist lange her. Jetzt ist sie mit Carson Rivers verlobt, also versuch gar nicht erst, mein Leben in einen dieser romantischen Filme zu verwandeln, die du so gern siehst.“

„Carson ist ein netter Mann, aber nicht der Richtige für sie. Jetzt, da du zurück bist, kannst du ihr helfen, das einzusehen.“

„Lena, lass den Jungen in Ruhe. Er kann sich selbst ein Mädchen suchen.“

„Natürlich kann er das. Ich wollte ihn nur daran erinnern, wie gut sie sich immer verstanden haben. Und sie haben einen gemeinsamen Sohn.“

„Lena …“

„Okay. Kein Wort mehr über Raven. Bestimmt weiß er auch so, wie süß sie ist. Und er muss blind sein, wenn er nicht sieht, wie hübsch sie ist.“

Donovan und sein Vater wechselten einen Blick.

Mario stand auf und streckte die Hand aus. „Komm schon, Lena. Zeit für unseren Spaziergang.“

Lächelnd ergriff Lena seine Hand.

Donovan lauschte den leiser werdenden Stimmen seiner Eltern, als sie davongingen, und fragte sich, ob es ein Fehler war, Raven nicht noch einmal anzurufen. Wenn sie nicht miteinander sprachen, würde sich zwischen ihnen nichts ändern. Nicht, dass er erwartete, sie könnten ihre alte Beziehung wiederbeleben. Sie liebte einen anderen Mann, und er musste sich erst in seinem neuen Leben zurechtfinden.

Sosehr er sich auch freute, wieder zu Hause zu sein, er vermisste Texas und die Freunde, die ihn dort aufgenommen hatten.

Autor

Nancy Robards Thompson
<p>Nancy Robards Thompson, die bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, lebt in Florida. Aber ihre Fantasie lässt sie Reisen in alle Welt unternehmen – z. B. nach Frankreich, wo einige ihrer Romane spielen. Bevor sie anfing zu schreiben, hatte sie verschiedene Jobs beim Fernsehen, in der Modebranche und in der...
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