Big Sky - weiter Himmel, weites Land - Teil 4-6

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BIG SKY SUMMER - ZEIT DER ENTSCHEIDUNG

Einmal nicht aufgepasst - das hat Walker Parrish mindestens einmal eine Riesenüberraschung bereitet. Beziehungsweise zwei, und die sind nun im Teenageralter. Erst jetzt hat seine Jugendliebe Casey ihm eröffnet, dass er Vater ist. Damals verließ sie Parable, Montana, um Karriere als Countrysängerin zu machen. Doch plötzlich ist sie wieder zurück in Walkers Leben. Für den schweigsamen Cowboy mit der Angst vor großen Gefühlen wird es ein Sommer der Entscheidungen: Er und Casey müssen ihren Kindern endlich die Wahrheit sagen. Er und Casey, da ist noch immer so viel Leidenschaft. Er und Casey könnten vor einem Neuanfang stehen - oder vor einer Katastrophe …

BIG SKY WEDDING - HOCHZEITSGLÜCK IN MONTANA

Die Braut steht vorm Altar und wartet auf den Bräutigam. Und wartet - und wartet - vergeblich. Dieser Albtraum ist für Brylee Parrish Wirklichkeit geworden. Kein Wunder, dass sie Männern seitdem misstraut. Vor allem solchen wie Zane. Der sexy Schauspieler mit dem umwerfenden Lächeln, das Brylees Knie weich werden lässt, hat die Nachbarranch gekauft. Ein Sonntagscowboy, ein Aufreißertyp! Glaubt sie. Ein Irrtum - wie sie schnell erkennt. Doch selbst die romantischen Küsse können ihre Zweifel an Zane nicht ganz vertreiben: Wer weiß schon, ob der berühmte Hollywoodstar im beschaulichen Parable, Montana nicht nur eine Gastrolle spielt?

BIG SKY SECRETS - ANTWORT DES HERZENS

"Warum können Sie mich nicht leiden, Ria?" - "Weil Sie zu gut aussehen und das auch wissen. " - "Mein Verbrechen besteht also darin, dass ich zu gut aussehe und es auch weiß?" - "Genau!"

Was soll man(n) dazu sagen? Landry Sutton fällt jedenfalls nichts mehr ein. Deshalb verschließt er der kratzbürstigen Ria den Mund mit einem Kuss. Aber damit fangen die Probleme erst an. Jeden Tag fühlt er sich mehr zu Ria hingezogen. Doch ein Happy End scheint in weiter Ferne: Denn Landry hat die Arbeit auf der Ranch, die er mit seinem Bruder führt, satt, und vermisst das quirlige Stadtleben. Im Gegensatz zu Ria! Die hat der hektischen Großstadt den Rücken gekehrt und genießt die beschaulichen Stunden auf ihrer Blumenfarm. Bald muss Landry sich entscheiden: Landliebe oder Citylife?


  • Erscheinungstag 07.01.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783955769710
  • Seitenanzahl 912
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Linda Lael Miller

Big Sky - weiter Himmel, weites Land - Teil 4-6

Linda Lael Miller

Big Sky Summer –

Zeit der Entscheidung

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Ralph Sander

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Big Sky Summer

Copyright © 2013 by Linda Lael Miller

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-331-7

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Walker Parrish saß eingezwängt auf der Holzbank in der dritten Reihe, links und rechts hatten alte Damen, die Sommerhüte und Kleider mit großflächigen Blumenmustern trugen, Platz genommen. Nervös wanderte sein Blick zur Decke der Kirche, um sich zu vergewissern, dass die ihm nicht jeden Moment auf den Kopf fallen würde. Zu gern hätte er den Krawattenknoten ein wenig gelockert, doch er widerstand dieser Versuchung. Schlipse waren seiner Meinung nach genau wie ein Kirchenbesuch zwei Anlässen vorbehalten: Beerdigungen und Hochzeiten. Glücklicherweise lieferte Letzteres diesmal den Grund.

Die Luft in der kleinen Kirche knisterte förmlich vor Begeisterung. Die Leute tuschelten aufgeregt, der Organist stimmte sich auf den Hochzeitsmarsch ein, und der Bräutigam – Sheriff Boone Taylor – stand ganz vorn ein kleines Stück rechts vom schlichten Altar. Er schien sich zu freuen, gleichzeitig allerdings sah er aus, als ob er sich zu Tode fürchten würde. So wie die meisten Männer in und um Parable, Montana, zog er am liebsten Jeans, Stiefel und Baumwollhemden an, weshalb er sich in seinem geliehenen Smoking sichtlich unbehaglich fühlte.

Die Halbbrüder Hutch Carmody und Slade Barlow, die besten Freunde von Boone, standen neben ihm, sie waren in ihren schicken Anzügen ebenfalls kaum wiederzuerkennen. Beide waren sie verheiratet, und sie waren durch und durch Cowboys. Momentan behielten sie Boone im Auge, als fürchteten sie, sie müssten ihn jeden Moment stützen, weil er weiche Knie bekam. Doch nicht nur Sorge um ihren Kumpel war ihnen anzusehen, ihre Mundwinkel umspielte auch ein ironisches Lächeln, das verriet, welchen Spaß ihnen diese Situation bereitete. Immerhin hatte jeder von ihnen bei seiner Hochzeit das gleiche Ritual über sich ergehen lassen müssen, da sollte Boone nicht von verschont bleiben.

Walkers Blick blieb an Hutch hängen, dabei erinnerte er sich an das letzte Mal, als er diese kleine Kirche betreten hatte. Es war ein Tag im Juni gewesen, ähnlich dem heutigen. Die Vögel hatten zwitschernd in den Bäumen gesessen, durch die offenen Türen wehte ein warmer Wind durch den Mittelgang bis hin zum Altar. Im nächsten Augenblick bewirkte diese Erinnerung, dass er wütend die Lippen zusammenpresste. Damals vor fast zwei Jahren war Hutch der Bräutigam gewesen, nicht der Trauzeuge. Und Walkers jüngere Schwester Brylee, seine einzige Blutsverwandte – zumindest die Einzige, von der er das öffentlich behaupten durfte –, war die Braut gewesen. Eine junge Frau mit strahlenden Augen und der Hoffnung auf eine wundervolle Zukunft. In einem Kleid, von dem Frauen schon als kleines Mädchen träumten.

Eben erst hatte der Organist zu spielen begonnen, die Brautjungfern hatten ihre unendlich oft geprobte Aufstellung eingenommen, und Walker war im Begriff gewesen, mit Brylee am Arm durch die bis auf den letzten Platz besetzte Kirche zu schreiten – da hatte sich auf einmal Boone umgedreht und laut gerufen: „Einen Moment! Halt!“

Und damit hatte er dann die Hochzeit abgesagt, mitten in der Kirche, nur ein paar Meter vom Altar entfernt. Brylees Traum von der Märchenhochzeit war in diesem Moment in tausend Scherben zerschlagen worden.

Zwar war Walker darüber, wie sich die Dinge entwickelt hatten, auch jetzt noch erleichtert, weil er Brylee und Hutch Carmody nie für ein Traumpaar gehalten hatte. Doch beim Gedanken an diese Demütigung, die seine Schwester erlebt hatte, durchfuhr ihn nach wie vor ein Stich, und wenn er damals nicht Brylee von jeder nur denkbaren Dummheit hätte abhalten müssen, dann hätte er Carmody auf der Stelle verprügelt – ohne Rücksicht darauf, dass das dann mitten in diesem Gotteshaus geschehen wäre.

Aus diesem Grund war er sich auch nicht sicher, ob die Dachbalken tatsächlich halten würden. Wieder blickte er skeptisch zur Decke hoch.

Reverend Walter Beaumont würde die Trauung vornehmen, mit der Bibel in der Hand stand er vor dem Altar. Vom Aussehen her erinnerte er an Morgan Freeman, während seine Stimme so tief und sonor war wie die von James Earl Jones. In seinem prachtvollen kastanienfarbenen Ornat mitsamt langer golden glitzernder Stola wirkte Beaumont wie ein alttestamentarischer Prophet, der gekommen war, um uneinsichtige Sünder auf den Pfad der Tugend zurückzubringen. Es war ein ungewohntes Bild, da er für gewöhnlich so wie alle anderen bei der Kleidung den lässigen und zweckmäßigen Westernstil pflegte.

Als Beaumont sich kurz räusperte, setzte der Organist zum ersten Akkord des Hochzeitsmarsches an, woraufhin sich alle Anwesenden erwartungsvoll nach der Braut umschauten. Walker vermutete, dass so wie er selbst sich auch einige andere Gäste fragten, ob sich wohl die Geschichte wiederholen würde. Immerhin war die abgesagte Carmody/Parrish-Hochzeit in Parable County schon so etwas wie eine Legende.

Tara Kendalls Teenager-Stieftöchter, die inzwischen dauerhaft bei ihr lebten, hatten die Rolle der Blumenmädchen übernommen, die sie mit großem Vergnügen ausübten. Während die Zwillinge den Mittelgang entlangtänzelten und Blütenblätter verstreuten, grinsten sie sich gegenseitig fröhlich an. Es schien ihnen zu gefallen, von allen beachtet zu werden.

Dann folgte Joslyn Barlow, die Ehefrau von Slade, deren Schwangerschaft sich in einem sehr fortgeschrittenen Stadium befand. Sie trug ein elegantes lavendelfarbenes Umstandskleid und hielt mit beiden Händen einen bunten Blumenstrauß fest.

Walker entgingen nicht die elektrisierten Blicke, die Joslyn und ihr Ehemann austauschten, während sie ihren Platz gegenüber von den drei Männern einnahm, die wie übergroße Pinguine dastanden.

Als Nächste kam Hutchs Ehefrau Kendra Carmody herein, die Frau, für die er Brylee am Altar hatte sitzen lassen. Sie trug ein elegantes, blassgelbes Kleid und hielt ebenfalls einen Blumenstrauß in ihren Händen.

Hutch zwinkerte ihr zu, während sie sich neben Joslyn stellte. Prompt errötete sie leicht.

Es folgten Boones Söhne, beide Jungs trugen Anzug und Fliege. Jeder hielt ein Satinkissen vor sich, darauf lag je ein goldener Ehering. Auf dem Weg zum Altar blieb der Kleinere von beiden ab und zu stehen, als hätte er vergessen, was er eigentlich tun sollte. Dabei zeigte er den Ring auch Opal Dennison, die den Jungen anlächelte und ihn dann weiter zum Altar schickte.

Diese Szene sorgte für heiteres Lachen, und ringsum wurden rasch Handys hochgehalten, um ein Erinnerungsfoto zu schießen.

Selbst Walker musste lächeln, denn auf einmal machte der ältere Junge kehrt und zog seinen Bruder hinter sich zum Altar.

Im nächsten Moment ertönte der laute, mitreißende Akkord, der den unmittelbar bevorstehenden Auftritt der Braut ankündigte. Abermals musste Walker an Brylees schiefgegangene Hochzeit denken, doch er freute sich auch für Boone und Tara Kendall.

Boone war seit ein paar Jahren verwitwet, der Verlust seiner ersten Frau hatte ihn so schwer getroffen, dass er Walker eine Zeit lang wie ein wandelnder Toter vorgekommen war, der nur noch seinen Job als Sheriff erledigt hatte. Umso mehr gönnte er Boone sein neues Glück.

Die Braut war vor noch nicht allzu langer Zeit aus New York nach Parable umgezogen, um nach einer hässlichen Scheidung einen kompletten Neuanfang zu wagen. Es hatte eine Weile gedauert, bis Tara und Boone zusammengefunden hatten, vor allem da sie sich zu Beginn gar nicht hatten leiden können. Das lag jetzt hinter ihnen, ebenso wie die lange Kennenlernphase, auf die sie sich mit Blick auf ihre ursprüngliche gegenseitige Abneigung geeinigt hatten, was Walker für eine kluge Idee hielt.

Und jetzt war für die beiden endlich der große Tag gekommen.

Lautes Rascheln erfüllte die Kirche, als die Gäste aufstanden und sich umdrehten, um einen Blick auf die Braut zu erhaschen, der die wenigen Meter bis zum Altar vermutlich wie die längste Strecke ihres ganzen Lebens erschienen.

Boones Schwager Bob führte Tara zum Altar, aber neben ihrem strahlenden Erscheinungsbild geriet er schnell in Vergessenheit. In ihrem wallenden Spitzenkleid sah Tara aus wie ein Engel, ihr Lächeln war hinter dem mit Strass besetzten Schleier ebenso deutlich auszumachen wie die Freudentränen, die ihr über die Wangen liefen.

Der Anblick sorgte dafür, dass sich Walkers Kehle zusammenschnürte. Sosehr er ihr und Boone dieses Glück gönnte, so sehr wünschte er, seine desillusionierte jüngere Schwester würde auch endlich den Mann finden, den sie heiraten wollte. Beide hatten sie eine Einladung zu dieser Hochzeit erhalten, doch Brylee machte seit einer Weile einen großen Bogen um jede Hochzeit. Genau genommen machte sie um viel zu viele Dinge einen Bogen, was ihn betraf. Stattdessen stürzte sie sich in die Arbeit und war meistens so erledigt, dass sie keine Lust hatte, sich ausgiebig mit ihm zu unterhalten, wenn sie sich sahen. Erst lange nachdem ihre Angestellten Feierabend hatten und nach Hause gegangen waren, beendete sie die Arbeit, und dann verkroch sie sich sofort in ihr Apartment im Ranchhaus, dicht gefolgt von ihrem deutschen Schäferhund Snidely, einer treuen Seele, die ihr nie von der Seite wich.

Als ihm auffiel, dass er sich entgegen allen Gewohnheiten mit einem Mal in seinen Gedanken verloren hatte, zuckte Walker leicht zusammen, da auf einmal Casey Elder mit Notenblättern in der Hand neben dem Organisten auftauchte. Sie trug ein blaues Kleid und hatte auf fast sämtliches Make-up verzichtet. Ihr schulterlanges rotes Haar, das normalerweise in ungestümen Locken ihr Gesicht einrahmte, war zu einem braven Knoten im Nacken hochgesteckt worden.

Bei diesem Anblick erlaubte sich Walker innerlich ein ironisches Glucksen.

Von dieser Seite hatte er Casey nur selten kennengelernt, obwohl sie beide eine chaotische, verworrene Vergangenheit verband. Auch nach fünfzehn Jahren als Profi im Musikgeschäft konnte sie noch immer jede Arena und jede große Konzerthalle füllen, keine ihrer Singles hatte je den ersten Platz in den Charts verpasst, sondern stets mehrere Woche an der Spitze gestanden. Ihre Videos waren legendär, immer sehr bunt und mit viel Feuer und Rauch, außerdem war sie berühmt für ihren auffallenden Stil, besonders allerdings für ihre kraftvolle Stimme, die mehrere Oktaven umfasste. Wenn sie sang, dann war es, als würde ihre Stimme die Schwingen ausbreiten und wie eine befreite Seele davonfliegen.

Auf der Bühne und vor der Kamera trug sie maßgeschneiderte Outfits, die so verschwenderisch mit Edelsteinen besetzt waren, dass Casey wie der sternenübersäte Nachthimmel über Montana glitzerte und funkelte. Mit ihrem Aussehen und ihrer Art zu singen schlug sie jeden Zuschauer in ihren Bann und hielt ihn so lange fest, bis der letzte Song verklungen war und der Vorhang sich geschlossen hatte. Und selbst dann wirkte der Zauber ihres Auftritts noch lange nach.

Walker fragte sich, ob die Heerscharen der Fans Casey wiedererkennen würden, wenn sie sie jetzt sehen könnten, so brav und fast schon bieder. Er verdrängte den Schwall an Gefühlen, die ihn immer dann bestürmten, sobald er dieser Frau begegnete, ganz gleich ob sie sich gegenüberstanden oder ob er sie in einiger Entfernung auf der Bühne sah. Als sie jetzt zu singen begann, ließ er sich keine Regung anmerken.

Dieses Lied, in dem es um Versprechen und Sonnenaufgänge und darum ging, unter allen Umständen zusammenzubleiben, hatte sie speziell für Boone und Tara geschrieben. Die Orgel spielte im Hintergrund so leise, dass die Melodie Caseys Stimme wie ein hauchdünnes Tuch aus Klängen unterlegte.

Sowie das Lied endete, schnieften die alten Damen links und rechts von Walker vor Rührung, und er selbst musste feststellen, dass sich offenbar die eine oder andere Träne in seine Augen verirrt hatte.

So lautlos wie ein Geist zog sich Casey unterdessen zurück, und die eigentliche Zeremonie konnte anfangen. Von der bekam Walker aber nur noch wenig mit, da er wie benommen dasaß, während Caseys Song wie ein himmlisches Echo in ihm nachhallte.

Tara stellte sich zu Boone, der Reverend begann zu reden. Wenig später legten beide ihr Ehegelübde ab, schworen sich ewige Treue, und schließlich verschmolzen die Flammen von Boones und Taras Kerzen zu einer einzigen Flamme, die kaum flackerte. Sie steckten sich gegenseitig die Eheringe an und schauten sich strahlend an.

Noch immer wie in Trance von Caseys Lied lief das Geschehen vor Walker ab.

Der Reverend erklärte sie mit volltönender Stimme zu Mann und Frau, dann hob Boone vorsichtig Taras Schleier und strich ihn nach hinten, um sie so voller Zärtlichkeit zu küssen, dass es selbst einem rauen Cowboy wie Walker warm ums Herz wurde.

Wieder ertönte die Orgel, diesmal so energisch, dass Walker schlagartig aus dem Zauber herausgerissen wurde, mit dem Casey ihn belegt hatte. Mr und Mrs Boone Taylor verließen vom Jubel der Gäste begleitet die Kirche.

Geduldig wartete Walker, bis auch er nach draußen gehen konnte, wo ihn die Nachmittagssonne empfing. Es duftete nach Blumen und gemähtem Gras. Er war froh, dass die Trauung vorüber war, und er fand, es war nur richtig von ihm gewesen, herzukommen und dafür diese kratzigen Klamotten in Kauf zu nehmen.

Jetzt musste er sich nur noch beim anschließenden Empfang blicken lassen, etwas vom Kuchen essen, Boone die Hand schütteln und Tara einen Kuss auf die Wange geben, ein paar Leuten freundlich zunicken, und dann konnte er sich dezent verdrücken. Die ganz große Feier würde wohl die Ausmaße einer kleinen Zirkusvorstellung haben und sollte im riesigen Garten hinter Caseys Haus abgehalten werden. Das hätte er nur zu gern vermieden, doch das war natürlich nicht möglich, weil er sich ja auch stellvertretend für Brylee blicken lassen musste. Mit etwas Glück würde er ein paar Minuten mit Clare und Shane verbringen können, ohne dass ihre Mutter mit dabei war.

Clare und Shane. Caseys Kinder.

Seine Kinder.

Er marschierte zu seinem Wagen, einem Modell mit besonders langer Fahrerkabine und genügend PS unter der Haube, um Pferdeanhänger ziehen zu können. Kaum war er eingestiegen, legte er die Krawatte ab, da die sich allmählich anfühlte wie der Strick an einem Galgen.

Auf der Straße vor der Kirche herrschte einiger Trubel, weshalb es eine Weile dauerte, um überhaupt von der Stelle zu kommen. So wie er waren alle anderen auch auf dem Weg zu Caseys Herrenhaus an der Rodeo Road.

Ein Stück voraus entdeckte Walker die Limousine, in der das frischvermählte Paar chauffiert wurde. Trotz seiner wachsenden Nervosität musste er lachen, als er sah, dass Boone und Tara im Wagen standen und sich aus dem offenen Schiebedach beugten. Es tat gut, beim Anblick dieser beiden daran erinnert zu werden, dass ein solch himmlisches Glück tatsächlich möglich war. Nach einer gescheiterten Ehe und seiner langen, stürmischen Beziehung mit Casey reagierte Walker eher skeptisch, wenn es um Liebe und Romantik ging, jedenfalls um Liebe, die alles überdauerte.

Eine etwas düstere Stimmung überfiel ihn, während er im Schritttempo in der Wagenkolonne mitfuhr. Mehr als einmal fühlte er sich versucht, den zweiten Teil der Feierlichkeiten einfach zu überspringen, in die nächstbeste Seitenstraße einzubiegen und nach Hause zu seinen Pferden und Rindern zu fahren, sodass er endlich diesen Anzug ausziehen konnte. Zu dumm nur, dass seine Manieren von ihm verlangten, das Richtige zu tun, egal ob es ihm nun behagte oder nicht.

Also tat er das Richtige und blieb in der Kolonne, bis er auf der Rodeo Road Caseys riesiges Haus erblickte. Er ergatterte einen Parkplatz, was einem kleinen Wunder gleichkam, und musste zwei Blocks weit laufen, bis er die mit weißem Kies bedeckte Einfahrt erreichte. Dort mischte er sich unter die Hochzeitsgäste, darunter auch viele, die in der Kirche keinen Platz mehr gefunden hätten und deshalb direkt hierher zum Haus gefahren waren.

Jeder hatte sich herausgeputzt, und alle hielten sie wundervoll verpackte Geschenke oder Auflaufformen mit selbst zubereitetem Essen in den Händen, andere trugen Blumensträuße, die sie im eigenen Garten zusammengestellt hatten.

Im ersten Moment fühlte sich Walker etwas unwohl, weil er ohne Geschenk hier aufgetaucht war, doch dieses Gefühl verschwand schnell wieder. Brylee hatte sich längst darum gekümmert und auf der Glückwunschkarte für ihn mit unterschrieben, die sie irgendeinem dem Anlass entsprechenden Geschenk beigelegt hatte.

Zusammen mit einigen anderen Gästen lief er um das Haus herum und bemerkte vergnügt, dass er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte. Im Garten hinter Caseys Haus herrschte tatsächlich so etwas wie Jahrmarktatmosphäre. An den Zweigen der Bäume hingen Papierlaternen, mittendrin stand ein großer silberner Schokoladenbrunnen, und über den Dutzenden Tischen war ein riesiges Zeltdach aufgespannt worden. Auch an ein Podium für eine Band war gedacht worden, an eine provisorische Tanzfläche, eine Bar und – am unglaublichsten von allem – an ein echtes Karussell für die kleinen Gäste.

Es gab keinen Zweifel daran, dass hier noch lange weitergefeiert werden würde, wenn Boone und Tara die Torte angeschnitten, für den Fotografen posiert und den obligatorischen Tanz absolviert hatten, um dann in die Flitterwochen aufzubrechen. Gerüchte über mögliche Ziele wie Vegas, Honolulu und Cabo kursierten zwar, allerdings wohin es tatsächlich ging, verrieten die frischgebackenen Eheleute nicht.

In einer Kleinstadt, in der fast jeder wusste, was der andere machte, behielten die Leute so viele Geheimnisse für sich, wie sie nur konnten.

Walker betrachtete das zu Casey passende Spektakel, als sich plötzlich Shane zu ihm gesellte. Er trug eine dunkle Hose und ein weißes Hemd, doch Fliege und Jackett hatte er inzwischen abgelegt. Mit seinen dreizehn Jahren konnte man dem Jungen fast beim Wachsen zuschauen. Jedes Mal wenn Walker ihn traf, war er wieder ein Stück größer.

„Hey, Walker“, begrüßte Shane ihn grinsend. Während seine Schwester mit ihrem kastanienroten Haar, dem hellen Teint und ihren grünen Augen eindeutig nach Casey kam, sah Shane fast genauso aus wie Walker als Teenager. Schon seltsam, dass es bislang noch niemandem aufgefallen war.

„Hey“, erwiderte er. „Scheint so, als würde das eine ganz besondere Party werden.“

Shane nickte. „Mom wird nachher auch noch singen. Von dem Essen, das die Caterer ranschleppen, könnte die ganze Stadt bestimmt ein Jahr lang satt werden.“

Walkers Kehle war prompt wie zugeschnürt. Er konnte ein knallharter Kerl sein, wenn es nötig war, allerdings Casey in der Kirche singen zu hören, hatte ihn schon sehr gerührt. Den Abend über ihren größten Hits zu lauschen – er wusste nicht, wie er das überstehen sollte.

„Allzu lange kann ich nicht bleiben“, sagte Walker etwas schroff. „Ich habe auf der Ranch noch einiges zu erledigen …“ Er verstummte, weil er bemerkte, dass Shane ein langes Gesicht machte. Auch wenn der Junge wahrscheinlich keine Ahnung hatte, dass Walker sein leiblicher Vater war – Casey hatte dafür gesorgt, dass das niemand erfuhr –, hatten sie beide sich doch schon immer gut verstanden. Walker war der gute Freund der Familie, der Typ, der zu Thanksgiving, zu Geburtstagen und manchmal auch zu Weihnachten vorbeischaute. Casey weigerte sich, Unterhaltszahlungen anzunehmen, dennoch legte Walker schon seit Jahren für seine beiden Kinder Geld zur Seite, das sie später bekommen sollten.

„Oh“, stieß Shane hervor und schaute betrübt drein. Ihm war klar, was es bedeutete, eine so große Ranch wie Timber Creek zu führen, auf der Walker Viehzucht betrieb, aber auch Bullen und Pferde für Rodeos züchtete.

Der Junge verbrachte zusammen mit seiner Schwester Clare fast jeden Sommer ein bis zwei Wochen auf Timber Creek, weshalb er wusste, dass da genügend fähige Helfer waren, die sofort einsprangen, falls Walker aus irgendeinem Grund nicht dort war.

Walker zwang sich zu einem Lächeln und berührte Shane an der schmächtigen Schulter. „Aber eine Weile werde ich wohl doch bleiben können“, erklärte er. Bislang waren Clare und Shane von Privatlehrern unterrichtet worden und mehr oder weniger im Tourbus aufgewachsen. Im letzten Jahr hatten sie die Schule in Parable besucht, was für sie eine völlig neue Erfahrung war. Doch sie hatten sich gut eingelebt, denn durch ihr Leben in luxuriösen Reisebussen und Privatjets hatten sie gelernt, sich schnell an neue Verhältnisse anzupassen.

Breit grinste Shane ihn an. „Gut“, sagte er und stand die nächste Viertelstunde bei Walker, bis er auf eine Gruppe kichernder Mädchen aufmerksam wurde, die alle zu ihm rüberschauten. „Meine Fans“, meinte er augenzwinkernd und brachte Walker zum Lachen.

„Dann halt dich mal ran“, gab Walker zurück und schlenderte allein weiter in Richtung Bar, hielt alle paar Meter an, um sich mit jemandem zu unterhalten, den er von irgendwoher kannte. Schließlich hatte er sein Ziel erreicht und bekam ein kaltes Bier überreicht. Boone, Tara und die anderen posierten für Profi- und Hobbyfotografen gleichzeitig. Eine Weile sah Walker ihnen zu und musste sich eingestehen, dass er seine Freunde tatsächlich ein wenig beneidete. Gemeinsam hatten die beiden vier Kinder, sie waren also bereits eine fertige Familie. Wie wäre es wohl, wenn er öffentlich erklären könnte, dass er der Vater von Shane und Clare war? Und wenn sie ihn Dad nennen könnten?

Das wird nie passieren, Cowboy, sagte er sich. Also vergiss es lieber.

Walker trank von seinem Bier. Wie sollte ein Mann vergessen können, dass er der Vater von zwei Kindern war, was allerdings niemand wissen durfte?

Es ärgerte ihn, dass Casey so sehr darauf beharrte, die beiden seien allein ihre Kinder. Sie tat so, als hätte sie nicht nur ein Mal, sondern gleich zwei Mal das Wunder der unbefleckten Empfängnis erfahren. Vor Verärgerung lief sein Hals rot an, und der Hemdkragen schien noch enger zu werden. Er stellte die nur zur Hälfte ausgetrunkene Bierflasche weg. Möglicherweise war es der Alkohol, der ihn in diese Stimmung versetzt hatte, also sollte er darauf für den Augenblick besser verzichten.

Gerade hatte er sich durch die Menschenmenge gezwängt, die die Bar belagerte, da rannte ihm Kendra Carmody über den Weg.

„Hallo, Walker“, begrüßte sie ihn. Kendra war eine elegante Blondine, ein Grace-Kelly-Typ, und Walker verstand, warum Hutch diese Frau liebte, auch wenn sein Mitgefühl natürlich Brylee galt.

„Kendra“, erwiderte er und nickte höflich. Er hatte nichts gegen sie, schließlich hatte sie keine Ehe zerstört, was sogar Brylee klar war. Bloß wenn es um Hutch ging, dann hatten Walker und seine Schwester gewisse Vorbehalte.

„Schade, dass Brylee nicht mitgekommen ist“, sagte Kendra. Ein Blick in ihre grünen Augen ließ erkennen, dass sie das ehrlich meinte. Parable und das nur dreißig Meilen entfernte Three Trees waren die Art von Gemeinden, bei denen einfach alle einbezogen wurden, wenn es etwas zu feiern oder zu betrauern gab.

Walker seufzte leise. „Finde ich auch“, entgegnete er genauso aufrichtig. Er würde für seine Schwester keine Ausreden erfinden. Brylee war eine erwachsene Frau, und sie hatte nun mal ihre Gründe, großen Feiern und erst recht Hochzeiten fernzubleiben.

Lächelnd berührte Kendra seinen Arm. „Aber es ist schön, wenigstens dich zu sehen“, erklärte sie.

Nach einer kurzen freundlichen Unterhaltung ging Kendra weiter, um die anderen Gäste zu begrüßen. Vor einiger Zeit hatte dieses Haus noch ihr gehört, doch seitdem war viel geschehen. Sie und Hutch lebten mit ihren zwei Töchtern auf der Whisper-Creek-Ranch und planten dort eine noch viel größere Familie.

Ein weiteres Mal musste Walker gegen puren Neid ankämpfen. Okay, er besaß vielleicht nicht alles, was er haben wollte – Kinder, eine Ehefrau, ein Heim anstelle eines Hauses. Aber wer konnte schon von sich behaupten, alles zu haben? Größtenteils war er mit seinem Leben zufrieden, er liebte das Züchten und die Aufzucht von Rodeopferden, generell liebte er die Arbeit auf der Ranch. Und außerdem kam nie etwas Gutes dabei heraus, wenn man anfing, sich zu beklagen.

Casey Elder drückte die Zehen in das weiche Gras, froh darüber, endlich barfuß laufen zu können, nachdem sie fast den ganzen Tag über hohe Absätze und eine Strumpfhose hatte tragen müssen – zwei Dinge, die sie abgrundtief hasste. Ihr blaues Kleid fühlte sich auf der Haut leicht und locker an, was viel angenehmer war als dieses schwere Kleid, zu dem sie sich für ihre Gesangseinlage während der Hochzeitszeremonie in der Kirche hatte überreden lassen.

Sie stand ein wenig abseits, trank ein Glas Champagner und nickte lächelnd den Gästen zu, die an ihr vorbeischlenderten. Dazwischen widmete sie sich einmal mehr ihrer Lieblingstätigkeit, Walker Parrish aus sicherer Entfernung zu beobachten.

Ihrer Ansicht nach war er ein toller Kerl, groß, breitschultrig, markantes Gesicht, attraktiv wie ein Filmstar mit seinen grüngrauen Augen und seinem glänzenden, dunkelbraunen Haar, das immer ein klein wenig verwuschelt wirkte.

Wie es schien, war ihm seine Wirkung auf Frauen überhaupt nicht bewusst, was ihn nur noch faszinierender machte.

Caseys Gefühle für Walker waren eine komplizierte Angelegenheit, was eigentlich auch für alles andere in ihrem Leben galt. Ihr war klar, dass sie sich in den Mann verlieben konnte, und dabei musste sie sich nicht mal besonders anstrengen. Hatte sie nicht genau das über die Jahre hinweg schon ein paar Mal gemacht, nur um sich gleich wieder davon abzubringen? Sie war pragmatisch, zu pragmatisch, da sie ihr Herz nicht dem einen Mann öffnete, der über die Macht verfügte, dieses Herz in tausend Stücke zu zerschlagen.

Als hätte er bemerkt, dass sie ihn anstarrte, drehte er sich um, und ihre Blicke trafen sich.

Sie nickte und hob ihr Glas leicht an. Jetzt geht’s los, dachte sie und wünschte, er würde weggehen, obwohl sie sich sicher war, dass er sich stattdessen den Weg durch die Menge zu ihr bahnen würde.

Ihr Atem stockte kurz, weil Walker tatsächlich auf sie zuschritt, und ihr wurde schwindelig, als hätte sie ein paar zu schnelle Runden auf dem gemieteten Kinderkarussell gedreht.

Sowie er schließlich vor ihr stand, musste Casey sich bemühen, sich von ihrer coolen Seite zu zeigen, auch wenn sie sich viel lieber in seinen so ernst dreinschauenden Augen verloren hätte, um sich eine kuschelige Ecke in seinem Herzen zu suchen. „Hallo, schöner Mann“, sagte sie mit sanfter Stimme.

Er verzog keine Miene. „Das Lied, das du in der Kirche gesungen hast, war fantastisch, und du hast es wunderschön vorgetragen.“

Casey zuckte flüchtig mit einer Schulter. „Ich habe viel geübt.“ Sie sah hinüber zu der Hochzeitsgesellschaft, die sich immer noch fotografieren ließ. Ein Hauch von Traurigkeit erfasste sie bei diesem Anblick, auch wenn sie für Boone und Tara überglücklich war, weil beide das hier mehr als verdient hatten.

Kaum drehte sie sich wieder zu Walker um, wurde sie sich bewusst, dass er sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass ihm ihr Anflug von Selbstmitleid entgangen war.

„Die beiden sind glücklich“, meinte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf Braut und Bräutigam, die soeben für die Kameras Grimassen schnitten.

„Ja“, stimmte sie Walker zu und konnte nur mit Mühe einen Seufzer unterdrücken. Sie wusste, die beiden hatten einen steinigen Weg zurücklegen müssen, bevor sie zueinandergefunden hatten, und es war ihr peinlich, sich selbst gegenüber zugeben zu müssen, wie sehr sie Tara um all das beneidete, was sie alles noch erwartete. Nicht nur die Hochzeitsnacht und die Flitterwochen, sondern auch um den Trost und den Schutz, den eine Ehe bot, dazu den Sex, die Freude, die Babys, die Zukunftspläne. So beharrlich selbstständig sie auch war, sehnte sich Casey dennoch manchmal danach, mitten in der Nacht umarmt und geliebt zu werden, Freude und Sorgen und ihre Kinder mit einem Mann zu teilen, der sie liebte. In diesen Momenten war sie es leid, die unerschrockene alleinerziehende Mutter zu spielen, die allen Herausforderungen trotzte. „Sehr glücklich sogar.“

Zu ihrem Erstaunen legte er seine schwielige und doch sanfte Hand um ihr Kinn und hob ihren Kopf so an, dass er ihr tief in die Augen schauen konnte. Erschreckende und zugleich wundervolle Sekunden verstrichen, in denen sie fest davon überzeugt war, dass er sie jetzt küssen würde.

Aber das tat er dann nicht.

Sein Gesicht wies einen fast schon todernsten Ausdruck auf. Was auch immer er hatte sagen wollen, es kam – wahrscheinlich zum Glück – nicht über seine Lippen, da in dieser Sekunde die vierzehnjährige Clare auf sie zurannte. In ihrem pfirsichfarbenen Kleid, das sie sich extra für die Hochzeit ausgesucht hatte, sah sie wunderschön aus. Sie war noch immer verspielt, verrückt nach Pferden und unschlüssig, was Jungs anging, doch die temperamentvolle Frau, die sie einmal sein würde, war jetzt schon zu erkennen.

Im Hintergrund hörte Casey, wie ein paar der Musiker ihre Instrumente stimmten, aber der Anblick ihrer Tochter, die Walker regelrecht anhimmelte, ließ ihr das Herz stocken. Werd nicht erwachsen, flehte Casey stumm. Noch nicht.

„Du musst mit mir tanzen“, meinte Clare zu Walker. Schüchtern war sie eindeutig nicht. Allerdings hatten Clare und Shane ihm und auch Brylee schon immer nahegestanden.

Boone und Tara hatten die Fotografen offenbar zufriedengestellt, da sie beide sich inzwischen auf der Tanzfläche befanden und dastanden wie ein Hochzeitspaar auf einer gigantischen, himmlischen Hochzeitstorte.

Walker lächelte Clare an, die ihn als einen liebevollen Onkel betrachtete. Es war diese Geste, die Casey einen Blick in jenen Teil seiner Seele erlaubte, in dem er der Vater des Kindes war, nicht nur ein loyaler und vertrauenswürdiger Freund der Familie.

„Lass uns noch ein paar Minuten warten“, erwiderte er und drückte sanft Clares Hand.

„Braut und Bräutigam tanzen immer zuerst allein, Honey“, brachte Casey irgendwie heraus, obwohl ihre Kehle wie zugeschnürt war. „Das ist so Tradition.“

Clares smaragdfarbene Augen funkelten schelmisch. „Okay“, lenkte sie gut gelaunt ein und schaute Walker noch immer auf eine Weise an, die ein wenig an Heldenverehrung erinnerte. Sie biss sich kurz auf die Lippe, dann platzte sie heraus: „Wenn ich mal heirate, führst du mich dann zum Altar, Walker? Bitte, ja? Außer dir soll das keiner machen, okay?“

„Bis du heiratest, dauert es ja noch eine Weile“, warf Casey hastig ein.

„Es wird mir eine Ehre sein, dich zum Altar zu führen“, versicherte er seiner Tochter. „Wenn die Zeit dafür gekommen ist.“ Dann verzog er den Mund zu einem schiefen Lächeln, wie er es immer tat, wenn er sein Gegenüber necken wollte. „Natürlich hängt das davon ab, ob ich den Kerl überhaupt leiden kann, den du als Ehemann erwählt hast.“

Lachend klammerte sich Clare an seinem Arm fest. „Wenn ich ihn mag“, argumentierte sie dann sehr selbstbewusst, „wirst du ihn auch mögen.“

Walker begann zu lächeln und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. „Damit wirst du vermutlich sogar recht haben, Prinzessin.“

Boone und Tara tanzten eng umschlungen einen Walzer und schienen ihre Umgebung völlig vergessen zu haben.

Bei diesem Anblick brannten mit einem Mal Caseys Augen, und sie sah rasch zur Seite, damit weder Walker noch Clare etwas bemerkten. Doch die waren so wie alle anderen Gäste sowieso ganz auf das Brautpaar konzentriert.

So wie für diesen Moment geplant öffnete sich ein zwischen den Ästen eines Ahornbaums gespanntes Netz, und Hunderte von weißen Rosenblättern rieselten wie samtener, duftender Neuschnee auf Boone und Tara herab. Die Gäste waren beeindruckt, und die frischgebackenen Eheleute schauten überrascht lächelnd nach oben. Tara streckte die Arme aus, um ein paar Blütenblätter zu fassen zu bekommen.

Dann begann Casey, voller Rührung über die Szene zu klatschen, die anderen Gäste schlossen sich dem Beifall prompt an. In der Zwischenzeit setzte die improvisierte Band zu einer Ballade an, mit der die Tanzfläche für die übrigen Anwesenden freigegeben wurde. Gleichzeitig gab Boone ihnen mit Handzeichen zu verstehen, dass die Gäste sich zu ihnen gesellen sollten. Clare schleifte Walker förmlich hinter sich her, damit er auch ja mit ihr tanzte.

Als Casey sah, wie glücklich Clare über seine ungeteilte Aufmerksamkeit war, fingen ihre Knie an zu zittern, und sie schwankte zur Veranda, damit sie sich dort auf die Stufen hocken konnte.

Umgeben von allen Feiernden musste Casey an die Lügen denken, die sie von Anfang an verbreitet hatte. Zugegeben, da war sie noch jung und ängstlich gewesen. Sie hatte Walker zwar haben wollen, doch ihre gerade erst anlaufende Karriere war ihr wichtiger gewesen – jedenfalls damals. Sie hatte Walker erklärt, sie erwarte von einem anderen Mann ein Baby, von einem Typen, den er nicht kannte. Er hatte ihr das anfangs auch geglaubt und sich von ihr getrennt, so wie sie das geplant hatte. Schließlich war Walker ein stolzer und anständiger Mann. Aber sie hatte nicht mit der tiefen Trauer gerechnet, die sie nach dem Beenden der Beziehung überfallen hatte, eine Trauer, die genauso schmerzte wie ein Knochenbruch.

Casey tat darauf das, was sie immer tat: Sie machte stur weiter. Selbst als sie hochschwanger war, konnte man ihr das kaum ansehen, sodass es ihr mit der zusätzlichen Unterstützung durch weite, wallende Kleider und übergroße T-Shirts möglich war, die Schwangerschaft vor den Fans und den Medien geheim zu halten.

Ein Jahr später allerdings traf sie Walker wieder, bei beiden setzte der Verstand aus, und sie zeugten Shane.

Da sie wusste, dass Walker ihr die gleiche Geschichte nicht ein zweites Mal abkaufen würde, rief sie ihn während einer Tournee an, als feststand, dass sie tatsächlich schwanger war. Walker war jedoch nicht auf den Kopf gefallen, und er durchschaute bald, dass das kleine rothaarige Mädchen, das gerade erst krabbeln lernte, ebenfalls sein Kind war.

Von dem Moment an war der Teufel los.

Walker wollte sofort heiraten, allerdings war seine Wut auf sie nicht gerade förderlich gewesen. Der Streit um die Kinder zog sich ein paar Jahre lang hin, landete aber nie vor Gericht, und letztendlich schafften sie es, eine Art Waffenstillstand zu schließen.

Nur widerwillig ließ er sich auf die Geschichte ein, die als offizielle Version für die Öffentlichkeit dienen sollte, dass nämlich beide Kinder das Ergebnis einer künstlichen Befruchtung mit Samenzellen von einem anonymen Spender waren. Im Gegenzug erlaubte Casey ihm, Clare und Shane regelmäßig besuchen zu dürfen.

Lange Zeit hatte das so auch gut funktioniert, doch inzwischen erschien es Casey, als wäre ihr Gebäude aus Lügen so wacklig geworden, dass es jeden Moment über ihr einstürzen könnte. Das jagte ihr schreckliche Angst ein.

Kendra kam vorbei und nahm neben ihr auf der obersten Verandastufe Platz. Außer Walker war ihre Freundin Kendra die Einzige, die die Wahrheit über Clare und Shane kannte. Das Sonderbare an dem Ganzen war, dass ausgerechnet Walker es ihr – womöglich aus Frust über die Situation – erzählt hatte, nicht aber Casey selbst.

„Es ist noch nicht zu spät, das in die richtigen Bahnen zu lenken, weißt du“, erklärte Kendra und stieß ihre Freundin mit der Schulter an. Dabei schaute sie zu, wie Clare Walker zu einem weiteren Tanz überredete.

„Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du aufhören sollst, die Gedanken anderer Leute zu lesen, Kendra Carmody?“

Kendra lächelte sie an. „Hin und wieder.“ Dann wurde sie ernst und flüsterte: „Casey, solche Dinge kommen früher oder später doch immer ans Licht. Wenn man bedenkt, wie berühmt du bist, ist es eigentlich ein Wunder, dass noch niemand auf diese Story gestoßen ist.“

Mit dem Handrücken wischte Casey sich über die Wangen, dann richtete sie sich auf. „Und was soll sein, wenn sie es nicht verstehen?“, presste sie hervor. „Was soll sein, wenn Clare und Shane mir das nicht verzeihen können?“

Kendra seufzte leise und antwortete mit einer Gegenfrage: „Wäre es dir lieber, wenn sie es aus den Medien erfahren?“

2. KAPITEL

Obwohl es noch nicht völlig dunkel war, fiel ein goldgelber Lichtschein durch das Küchenfenster auf den Hof vor dem Ranchhaus. Dieser Anblick sorgte dafür, dass sich Walkers Laune ein wenig besserte, während er den Wagen vor seinem Haus ausrollen ließ. Nachdem er sich von Clare und Shane – und ja, auch von Casey – verabschiedet hatte, hatte ihn wie jedes Mal ein fast schmerzendes Gefühl überfallen. Verstärkt wurde das noch durch den Sonnenuntergang, weil das die Zeit war, zu der Familien in einem hell erleuchteten freundlichen Wohnzimmer zusammenkamen und sich erzählten, was sie den Tag über erlebt hatten.

Es war noch nicht lange her, da wurde er von seinen beiden alten Labradoren Willie und Nelson schwanzwedelnd empfangen, die ihn in der Hoffnung auf eine Streicheleinheit begrüßten. Aber im vergangenen Herbst waren beide Hunde im Abstand von nur wenigen Wochen verstorben, friedlich und im Schlaf, ganz so, wie gute Hunde es verdienten. Jetzt hatten sie ihre letzte Ruhestätte in zwei Gräbern in der Nähe der Apfelbäume gefunden, doch es verging kein Tag, an denen Walker nicht mit Wehmut an sie dachte.

Er schluckte schwer, als er aus seinem Auto ausstieg und auf das Haus zulief. Er hatte Willie und Nelson als Welpen bekommen und großgezogen, und er fühlte sich noch nicht bereit, sich einen Ersatz für sie anzuschaffen, auch wenn Brylee ihn immer wieder dazu drängte. Für den Augenblick begnügte er sich mit dem Hund seiner Schwester, auch wenn er Snidely nur selten zu Gesicht kriegte, da der seinem Frauchen auf Schritt und Tritt folgte.

Durch die Hintertür ging er ins Haus und betrat direkt die großzügige, altmodisch eingerichtete Küche, in der Brylee gerade herumwerkelte. Sie trug eine alte Jeans und ein T-Shirt mit einem eindeutig männerfeindlichen Aufdruck, alles war mit Mehl bedeckt.

Snidely lag zusammengerollt auf einem Läufer und beobachtete ganz genau das Geschehen.

„Hey“, sagte Walker an sie beide gewandt, nahm das Jackett, das er sich über die Schulter geworfen hatte, und hängte es über die Stuhllehne.

Der Hund hob kurz den Kopf, stieß etwas aus, das sich wie ein Seufzer anhörte, und legte sich gleich wieder hin.

„Hey“, erwiderte Brylee, die Walkers Blick ganz gezielt auswich. So wie es schien, hatte sie seit Stunden nichts anderes getan, als Brot zu backen, und offenbar würde das auch noch einige Stunden so weitergehen. Schließlich reihte sich auf der Arbeitsfläche eine Backform an die andere, in denen die aufgegangenen Teige nur darauf warteten, endlich in den Ofen geschoben zu werden. „Wie war die Hochzeit?“

Walker wollte ein Bier trinken und sich in Ruhe mit seiner Schwester unterhalten, aber erst einmal musste er diesen Anzug loswerden und gleich danach in der Scheune und in den Ställen nach dem Rechten sehen und sich davon überzeugen, dass auch alle Arbeiten erledigt worden waren. Bei sechs Ranchhelfern, die er beschäftigte, war dieser Kontrollgang eigentlich mehr Routine als eine Notwendigkeit. „Es war eine Hochzeit“, antwortete er und hielt inne. Seine Bemerkung war nicht schnippisch gemeint, doch kirchliche Trauungen liefen alle weitestgehend gleich ab – eine Braut in weißem Kleid mit Schleier, ein nervöser Bräutigam, ein Geistlicher, Orgelmusik, volle Sitzbänke, ein Blumenmeer.

Ihm fiel auf, wie verkrampft Brylee dastand, während sie ihm beharrlich den Rücken zuwandte. Sobald irgendjemand heiratete, zog sie sich in sich selbst zurück und gab vor, es würde sie nicht interessieren.

„Dann hat alles wie am Schnürchen geklappt?“, fragte sie so angestrengt beiläufig, dass es Walker einen Stich ins Herz versetzte. Brylee wünschte niemandem das, was sie selbst erlebt hatte, dennoch stellte sie immer die gleichen Fragen, da sie jedes Mal mit dem Schlimmsten rechnete.

„Ich würde sagen, es ist perfekt gelaufen“, erwiderte Walker ruhig. Er hatte sein Jackett wieder von der Stuhllehne genommen, stand aber wie angewurzelt da.

Brylee schaute über die Schulter zu ihm, lächelte schwach und sagte: „Das ist doch gut.“ Sie zwinkerte einmal und widmete sich dann wieder dem Teig, den sie kneten musste.

„Was hat es mit all dem Brot auf sich?“, wollte er wissen.

„Opal Dennison und ein paar andere Frauen aus ihrer Kirche wollen morgen nach dem zweiten Gottesdienst einen Basar veranstalten“, entgegnete sie mit gespielter guter Laune, auch wenn ihre Körpersprache etwas anderes verriet. „Es soll noch mehr Geld für die McCulloughs zusammenkommen.“

Der junge Dawson McCullough hatte sich beim Sturz vom mittlerweile abgerissenen alten Wasserturm in der Stadt schwer verletzt. Seit er groß genug gewesen war, um Heuballen zu schleppen und Ställe auszumisten, hatte er nach der Schule und in den Ferien oft auf der Ranch geholfen, sodass er praktisch schon zur Familie gehörte.

„Und du hast dich als Einzige freiwillig gemeldet, um Brot zu backen?“, fragte er amüsiert.

Brylee unterbrach ihre Arbeit und versteifte sich noch etwas mehr. Zwar hielt sie den Kopf hoch, allerdings schien es sie viel Kraft zu kosten. „Hör auf, Walker“, flüsterte sie. „Mir ist klar, was du da versuchst, und ich weiß das auch zu schätzen, aber … lass es bitte bleiben.“

Seufzend fuhr Walker sich durchs Haar. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders und ging aus der Küche in den Flur, vorbei an Ess- und Wohnzimmer, dann in sein großes Schlafzimmer, wo er den Anzug und die feinen Schuhe gegen eine alte Jeans, ein bequemes Flanellhemd und ausgetretene Stiefel eintauschte.

Es tat unglaublich gut, wieder ganz er selbst zu sein.

Als er in die Küche zurückkam, schob Brylee soeben den womöglich letzten Brotteig zu den anderen in den Ofen. Sie bemerkte Walker gar nicht, der nach seinem Hut griff, aber Snidely sprang auf und trottete hinter ihm her nach draußen auf die Veranda.

„Frauen“, wandte sich Walker aufgebracht an den Hund. „Brylee könnte jeden Mann kriegen, den sie haben will, doch was macht sie? Jammert dem einen hinterher, von dem sie sitzen gelassen wurde.“

Snidely ließ die Zunge seitlich aus dem Maul hängen, während er gemütlich neben Walker herlief, der sich über diese ruhige Gesellschaft freute. „Das Schlimmste ist“, redete er weiter, froh darüber, dass kein Zweibeiner anwesend war, der seine Unterhaltung mit einem Schäferhund hätte belauschen können, „dass sie einfach nur stur ist. Tief in ihrem Inneren … ach, gar nicht mal so tief in ihrem Inneren weiß sie ganz genau, dass Hutch gar nicht der Richtige für sie gewesen wäre. Inzwischen wären die Flitterwochen vorüber, und sie hätten sich längst gegenseitig den Schädel eingeschlagen.“

Der Hund äußerte sich wie erwartet nicht dazu, allerdings genügte allein seine Anwesenheit, damit Walker sich wieder etwas beruhigte. An einem Zaunpfahl hob Snidely das Bein, gleich darauf sputete er sich, um wieder in Walkers Nähe zu sein, da der das Scheunentor erreicht hatte.

Walker schaltete das Licht an und betrat die Scheune, dann schaute er in jeder Box nach dem jeweiligen Pferd, überprüfte, ob das elektrische System funktionierte, das die Tiere mit Wasser versorgte, und ob sie alle genug Heu hatten.

Sein großer Wallach Mack hatte die größte Box gleich gegenüber vom Materialraum, er wieherte leise, sowie er Walker entdeckte. Alle Pferde waren so gut versorgt, wie er es erwartet hatte, dennoch musste er sich einfach persönlich davon überzeugen, wenn er ruhig schlafen wollte. Das Gleiche galt für die Bullen und die Rodeopferde, von denen sich einige auf der Weide, andere in einem Stall hinter der Scheune befanden.

Leise seufzend rieb er sich den Nacken, der vom steifen Hemdkragen gerötet war, dann rückte er seinen Hut gerade, mehr aus Reflex als aus Notwendigkeit. Da seine Gedanken ständig um Casey Elder und die Kinder, die sie beide gemeinsam hätten großziehen sollen, kreisten, wusste er jetzt schon, dass er sich die ganze Nacht im Bett hin und her wälzen und am Morgen entsprechend schlecht gelaunt aufwachen würde.

Snidely stand so neben ihm, dass er ihm mit dem Schwanz wiederholt in die Kniekehlen schlug, so als wollte der Hund ihn ins Hier und Jetzt zurückholen. Walker lachte leise und beugte sich vor, damit er das Tier streicheln konnte. Dann liefen sie weiter zu den Bullen, die sich in ihren mit Stahlgittern verstärkten Boxen befanden und schnaubend mit den Hufen scharrten. Auf der anderen Seite des Big Sky River konnte er die hell erleuchteten Hütten und Trailer sehen, deren Lichter sich im Wasser spiegelten. Stimmen wurden von einer leichten Brise zu ihm herübergetragen, ebenso die Geräusche der spielenden Kinder, die noch den letzten Rest Tageslicht ausnutzten, bevor sie von ihren Müttern ins Haus gerufen wurden, damit sie badeten und ins Bett gingen. Die Männer saßen in den Vorgärten, rauchten noch eine letzte Zigarette und rissen Witze.

Alles war ganz normal, und doch bohrte sich diese Alltäglichkeit wie eine Messerspitze in Walkers Herz. Er legte den Kopf in den Nacken und sah, wie am Himmel die ersten Sterne strahlten. Dabei fragte er sich, wie es sein konnte, dass er mitten auf einer geschäftigen Ranch lebte, von zahlreichen Leuten umgeben war und er sich dennoch fühlte, als wäre er der einzige Bewohner eines weit entfernten Planeten.

Snidely stand ein wenig unschlüssig neben ihm, aber ihm war anzumerken, dass er eigentlich zurück ins Haus und damit zurück zu Brylee wollte. Der Hund hatte völlig recht. Es brachte nichts, hier draußen am Ufer zu verweilen und den Stimmen und dem Lachen von glücklichen Familien zu lauschen.

„Komm“, sagte er zu Snidely und drehte sich um.

Als sie zurück im Haus waren, hatte Brylee bereits die Küche aufgeräumt. Auf dem Tresen stapelten sich gut zwei Dutzend Brotlaibe, die morgen verkauft werden sollten. Brylee selbst saß am Tisch, trank einen Tee und wartete darauf, dass der Timer klingelte, damit sie auch noch die letzte Ladung aus dem Ofen holen konnte.

Während er draußen unterwegs gewesen war, hatte seine Schwester sich wieder gefangen. Er war froh darüber, weil er immer unsicher war, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, wenn sie ihre „Sitzen-gelassene-Braut-Laune“ hatte.

„Ich habe ein paar Brote für dich abgezweigt“, sagte sie aufrichtig lächelnd, während Snidely zu ihr tapste und den Kopf auf ihren Oberschenkel bettete, womit er sie zum Streicheln aufforderte. „Eines in der Brotdose, zwei in der Gefriertruhe.“

„Danke“, erwiderte er, hängte den Hut an den Haken neben der Tür und ging zum Spülbecken, um sich die Hände zu waschen, was er prinzipiell tat, wenn er zurück ins Haus kam. Sein Vater hatte das schon so gemacht und vor ihm auch sein Granddad. Diese Art von Tradition hatte etwas Beruhigendes an sich.

„Ich nehme an, du hast heute Casey und die Kinder gesehen“, sagte sie.

„Ja, hab ich.“

„Und?“

„Was und?“ Walker griff ruckartig nach einem Geschirrtuch und trocknete sich die Hände ab.

Leise lachte Brylee. „Hoppla“, rief sie. „Da ist aber jemand gereizt.“

„Du musst gerade das Wort ‚gereizt‘ in den Mund nehmen, wie?“, entgegnete er mürrisch.

Hastig hob sie abwehrend die Hände. „Okay, du hast recht“, räumte sie ein. „Es ist bloß so, dass ich allergisch auf weiße Spitze und Versprechen reagiere.“ Ihre nussbraunen Augen blitzten auf, während sie das Haargummi von ihrem Zopf löste. Sie schüttelte den Kopf, bis ihre Locken wieder ihr Gesicht umrahmten. Vor der fehlgeschlagenen Hochzeit hatte sie ihre Haare bis zur Taille getragen, dann allerdings bis zur Schulter abschneiden lassen, was wohl immer noch besser war, als wenn sie sich zu einer Tätowierung oder einem Piercing entschlossen hätte.

„Darüber solltest du vielleicht mal hinwegkommen“, meinte Walker und holte sich eine gekühlte Dose Bier aus dem Kühlschrank.

„Willst du mir eine Predigt halten?“ Auch wenn die Frage belustigt klingen sollte, hatte sie dennoch einen spitzen Unterton. Dabei blickte Brylee ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Ihre Wangen waren von der Arbeit am heißen Backofen gerötet. „Du, Walker Parrish, müsstest nämlich schon der letzte Mensch auf Erden sein, um dir das Recht herauszunehmen, irgendwem eine Predigt in Sachen Liebesleben zu halten.“

Mit dem Fuß zog er einen Stuhl nach hinten, setzte sich hin und stellte die Dose auf die rot-weiß karierte Tischdecke. „Wer behauptet, dass ich eine Predigt halten will?“, gab er frostig zurück.

Brylee grinste ihn so breit an, dass ihre strahlend weißen Zähne zu sehen waren. Heute konnte diese Frau Werbung für perfekte Zähne machen, aber als Kind waren ihre Zähne wild in alle Richtungen gewachsen. „Na ja, wenn ich mich nicht irre, findet dieses Gespräch immer dann statt, wenn irgendwo im Großraum von Parable County jemand heiratet.“

„Welches Gespräch?“ Walker trank einen ausgiebigen Schluck Bier. „Du hast mir erklärt, dass du allergisch auf weiße Spitze und Versprechen reagierst. Daraufhin habe ich gesagt, dass du vielleicht mal darüber hinwegkommen solltest. Da, wo ich herkomme, nennt man so was nicht Gespräch.“

Brylee rollte mit den Augen. Für jemanden, der den ganzen Tag über deprimiert gewesen sein dürfte, war sie auf einmal sehr aufgedreht. „Da, wo du herkommst, komme ich auch her“, erwiderte sie. „Nämlich genau von dieser Ranch.“

„Führt diese Diskussion irgendwohin?“, fragte Walker, der plötzlich ein Hungergefühl verspürte. Immerhin hatte er seit dem Mittagessen außer einem Stück Kuchen, ein paar Minzbonbons und einer Handvoll Mini-Sandwiches, die von einem Zahnstocher zusammengehalten wurden, nichts mehr gegessen.

Brylee beugte sich vor und legte kurz ihre Hand auf seinen Unterarm. „Ich weiß, du machst dir meinetwegen Sorgen, Walker, doch das mit mir, das wird schon wieder. Ehrlich.“

„Und wann?“

„So was braucht seine Zeit“, wich sie ihm aus und wünschte, ihr großer Bruder hätte dieses Thema gar nicht erst angeschnitten, sondern sich mit ihr über die Fleischpreise oder das Wetter oder am besten über gar nichts unterhalten.

„Und wie viel Zeit?“, hakte er nach. Sie steckten jetzt mitten in diesem Thema, und daran ließ sich nun nichts mehr ändern, auch wenn er sich wünschte, er hätte die Sache auf sich beruhen lassen. „Es ist jetzt schon ein paar Jahre her, seit das mit Hutch vorgefallen ist. Soweit ich das beurteilen kann, hast du dich seitdem für keinen Mann mehr interessiert.“

Sie stützte einen Ellbogen auf dem Tisch auf, legte das Kinn auf die Handfläche und schaute ihn seltsam amüsiert an. „Ich leite ein Unternehmen, Walker. Ein erfolgreiches Unternehmen, falls du das noch nicht gemerkt hast, und das hält mich ziemlich auf Trab.“

„Zu sehr auf Trab, wenn du mich fragst“, murrte er.

„Ich frage dich aber nicht“, konterte sie mit sanfter Stimme und zog für einen Moment die Brauen zusammen. „Hast du Angst, dass ich als alte Jungfer ende und du mich nie wieder loswirst?“

Vor Walkers geistigem Auge entstand ein Bild, das Brylee im hochgeschlossenen Kleid in einem Schaukelstuhl auf der Veranda zeigte, die grauen Haare zum Dutt zusammengesteckt, während sie Socken strickte. Unwillkürlich musste er grinsen. „Nein, das nun wirklich nicht“, erwiderte er. „Dann würde ich dich einfach im nächstbesten Pflegeheim abliefern, damit ich meine Ruhe vor dir habe.“

Brylee lachte nicht darüber, sie konnte nicht mal lächeln. Traurig starrte sie an ihm vorbei. „Was sollen wir tun, falls wir doch allein bleiben und auf einmal alt sind?“, flüsterte sie. „So was kommt vor.“

„Ich bin der Meinung, ich warte noch zehn oder zwanzig Jahre ab, ehe ich mir darüber Gedanken mache“, entgegnete Walker. Es musste etwas geben, was er sagen konnte, um Brylee Mut zu machen und sie zurück ins Leben zu holen, doch er hatte beim besten Willen keine Ahnung, was das sein sollte.

Abrupt veränderte sich Brylees Laune. Der Timer klingelte, sie schob den Stuhl nach hinten und stand auf, wodurch Snidely gezwungen war, seinen Kopf wegzuziehen. Fast schon hektisch schnappte sie die Topflappen und holte die Backformen aus dem Ofen, um sie zum Abkühlen auf die Arbeitsfläche zu stellen. „Du hast recht“, meinte sie. „Lass uns zwanzig Jahre warten, dann können wir immer noch überlegen.“

Erneut knurrte sein Magen. Walker erhob sich und ging zur Brotdose, die auf dem Tresen stand. Es handelte sich um ein völlig altmodisches Modell, das blassgrün emailliert war. Er nahm das Brot heraus und griff sich ein Messer aus einer Schublade. „Abgemacht“, stimmte er ihr zu und durchsuchte die Schränke so lange, bis er ein Glas Erdnussbutter und Honig entdeckte. Die Plastikflasche war klebrig, der Deckel fehlte, und als Walker etwas zu fest zudrückte, verteilte sich der Honig auf der Arbeitsfläche.

„Also wirklich“, schimpfte Brylee, schubste ihn zur Seite und schmierte für ihn das Sandwich. Nachdem sie es ihm vorgesetzt hatte, wischte sie erst mal den Tresen ab.

Walker grinste. „Du bist die geborene Butterbrotschmiererin für einen Haushalt mit einem halben Dutzend Kinder“, stellte er fest.

„Wow“, erwiderte sie ironisch. „Was für ein Kompliment.“

„Ich meinte doch nur …“

„Ich weiß genau, was du gemeint hast, Walker“, fiel sie ihm ins Wort.

Er biss von dem Brot ab, kaute hastig und schluckte runter. „Ja, ja, tut mir schrecklich leid“, konterte er.

„Halt die Klappe und geh ins Bett“, forderte sie ihn auf.

„Wird gemacht“, entgegnete Walker, während er sich unwillkürlich in ihre Teenagerzeit zurückversetzt fühlte, in der sie es keine fünf Minuten lang zusammen in einem Zimmer ausgehalten hatten, ohne sich gegenseitig zu piesacken.

Brylee gab einen verärgerten Laut von sich und tippte mit einem Finger auf die Brotlaibe. Es würde noch eine Weile dauern, ehe auch die letzte Runde so weit abgekühlt war, dass sie sie verpacken konnte.

Walker deutete mit dem Sandwich in der Hand eine Verbeugung an und ging kopfschüttelnd in Richtung Schlafzimmer. Wann würde er nur endlich lernen, den Mund zu halten? In fünfundneunzig Prozent aller Fälle war es vertane Zeit, mit einer Frau vernünftig reden zu wollen, was vor allem dann galt, wenn es sich bei dieser Frau um seine kleine Schwester handelte.

Es war fast Mitternacht, als auch die letzten Gäste sich verabschiedeten und das Karussell endlich zum Stillstand kam.

Beim Blick in den Garten, in dem sich nur noch die Catererangestellten und die Leute aufhielten, die das Zeltdach abnahmen und die Tanzfläche abbauten, fühlte sich Casey an ihre Kindheit erinnert. So war es auch gewesen, wenn der Zirkus einmal im Jahr in der Stadt eine Vorstellung gab und nach dem Gastspiel einen kahlen und irgendwie verlorenen Flecken Land zurückließ.

„Mom?“ Clare stand barfuß neben ihr und trug immer noch ihr Partykleid. Genau wie ihr Bruder überragte auch sie Casey, wodurch sie schon sehr erwachsen wirkte. „Alles okay?“

Casey drehte sich zu ihrer Tochter um und lächelte sie liebevoll an. „Mit geht’s gut, Schatz. Ich bin nur ein bisschen müde.“ Einen Moment lang genoss sie einfach nur die Nachtluft, den sternenübersäten Himmel und die bittersüßen Überbleibsel eines schönen Tags. „Da fällt mir ein … solltest du nicht längst im Bett sein?“

Clare, die nicht nur den Namen ihrer verstorbenen Großmutter trug, sondern ihr auch von Jahr zu Jahr mehr ähnelte, verzog den Mund. „Mom“, sagte sie gedehnt. „Ich bin fast fünfzehn, außerdem ist heute Samstag, und ich kann morgen ausschlafen.“

„Wir gehen morgen früh in die Kirche“, ermahnte Casey ihre Tochter. „Nach dem Gottesdienst um elf beginnt der Basar, und ich habe Opal versprochen, ihr dabei zu helfen. Und abgesehen davon wirst du erst in acht Monaten fünfzehn.“

Übertrieben seufzend wandte Clare sich um und überquerte die Veranda in Richtung Küche, während Casey ihr zögerlich ins Haus folgte.

„Aber“, begann Clare auf einmal, da Teenager allem Anschein nach keine zehn Minuten lang auf Widerworte verzichten konnten, „du hast doch Opal nicht versprochen, dass ich ihr auch helfe, oder?“

Shane stand am Tresen und schaufelte sich mit den Fingern die Reste der Hochzeitstorte in den Mund. Sowie er Casey sah, setzte er eine schuldbewusste Miene auf, zuckte dann mit den Schultern und widmete sich dem nächsten Stück Kuchen.

„Du bist eklig“, fuhr Clare ihren Bruder an, woraufhin er ihr die mit Krümel bedeckte Zunge rausstreckte und einmal laut rülpste. „Igitt!“, rief sie und drehte sich zu Casey um. „Mom, willst du einfach nur dastehen und nichts machen, während er sich wie ein Affe aufführt?“

Casey tat so, als würde sie über die Frage nachdenken, dann antwortete sie grinsend: „Ja, ich glaube schon.“

Daraufhin begann der Junge, prustend zu lachen, sodass sich die Kuchenkrümel in der Küche verteilten. Sofort drängten sich die drei Hunde um ihn und sammelten auf, was an Essensresten auf dem Boden landete.

Clare stieß einen theatralischen Schrei aus, danach stürmte sie in Richtung Treppe, um sich in ihrem Zimmer vor Shane in Sicherheit zu bringen.

„Okay, das reicht jetzt“, sagte Casey ernst. „Waren die Hunde draußen?“

Mit vollem Mund nickte Shane, seine Finger waren mit Zuckerguss verklebt. Nachdem er geschluckt hatte, entgegnete er: „Bestimmt fünf Mal. Rockford hat ein Stück Kreppgirlande und einen Teil von einem Luftballon gefressen.“

Rockford, der Kleinste aus dem schokoladenbraunen Labrador-Trio, winselte betrübt, so als wollte er sich dagegen wehren, dass er angeschwärzt worden war.

Casey trat zu ihm, nahm seinen Kopf zwischen die Hände und betrachtete ihn eindringlich. „Es scheint ihm aber gut zu gehen.“

„Mit ihm ist alles in Ordnung“, bestätigte Shane lässig. „Er hat alles ausgekotzt. Darum weiß ich ja, was er gegessen hat.“

„Iiih“, machte Casey, fasste ihren Sohn an den Schultern und drehte ihn in Richtung Treppe. „Wasch dir auf jeden Fall noch gründlich die Hände, bevor du schlafen gehst“, rief sie ihm hinterher, als er ebenfalls nach oben rannte.

Die Hunde folgten ihm nur einen Augenblick später, so wie sie das jeden Abend taten.

Doris, die Köchin und Haushälterin, kam aus ihrer Einliegerwohnung gleich neben der Küche. Sie hatte eine Gesichtsmaske aufgelegt und Lockenwickler im Haar und trug einen rosa Bademantel. „Ist die Party zu Ende?“, fragte sie freundlich. Natürlich war das nur eine rhetorische Frage, denn Doris musste mitgekriegt haben, wie sich alle nach und nach verabschiedeten und wie auf der Straße Wagentüren zugeschlagen und Motoren angelassen wurden. Sie war bis kurz vor zehn auf der Party geblieben, dann hatte sie sich zurückgezogen, um sich die Haare zu waschen und die Lockenwickler einzudrehen, damit sie am nächsten Morgen in der Kirche gut aussah.

„Ja“, erwiderte Casey lächelnd, schloss die Hintertür ab und schaltete die Alarmanlage ein, anschließend kochte sie sich eine Tasse Kräutertee. Der half ihr üblicherweise beim Einschlafen.

Doris wünschte ihr eine gute Nacht und kehrte in ihre Wohnung zurück.

Casey verweilte noch ein wenig in der Küche, nippte an ihrem Tee und horchte auf die üblichen Geräusche aus dem ersten Stock – das Geräusch der Hundepfoten auf dem Holzboden, Shanes Gelächter, das wohl an einen Schurken aus einem alten Film erinnern sollte, Clares an ihn gerichtete Beschimpfung, der das Zuschlagen ihrer Zimmertür folgte.

Seufzend durchquerte sie die unglaublich riesige Küche, am Fuß der Treppe angekommen, schaltete sie das Licht im Erdgeschoss aus.

Shane ärgerte Clare noch immer vom Flur aus, als Casey die obere Etage erreicht hatte. In dem Moment beging Clare den Fehler, die Tür wieder aufzumachen und ihm eine Beleidigung an den Kopf zu werfen, die ihn nur weiter anspornte.

Damit Ruhe einkehrte, steckte Casey zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus, ganz so, wie sie es von Juan, dem Gärtner und Mädchen für alles ihrer Großeltern, gelernt hatte. Dieser Pfiff lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich – das Pfeifen hatte noch nie seine Wirkung verfehlt, weder bei den Kindern, ihrer Tourcrew noch bei all ihren Hunden.

„Der Streit ist vorbei, es steht unentschieden“, verkündete sie mit Nachdruck, während Clare, Shane und alle drei Hunde sie entgeistert anstarrten.

„Schwachkopf“, raunte Clare Shane zu.

„Pizzagesicht“, konterte der sofort.

Als Casey eine Hand in die Hüfte stützte und wieder zwei Finger zum Mund führte, genügte diese bloße Androhung eines weiteren Pfiffs, um sofort Ruhe einkehren zu lassen. Die Kinder zogen sich wortlos in ihre Zimmer zurück, die Hunde folgten Shane, als wollten sie erst gar keine Aufmerksamkeit auf sich lenken.

„Meine reizenden Kinder“, murmelte Casey und betrat ihr eigenes Schlafzimmer.

Der Begriff „Zimmer“ wurde diesem Raum eigentlich nicht gerecht, da er fast die Ausmaße einer Suite in einem Luxushotel hatte, die sich über eine ganze Etage erstreckte.

Beim Betreten des Zimmers kam es ihr so vor, als ob dort irgendetwas verändert oder Möbel verschoben worden wären, dabei sah alles aus wie immer – die von der Decke bis zum Boden reichenden Fenster, die einen freien Blick auf den Garten erlaubten, das verspielte antike Bett, das aus einer dem Verfall preisgegebenen italienischen Villa gerettet worden war und auf dessen vergoldetem Kopfende Nymphen und römische Gottheiten abgebildet waren, die ausladende Kommode und die Couch. Ebenso standen die Sessel, die vor dem mit Marmor verkleideten Kamin angeordnet waren, an Ort und Stelle.

Das alles war einfach viel zu groß für eine einzelne Frau, doch wenigstens hatte dieses Haus keine Räder so wie ihr Tourbus, und im Erdgeschoss gab es auch keine Rezeption wie in einem der unzähligen Hotels, in denen sie unzählige Nächte verbracht hatte. Das hier war ihr Heim, nach dem sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte.

Oh ja, sie hatte dieses Haus unbedingt haben wollen, weil sie und die Kinder einen festen Bezugspunkt in ihrem Leben brauchten, damit sie endlich irgendwo sesshaft werden konnten. Da sollte sie in Kauf nehmen können, dass sie und ihre Kinder sich hier manchmal ein wenig verloren fühlten. Sie hatte das Herrenhaus nicht wegen der immensen Größe gekauft, auch nicht, weil sie die vornehme Dame von Welt spielen wollte oder um ein glamouröses Leben zu führen, an das sie nach Meinung der Öffentlichkeit so sehr gewöhnt war. Sie hatte sich für das Anwesen entschieden, da hier neben der Band und den Backgroundsängerinnen auch die Roadies und unzählige andere Leute, die ebenfalls für sie arbeiteten, Platz hatten. Unten im Haus befand sich ein Filmstudio, um Musikvideos zu drehen, und es gab ein Tonstudio – und von beidem machte sie Gebrauch.

Da sollte ihr doch bitte mal jemand zeigen, wie man das alles in einem normalen Ranchhaus unterbringen wollte. Kopfschüttelnd betrachtete sie sich in dem großen beleuchteten Spiegel über dem Schminktisch und drehte sich um, wobei ihr Blick über die fast schon dekadent luxuriöse Einrichtung ihres Badezimmers wanderte. Die Duschkabine war so geräumig, dass eine komplette Footballmannschaft reingepasst hätte, und Casey hatte schon Whirlpools gesehen, die deutlich kleiner waren als ihre mit Mosaiken verzierte Badewanne.

Sie schloss die Tür hinter sich – eine Angewohnheit, die sich durch das jahrelange Leben im Tourbus entwickelt hatte – und wusch sich das Gesicht an einem der insgesamt drei glänzenden Messingwaschbecken, putzte sich die Zähne und zog ihr Kleid aus, das sie dann zusammen mit der Unterwäsche pflichtbewusst in den Wäschekorb warf. Sie schlüpfte in Flanellboxershorts und in ein T-Shirt, das von ihrer letzten Europatournee stammte, schließlich musterte sie sich wieder im Spiegel.

Das Shirt hätte eigentlich nostalgische Gefühle bei ihr wecken müssen, immerhin hatte sie mit dieser Tour neue Rekorde aufgestellt. Alle Konzerte waren Monate im Voraus ausverkauft gewesen, und schließlich war sie mit ihrer Band in einem Privatjet mit ihrem Namen auf dem Rumpf über den Atlantik geflogen, um in der ersten von insgesamt zwölf Städten aufzutreten. Sie liebte es, vor großem Publikum zu singen, ja, sie blühte dabei förmlich auf, und diese Auftritte zehrten nicht an ihren Kräften, sondern erfüllten sie mit neuer Energie, die sie regelrecht berauschte. Anders als manche Musikerkollegen fühlte sie sich nie ausgebrannt, sie erlitt keine Nervenzusammenbrüche, sie musste keine Hotelzimmer verwüsten, und genauso wenig musste sie einen Entzug machen, da sie sich weder für Alkohol noch für Kokain interessierte.

Doch wenn ihr das alles so viel gab, wieso vermisste sie jetzt nicht die Bühne und den Applaus? Vermutlich lag es daran, dass es in ihrem Leben immer ums Singen und ums Komponieren neuer Songs auf ihrer Lieblingsgitarre gegangen war – einer mittlerweile arg ramponierten Gitarre, die ihr Großvater ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, als sie so alt wie Shane gewesen war. Was sie sich vorgenommen hatte, das hatte sie auch geschafft. Mit fast rücksichtsloser Entschlossenheit war sie vorgegangen, um ihre Ziele zu erreichen, aber irgendwann war ihr aufgefallen, dass ihre Kinder schneller groß wurden, als sie es je für möglich gehalten hätte. Wenn sie so weitermachte, würde sie nur einmal kurz nicht hinsehen müssen, und dann besuchten die beiden bereits das College, begannen eigene Karrieren, heirateten und kriegten Kinder.

Casey hatte die Tournee bis zum Ende durchgezogen und anschließend Walker angerufen, um ihn zu fragen, ob bei ihm in der Nähe irgendwelche Häuser zum Verkauf angeboten wurden. Plötzlich wollte sie, dass ihre Kinder auf eine normale Schule gingen, jeden Morgen vor der Flagge salutierten und Freunde in ihrem Alter fanden. Außerdem sollten Clare und Shane mehr Kontakt mit Walker haben, auch wenn sie selbst nicht so recht verstand, warum sie das wollte, wenn sie doch die ganze Zeit über versucht hatte, die Wahrheit bloß nicht ans Licht kommen zu lassen.

Genauso wenig vermochte sie zu beurteilen, ob Walker ihr Sinneswandel überrascht hatte, denn er hatte sich nichts anmerken lassen. Er stellte den Kontakt zu einer Maklerin her, nämlich Kendra, mit der sie inzwischen eine enge Freundschaft verband, und ehe sie sichs versah, war sie auch schon mitten in Parable, Montana, gelandet, schaute sich das Haus einmal gründlich an und unterschrieb dann den Kaufvertrag, damit es ihr niemand mehr wegschnappen konnte.

Seitdem hatten Casey immer wieder Zweifel geplagt, auch wenn sie es bis heute nicht bereute, sich in einer Kleinstadt niedergelassen zu haben, in der Kinder an Halloween noch bedenkenlos von Haus zu Haus ziehen konnten, in der jeder jeden kannte, in der die Leute am Sonntag in die Kirche gingen und danach im Butter Biscuit Café frühstückten, das auch als Wahllokal diente.

Es war die Nähe zu Walker Parrish, die sie daran zweifeln ließ, ob es tatsächlich eine kluge Entscheidung gewesen war. Immerhin brachte sie dadurch ein jahrelang bestens gehütetes Geheimnis in Gefahr.

Nachdenklich verließ sie das Badezimmer, legte sich in ihr viel zu großes und viel zu leeres Bett, dann knipste sie die Nachttischlampe aus.

War es möglich, dass sie tief in ihrem Unterbewusstsein wollte, dass das Geheimnis gelüftet wurde?

3. KAPITEL

Nach einer unruhigen Nacht war Walker am Morgen so gereizt, wie er es befürchtet hatte. Er sprach nur kurz mit seinem Vorarbeiter Al Pickens über die anstehenden Arbeiten und stieg in seinen Pick-up. Dessen Rückbank war vollgepackt mit Kartons, in denen sich Brylees selbst gebackene Brote für den Basar in der Kirche befanden. Jeder Laib war in glänzende Folie gewickelt und mit einer Schleife verziert.

Nicht zum ersten Mal schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er eigentlich gar kein richtiger Rancher mehr war, sondern sich zu einem Aushängeschild seiner eigenen Ranch entwickelt hatte. Sicher, er war der Boss, er traf alle wichtigen Entscheidungen, er brachte Bullen und Pferde persönlich zu Rodeos im gesamten Westen der USA und auch in Teilen von Kanada. Er führte Viehtriebe an, er ritt hier auf der Ranch selbst die Zäune ab, er stellte die Gehaltsschecks aus und bezahlte die Rechnungen. Doch es war nun mal eine Tatsache, dass er über eine äußerst fähige Crew verfügte, die an jedem Tag in der Woche genau wusste, was zu tun war, ohne ihn erst fragen zu müssen.

Er fuhr nach Parable, gut dreißig Meilen entfernt, hatte die Seitenfenster geöffnet und ließ eine mittlerweile recht mitgenommene CD von Johnny Cash laufen, zu der er im Rhythmus der Musik mit den Fingern auf das Lenkrad klopfte. An manchen Tagen konnten einen nur Klassiker wie „Folsom Prison Blues“ und „A Boy Named Sue“ von seinen Problemen ablenken.

Als er an der kleinen Kirche eintraf, in der er erst einen Tag zuvor der Hochzeit von Boone und Tara beigewohnt hatte, war der Gottesdienst noch in vollem Gang. Zwar ergatterte er auf dem Kiesplatz neben der Kirche noch einen freien Parkplatz, allerdings erst nach intensiver Suche, denn Reverend Beaumonts Predigten waren sehr beliebt und lockten zahlreiche Besucher an.

Da es ein warmer Tag war und die Kirche nicht über eine Klimaanlage verfügte, hatte man die Türen geöffnet. Fröhlicher Gesang drang nach draußen, der auf Walker seltsam tröstend wirkte, weil ihm die Zeilen dieses alten Kirchenlieds sehr vertraut waren.

Sein Blick fiel auf die Verkaufsstände, die man hinter dem Gebäude aufgestellt hatte. Kirchgänger, die vermutlich an der Frühmesse teilgenommen hatten, waren dort damit beschäftigt, alles für den Basar vorzubereiten. Unwillkürlich musste Walker an die Sonntage seiner eigenen Jugend denken. Seine Mutter hatte alles, was mit Religion zusammenhing, als pure Heuchelei abgetan, was in ihrem Fall auch zweifellos zugetroffen hatte. Sein Dad dagegen hatte ihn und Brylee jede Woche zum Gottesdienst nach Three Trees gefahren, allerdings nur, bis sie das „Alter der Vernunft“ erreicht hatten, das nach Barclay Parrishs Ansicht mit dem zwölften Lebensjahr einsetzte.

Das Leben sei von schwierigen Phasen geprägt, wie sein alter Herr immer wieder betont hatte, und auf lange Sicht war man seiner Meinung nach besser dran, wenn man an Gott glaubte. Zumindest würden Walker und Brylee ein besseres Leben führen, wenn sie allein schon versuchten zu glauben.

Brylee hatte weiter die Messe besucht, während Walker von dem Moment an damit aufhörte, als sein Vater ihm die freie Wahl ließ. Weder glaubte Walker an eine höhere Macht noch stritt er ihre Existenz ab, denn offenbar gab es niemanden, der tatsächlich etwas Konkretes darüber wusste, was es mit dem ganzen Himmelszeug auf sich hatte. Dennoch war er heute dafür dankbar, dass er seinerzeit Verse und Bibelzitate für die Sonntagsschule auswendig hatte lernen müssen. Irgendwie schafften diese Zeilen es immer wieder, ihm genau dann in den Sinn zu kommen, wenn er sie brauchte.

Opal Dennison – oder besser gesagt: die zukünftige Opal Beaumont, schließlich würde sie bald mit dem Reverend verheiratet sein – hielt sich hinter einem der Stände auf und lächelte Walker an. Sie war eine hoch aufragende, gut aussehende Frau, die lässig und würdevoll zugleich auftrat. Überall im County verkuppelte sie Paare, und sie war so etwas wie eine inoffizielle Beichtmutter. Falls die Gerüchte zutrafen, hatte sie eine sehr aktive Rolle dabei gespielt, nicht nur Boone und Tara, sondern auch Hutch und Kendra Carmody sowie Slade und Joslyn Barlow zusammenzubringen.

Sobald Walker Opal begegnete, wurde er immer ein wenig nervös, da nicht auszuschließen war, dass sie ihn unter die Haube brachte, ehe er überhaupt wusste, wie ihm geschah.

Als er die hintere Tür seines Autos aufmachte und den ersten Karton randvoll mit Brylees Broten herausholte, lief Opal zu ihm.

„Himmel“, stieß sie staunend bei dem Anblick, was sich noch alles auf der Rückbank befand, aus. „Das ist ja wie die wundersame Vermehrung der Brotlaibe und der Fische. Natürlich ohne Fische.“

Walker grinste sie an. „Brylee hat sich ein wenig hinreißen lassen“, erwiderte er und untertrieb damit ganz erheblich. „Wo soll das hin?“

Opal zeigte auf einen der vordersten Stände, der eigentlich nur ein Klapptisch war, auf dem eine karierte Plastikdecke lag. Daneben stand ein alter Sonnenschirm, dessen Fuß mit einer kleinen Pyramide aus Ziegelsteinen beschwert worden war. Ein mitfühlender Ausdruck huschte über Opals Miene, während sie neben Walker herging und ihn in Richtung des besagten Tischs lotste, so als könnte er sich auf den wenigen Metern verlaufen. „Ich habe Brylee gestern gar nicht bei der Hochzeit gesehen“, sagte sie. „Ich mache mir Sorgen um sie.“

Nachdem Walker den Karton abgestellt hatte, marschierte er zurück zu seinem Wagen, wobei Opal an seiner Seite blieb. Wie üblich trug sie bequeme Schuhe und ein Kleid mit einem großflächigen Blumenmuster, das sie wahrscheinlich selbst genäht hatte.

„Ich auch“, gab er zu und musste gleich darauf erkennen, dass man sich in Opals Nähe zu schnell zu derartigen Geständnissen verlocken ließ.

Er hob die zweite von insgesamt drei Kisten voll mit verpackten Broten aus dem Wagen und schaute Opal amüsiert an. „Führen Sie neuerdings Anwesenheitslisten bei Hochzeiten, Miss Opal?“, fragte er.

„Nein, allerdings habe ich ein fotografisches Gedächtnis“, antwortete sie lachend. Die Sonne spiegelte sich in den Gläsern ihrer altmodischen Brille. „Das ist eine Gabe. Wenn jemand irgendwo fehlt, dann fällt mir das sofort auf.“ Sie hielt kurz inne. „Es wird Zeit, dass Ihre Schwester die Kurve kriegt, was solche Dinge wie Liebe und Ehe angeht. Und vor allem wird es Zeit, dass sie den Vorfall mit Hutch Carmody überwindet und mit der Vergangenheit abschließt, damit sie nach vorn schauen kann.“

„Ganz meine Meinung“, pflichtete er auf dem Weg zum Verkaufsstand bei.

„Na ja, Sie sind in Sachen Liebe auch keinen Deut besser“, betonte Opal sanft, aber eindringlich. „Sie wissen ja, dass Sie nicht jünger werden. Da leben Sie da draußen in diesem großen Haus, nur mit Ihrer Schwester und ihrem Hund. Ist Ihnen eigentlich noch nicht aufgefallen, wie glücklich Ihre guten Freunde Slade, Hutch und Boone neuerdings sind?“

„Na, das ist wohl nicht zu übersehen“, meinte Walker leicht ironisch grinsend. „Joslyn und Kendra kommen ja ständig mit neuen Babys an!“

„So soll es auch sein“, erwiderte Opal voller Überzeugung.

Walker stellte die Kiste ab und machte sich wieder auf den Weg zum Wagen. Und wieder begleitete Opal ihn, als wollte sie ihn auf keinen Fall aus den Augen lassen.

„Ich würde es nie wagen, Ihnen zu widersprechen, Miss Opal“, erklärte er, nachdem er auch den dritten Karton zum Stand getragen hatte.

„Sehr vernünftig. Sie würden damit auch gar nicht durchkommen“, konterte sie selbstbewusst.

Lachend zog er zum Abschied an seiner Hutkrempe. Wenn er jetzt sofort rüber zum Butter Biscuit Café fuhr, konnte er das Gedränge vermeiden, das normalerweise nach dem Gottesdienst dort herrschte. Die meisten Besucher würden sich bestimmt an den Verkaufsständen mit Essbarem eindecken, also …

Plötzlich zupfte Opal an seinem Ärmel. „Wo wollen Sie denn hin? Die anderen Damen und ich, wir können durchaus noch Hilfe gebrauchen, um die zusätzlichen Tische aufzubauen.“

Walker unterdrückte einen Seufzer. Er konnte Opal diese Bitte nicht abschlagen, so etwas widersprach seinen guten Manieren, und das wusste sie genau. Allerdings sah er sie mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen an, damit ihr klar war, dass er sie im Verdacht hatte, etwas ganz anderes mit ihm vorzuhaben.

Sie lachte und zeigte auf einen nur halb fertiggestellten Stand, um den herum sich Kisten mit frischen Erdbeeren stapelten. Es überraschte Walker keineswegs, als er ein paar Minuten später Casey Elder aus der Kirche kommen sah. Sie trug ein Tablett mit Mürbegebäck für die Erdbeertörtchen. Bei Walkers Anblick blieb sie abrupt stehen, brachte ein Lächeln zustande und ging schließlich auf ihn zu.

„Hallo, Walker“, begrüßte sie ihn freundlich.

Er hatte seinen Hut zur Seite gelegt, da der ihm im Weg war, während er an einem Tischbein zerrte, das sich einfach nicht ausklappen ließ. „Casey“, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. Diese Frau und ihr Starrsinn hatten ihn letzte Nacht viel Schlaf gekostet – von den vielen Nächten davor ganz zu schweigen.

Casey zog einen Mundwinkel hoch, schaute kurz zu Opal und sah dann ihm wieder in die Augen. „Das dürfte so was wie ein persönlicher Rekord sein“, scherzte sie. „Walker Parrish betritt an zwei Tagen hintereinander kirchlichen Grund und Boden.“

Mit einem heftigen Ruck bekam er das Tischbein ausgeklappt, dann richtete er sich auf und griff nach seinem Hut. In Small Talk war er nicht allzu geübt, weil es bei der Arbeit mit den erfahrenen Cowboys auf der Ranch keinen Bedarf dafür gab. Daher wollte ihm jetzt auch keine passende Erwiderung einfallen.

Stattdessen erhob er sich und spürte, wie sein Hals und die Ohrläppchen rot anliefen.

Opal rauschte plötzlich zwischen ihnen hindurch und breitete mit einer ausholenden Bewegung eine Baumwolldecke auf dem klapprigen Tisch aus, gleich darauf war sie schon wieder verschwunden. Mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen setzte Casey das Tablett mit Mürbegebäck ab.

„Tut mir leid“, murmelte sie, ohne Walker anzuschauen.

Die Unterbrechung genügte ihm, um sich weitgehend in den Griff zu bekommen. Insgeheim war er dankbar, allerdings wusste er nicht so recht, wem diese Dankbarkeit galt. „Was tut dir leid?“ Oh ja, das war eine wirklich geistreiche Erwiderung. Innerlich schüttelte Walker den Kopf.

„Na, dass ich dich gerade eben geärgert habe“, antwortete Casey und sah ihn diesmal an, während sie nervös mit der Zellophanfolie spielte, die die Mürbeteigtörtchen bedeckte. „Es ist nett von dir, dass du uns mit dem Tisch und mit allem anderen hilfst.“

Walkers Kehle war wie zugeschnürt, als er zu schlucken versuchte. Er konnte nur hoffen, dass seine Ohren nicht rot glühten. Eigentlich war er selbstsicher und fühlte sich wohl in seiner Haut, doch diese harmlose Unterhaltung bewirkte, dass er sich wie ein unbeholfener Teenager vorkam. „Ist schon in Ordnung“, brachte er heraus, während ihm durch den Kopf ging, dass „gern geschehen“ oder etwas Ähnliches die bessere Antwort gewesen wäre.

Alles um ihn herum schien erstarrt zu sein, während er und Casey sich im Schatten alter Eichen und Ahornbäume auf dem frisch gemähten Rasen gegenüberstanden und sich anschauten. Kein Vogel zwitscherte, und der Gesang und die Stimmen aus der Kirche verblassten zu einem fernen Summen. Walker hätte in diesem Moment schwören können, dass die Erde zum Stillstand gekommen war.

Es gab so vieles, was er dieser Frau sagen wollte, nein, sagen musste, allerdings kam ihm kein Laut über die Lippen. Zum Glück – obwohl er sich nicht sicher war, dass er tatsächlich von Glück reden konnte – war in diesem Augenblick die Messe zu Ende, und die Menschen strömten zu allen Seiten aus der Kirche nach draußen.

Schließlich war es Shane, der Walker aus dieser unerklärlichen Starre holte, indem er fröhlich rief: „Hey, Walker, frühstückst du mit uns, wenn der Verkauf vorbei ist? Doris will Blaubeerpfannkuchen backen, und sie macht immer so viele …“

Clare stellte sich neben ihren Bruder und flehte sofort: „Ja, bitte. Mitch schaut auch vorbei, und er will Mom bestimmt dazu drängen, wieder auf Tournee zu gehen. Du kannst dann eingreifen und ihm das ausreden.“

Mitch Wilcox war Caseys langjähriger Manager. Zwar hatte Walker den Mann noch nie leiden können, allerdings ließ es sich nicht leugnen, dass er seinen Job beherrschte – wie auch immer der genau aussah.

Casey hatte sich wieder gefangen, unterdessen suchte Walker immer noch nach den richtigen Worten.

„Du bist herzlich eingeladen“, sagte Casey mit einem Lächeln, bei dem Walker schwindlig wurde und das ihn nur noch mehr verwirrte. „Und du musst auch nicht ‚eingreifen‘. Ich komme mit Mitch Wilcox auch sehr gut alleine klar.“ Dann warf sie Clare einen mahnenden Blick zu, von dem die aber nichts mitbekam, da ihr ganzes Interesse Walker galt.

„Sag doch, dass du mitkommst“, bettelte Clare auf eine unwiderstehliche Art.

„Ja, mach schon“, drängte Shane. „Wenn ich nämlich deine Portion mitessen soll, dann muss ich nachher bestimmt kotzen.“

„Shane“, ermahnte Casey ihn freundlich. „Hier redet man nicht so.“

„Sorry“, antwortete der Junge, ohne es wirklich so zu meinen.

Walker wusste, es wäre besser, diese Einladung dankend abzulehnen, da sie nicht von Casey ausgesprochen worden war. Aber sowie er in die hoffnungsvollen Gesichter der Geschwister schaute, konnte er sich einfach nicht zu einem Nein durchringen. „Also gut“, lenkte er schließlich ein. Seine Stimme klang so rau, als hätte er seit Monaten kein Wort mehr gesprochen.

„Der Basar dürfte noch eine gute Stunde gehen“, erklärte Casey. „Danach fahren wir nach Hause, und Doris wird schon darauf warten, den Brunch servieren zu können.“ Sie blickte auf ihre Armbanduhr, eines von diesen Plastikteilen, die man in Billigläden in jeder beliebigen Mall kaufen konnte. „Sagen wir … so gegen halb zwei?“, fragte sie.

Er nickte und wollte sich zum Gehen wenden, dabei wäre er beinahe mit Patsy McCullough zusammengestoßen, die ihn freundlich anlächelte. Ihre Tochter war nicht zu sehen, aber Dawson war mitgekommen. Er saß in seinem Rollstuhl und grinste Walker an. Gleich hinter Patsy stand Treat McQuillan, der Polizeichef von Parable und zugleich der nervtötendste Bürger des gesamten Countys.

Walker und Treat warfen sich nur einen kurzen, aber vernichtenden Blick zu.

Als Treat noch Deputy gewesen war, hatte er sich einmal einen Fauxpas geleistet, als er Brylee in der Boot Scoot Tavern zu einem Tanz zu drängen versuchte. Sie wollte nicht, doch er packte sie und zog sie auf die winzige Tanzfläche vor der Jukebox, woraufhin Walker einschritt und den Mann mit einem gezielten Haken zu Boden schickte. Zwar drohte Treat ihm anschließend eine Weile damit, ihn wegen eines tätlichen Angriffs auf einen Polizeibeamten vor Gericht zu zerren, aber letztlich kamen sie zu irgendeiner Einigung, an deren Details sich Walker gar nicht mehr richtig erinnern konnte. Auf jeden Fall verzichtete Treat am Ende auf eine Anzeige und sah zu, dass er einen großen Bogen um Walker machte.

Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass dieser Mann eine falsche Schlange war und nur auf eine für ihn selbst günstige Gelegenheit lauerte.

Patsys Sohn Dawson, ein gut aussehender dunkelhaariger Junge, der stets interessiert dreinblickte, beendete das allgemeine Schweigen, indem er Walker fragte: „Wann kann ich nach Timber Creek kommen, um wieder zu reiten?“

Aus dem Augenwinkel bemerkte Walker Patsys betretene Miene. „Da richte ich mich ganz nach dir, Cowboy“, antwortete er und konnte nur hoffen, dass er mit seinem Lächeln die Traurigkeit überspielte, die ihn immer dann überfiel, wenn er daran dachte, was für ein vor Leben strotzender Junge Dawson gewesen war, bevor er sich beim Sturz vom alten Wasserturm aus fast fünfzehn Metern Höhe bleibende Verletzungen der Wirbelsäule zugezogen hatte.

„Er kann doch gar nicht auf einem Pferd reiten“, fuhr Treat Walker an. Wie immer schien dieser Mann nur auf eine Gelegenheit zu warten, um sich über irgendetwas zu ereifern.

Patsy, eine vom Leben keineswegs verwöhnte Frau, stellte sich nervös zwischen die beiden Männer und sagte an Walker gewandt: „Was Treat damit meint, ist, dass wir nicht wollen, dass Dawson sich verletzt und …“

Dawson unterbrach sie mit einem aufgebrachten Schnauben.

„Patsy“, erwiderte Walker und nahm von McQuillan genauso wenig Notiz wie von den Fliegen, die ihn umschwirrten, wenn er den Stall ausmistete. „Ich würde nicht zulassen, dass Ihrem Jungen irgendwas zustößt. Da können Sie sich sicher sein.“

„Ja, ich weiß.“ Sie warf einen Blick über die Schulter und stellte dabei fest, wie sehr ihr Begleiter inzwischen vor Wut kochte. Dann schaute sie sanftmütig ihren Sohn an. Es war nicht zu übersehen, dass sie den Jungen von Herzen liebte, und sie fühlte sich hin- und hergerissen, da sie auf der einen Seite ihr Kind vor allem Bösen beschützen wollte, sie ihm andererseits aber auch Freiraum geben wollte, damit er sich entfalten konnte. „Ja, das dürfte wohl machbar sein“, sagte sie nun wieder an Dawson gerichtet. „Solange Mr Parrish die ganze Zeit über dabei ist.“

Sofort hellte sich die Miene des Jungen auf, er begann zu lächeln und streckte triumphierend die Faust in die Höhe. „Ja!“, rief er.

Walker setzte seinen Hut wieder auf, tippte einmal leicht an die Krempe und gab damit zu verstehen, dass er hier erst einmal fertig war und sich nun auf den Weg machen wollte. Treat blickte wie gewohnt finster drein, aber ausnahmsweise ersparte er sich einen Kommentar.

„Ich melde mich in den nächsten Tagen“, versprach Walker ihr und zwinkerte Dawson zu.

„Danke“, erwiderte der Junge fast atemlos. „Ich freu mich schon drauf.“

Walker verabschiedete sich und bahnte sich seinen Weg zwischen den Kirchenbesuchern hindurch, um zu seinem Pick-up zu gelangen. Ihm blieben noch rund eineinhalb Stunden, bis er bei Casey zum Pfannkuchenessen erscheinen musste, und diese Zeit wollte er nicht hier beim Basar verbringen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen servierte Casey Erdbeertörtchen an ihre Kunden, die vor dem Stand eine lange Schlange gebildet hatten. Clare versah jeden Teller noch mit einer Extraportion Sprühsahne, während Shane über eine Zigarrenkiste auf einem Klappstuhl wachte, aus der er das Wechselgeld herausgab.

Als der Verkauf beendet war, fingen die anwesenden Männer an, Tische, Stühle und alle anderen Dinge wegzuräumen. Das war nur fair, da die Frauen so viel Zeit in die Zubereitung der Speisen investiert hatten. Casey freute sich schon darauf, nach Hause zu kommen, damit sie erst noch in Ruhe zwei oder drei Tassen Kaffee trinken konnte, ehe Doris’ unvergleichlicher Sonntagsbrunch fertig war.

Darüber, dass ihr Magen sich vor Nervosität verkrampfte, weil Walker ihnen Gesellschaft leisten würde, wollte sie sich lieber gar keine Gedanken machen. Es war verrückt, dass sie so reagierte, immerhin hatten sie zwei gemeinsame Kinder. Auch wenn sie schon seit langer Zeit nicht mehr miteinander geschlafen hatten, gab es nichts an ihr, was Walker Parrish nicht schon mal gesehen hatte – was umgekehrt nicht anders war.

Das war nun mal die Wirkung, die Walker auf sie hatte.

„Was sollte das eigentlich heißen, dass ich jemanden brauche, der Mitch davon abhält, mich zu einer neuen Tournee zu überreden?“, wollte sie wissen, als sie und die Kinder in ihrem unscheinbaren blauen SUV saßen und in Richtung Rodeo Road fuhren. „Erstens habe ich euch mein Wort gegeben, dass ich bis auf Weiteres zu Hause bleibe, und zweitens habe ich in meinem ganzen Leben noch nie ein Problem damit gehabt, mich gegen Mitch Wilcox oder gegen wen auch immer zu behaupten.“

Clare schaute vom Beifahrersitz aus in den Außenspiegel, um mit ihrem Bruder auf der Rückbank Blickkontakt aufzunehmen. Es schien eine heimliche Absprache stattzufinden. Mit Blick auf den gar nicht so ungewöhnlichen Streit am Abend zuvor war es fast schon erleichternd, dass die Geschwister mal einer Meinung zu sein schienen.

Aber eine Antwort bekam sie von keinem der beiden.

Seufzend konzentrierte sich Casey wieder auf die Straße. Inzwischen kannte sie sich in ganz Parable aus, und zum größten Teil galt das auch für Three Trees. Sie hätte die Strecke auch im Schlaf zurücklegen können, was aber nie ratsam war, weil man nicht ausschließen konnte, dass ein anderer Fahrer ein Stoppschild übersah oder dass ein Hund auf die Straße lief.

Was ihre Karriere betraf, nahm Casey etliche Risiken in Kauf, nicht jedoch, wenn es um ihre Kinder ging. „Jetzt redet endlich“, forderte sie die zwei auf. „Was läuft hier?“

„Walker sah so aus, als würde er Nein sagen“, antwortete Clare schließlich. „Zu der Einladung zum Frühstück, meine ich.“

„Ah“, erwiderte Casey und nickte verstehend. Manchmal täuschte sie das auch nur vor, da ihre Kinder schlau genug waren, sie öfter in Verwirrung zu stürzen, als es ihr recht sein konnte. Diesmal allerdings hätte sie schon bewusstlos sein müssen, um nicht die Absicht zu erkennen, die hinter der Einladung steckte.

„Du hättest ihn auch selbst einladen können“, warf Shane ein, der ein wenig verärgert klang. „Wär bestimmt nicht so schlimm, wenn du etwas netter zu Walker wärst, weißt du?“

Casey schwieg nur. Erstens vermutete sie, dass die zwei noch mehr auf dem Herzen hatten, und zweitens wollte sie nicht verkünden, dass es sehr wohl schlimm sein könnte, wenn sie zu nett zu Walker Parrish war, immerhin besaß der Mann die Macht, ihr das Herz zu brechen.

„Habt ihr mitgekriegt, wie Walker mit Dawson McCullough gesprochen hat?“, redete Shane weiter. „Er hat ihm gesagt, dass er auf die Ranch kommen soll, um mit ihm zusammen reiten zu gehen.“

Ein Stich fuhr durch Caseys Herz. War Shane etwa wirklich neidisch darauf, dass Walker sich mit dem anderen Jungen befasst hatte?

„Hab ich mitbekommen“, konterte Clare mürrisch. „Reg dich darüber mal nicht so auf, Volltrottel! Vielleicht hast du das ja nicht gemerkt, aber Dawson sitzt im Rollstuhl. Außerdem hat er früher für Walker gearbeitet, also sind sie so was wie Freunde.“

Diesmal ließ Casey den „Volltrottel“ unkommentiert, während der Junge mit finsterer Miene auf der Rückbank saß und keinen Ton mehr herausbrachte.

Als sie in die Einfahrt zu ihrem Haus einbogen, entdeckte sie einen weißen Mietwagen, der neben dem Gästehaus stand. Mitch Wilcox war soeben im Begriff, zwei Koffer ins Haus zu tragen.

Unwillkürlich fragte sie sich, wie lange ihr Manager wohl bleiben wollte. Er hatte angerufen, weil er „vorbeischauen“ wollte, und als er die Ankunftszeit seines Flugs von Nashville mitteilte, hatte sie ihm erklärt, dass sie dann noch nicht wieder daheim sein würde. Den Hausschlüssel würde sie daher unter die Fußmatte legen, damit er schon ins Haus und es sich dort gemütlich machen konnte.

Offenbar hatte er das wörtlich genommen, denn er schien es sich nicht nur gemütlich zu machen, sondern sich gleich häuslich niederzulassen.

Himmel!

Mitch war zwanzig Jahre älter als Casey und hatte bereits einige Scheidungen hinter sich, dennoch war er immer noch schlank, und sein volles graues Haar machte ihn zumindest äußerlich zu einem guten Fang. Allerdings nur, wenn man ihn nicht näher kannte.

Kaum dass er den SUV bemerkte, stellte er die Koffer ab und winkte ihr zu. Die Kinder stiegen sofort aus, Shane lief zum Haus, um die Hunde in den Garten zu lassen. Clare näherte sich Mitch und hielt eine Hand so elegant ausgestreckt, als wäre sie eine Prinzessin, die einen Würdenträger empfing.

Casey folgte ihrer Tochter und spürte eine gewisse Unruhe in sich, da Mitch tatsächlich hergeflogen war. Wenn er davon sprach, dass er sie besuchen wollte, verbarg sich dahinter normalerweise irgendeine Absicht, zum Beispiel weil sie eine Rolle in einem Fernsehfilm übernehmen sollte oder weil es irgendeine andere großartige Gelegenheit gab, die sie sich seiner Ansicht nach nicht entgehen lassen durfte. Aber er neigte auch dazu, seine Reisepläne in letzter Minute abzusagen, und genau darauf hatte sie diesmal auch gehofft. Auch wenn sie vor ihren Kindern so getan hatte, als sei dieser Besuch für die beiden kein Grund zur Sorge, fühlte sie sich in Wahrheit unbehaglich.

Mitch war ein sehr erfolgreicher Manager in der Musikbranche, denn er besaß unglaubliche Überredungskünste. Der Mann konnte Sand in der Sahara und Kühlschränke am Nordpol verkaufen, und Caseys momentanes Problem war, dass sie sich seltsam verwundbar fühle.

„Du solltest deine Begeisterung ein bisschen im Zaum halten“, zog Mitch sie auf und küsste sie flüchtig auf die Wange. „Ich überbringe gute Neuigkeiten.“

Casey lächelte, verschränkte allerdings die Arme vor der Brust, was sie augenblicklich bereute. Es war eine klassische Geste, die so viel aussagte wie: „Versuch mich nicht zu irgendwas zu überreden. Im Moment kannst du mich nämlich viel zu leicht überreden.“

Für Mitch war es kein Problem, ihre Körpersprache richtig zu deuten, schließlich war er darin ein Meister.

„Pack erst mal in Ruhe aus“, meinte sie zuvorkommend. „Doris ist inzwischen aus der Kirche zurück und fängt gleich an, Pfannkuchen in rauen Mengen zu backen.“

„Wunderbar“, gab er begeistert zurück. „Ich bin halb verhungert. Auf dem Flug hat man mir drei Erdnüsse, eine Salzstange und einen Becher Kaffeebrühe serviert – und das in der ersten Klasse.“

„Ach, du Ärmster“, entgegnete Clare und hakte sich bei Mitch unter. In all den Jahren auf Tournee war er für Caseys Kinder zu einer Art Ersatzgroßvater geworden, und beide konnten sie ihn auch gut leiden, auch wenn ihre Begeisterung für Walker um ein Vielfaches größer war.

Der Gedanke bereitete ihr sofort ein schlechtes Gewissen, da sie sich einmal mehr fragen musste, was wohl ihre Kinder sagen würden, falls sie dahinterkamen, dass Walker ihr Vater war. Einerseits würden sie bestimmt begeistert sein, da sie ja glaubten, dass sie keinen Vater hatten. Andererseits würden sie wohl vor Wut auf sie platzen. Sie hatte ihnen die Wahrheit verschwiegen, sie war die Böse, die Frau, die sie mit einer Lüge großgezogen hatte. Sie war diejenige, die ihnen das vorenthalten hatte, was sie mehr als alles andere wollten: einen Vater.

Sie musste bei diesem Gedanken ein wenig bleich geworden sein, denn Mitch kniff seine blauen Augen zusammen und erkundigte sich besorgt: „Fühlst du dich nicht wohl?“

Clare zog Mitch bereits mit sich in Richtung Haus. So schnell wie möglich wollte sie in ihr Zimmer, um die Kirchenkleidung gegen T-Shirt und Shorts einzutauschen.

Die drei Hunde stürmten aus der Küche über die Veranda und schossen wie kleine Fellkanonenkugeln in den Garten, wobei sie vor Freude ausgelassen bellten, weil die Menschen wieder da waren, die sich um sie kümmerten.

„Nein, nein, alles okay“, antwortete Casey und stellte sich den Hunden schnell in den Weg, sodass sie eine andere Richtung einschlagen mussten. Ansonsten hätten sie vermutlich den armen Mitch gnadenlos umgerannt.

Er sah sie unschlüssig an, schien sich aber dann mit ihrer Antwort zufriedenzugeben.

Doris, die eine andere Kirche in Parable besuchte, trug wieder ihre übliche Kleidung und begrüßte Casey freundlich, während sie den großen Tisch auf der Veranda mit dem guten Porzellan und den besten Kristallgläsern deckte. Neben jedem Teller ordnete sie das silberne Besteck an.

„Walker kommt auch“, verkündete Clare gut gelaunt. „Ich hole noch ein Gedeck für ihn.“

Mit diesen Worten sauste sie in die Küche und machte Casey stolz, die ihre Kinder ganz bewusst so erzogen hatte, dass sie weder Doris noch irgendwen sonst als ihre persönlichen Dienstboten betrachteten. Sie räumten ihre Zimmer selbst auf, und sie konnten auch die Waschmaschine bedienen, um ihre Klamotten selbst zu waschen, auch wenn Clare in diesem Punkt ihrem Bruder etwas voraushatte.

Doris begrüßte Mitch, dann schaute sie Casey an und grinste listig. „Walker?“, fragte sie. „Na, sieh mal einer an!“

Es war nicht das erste Mal, dass Casey sich fragte, wie viel sich ihre Haushälterin über die Jahre hinweg wohl hatte zusammenreimen können. Rasch wich sie Doris’ Blick aus und tat so, als müsse der Strauß Frühlingsblumen auf dem Tisch dringend ein wenig zurechtgezupft werden.

„Täusche ich mich“, erkundigte sich Mitch, „oder steht da tatsächlich ein echtes Karussell im Garten?“

Doris war bereits in die Küche zurückgekehrt, und gleich darauf kam Clare mit Teller, Besteck und einem Glas für Walker zurück. Das alles ordnete sie genau gegenüber von dem Platz an, auf dem Casey üblicherweise saß.

„Wir hatten hier gestern eine Hochzeitsfeier“, antwortete Clare fröhlich. Sonderbarerweise war es ihr gelungen, sich in den wenigen Augenblicken umzuziehen, die sie gerade eben im Haus verbracht hatte. Casey vermutete, dass sie nicht nach oben in ihr Zimmer gelaufen war, sondern sich in der Waschküche an der Wäscheleine bedient hatte. „Mom achtet immer darauf, dass Kinder auch ihren Spaß haben, wenn sie etwas für Erwachsene veranstaltet.“

Casey hörte, wie ein Wagen über den Kies in der Auffahrt zum Haus gefahren kam. Dann bellten die Hunde ausgelassen, und Shane rief: „Hey, Walker!“

Sofort ließ Clare alles stehen und liegen und rannte von der Veranda zur Auffahrt.

Gleichzeitig hob Mitch eine perfekt getrimmte graue Augenbraue hoch. „Ich hatte mir doch schon gedacht, dass er mit ein Grund dafür ist, wieso du dich im hintersten Kaff in Montana niedergelassen hast.“

Ihre Wangen liefen rot an. „Er ist nur ein Freund“, erwiderte sie, fand jedoch, dass sie sich nicht ganz so glaubwürdig anhörte. „Ein guter Freund.“

Etwas blitzte in Mitchs Augen auf, es war allerdings so schnell vorbei, dass Casey es nicht deuten konnte. „Ja“, meinte er, was beinahe wie ein Seufzer klang.

Casey schaute durch das Fliegengitter, das die komplette Veranda einhüllte, und beobachtete, wie Walker von ihren Kindern und den Hunden zum Haus geführt wurde, als wären sie sein Gefolge. Die Geschwister redeten gleichzeitig auf ihn ein, aber das schien ihn nicht zu stören, sondern vielmehr zu freuen.

Ihr Magen verkrampfte sich ein wenig. Sollte das Geheimnis gelüftet werden, dann würden die beiden Walker keine Schuld geben, sondern nur Casey – und das auch noch völlig zu Recht. Angst erfüllte sie, auch wenn sie zugleich eine völlig unnötige Begeisterung darüber verspürte, dass Walker wieder hier war. Hatte sie sich womöglich schon so lange etwas vorgemacht, dass sie die Wahrheit gar nicht mehr erkennen konnte, wenn sie mit ihr konfrontiert wurde?

Sie wollte Walker Parrish nicht nur als Freund haben, sie wollte ihn als Mann, als Liebhaber. Ihr wurde prompt heiß, als sie an frühere gemeinsame Zeiten denken musste, als es nur sie beide gegeben hatte und die ganze Welt um sie herum in Vergessenheit geraten war.

Wie der Zufall es so wollte, musste Walker genau in diesem Moment den Kopf heben und sie anschauen. Sowie sich ihre Blicke trafen, hätte Casey schwören können, dass die Erde sich für ein paar Sekunden aufgehört hatte zu drehen.

Sie ging zur Fliegengittertür, öffnete sie und setzte ihr höflichstes Lächeln auf, das Gästen und besonderen Fans vorbehalten war. „Da bist du ja.“

Walkers lässiges, selbstbewusstes Lächeln ließ ihr Herz schneller schlagen. „Schön, dich wiederzusehen, Casey“, sagte er und ließ es so klingen, als seien seit ihrer letzten Begegnung nicht bloß eineinhalb Stunden, sondern mindestens ein paar Tage oder sogar Jahre verstrichen.

Die Kinder und die Hunde folgten Walker auf die Veranda und scharten sich um ihn.

Walker sah Mitch an.

Mitch sah Walker an.

Dann erst gaben sie sich die Hand und begrüßten sich.

Bildete sich Casey das nur ein, oder hatte sich das gerade so angehört, als wären zwei Platzhirsche aufeinander losgegangen?

4. KAPITEL

Caseys Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Walker saß ihr gegenüber und verspeiste eine beachtliche Anzahl von Doris’ Pfannkuchen, Shane und Clare hatten neben ihm Platz genommen. Beide Kinder wetteiferten abwechselnd um seine Aufmerksamkeit, was er mit einer bemerkenswerten Diplomatie löste, indem er sich ganz in Ruhe alles anhörte, was die zwei ihm erzählten, und darauf achtete, dass keiner sich benachteiligt fühlte.

Der arme Mitch hätte ebenso gut unsichtbar sein können, so wenig interessierten sich die Geschwister für ihn, und Casey selbst erging es kaum besser. Das war jedoch nicht der Punkt, der sie störte. Denn sie konnte gut verstehen, dass die zwei diesem Mann nahe sein wollten, von dem sie nicht wussten, dass er ihr Vater war. Das Schlimme war ihr schlechtes Gewissen. Wenn sie kreuz und quer durchs Land auf Tournee gewesen war, war es ihr immer leichtgefallen, vernünftige Argumente vorzubringen, wieso dieses Geheimnis gewahrt bleiben musste. Aber nun war sie nicht meilenweit entfernt von Walker und einem Ort, den sie als ihr Zuhause bezeichnen konnte, es gab keine Tournee, keine Konzerte, keine Art von Ablenkung, um nicht über das Thema nachzudenken. Hier und heute wurde sie mit der Realität konfrontiert, was sie ihren Kindern und deren Vater vorenthalten hatte, während sie davon überzeugt gewesen war, genau das Richtige zu tun und sie dadurch zu beschützen. Jetzt saß ihr der Vater ihrer Kinder gegenüber. Sie musste erkennen, dass man Fakten nur so lange erfolgreich ignorieren konnte, wie man eine möglichst große räumliche Entfernung zu ihnen schaffen konnte, allerdings nicht, wenn sie so nahe bei Walker war.

Einmal, während ihre Kinder munter drauflosplapperten, sah Walker zu ihr und schaute ihr so eindringlich in die Augen, dass sie ihren Blick nicht abwenden konnte. Was Casey darin las, bestätigte nur ihren Verdacht, dass die Katastrophe längst ihren Lauf genommen hatte und die von ihr geschaffene Welt aus ihren Angeln heben würde. Das würde nicht ohne Opfer vonstattengehen, das war ihr längst klar. Dass sie genau in der Schusslinie stand, war dabei noch ihr geringstes Problem. Ihre größte Sorge drehte sich um die Frage, wie sich eine solche Enthüllung auf das Leben ihrer Kinder, aber auch auf Walker auswirken würde.

Mit dieser Frage war eine andere, noch schmerzhaftere verbunden, die ihr einen Stich durchs Herz gehen ließ: Was habe ich nur getan?

Mitch entpuppte sich als überraschend sensibel, denn auf einmal fasste er nach Caseys Hand und drückte sie leicht. Noch jemand, der sich nicht hatte täuschen lassen, wie sie sich in diesem Moment eingestehen musste. Mitch hatte sicher schon von Anfang an gewusst, dass Walker mehr als nur ein Freund der Familie war. Wie viele andere Leute hatten ihr Spiel wohl noch durchschaut? Es war durchaus anzunehmen, dass ihr langjähriger Manager bloß vorgegeben hatte, er würde ihr die Geschichte von den anonymen Samenspendern abkaufen. Aus irgendeinem Grund schien er bereit gewesen zu sein, seine Rolle in ihrer ganz persönlichen Seifenoper zu spielen, wie sie es von ihm erwartete.

Sie warf Mitch einen dankbaren Blick zu, dass er solches Verständnis für sie aufgebracht hatte, was er mit einem Zwinkern kommentierte.

„Und? Dürfen wir, Mom?“ Shanes bittender Tonfall holte Casey zurück in die Gegenwart. „Bitte!“

Sie erschrak und errötete vor Verlegenheit, da sie den letzten Teil der Unterhaltung am Tisch gar nicht mitbekommen hatte. Jetzt würden alle wissen, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen war.

Walker eilte ihr so beiläufig und lässig zu Hilfe, dass sie ihn am liebsten geküsst hätte – was sie ohnehin schon seit einer Weile tun wollte, wenn auch aus völlig anderen Gründen. „Wir haben überlegt, dass wir zur Ranch fahren und ausreiten“, erklärte er, „und nach dem Abendessen bringe ich die Kinder wieder her, falls du nichts dagegen hast.“

Casey schluckte, setzte ein halbherziges Lächeln auf und nickte. Hätte sie das Ganze deutlich früher mitgekriegt, wäre sie bestimmt nicht einverstanden gewesen, allein schon aus dem Grund, den Moment noch eine Weile hinauszuzögern, bis sie mit ihrem Manager allein war. Nicht dass sie vor diesem Mann Angst gehabt hätte, allerdings hatte sie das Gefühl, momentan nicht so ganz sie selbst zu sein. Doch egal, was er vorhatte – und Mitch hatte irgendetwas vor, da er sich zwischen zwei Tourneen nur dann bei ihr blicken ließ, wenn es einen besonderen Anlass gab, einen von der Art, die ihm eine fette Provision bescherte; sie würde es sich anhören, gründlich darüber nachdenken und dann vermutlich dankend ablehnen. Sie wusste, was sie wollte und was sie nicht wollte, und sie war ganz sicher niemand, der sich von anderen rumkommandieren ließ, doch das Problem war, dass die notwendige Diskussion mit Mitch sie mehr Kraft kosten würde, als sie derzeit aufbringen konnte.

Von Shane und Clare war nach ihrer Zustimmung ausgelassener Jubel zu hören, der jede Unterhaltung unmöglich machte, was wiederum die Hunde dazu veranlasste, aufzustehen und mit lautem Gebell in den fröhlichen Lärm einzustimmen.

„Können die drei auch mitkommen?“, fragte Shane und schaute Walker hoffnungsvoll an.

„Die Hunde? Na klar“, erwiderte Walker mit belegter Stimme, die die Gefühle für seinen Sohn genauso erkennen ließ wie sein liebevoller Gesichtsausdruck.

Unwillkürlich musste sich Casey fragen, wie sie es geschafft hatte zu ignorieren, dass in Walkers Herz nicht nur Platz für seine beiden Kinder, sondern auch noch für drei Labradore war. Obwohl … die Antwort darauf war recht einfach, wenn sie es genau überlegte: Indem sie Walker die Fähigkeit absprach, die Geschwister genügend zu lieben, hatte sie für sich ein Argument mehr geschaffen, ihn offiziell nicht als den Vater ihrer Kinder in Erscheinung treten zu lassen.

Chaos brach los, als alle aufgegessen hatten und Clare und Shane Hals über Kopf begannen, den Tisch abzuräumen und alles Geschirr in die Spülmaschine zu packen. Das gehörte zu ihren gemeinsamen Aufgaben, die sie jetzt nicht schnell genug erledigen konnten, weil sie mit Walker zur Ranch fahren wollten. Gut gelaunt drängten sie sich gegenseitig aus dem Weg, weil jeder von ihnen als Erster fertig sein wollte. Die Hunde hatten zwar keine Ahnung, was der Trubel bedeuten sollte, aber das hielt sie nicht davon ab, hinter den Geschwistern herzulaufen, die ein paarmal zwischen der Veranda und der Küche pendeln mussten, ehe alles weggeräumt war.

„Davon kriege ich Kopfschmerzen“, meinte Mitch und zog sich auf dem schnellsten Weg ins Gästehaus zurück.

Einerseits war Casey froh darüber, dass er gegangen war, da es fast unmöglich war, einen klaren Gedanken zu fassen, wenn Walker ihr gegenübersaß und dabei so verdammt gut aussah und wenn die Kinder und die Hunde diesen Höllenkrach veranstalteten. Andererseits jedoch war sie dadurch mit Walker auf einmal allein auf der Veranda, was bei ihr eine seltsam prickelnde Angst auslöste.

„Wir beide müssen reden“, sagte er in einem bedauernden Tonfall, in dem etwas Endgültiges mitschwang. „Und zwar bald.“

Caseys Herz raste brutal schnell, sodass das Blut laut in ihren Ohren rauschte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, weshalb sie kein Wort herausbekam. Also nickte sie nur.

Es war nicht so, als hätte Walker sie dabei finster angeschaut, doch die Art, wie er es gesagt hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass er diesmal keinen Millimeter nachgeben würde. Er war an einem Punkt angelangt, der ihm kein Zurück mehr erlaubte. Nichts würde ihn von seinem Entschluss abbringen können.

Was für ein Entschluss das war, war Casey schon längst klar: Er wollte sich zu seiner Vaterschaft bekennen, und zwar öffentlich, ganz gleich, ob sie damit einverstanden war oder nicht.

Als die Kinder und die Hunde schließlich in Walkers Wagen saßen, machte er sich mit ihnen auf den Weg zur Ranch. Auf der Veranda kehrte Ruhe ein, und Casey konnte wieder klar denken. Sie ging in die Küche und goss sich einen Tee auf, dann begab sie sich mit der Tasse in den Keller in ihr Filmstudio und betrat die Bühne, wo sie einen einzelnen Scheinwerfer einschaltete, der zugleich die einzige Lichtquelle war, wenn man von den grünen, blauen, gelben und roten LEDs absah, die an ihrer Hightechausrüstung blinkten.

Sie öffnete den ramponierten Instrumentenkoffer, den sie damals als kleines Mädchen unter einem funkelnden und glitzernden Weihnachtsbaum vorgefunden hatte. Fast ehrfürchtig nahm sie die Gitarre heraus, auf der sie ihre ersten, schiefen Akkorde gespielt und mit der sie sich an ihren ersten Kompositionen versucht hatte. Durch fleißiges Üben waren aus diesen frühen musikalischen Gehversuchen einige ihrer größten Hits entstanden, die ihren Ruhm begründet hatten.

Wirklich bemerkenswert.

Es fühlte sich gut an, die Gitarre zu halten, und als Casey in den aufgeklappten Koffer vor ihr auf dem Boden schaute, musste sie unwillkürlich lächeln. Sowohl Clare als auch Shane hatten während ihrer Konzerte hinter der Bühne als Babys in genau diesem Koffer gelegen und fest geschlafen, eingewickelt in die Jeansjacken der Band oder der Roadies und in Tour-Shirts und Handtücher.

Bei der Erinnerung daran wurde ihr warm ums Herz, und sie begann, eine leise Melodie zu spielen, um sich in den sanften Fluss der Musik hineinzufühlen, die ihr schon immer Trost gespendet hatte und in der sie Zuflucht hatte suchen können. Noch bevor sie Gitarre spielen konnte oder ein anderes Instrument erlernt hatte, war es für sie das Normalste auf der Welt gewesen, zur Musik aus dem Radio oder aus der Stereoanlage ihrer Großeltern zu singen. Ihren Eltern zufolge hatte sie sogar schon singen können, bevor sie richtig sprechen konnte.

In der Musik konnte sie ihre Ängste, Sorgen und Zweifel und mit ihnen auch ihr normales Selbst hinter sich lassen und sich geborgen fühlen.

Im Pick-up herrschte Chaos pur – die Kinder redeten gleichzeitig auf ihn ein, die Hunde tauschten von lautem Bellen begleitet alle paar Minuten die Plätze auf der Rückbank, während durch die offenen Seitenfenster der Fahrtwind in das Auto wehte.

Walker liebte dieses Durcheinander, aber seine Freude war getrübt. In ein paar Stunden würde er die ganze Truppe wieder nach Hause bringen müssen, dann kehrten sie in die Welt zurück, in der Casey ihm keinen Platz einräumen wollte.

Zu seiner Erleichterung sah er bei der Ankunft auf seiner Ranch, dass Brylees Wagen in der Zufahrt parkte. Auch wenn Walker sein Leben lang seine Angelegenheiten stets alleine geregelt hatte, sehnte er sich auf einmal dennoch nach der moralischen Unterstützung seiner Schwester.

Sie stand in Jeans, einem Flanellhemd über dem T-Shirt und abgewetzten Stiefeln da und lächelte breit, während sie ihn näher kommen sah. Ihr Hund saß gehorsam neben ihr und legte den Kopf schräg. Neugierig spitzte er die Ohren, als er feststellte, dass nicht nur Walker zurückgekommen war, sondern mit ihm auch noch zwei Kinder und drei Hunde.

Walker hatte den Pick-up gerade erst gestoppt, da waren Shane und Clare schon aus dem Wagen gesprungen und rannten los wie zwei Cowboys, die soeben von wütenden Bullen abgeworfen worden waren, die jetzt hinter ihnen her waren. Das Labrador-Trio folgte den beiden deutlich langsamer, vermutlich auch deswegen, weil sie erst einmal herausfinden wollten, ob sie mit Snidely einen Freund oder einen Feind vor sich hatten.

Brylee ging den Kindern entgegen, auf halber Strecke fielen sie sich in die Arme und begrüßten sich fröhlich.

Nur Walker verharrte neben dem Wagen und betrachtete die Szene, um sie in sein Gedächtnis einzubrennen, damit er sie immer wieder hervorholen konnte, wenn ihm danach war.

Die Hunde beschnupperten sich kurz, dann begannen sie, zögerlich mit dem Schwanz zu wedeln, und gleich darauf hatten sie sich bereits miteinander angefreundet. Von Brylees Schäferhund angeführt machten sie sich daran, eine echte Scheune auf einer echten Farm zu erkunden.

„Was für eine tolle Überraschung“, sagte Brylee fröhlich, nachdem sie sich aus der Umarmung der Kinder gelöst hatte. Freudentränen schimmerten in ihren Augen, während sie dankbar Walker anschaute, der diese Überraschung überhaupt erst ermöglicht hatte.

Brylee hatte Clare und Shane schon vor langer Zeit in ihr Herz geschlossen und sie zu Nichte und Neffe ehrenhalber ernannt. Falls sie die Wahrheit gewusst hätte …! In ihrer Küche hingen immer die neuesten Fotos am Kühlschrank, und sie schrieben sich regelmäßig SMS und E-Mails.

„Opal bedankt sich für das viele Brot“, berichtete Walker seiner strahlenden Schwester und verzog ein wenig das Gesicht. Diese allgegenwärtige Zurschaustellung von Freude bereitete ihm ein seltsames Unbehagen.

„Alle Brote sind verkauft worden!“, warf Clare ein. „Mom hat gesagt, dass der Basar heute ein kleines Vermögen eingebracht hat.“

„Das ist gut“, erwiderte Brylee und legte je einen Arm um Clares und Shanes Schultern, um sie sanft zu drücken. Als sie dabei Walkers Gesicht betrachtete, standen tausend Fragen in ihren Augen geschrieben.

„Wir gehen reiten“, verkündete Shane. „Kommst du mit?“

Brylee sah nach wie vor Walker an und hob fragend eine Braue.

„Natürlich kommt Brylee mit“, antwortete er an ihrer Stelle. Dabei fragte er sich, wann er seine Schwester das letzte Mal so glücklich erlebt hatte.

Auf jeden Fall fanden sie sich kurz darauf alle im Stall wieder, damit sie die Pferde für ihren Ausritt aussuchen konnten. Walker führte die Kinder zu den sanftmütigeren Tieren, er sattelte sie und brachte sie nach draußen, wo sie vom hellen Sonnenschein eines wunderschönen sommerlichen Sonntagnachmittags empfangen wurden.

So wie Walker war Brylee praktisch auf einem Pferderücken groß geworden, aber soweit er sich erinnerte, hatte sie schon seit Monaten nichts anderes mehr getan, als ihren treuen schwarzweißen Wallach Toby zu bürsten und zu striegeln. Einmal hatte sie Walker in einem schwachen Moment anvertraut, dass verschiedene Dinge – ein bestimmter Song oder auch die Nähe ihres Pferdes – ihr tief in ihrem Inneren Schmerzen bereiteten, weshalb sie sich davon fernhalten musste.

Bei dem Gedanken an dieses Geständnis rührte es ihn, dass seine Schwester den Kindern Anweisungen mit auf den Weg gab. Die zwei waren zwar schon ein paarmal geritten, doch es fehlte ihnen natürlich an jener Erfahrung, die das Reiten für Brylee so selbstverständlich machte, als wäre sie im Sattel zur Welt gekommen. Was er gerade erlebte, war die gute alte Brylee, die vor Leben sprühende Brylee, wie Walker sie kannte und liebte.

Brylee ritt voran, Clare hielt sich auf Tessie neben ihr, während sie alle zusammen Kurs auf die Ausläufer am Fuß des Big Sky Mountain nahmen. Walker folgte auf Mack, an seiner Seite saß ein völlig begeisterter Shane auf dem etwas fülligen und sanftmütigen Smokey.

Die vier Hunde bildeten mit nur geringem Abstand die Nachhut, blieben aber weit genug entfernt, damit sie nicht von den Hufen der Pferde getroffen werden konnten.

„Das ist toll!“, erklärte Shane begeistert, der in seinem Sattel auf und ab wippte, während Brylee ihren Toby langsamer werden ließ, woraufhin auch die anderen das Tempo drosselten.

Walker lachte leise. „Du solltest dich besser an den Rhythmus deines Pferds anpassen, sonst wirst du morgen den ganzen Tag nicht sitzen können“, riet er seinem Sohn.

Sein Sohn! Am liebsten hätte er vom nächsten Berggipfel in die Welt hinausgeschrien: Meine Tochter, mein Sohn! Meine Kinder!

„Das versuche ich ja“, erwiderte Shane, dessen fröhliches Gesicht so strahlte, dass er es nahezu mit der Sonne hätte aufnehmen können.

Walker machte ihm vor, wie man sich in die Steigbügel stellte, weil das einem Reiter manchmal half, in den Rhythmus zu gelangen. Allerdings reichten die Beine des Jungen dafür nicht weit genug nach unten.

Nachdem sie gut eine Viertelstunde später den Fluss erreichten, saß Walker ab, ging zu Smokey und korrigierte den Sitz der Steigbügel, damit Shane in ihnen Halt fand.

„Ich bin wohl ein bisschen aus der Übung“, meinte Shane leise, damit Brylee und Clare ihn nicht hören konnten.

„Das lässt sich leicht ändern“, versicherte Walker ihm. „Es ist ja schon einige Zeit her, seit du das letzte Mal mit deiner Schwester hier warst, und ich nehme an, du hast in der Zwischenzeit nicht allzu oft Gelegenheit zum Reiten gehabt.“

Shane sah ihn ernst an und schluckte einmal angestrengt. „Es wäre toll, wenn ich öfter herkommen könnte“, erklärte er dann so zögerlich, dass er Walker damit einen Stich ins Herz versetzte. „Falls du mich … und Clare öfter hier haben willst.“

Vorsicht! warnte Walker sich selbst, denn ein fast übermächtiges Drängen wollte von ihm, dass er den Jungen packte, ihn an sich drückte und ihm offenbarte, wie sehr er wollte, dass Shane und Clare eine größere Rolle in seinem Leben spielten. Wie sehr wollte er ihnen sagen, dass er ihr Vater war! Wie sehr wollte er all diese verlorene Zeit wiedergutmachen! Wie sehr wollte er, dass sie ihren rechtmäßigen Nachnamen Parrish anstelle von Elder trugen!

„Ihr könnt immer herkommen, wenn eure Mutter damit einverstanden ist“, erwiderte er schließlich.

„Mom wird behaupten, dass du zu viel zu tun hast und dass wir dir nur im Weg sind“, hielt Shane überzeugt dagegen.

Walker musste sich erst räuspern, ehe er wieder sprechen konnte. „Ich glaube, das kann ich besser beurteilen als eure Mutter. Was hältst du davon, wenn ich mit ihr rede?“

Das Strahlen auf Shanes Gesicht hielt nicht lange an. „Du kannst es ja mal versuchen“, gab er dann betrübt zurück. „Aber Mom ist ziemlich stur. Jeder meint das, der sie kennt.“

Ein raues Lachen kam Walker über die Lippen. „Das stimmt allerdings“, musste er einräumen. „Doch ich schätze, man muss auch ziemlich stur sein, wenn man sich um zwei Kinder kümmert und gleichzeitig an einer Weltkarriere arbeitet.“

Shane schien darüber nachzudenken, konnte aber vermutlich die Zusammenhänge noch nicht so richtig verstehen. Immerhin war er erst dreizehn, kein kleines Kind mehr, allerdings auch noch nicht erwachsen. „Kann schon sein“, antwortete er unschlüssig.

„Wollen wir heute noch reiten oder lieber rumstehen und quatschen?“, rief Brylee vergnügt. Sie und Clare saßen immer noch auf ihren Pferden.

Lachend schüttelte Walker den Kopf und stieg wieder in den Sattel, dann fasste er nach den Zügeln und hielt sie locker in der rechten Hand. „Bereit?“, fragte er Shane.

Der nickte stolz und entschlossen. „Bereit“, versicherte er.

Sie ritten gut eine Stunde, bis die Hunde schließlich hinter den Pferden zurückfielen. Das war das Zeichen, dass die Hunde – wie Walkers Dad es immer ausgedrückt hatte – genug Spaß für den Tag gehabt hatten.

Zurück im Stall unterhielt sich Brylee weiter angeregt mit Clare, während sie die Pferde absattelten und sie anschließend in ihre Boxen brachten. Auch als sie die Tiere striegelten und sie mit Futter versorgten, redeten sie immer noch.

„Warum quatschen Frauen eigentlich so viel?“, fragte Shane. Er und Walker hatten die gleichen Tätigkeiten erledigt wie Brylee und Clare, dabei aber nur ein paar Sätze gewechselt. Es war nicht so, als hätten sie nichts gehabt, worüber sie sprechen konnten, doch Seite an Seite und Hand in Hand zu arbeiten, war ebenso eine Art Kommunikation, nur dass die mit wenigen Worten auskam.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete er ganz ehrlich. „Ich vermute, Frauen sind einfach so gepolt.“

„Vielleicht ja“, erwiderte Shane. „Mike, also der Gitarrist meiner Mom, glaubt, dass Mädchen meinen, jemand wäre böse auf sie, wenn keiner mit ihnen redet.“

„Das klingt mir ein bisschen zu simpel“, fand Walker. „Ich denke, starke Frauen wie deine Mutter, Brylee oder deine Schwester machen sich nicht allzu viele Gedanken darüber, ob jemand böse auf sie ist oder nicht. Sie haben genug damit zu tun, die Dinge zu machen, die gemacht werden müssen.“

Shane nickte bedächtig. In diesem Moment hätte Walker viel dafür gegeben, zu erfahren, was dem Jungen durch den Kopf ging. Wie musste es für ihn gewesen sein, fast seine ganze Kindheit in Tourbussen und Hotels zu verbringen? Hatte er sich geängstigt, weil er ständig neue Orte sah und neue Leute kennenlernte? Hatte er sich je gewünscht, irgendwo auf Dauer zu bleiben, eine normale Schule zu besuchen, Freundschaften zu schließen und Teil einer Baseball- oder Fußballmannschaft zu sein?

Eigentlich wusste er kaum etwas über Shane, und auch nichts über Clare. Diese Erkenntnis versetzte ihm einen Stich ins Herz, schmerzte und machte ihn wütend und noch vieles mehr, aber er presste die Lippen fest aufeinander, damit ihm nicht versehentlich die Wahrheit rausrutschte. Es mochte zwar stimmen, dass die Wahrheit etwas Befreiendes hatte, doch sie konnte auch Herzen brechen und verbrannte Erde hinterlassen.

Womöglich war es in diesem Fall längst zu spät für die Wahrheit, da sie unter Umständen mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen würde.

Er war sich ziemlich sicher, dass Casey genau das glaubte – weshalb sie recht damit haben mochte, das Thema gar nicht erst anzuschneiden.

„Spaghetti zum Abendessen?“, fragte Brylee, nachdem die Pferde versorgt waren. Zwei Rancharbeiter waren bereits damit beschäftigt, auch die anderen Tiere zu füttern und alles für die Nacht vorzubereiten.

Die Kinder waren von dem Vorschlag begeistert, während Walker weiter schweigsam war, weil er immer noch daran denken musste, wie viel Zeit sie alle verloren hatten, die sie zusammen hätten verbringen können. Gewiss würde er diese Frau lieben können, falls er jemals dumm genug wäre, ihr absolut zu vertrauen, allerdings wenn sie in diesem Moment hier bei ihm gewesen wäre, hätte er ihr die Leviten gelesen, und zwar von Anfang bis Ende, nur um gleich darauf von vorn anzufangen, damit sie auch ganz sicher alles mitbekam.

Was immer auch zwischen ihm und Casey geschehen war, er war es inzwischen leid, irgendwelche Spielchen zu spielen, leid, am Spielfeldrand zu stehen und zusehen zu müssen, wie seine eigenen Kinder allmählich erwachsen wurden. Er war die Lügen und die Täuschungsmanöver und den ganzen übrigen Mist leid.

Wenn sie vier keine Familie sein konnten, dann sollte es eben so sein. In der heutigen Zeit war das nichts Ungewöhnliches mehr. Die Leute mussten damit zurechtkommen und versuchen, das Problem irgendwie zu lösen.

Aber während er den vier Hunden auf der seitlichen Veranda Wassernäpfe hinstellte und er aus der Küche fröhliches Gelächter hörte, war er sich in einem Punkt absolut sicher: Er war es endgültig leid, Casey als Einzige entscheiden zu lassen, wie es mit ihnen weitergehen sollte.

Ja, das würde Konsequenzen nach sich ziehen. Er würde eben einen Weg finden müssen, wie mit diesen Konsequenzen umgegangen werden sollte.

Nach einer Weile tauchte Mitch bei ihr auf, vermutlich weil er der Musik gefolgt war, die durchs Haus getragen wurde. Es waren die Klänge eines Songs, der sich einfach nicht in die richtige Form bringen lassen wollte.

Caseys Manager setzte sich auf die unterste Treppenstufe, stützte die Ellbogen auf seine Knie und legte das Kinn in eine Handfläche. „Du und dieser Cowboy“, sagte er nach einiger Zeit. „Ist das was Ernstes?“

Daraufhin hörte sie auf zu spielen, packte die Gitarre zurück in den Koffer und verschloss ihn. „Darf ich annehmen, dass mit ‚Cowboy‘ Walker gemeint ist?“

„Versuch nicht, mir auszuweichen, Case“, erwiderte Mitch mit einem Anflug von Traurigkeit. „Dafür kennen wir beide uns schon zu lange.“

Sie wandte den Blick ab. „Walker ist … ein Freund“, entgegnete sie. Auch wenn sie Mitch noch so sehr respektierte und alles zu schätzen wusste, was er über die Jahre hinweg für sie getan hatte, würde er ganz sicher nicht noch vor ihren eigenen Kindern erfahren, was es mit ihrer Beziehung zu Walker auf sich hatte. Clare und Shane mussten es als Erste erfahren, dann war Brylee an der Reihe. Immerhin war das Ganze eine Familienangelegenheit.

„Wenn du das sagst“, erwiderte er und saß immer noch auf der Stufe. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er die Hände zu einer hilflosen Geste hob. „Ich bin auch nicht hier, um mit dir über Walker Parrish zu reden.“

„Habe ich auch nicht gedacht“, konterte sie schwach grinsend, doch ihre witzig gemeinte Bemerkung verpuffte wirkungslos.

„Du bist mir wichtig, Casey“, fuhr er fort. „Und die Kinder natürlich auch.“ Bei Mitch folgten Clare und Shane immer erst im Nachsatz, so als wären sie ein logistisches Problem. „Deswegen bin ich hierher nach Parable gekommen.“

Daraufhin schaute sie ihn an, spürte aber, wie ein Gefühl der Angst in ihr aufstieg. „Was hast du gesagt?“, fragte sie wie benommen.

„Du bist mir wichtig“, wiederholte er.

Betretene Stille machte sich breit, während Casey überlegte, worauf Mitch hinauswollte.

„Du bist mir auch wichtig“, sagte sie schließlich.

Mitch entspannte sich ein wenig und lächelte sie an. „Dann besteht ja vielleicht eine Chance.“

„Eine Chance für was?“ Casey hatte in diesem Moment keine Ahnung, was das heißen sollte. Erst später sollte ihr bewusst werden, dass sie sehr wohl hätte wissen können, wohin diese Unterhaltung führen würde.

Er schaute verletzt drein. „Mir ist klar, dass du mich nicht liebst“, sprach er zögerlich weiter. „Dennoch werde ich dir diesen Antrag machen. Du bist erschöpft und ausgebrannt, Casey. Du brauchst zur Abwechslung mal jemanden, der sich um dich kümmert.“

Sekundenlang saß sie nur da und konnte nicht fassen, was sie hörte. Zugegeben, ein paarmal hatte sie schon geglaubt, dass Mitch etwas für sie übrighatte, allerdings waren diese Momente stets schnell wieder vorüber gewesen. Alle paar Jahre heiratete er, ließ sich wieder scheiden und heiratete wenig später erneut. Sie hatte das immer kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen, allerdings wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, eine von diesen Frauen zu sein.

„Du bist für mich ein guter Freund, Mitch“, sagte sie und versuchte dabei, sanft und nachdrücklich genug zu klingen. „Ich bin dir für alles dankbar, was du für meine Karriere getan hast, aber du hast recht damit, dass ich dich nicht liebe.“

„Liebe wird überbewertet“, konterte er auf eine sehr beiläufige Art, die aber nur aufgesetzt war, damit er seinen Stolz wahren konnte. „Was hat der Wunschtraum vom ewigen Glück dir gebracht, Casey? Zwei Kinder, doch keinen Ehemann. All dein Geld und dein Ruhm können nicht die Einsamkeit wettmachen, die du verspüren wirst, wenn deine Kinder alt genug sind, um ihr eigenes Leben zu beginnen.“

Sie stutzte. Was hat der Wunschtraum vom ewigen Glück dir gebracht, Casey? Wollte Mitch damit andeuten, dass sie schon einmal verliebt gewesen war und man ihr das Herz gebrochen hatte? Ob das nun zutraf oder nicht, war ihre Sache und ging ihn gar nichts an.

„Was für ein Wunschtraum soll das denn gewesen sein?“, wollte sie wissen und fühlte sich gereizt und schwindlig zugleich. Es kam ihr vor, als wäre sie in ihren schlimmsten Albtraum geraten, in dem sie die Bühne betrat, um für die ganze Welt zu singen, und mit Entsetzen feststellte, dass sie sich an keine einzige Zeile erinnern konnte.

„Lass uns mal ganz ehrlich sein“, sagte Mitch so leichtfertig, dass Casey sich zusammenreißen musste, ihm keine Ohrfeige zu geben. „Ich weiß, Walker Parrish ist der Vater deiner Kinder, Casey.“ Er hob beide Hände ein Stück weit hoch. „Du brauchst es gar nicht zu leugnen. Shane ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, und bei Clare ist die Ähnlichkeit auch zu erkennen. Nur muss man bei ihr etwas genauer hinsehen.“

„Ich fasse es nicht!“, fauchte sie empört, obwohl sie eigentlich keinen Grund für diese Empörung hatte, da Mitch nur die Wahrheit sagte. „Das sind … Spekulationen, Mitch. Gefährliche Spekulationen. Was glaubst du, was solche Behauptungen bei Shane und Clare anrichten werden?“

Mitch blickte sie einfach nur an, seine Miene strahlte etwas so Verständnisvolles aus, dass es sie rasend machte. „Keine Panik. Ich habe nicht vor, dein Geheimnis zu enthüllen, Casey. Ich liebe dich und ich liebe auch deine Kinder. Aber nach so vielen Jahren enger Zusammenarbeit denke ich, dass ich es verdient habe, dass du ehrlich zu mir bist.“

„Ich denke eher, du solltest jetzt besser gehen.“

„Ich werde nicht gehen“, erklärte er, „solange du dich nicht einverstanden erklärt hast, mich zu heiraten.“

Ungläubig riss sie den Mund auf. „Dich heiraten?“

„Na ja, ich sehe wohl nicht so aus wie der Elefantenmensch oder der unglaubliche Hulk“, erwiderte Mitch. „Ich bin dein Geschäftspartner, Casey, dein Mentor und dein Berater, doch vor allem bin ich dein Freund. Vielleicht kann ich dir keine Leidenschaft und auch nichts von dem anderen Quatsch geben, den man angeblich für eine glückliche Ehe braucht, aber ich verstehe dich. Und ich kann dein Gefährte sein, ich kann dir Sicherheit bieten, einen guten Namen …“

„Einen guten Namen?“, fiel Casey ihm aufgebracht ins Wort. Sie hatte sich schon genug Mist anhören müssen, weil die Leute der Meinung waren, sie müssten ihr Vorhaltungen machen, da sie alleinerziehend war und auf die vielen Vorzüge einer Ehe verzichtete. Unter keinen Umständen würde sie sich bei irgendwem dafür entschuldigen, dass sie ihr Bestes gegeben hatte. Außerdem war das ganz allein ihre Angelegenheit, und Mitch hatte nichts damit zu tun. Auch wenn sie noch so gute Freunde sein mochten, hatte er nicht das Recht, über sie zu urteilen – erst recht nicht, wenn man sich in Erinnerung rief, wie viele Anläufe in Sachen Ehe er schon unternommen hatte.

„Vielleicht hätte ich das etwas taktvoller formulieren können“, räumte er betreten ein.

„Das möchte ich bezweifeln“, entgegnete sie schnippisch. Sie war froh, dass sie frühzeitig ihre kostbare Gitarre weggepackt hatte, sonst wäre sie jetzt versucht gewesen, sie auf Mitchs Kopf zu zertrümmern. „Nein, Mitch. Das ist meine Antwort. Nein. Und abgesehen davon wäre ich dir dankbar, wenn wir in Zukunft so tun könnten, als hätte diese Unterhaltung nie stattgefunden.“

„In diesem Fall sollte ich dir vielleicht besser vorschlagen, nicht länger dein Manager zu sein“, meinte er leise.

„Ja, das wäre vielleicht das Beste.“ Äußerlich war Casey die Ruhe selbst, innerlich bebte sie vor Wut. Ohne Mitch hätte sie vielleicht immer nur in billigen Bars gespielt und wäre in drittklassigen Hallen als Vorgruppe für viertklassige Bands aufgetreten, doch auch wenn sie ihm viel verdankte, hatte sie ihm dafür nicht ihre Seele versprochen.

Mitch sagte weiter nichts, sondern stand auf und ging nach oben. Als Casey eine Viertelstunde später die Küche betrat, um sich noch einen Tee zu kochen, schaute sie vom Fenster aus zu, wie ihr alter Freund und Manager in seinen Mietwagen einstieg und wegfuhr. Vermutlich würde sie ihn nie wiedersehen.

„Verflucht“, murmelte sie und blickte zu den beiden Katzen, die sich an ihre Beine schmiegten. Wenn die Hunde im Haus waren, gingen die zwei Katzen ihnen aus dem Weg, doch sobald Ruhe herrschte und Casey Trost brauchte, waren sie sofort zur Stelle.

Doris kam aus ihrem Apartment in die Küche. „Haben Sie was gesagt, meine Liebe?“

Mürrisch schüttelte Casey den Kopf und brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Sie haben einen wundervollen Brunch für uns zubereitet, vielen Dank.“

„Geht es Ihnen gut?“, wollte eine leicht argwöhnische Doris wissen.

„Wieso fragen Sie?“, gab Casey zurück und zog sie auf: „Nur weil ich Ihnen ein Kompliment für Ihre Kochkünste gemacht habe?“

„Nein, sondern weil Mitch Wilcox gerade eben abgefahren ist, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Außerdem habe ich nichts mehr von den Kindern gesehen oder gehört. Und von den Hunden übrigens auch nicht.“

Casey ließ die Schultern sinken. „Die Kinder sind mit Walker weg, und die Hunde haben sie auch gleich noch mitgenommen.“

„Ah, verstehe“, erwiderte Doris.

Nein, Sie verstehen nicht, hätte Casey ihr am liebsten auf der Stelle widersprochen. Ich bin im Begriff, die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben zu verlieren, möglicherweise für immer, und ich bin ganz allein daran schuld.

„Es geht mir wirklich gut“, behauptete sie stattdessen.

„Natürlich tut es das, meine Liebe“, stimmte Doris ihr milde zu, ließ aber keinen Zweifel daran, dass sie es keineswegs so meinte. „Benötigen Sie noch irgendetwas? Falls nicht, würde ich mich gern meinen Sonntagsserien widmen. Ich will mich früh schlafen legen, damit ich für morgen ausgeruht bin. An Montagen geht es hier immer völlig verrückt zu.“

Aus Caseys Sicht ging es in diesem viel zu großen Haus jeden Tag völlig verrückt zu, wenn auch auf eine gute Art.

„Nein, ich benötige nichts mehr, danke“, antwortete Casey und wünschte der Frau eine gute Nacht.

Doris zog sich in ihr Apartment zurück und schloss die Tür hinter sich.

Danach stand Casey mitten in der riesigen Küche und kam sich mit einem Mal unglaublich einsam und verlassen vor. Würde es letzten Endes tatsächlich nur auf das hier hinauslaufen? Nach all der harten Arbeit und allen Strapazen?

Einsamkeit war und blieb Einsamkeit, daran änderte auch der schönste Luxus nichts.

Wenn sie es recht überlegte, war es eigentlich nie anders gewesen. Als Kind hatte sie sich die Zeit im großen Haus ihrer Großeltern vertrieben, sie war wie ein kleiner Geist von einem Zimmer zum anderen gewandert, der auf der Suche nach der Pforte hinauf in den Himmel war. Wären da nicht die Haushälterin Lupe und ihr Ehemann sowie der Gärtner Juan gewesen, hätte sie tagelang durch das Haus streifen können, ohne mit jemandem zu reden.

Wie war es nur möglich, dass sie so viel geschafft hatte, und letztlich befand sie sich doch wieder genau da, wo sie begonnen hatte?

5. KAPITEL

Das ziemlich abgemagerte Tier, das allein und in sicherer Entfernung vor den automatischen Schiebetüren des Supermarkts saß, erinnerte weniger an einen Hund als vielmehr an ein Bündel Wollreste mit Beinen und Knopfaugen. Nachdem Walker seinen Wagen geparkt und den Motor abgestellt hatte, beobachtete er eine Zeit lang den Hund. Dabei fiel ihm auf, dass die Leute an ihm vorbeigingen, ohne Notiz von ihm zu nehmen. Selbst in einer Stadt wie Parable gab es inzwischen doch einige Leute, die vor einem Problem lieber die Augen verschlossen oder in eine andere Richtung schauten, anstatt nach einer Lösung zu suchen oder zumindest jemanden anzusprechen, der eine Lösung wusste.

Walker Parrish war zum Glück – manchmal aber auch zu seinem eigenen Leidwesen – einer von den Leuten, die nicht einfach wegsahen. Zu verdanken hatte er das seinem alten Herrn, der ihm das allerdings nicht bloß gepredigt hatte, sondern mit gutem Beispiel vorangegangen war. „Wenn du irgendwo ein Problem siehst, Junge“, hatte Barclay ihm dabei immer wieder eingetrichtert, „dann dreh dich nicht einfach um und denk, dass sich schon irgendwer darum kümmern wird. Krempel die Ärmel hoch, straff die Schultern und misch dich ein.“

Da ihm also keine andere Wahl blieb – jedenfalls keine, die ihn vor einem schlechten Gewissen bewahrt hätte –, näherte er sich langsam dem Hund zu, damit der keine Angst vor ihm bekam. Nach dem Aussehen des Tiers zu urteilen, hatte es wohl schon so einiges durchgemacht.

„Hey, du Wollknäuel“, sagte Walker mit sanfter Stimme und blieb immer noch auf Abstand.

Der Hund wich ein Stück weit vor ihm zurück, als wolle er sich im Schatten zwischen dem blauen Briefkasten und einem DVD-Verleihautomaten verstecken. Vermutlich rechnete er damit, dass Walker ihn treten und wegjagen würde.

„Hmm, eine Schönheit bist du nun wirklich nicht“, redete Walker leise weiter und schaute dem Hund in die Augen, ohne sich von der Stelle zu rühren. Kurz nachdem er von Casey aufgebrochen war, hatte Brylee ihn auf dem Handy angerufen und ihn gebeten, ihr auf dem Heimweg noch Milch, Glühbirnen und ein bestimmtes Shampoo mitzubringen. Er hatte ihr versprochen, das zu erledigen, auch wenn er gar nicht davon begeistert war, dieses Shampoo auf das Laufband zu stellen. In der Fernsehwerbung schien das Zeugs bei den Frauen einen Orgasmus auszulösen, wenn sie es benutzten, und ihm graute schon vor der Vorstellung, dass die Kasse den Preis nicht kannte und die Kassiererin einmal quer durch den Laden nach einer Kollegin rief, damit die ihr sagte, wie teuer die Flasche war. Allerdings sagte er sich, dass es auch schlimmer hätte kommen können. Schließlich hatte seine Schwester ihn nicht darum gebeten, eine Packung Tampons zu besorgen.

Der Hund winselte verhalten und machte einen winzigen Schritt auf Walker zu.

Walker ging in die Hocke und hielt ihm eine Hand hin. „Komm zu mir, Kleiner“, sagte er. „Ich tue dir nichts.“

Unterdessen marschierten die Leute an ihnen vorbei, fast so, als wäre Walker selbst plötzlich auch unsichtbar geworden, denn niemand nahm von ihm Notiz.

Zögerlich kam der Hund näher und näher, schnupperte an der Hand, leckte einmal über die Finger und wich dann abermals zurück.

Zwar machte es Walker traurig, ein Tier in einer solchen Verfassung zu sehen, doch zumindest war er froh, dass er jetzt Ablenkung hatte. Bevor ihm der Hund aufgefallen war, hatten sich in seinem Kopf die Gedanken überschlagen, die sich alle darum drehten, was er Casey sagen würde, sobald sich die passende Gelegenheit dazu böte. Natürlich hatte die sich nicht ergeben, als er vorhin bei ihr gewesen war, um die Kinder und die Hunde abzuliefern. Das lag vor allem daran, dass die Kinder – sein Sohn und seine Tochter – die ganze Zeit über in der Nähe geblieben waren, als könnten sie irgendetwas Wichtiges verpassen, sollten sie sich nur mehr als zwei Meter von ihnen entfernen.

Dank Brylees Einkaufsliste und diesem vom Schicksal gebeutelten Hund konnte Walker sich jetzt wenigstens mit anderen Dingen beschäftigen.

„Du wartest hier“, sagte er zu dem Tier und richtete sich wieder auf, danach schaute er sich um, ob er irgendwo denjenigen, der das hilflose Tier hier zurückgelassen hatte, entdecken konnte. Aber mit Blick auf den erbärmlichen Zustand des Hundes musste er sich schon seit einiger Zeit von Essensresten ernährt haben, was dafür sprach, dass sein Besitzer ihn bereits vor Wochen ausgesetzt hatte. Doch möglicherweise war der Hund auch einfach von zu Hause weggelaufen, und seinem Herrchen war es egal, was aus ihm wurde. Oder er hatte sich verirrt und war inzwischen so weit von zu Hause entfernt, dass sein Besitzer gar nicht auf die Idee kam, ausgerechnet hier nach ihm zu suchen.

Walker hoffte auf Letzteres, während er den Supermarkt betrat, Glühbirnen, Milch und das peinliche Shampoo in den Wagen legte und dann noch einen Beutel Hundefutter, ein paar Näpfe und ein quietschendes Plüschstinktier kaufte. An der Schnellkasse entging ihm nicht, dass die Frau vor ihm heimlich die Waren in seinem Wagen zählte und dann enttäuscht zu sein schien, als sie feststellen musste, dass er die maximale Artikelanzahl eingehalten hatte.

Sobald er an der Reihe war, fragte er die Kassiererin, ob sie vielleicht wüsste, zu wem der Hund draußen vor der Tür gehörte. Die Frau, die um die zwanzig sein musste, kam ihm nicht bekannt vor, was vor allem daran lag, dass seine Ranch näher an Three Trees als an Parable lag und er alle Einkäufe, vor denen er sich nicht drücken konnte, eher in Three Trees erledigte. Sie schüttelte den Kopf und seufzte leise. Zwar hatte sie eine sehr eigenartige Frisur, die an einen Irokesenschnitt erinnerte, und sie trug entschieden zu viel Eyeliner, dennoch hatte Walker das Gefühl, dass sie ganz nett war.

„Sie könnten ihn nur zu Martie Wren bringen, sie leitet das Tierheim ‚Paws for Reflection‘“, schlug sie ihm vor. „Wenn sie noch einen Platz hat, wird sie den Hund sicher aufnehmen.“

Walker nickte bedächtig, als hätte er soeben zum ersten Mal von dem Tierheim gehört, bezahlte und bedankte sich für den Tipp. Er kannte Martie, sie war eine Frau mit einem großen Herz für alle Tiere, doch irgendwie kam es ihm nicht richtig vor, den Hund einfach bei ihr oder bei irgendwem sonst abzuliefern und die Angelegenheit als erledigt zu betrachten. Was sollte der Hund denken, wenn er von demjenigen, der sich anscheinend um ihn kümmern wollte, gleich darauf schon wieder im Stich gelassen wurde?

Als er den Supermarkt verließ, saß der Hund noch immer in seinem Versteck. Seine Augen leuchteten in der einsetzenden Dämmerung und strahlten jene Art von Geduld aus, die man von einem leidenden Heiligen erwarten konnte.

Er brachte seine Einkäufe zum Auto, fuhr nah an den Eingang heran und stieg aus, während er den Motor laufen ließ. „Ich schlage vor, dass du mit mir mitkommst“, sagte er zu dem Hund, der damit einverstanden zu sein schien, da er sich aus der geschützten Ecke hervortraute. Auf dem Bauch robbend näherte er sich Walker, der die Beifahrertür öffnete. Der vierbeinige Heilige spähte ins Wageninnere und raffte seinen noch verbliebenen Glauben an das Gute im Menschen zusammen, um einen letzten Versuch zu wagen.

Walker konnte nur hoffen, dass der Hund ihm nicht vor Schreck oder aus Panik ein Ohr abbiss, während er ihn vorsichtig hochhob und in den Fußraum vor dem Beifahrersitz setzte. Der Hund zitterte zwar, allerdings sträubte er sich nicht.

Ein Blick genügte, um festzustellen, dass das Tier kein Halsband trug. Das bedeutete, es gab keine Marke oder etwas Ähnliches, das zum Besitzer hätte führen können. Dass der Hund einen Chip haben könnte, hielt Walker für mehr als unwahrscheinlich.

„Von jetzt an wird es dir wieder gut gehen“, versicherte er seinem neuen Begleiter. Zumindest diesem kleinen Tier konnte er ein solches Versprechen geben, von dem er wusste, er würde es auch halten können.

Das war doch immerhin etwas, auch wenn er lieber in der Lage gewesen wäre, solche Aussagen auch gegenüber Casey und seinen Kindern zu machen.

Der Hund rührte sich nicht, als Walker zurück zu seiner Ranch fuhr. Allerdings war nicht klar, ob der Hund froh war, sich nun in Sicherheit zu befinden, oder ob er einfach nur resigniert akzeptiert hatte, nun nicht mehr vor dem Supermarkt, sondern in Walkers Pick-up zu liegen.

Zwanzig Minuten später presste Brylee ungläubig eine Hand auf den Mund, sowie Walker in die Küche hereinspazierte und dabei den Hund wie ein Schäfer in den Armen hielt, der ein Lamm zurück zur Herde trug. Snidely, der in seiner gewohnten Ecke lag, hob kurz den Kopf, gähnte einmal herzhaft und schlief dann weiter.

„Was ist denn mit dem armen Ding passiert?“, fragte Brylee besorgt, während sie den Hund mit einer Mischung aus Mitgefühl und Empörung betrachtete.

„Das weiß wohl außer ihm selbst niemand“, antwortete Walker und ging an ihr vorbei in die Waschküche. Seine Schwester drehte den Wasserhahn am großen Waschbecken auf und nahm aus dem Regal das Hundeshampoo, das für Snidely gedacht war.

Behutsam duschte Walker den Hund ab und schrubbte das Fell, wobei Brylee beruhigend auf das Tier einredete, das diese Prozedur zitternd über sich ergehen ließ.

Erst nach einer dritten Portion Shampoo gelang es, den Dreck zum größten Teil zu lösen und abzuspülen. Zum Vorschein kam etwas, das nach einem Hund aussah, nicht nach einem schmutzigen, verfilzten Wollknäuel. Der Mischling von fragwürdiger Abstammung war schwarz und hatte Schlappohren, und er schien ein bisschen zu schielen. Er wies keine Verletzungen auf und machte auf den ersten Blick einen gesunden, wenngleich auch sehr ausgehungerten Eindruck. Unter dem Fell waren deutlich die Rippen zu ertasten, was hieß, dass er sich schon lange nicht mehr hatte satt essen können.

Während Walker ihn trocken rieb, lief Brylee zurück in die Küche, wo sie Snidely erklärte, was sich zugetragen hatte, und ihn dann aufforderte, sich dem Neuzugang gegenüber nett zu verhalten.

Unwillkürlich musste Walker grinsen, aber als er einige Minuten später mit dem vormaligen Wollknäuel in die Küche kam, hätte er schwören können, dass Snidely jedes Wort verstanden und beschlossen hatte, auf Brylee zu hören. Er tapste zu Walker und schnupperte an dem erbärmlich mageren Hund, dann trottete er zu seinem Kissen, das nur einer von vielen überall im Haus verteilten Plätzen war, die im Fall akuter Hundeerschöpfung als Schlafstätten benutzt werden konnten. Mit einem zielsicheren Biss schnappte sich Snidely sein Lieblingsspielzeug – einen knallroten Feuerwehrhydranten aus Plastik –, kam zurück und legte ihn vorsichtig dem schwarzen Hund hin.

„Ist das nicht süß?“, flüsterte Brylee erstaunt.

„Ich würde eher sagen, das ist höchst seltsam“, erwiderte Walker, der nicht so recht wusste, ob er das gerade tatsächlich gesehen hatte oder ob das bloß eine Halluzination gewesen war. Aus seiner Erfahrung konnte ein Hund die Anwesenheit eines anderen Hundes dulden, sobald es allerdings um Besitz und ums Futter ging, fand alle Toleranz gegenüber anderen Vierbeinern üblicherweise ein jähes Ende.

Brylee wischte seine Bemerkung mit einer flüchtigen Handbewegung beiseite. „Wie heißt er?“, erkundigte sie sich.

„Wenn ich das bloß wüsste“, gab Walker ironisch zurück. „Vielleicht erinnerst du dich ja, ich habe ihn vor dem Supermarkt entdeckt. Bislang hat er mir gegenüber keine Angaben zur Person gemacht.“

Sie verzog den Mund und schüttelte den Kopf, als wollte sie noch etwas für den Fall nachlegen, dass Walker nicht sofort begriffen hatte, was sie von seinem Kommentar hielt. „Du hast mich absichtlich falsch verstanden“, sagte sie dann grinsend. „Der Hund braucht einen Namen, damit ihm klar wird, dass das nun sein Zuhause ist. Und er muss vom Tierarzt untersucht werden. Und er braucht bestimmt irgendwelche Vitamine, damit er wieder zu Kräften kommt.“

„Besten Dank für Ihre Ratschläge, Dr. Dolittle“, erwiderte Walker.

Plötzlich riss Brylee freudig die Augen auf. „Natürlich! Das ist es!“, rief sie begeistert. „Wir nennen ihn Dolittle!“

Walker lachte leise. „Wie du meinst“, sagte er und musterte den gleichmütig wirkenden Hund. „Allerdings glaube ich nicht, dass er sich hier so nützlich machen kann wie sein Namensgeber.“

„Da irrst du dich“, hielt Brylee entschieden dagegen. „Dolittle ist vielleicht nicht zum Viehtreiben geeignet, und er wird womöglich auch keinen Einbrecher vertreiben. Doch er kann dir ganz exzellent Gesellschaft leisten, und das ist wohl etwas Nützliches, oder nicht?“

„Vermutlich ja“, räumte er ein, während der Hund ihn betrachtete.

„Hast du Shampoo und alles andere besorgt?“, fragte Brylee, für die der herzerwärmende Augenblick offenbar schon wieder vorbei war.

„Liegt alles im Wagen“, antwortete er und ging zur Tür, um die Einkäufe aus seinem Wagen zu holen.

Dabei musste er feststellen, dass Dolittle sein neues Herrchen ganz offensichtlich nicht aus den Augen lassen wollte. Der Hund hing wie eine Klette an Walker, als er das Haus verließ.

Zuerst brachte Walker den Sack Hundefutter und die Näpfe rein, aber so ausgehungert Dolittle auch sein mochte, hielt ihn die Aussicht auf eine Mahlzeit nicht davon ab, Walker auf Schritt und Tritt zu folgen, als der ein weiteres Mal zum Auto laufen wollte.

Brylee drängte sich an ihm vorbei und verkündete vergnügt, sie werde die anderen Einkäufe schon selbst reinholen. Währenddessen öffnete er den Beutel und gab eine Portion Futter in einen der Näpfe, den er dem Hund vorsetzte. Dolittle kam näher, schnupperte an der Mahlzeit, zog sich dann aber wieder zurück, als befürchtete er, es würde sich hierbei um eine Falle handeln.

Als Walker ihm auch einen Napf mit Wasser hinstellte, wurde deutlich, dass der Hund vor allem Durst hatte. Innerhalb weniger Augenblicke war der Napf leer, und Dolittle sah Walker auf eine Weise an, die keinen Zweifel daran ließ, dass er noch mehr von dem guten Quellwasser haben wollte.

Er füllte den Napf noch einmal auf, und erst als nur noch ein kleiner Rest übrig war, fiel der Hund über das Futter her.

Snidely beobachtete die Szene interessiert, dann tapste er näher, schnappte sich seinen Feuerwehrhydranten und trottete zu seinem Kissen zurück.

In der Zwischenzeit war Brylee ins Haus zurückgekommen, sie setzte die Einkaufstasche auf der Arbeitsfläche ab und schaute verzückt zu, wie Dolittle in seinen Napf vertieft dastand. Walker zerrte an seinem Hemd, das bei der Waschaktion mit dem Hund klatschnass geworden war, und betrachtete missmutig den Stoff. Das wiederum brachte Brylee zum Lachen, aber es war keiner von diesen verkrampften Lachern, die sie sich vor einer Weile angewöhnt hatte, vielmehr kam es von Herzen. Erst seit sie am Nachmittag mit den Kindern ausgeritten waren, hatte seine Schwester begonnen, wieder etwas aus sich herauszugehen. Es wurde auch allmählich Zeit.

„Gib mir das Hemd“, forderte sie ihn auf. „Wenn ich das nächste Mal genug weiße Wäsche zusammenhabe, werde ich es mit waschen.“

Er begann es aufzuknöpfen, doch das Ganze dauerte ihm einfach zu lange, also zog er das halb offene Hemd einfach über den Kopf, wobei er seine Haare durcheinanderbrachte. Als er dann halb nackt dastand, war er ein wenig verlegen und steuerte sein Schlafzimmer an, um in ein T-Shirt zu schlüpfen.

In dem Moment, da er die Küche verließ, hörte Dolittle auf zu fressen und folgte ihm durchs Haus.

Im Schlafzimmer durchsuchte Walker die antike Wäschetruhe und holte einen Stapel Decken heraus, die er ordentlich faltete und nahe dem Kamin übereinanderlegte. Während der Hund sein neues Bett begutachtete und dann jeden Winkel des Zimmers erforschte, fand Walker ein altes T-Shirt und streifte es über.

Sowie er in die Küche zurückging, war Dolittle ihm gleich wieder auf den Fersen. Brylee hatte sich in der Zwischenzeit mit Snidely in ihre eigenen vier Wände zurückgezogen, also schloss Walker die Hintertür ab, damit niemand unbemerkt das Haus betreten konnte. Die Einzigen, die an der eigentlichen Haustür klingelten, waren der Paketbote und jene Herrschaften, die auf Teufel komm raus jedem die frohe Botschaft verkünden wollten, ganz gleich, ob man daran interessiert war oder nicht.

„Scheint so, als wären wir zwei jetzt auf uns allein gestellt“, sagte er zu dem Hund, dann holte er sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und griff nach einem Stuhl, den er so drehte, dass er sich umgekehrt draufsetzen konnte.

Dolittle widmete sich wieder seinem Futternapf.

Nachdem nun Ruhe eingekehrt war, bahnten sich seine vorübergehend verdrängten Gedanken an Casey und die Kinder wieder ihren Weg in seinen Kopf, so als wäre ein Damm gebrochen, der eine Flutwelle ausgelöst hatte.

Walker trank einen Schluck Bier und seufzte leise.

„Hüte dich bloß vor rothaarigen Frauen“, meinte er schließlich zu Dolittle, der diesen Ratschlag allerdings gar nicht zur Kenntnis zu nehmen schien.

„Wo ist Onkel Mitch?“, wollte Clare wissen, lange nachdem sie, Shane und die Hundebande wieder zu Hause eingetroffen waren. Sie stand auf Zehenspitzen und spähte aus dem Küchenfenster, da ihr aufgefallen war, dass das Gästehaus verlassen wirkte und der Mietwagen nirgends zu entdecken war.

Casey lümmelte in Flanell-Schlafanzughose und Shirt im Schneidersitz auf dem Stuhl und antwortete beiläufig: „Ach, er musste dringend zurück nach Nashville.“ Lügnerin, rief eine innere Stimme, die nicht zum Schweigen gebracht werden konnte. „Ich habe keine Ahnung, um was es sich handelt.“

Shane, der ihr gegenübersaß und an einer Tasse mit heißer Schokolade nippte, schnaubte abfällig. „Gut so. Er will dich doch nur heiraten, Mom, und das wär der totale Mist.“

„Wie kommst du denn auf so eine Idee?“, presste Casey nur mit Mühe heraus, da ihr der Atem stockte.

Clare drehte sich interessiert zu ihnen um, bewahrte aber eine ausdruckslose Miene. Dennoch war ihr anzusehen, dass sie sich nur schwer zurückhalten konnte, ihre Meinung kundzutun.

„Er hat es mir gesagt“, antwortete der Junge und gestikulierte, als müsse er sich jeden Moment übergeben. „Weil er meine Erlaubnis haben wollte, dir einen Antrag zu machen. Er meinte, ich bin ‚der Mann im Haus‘, und deshalb wäre das nur richtig, wenn er mich vorher fragt.“

„Mich hat er auch gefragt“, warf Clare beleidigt ein, „obwohl ich nicht ‚der Mann im Haus‘ bin.“

Casey konnte nicht fassen, was sie da hörte. Es schürte nur noch mehr ihre Wut auf diesen Mann. Sie wollte etwas sagen, allerdings konnte sie vor Entrüstung bloß stammeln.

„Hat Mitch dir einen Antrag gemacht, Mom?“, hakte Clare nach.

Frustriert kniff Casey die Augen zu, während sich stechende Schmerzen in ihrem Kopf ausbreiteten. „Ja, das hat er“, erwiderte sie schließlich. „Jedenfalls war es so eine Art Antrag.“

Beide starrten sie erwartungsvoll an, als sie die Augen aufmachte.

„Und was hast du ihm geantwortet?“, fragte Shane, der ganz blass geworden war.

„Ich habe natürlich Nein gesagt“, ließ sie ihre Kinder wissen und ärgerte sich ein wenig darüber, dass die beiden überhaupt irgendwelche Zweifel an ihrer Antwort auf ein solches Ansinnen hatten.

Clare strahlte übers ganze Gesicht und hob triumphierend die Faust, während Shane sichtlich erleichtert dasaß und murmelte: „Dann muss ich ja wenigstens nicht wegrennen.“

„Du wolltest weglaufen?“, stieß Casey erschrocken hervor. Dass ihre Kinder von zu Hause ausreißen und spurlos verschwinden könnten, war eine ihrer schlimmsten Ängste. So etwas war für jedes Kind lebensgefährlich, allerdings wenn ein Kind eines Prominenten so etwas tat, war das praktisch eine Einladung zur Entführung mit anschließender Lösegeldforderung und einem mehr als ungewissen Ausgang. Beim bloßen Gedanken daran wurde ihr schon übel.

„Aber nur bis zur Timber Creek Ranch“, erwiderte Shane beiläufig, plötzlich allerdings wurde er ernst und fragte nachdenklich: „Glaubst du, Walker wünscht sich, dass Dawson McCullough sein Sohn wäre?“

Diese Frage kam wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel, der Casey so unvorbereitet traf, dass sie beim besten Willen keine Antwort darauf wusste.

Zum Glück erledigte Clare das für sie, als sie abfällig zu ihrem Bruder sagte: „Natürlich nicht, du Spatzenhirn. Walker interessiert sich nur für das, was echt ist. Er wünscht sich nicht irgendwelchen Blödsinn, der gar nicht Wirklichkeit werden kann.“

Es dauerte einen Moment, bis Casey sich wieder gefasst hatte. Nicht so sehr die Wortwahl ihrer Tochter bereitete ihr Sorgen, vielmehr störte sie der Zynismus in Clares Antwort.

War das noch die gleiche Clare, die als kleines Kind ohne den Hauch eines Zweifels an die Zahnfee und an Schutzengel und an den Weihnachtsmann geglaubt hatte, der immer wusste, ob sie und ihr Bruder auch brav waren? Casey wollte dieser Clare nachweinen, die unbeirrt ihren Strumpf überall da aufhängte, wo ihre Mutter zu Weihnachten gerade auftrat. Ob sie an dem Tag in einem Hotel oder im Tourbus waren, sie hatte ihrem jüngeren Bruder jedes Mal versichert, dass der Weihnachtsmann sie schon finden würde. Schließlich hatte er es davor auch jedes Jahr geschafft.

„Ich bin kein Spatzenhirn“, widersprach Shane verärgert. „Außerdem sollst du mich nicht beleidigen, du Pferdegesicht!“

„Das reicht jetzt!“, ging Casey erschöpft dazwischen. „Ab ins Bett mit euch, morgen ist auch noch ein Tag.“

„Es ist erst neun Uhr, Mom“, protestierte Clare.

„Ja, doch mir kommt es vor wie kurz vor Mitternacht“, erklärte Casey, schloss für einen Moment die Augen und drückte mit Daumen und Zeigefinger gegen ihren Nasenrücken. Die Kopfschmerzen wollten einfach nicht verschwinden.

„Kann ich noch ein bisschen im Internet surfen?“, fragte Shane und stand abrupt auf, was alle drei Hunde in Habachtstellung gehen ließ, um für jedes Abenteuer bereit zu sein, das womöglich auf sie wartete.

Casey hatte Fachleute beauftragt, die Seiten zu begutachten, die Clare und Shane im Netz besuchten, damit die unerwünschten Seiten gesperrt wurden. Aber im Vergleich zu ihr waren ihre Kinder wahre Computergenies, die vermutlich jede virtuelle Barriere überwinden konnten, die ihnen im Weg stand.

„Nein, schau lieber fernsehen“, erwiderte sie. „Oder noch besser: Lies ein Buch.“

Shane stöhnte auf, als wäre er soeben zu Einzelhaft verurteilt worden, dabei waren er und Clare echte Leseratten. Er hatte alle Harry-Potter-Bände gelesen, außerdem den „Kleinen Hobbit“ und den „Herrn der Ringe“ sowie etliche andere Fantasy-Romane.

„Geh erst noch mal mit den Hunden raus“, wies Clare ihren Bruder an. „Sonst erledigen die noch ihr Geschäft hier im Haus.“

Nach einem finsteren Blick in Clares Richtung nahm er dann tatsächlich die Hunde mit, um sie in den Garten zu lassen.

„Wann hast du eigentlich aufgehört, daran zu glauben, dass Wünsche wahr werden können?“, wollte Casey von ihrer Tochter wissen, kaum dass sie beide allein in der Küche saßen. Sie hatte sich gar nicht vorgenommen, diese Frage zu stellen, sie war ihr einfach in den Sinn gekommen.

Für ein Mädchen in ihrem Alter schaute Clare viel zu ernst drein. „Jedes Jahr, wenn ich die Kerzen auf meiner Geburtstagstorte auspuste, wünsche ich mir einen Dad.“ Sie ließ eine Pause folgen und machte eine ausholende Geste, als wollte sie andeuten, dass der so ersehnte Vater nicht da war. „Die Puste hätte ich mir sparen können.“

Casey musste Tränen zurückhalten. „Augen zu und durch“, hatte ihr Großvater immer gesagt, wenn es darum ging, unerwünschte Gefühlsregungen zu unterdrücken.

Manchmal war das gar nicht so einfach.

„Oh, Honey“, sagte sie schließlich, als ihre Stimme wieder mitspielte.

Clare zuckte beiläufig mit einer Schulter, während sie auf Casey zutrat, dann beugte sie sich vor und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. „Jeder muss irgendwann mal erwachsen werden“, meinte sie und lief nach oben in ihr Zimmer.

Eine Dreiviertelstunde später konnte Casey sich sicher sein, dass die Kinder in ihren Zimmern bleiben und die Hunde Ruhe geben würden. Sie griff nach ihrem Handy und durchsuchte das Telefonbuch, bis Walkers Nummer auf dem Display erschien. Ehe sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, wählte sie. Es klingelte einmal, zweimal, dreimal. Ihr Herz raste wie wild, und eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf forderte sie beharrlich zum Auflegen auf.

Dann meldete sich Walker mit schläfriger Stimme. „Casey?“

„Hast du schon geschlafen?“, fragte sie.

„Nein, aber … das heißt nicht, dass ich es nicht versucht habe.“

Mit dem Handy am Ohr ging sie in das Wohnzimmer. „Du hattest recht“, flüsterte sie. Wenn es einen Moment gab, in dem sie wirklich nicht belauscht werden wollte, dann war es dieser Moment. Die Worte kamen ihr nur mit Mühe über die Lippen.

Walker schwieg sekundenlang, ehe er einen beeindruckten Pfiff ausstieß. „Ähm … wer spricht da noch mal?“

„Das weißt du verdammt gut“, erwiderte Casey knurrend, die über seinen Witz gar nicht lachen konnte. „Und du musst mir das Ganze nicht noch schwerer machen, als es für mich ohnehin schon ist.“

„Ich bin ganz Ohr“, sagte er entgegenkommend. „Womit hatte ich denn recht?“

Er scheint sich bestens zu amüsieren, dachte sie mürrisch. „Wir müssen Clare und Shane die Wahrheit sagen.“

„Babe, ich garantiere dir, dass du von mir nicht ein einziges Widerwort zu hören kriegst.“

Mit dem Handrücken wischte sie ein paar Tränen weg. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich, allerdings half das nicht viel. „Die Frage ist nur, wie wir das am besten anstellen sollen.“

„Geradeheraus“, meinte er. „Kein Drumherumreden, sondern sofort die Karten auf den Tisch.“

„Und wenn sie mich dafür hassen werden?“, wandte sie ein.

„Eine Weile werden sie sauer auf dich sein“, sagte Walker besänftigend. „Doch hassen werden sie dich deswegen ganz sicher nicht.“

„Ich dachte immer, ich tue das Richtige für sie.“

„Ich weiß.“ Walkers Stimme klang sanft und rau zugleich, so wie man es von einem Cowboy erwarten konnte, der diese Bezeichnung zu Recht trug. „Mit der Zeit werden Clare und Shane das schon begreifen.“

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