Cora Collection Band 51

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LIEBE, LÜGE, HAPPY END? von BRENDA JACKSON
Dieser Verräter! Nie wieder will die schöne Anwältin Keisha Ashford etwas mit ihrem Kollegen Canyon Westmoreland zu tun haben. Aber als er unvermittelt vor ihr steht, wird Keisha klar, dass ihr kühler Kopf eine Sache ist – ihr heißes Herz dagegen eine andere!


ZEIG MIR, WIE DU ES MAGST von CAROLYN ANDREWS
Im Gerichtssaal kämpft die schöne Strafverteidigerin Julia Parker mit allen Mitteln gegen den Staatsanwalt Roarke Farrell. Doch als sie bedroht wird, ist Roarkes Apartment ihre Zuflucht – und sein Bett die himmlischste Versuchung, der sie je zu erliegen droht ...


LIEBESGEFLÜSTER von NANCY WARREN
Mit kühlem Kopf, professionell und zielstrebig arbeitet die Anwältin Genna Monroe jeden Tag an ihrer Karriere. Nur freitags trifft sie sich mit ihrem unbekannten Lover. Doch der Mann in ihrem Bett kennt nicht nur geheimsten Wünsche, sondern weiß auch, wie sie heißt und was sie fühlt – und dass er noch viel mehr von ihr will ...


  • Erscheinungstag 14.04.2022
  • Bandnummer 51
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508735
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Brenda Jackson, Carolyn Andrews, Nancy Warren

CORA COLLECTION BAND 51

1. KAPITEL

Am liebsten wäre Canyon Westmoreland aus dem geparkten Wagen ausgestiegen und hätte sich ein paar Minuten lang die Füße vertreten, aber dann ließ er es doch lieber. So viel hatte er immerhin aus den Serien im Fernsehen gelernt: Wenn man jemanden beschattete, musste man im Verborgenen bleiben und sich so unauffällig wie möglich verhalten. Tatsächlich fühlte er sich wie ein Ermittler in einem Krimi. Denn er wollte endlich herausfinden, warum Keisha Ashford ihn so hartnäckig links liegen ließ.

Natürlich wusste er, was grundsätzlich hinter ihrer Ablehnung steckte: Sie glaubte, dass er sie mit einer anderen Frau betrogen hatte. Aus diesem Grund hatte sie auch vor drei Jahren die Stadt verlassen und jeden Kontakt zu ihm abgebrochen. Inzwischen war sie zwar nach Denver zurückgekehrt. Trotzdem dachte sie immer noch, jedes Recht der Welt zu haben, ihn wie Luft zu behandeln.

Mit diesem Spielchen muss langsam mal Schluss sein, dachte Canyon.

Sie waren beide Wirtschaftsanwälte. Über ihren Beruf hatten sie sich ursprünglich kennengelernt – und dieser Beruf brachte es nun mit sich, dass sie sich immer mal wieder über den Weg liefen. Seit sie vor zehn Monaten nach Denver zurückgekommen war, hatten sie sich mehrfach im Auftrag ihrer Firmen am Verhandlungstisch gegenübergesessen. Und es wurmte ihn mächtig, dass sie in diesen Situationen stets so tat, als würden sie sich gar nicht kennen. Als hätten sie keine gemeinsame Vergangenheit.

Schon ein paarmal hatte er ihr eine Aussprache vorgeschlagen, damit sie die Angelegenheit ins Reine bringen konnten. Doch Keisha hatte ihn jedes Mal zurückgewiesen.

Und mittlerweile reichte es ihm. Er wollte die Sache ein für alle Mal klären. Keinen Tag länger sollte sie mehr denken, dass er sie betrogen hatte.

Deshalb saß er jetzt hier im Auto vor der Anwaltskanzlei, in der sie arbeitete. Canyon wollte ihr unbemerkt bis nach Hause folgen und sie dort zur Rede stellen. Er fand, er hatte ein Recht auf Klärung.

Seine Brüder Stern und Riley hatten ihn vor dieser Vorgehensweise gewarnt: Keisha könnte ja durchaus die Polizei rufen, wenn sie sich von ihm verfolgt oder belästigt fühlte. Canyon hoffte jedoch einfach, dass sie seine Annäherung nicht so auffassen würde. Um Himmels willen, er wollte sie schließlich nicht stalken! Er wollte sich nur mit ihr aussprechen.

Nervös sah er auf die Uhr. Weil er nicht wusste, wann sie Feierabend machte, hatte er sich frühzeitig hier postiert. Inzwischen wartete er seit über einer Stunde. Er hatte auf seiner Arbeit im Familienunternehmen Blue Ridge Land Management extra früher freigenommen, um sie bloß nicht zu verpassen.

Gerade wollte er im Autoradio einen anderen Sender einstellen, als sein Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche und runzelte die Stirn, als er auf das Display schaute. Es war sein Bruder Stern. Der Zeitpunkt war ungünstig, aber er nahm das Gespräch an. „Was gibt’s denn, Stern?“, meldete er sich.

„Ich wollte mal hören, ob sie dich schon verhaftet haben.“

„Quatsch. Die werden mich auch nicht verhaften.“

„Sei dir da nicht so sicher. Keine Frau lässt sich gerne stalken.“

Canyon bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Was soll der Unsinn? Ich stalke sie nicht.“

Stern lachte auf. „Du liegst vor ihrer Firma auf der Lauer und willst ihr heimlich nach Hause folgen. Wie würdest du das nennen?“

Unruhig rutschte Canyon auf dem Fahrersitz hin und her. Vom langen Sitzen war sein linkes Bein eingeschlafen. „Ich bräuchte ihr nicht heimlich zu folgen, wenn sie mir verraten hätte, wo sie wohnt.“

„Ganz offensichtlich will sie nicht, dass du es weißt“, gab sein Bruder zurück. „Ihr Zuhause ist ihre Privatsphäre. Wenn du da eindringst, dürfte ihr das nicht gefallen.“

Canyon öffnete den Mund, um darauf zu antworten. In dem Moment beobachtete er, wie Keisha in Begleitung einer anderen Frau das Gebäude verließ. Auf dem Weg zu ihren Autos unterhielten die Frauen sich angeregt. Beide waren gut aussehend, aber Canyon hatte nur Augen für Keisha. Sie ist immer noch wunderschön, dachte er. Genau wie damals.

Ihr dunkles Haar, ihre rassige Figur – das war Verführung pur. Als er sie nun eingehender betrachtete, stellte er jedoch fest, dass Keisha sich zumindest ein wenig verändert hatte. Bildete er sich das ein, oder waren ihre Hüften tatsächlich runder und ihre Brüste voller …?

Selbst wenn es so war: Es stand ihr nicht schlecht. Keisha Ashford sah einfach umwerfend aus.

Manches änderte sich eben nie. Zum Beispiel sein Verlangen nach dieser Frau. Nach dieser Frau, die ihn nicht ausstehen konnte.

Nur allzu gut konnte er sich noch an früher erinnern, als das anders gewesen war. Es hatte Zeiten gegeben, als sie ihn gemocht – ja, sogar geliebt – hatte. Die beste Phase seines Lebens, wenn er so darüber nachdachte. Eigentlich war er seinerzeit davon ausgegangen, frühestens mit fünfunddreißig zu heiraten. Plötzlich war Keisha in sein Leben getreten, und alles hatte sich geändert. Schnell war er bereit gewesen, ihr die große Frage zu stellen. Doch dann war diese Lüge einer anderen Frau dazwischengekommen. Und alles war aus gewesen.

Canyon seufzte auf. Warum konnte er nur den Blick nicht von ihr lassen? Dieser Po, diese Beine …

„He, Canyon, bist du noch dran?“

Ach, richtig, Stern war ja noch in der Leitung. „Ja, ja, ich bin noch dran. Aber ich muss jetzt los. Keisha ist gerade aufgetaucht. Ich muss hinterher.“

„Sei bloß vorsichtig, Brüderchen. Es ist lange her, dass ein Westmoreland im Knast gewesen ist. Du kannst dich bestimmt noch daran erinnern.“

Canyon atmete tief durch. Natürlich, das würde er nie vergessen. Bisher hatte nur ein Westmoreland jemals hinter Gittern gesessen: Sein jüngerer Bruder Brisbane – in Denver auch unter seinem Spitznamen Badass Bane bekannt – hatte in seiner Jugend jede Menge Mist gebaut. Das war zum Glück Vergangenheit. Heutzutage diente Bane seinem Land als knallharter Elitesoldat bei der Navy.

„Mach dir mal keinen Kopf, Stern. Ich will Keisha doch nichts antun, ich will bloß ein klärendes Gespräch.“

„Und trotzdem war sie schon einmal drauf und dran, eine einstweilige Verfügung gegen dich zu erwirken, damit du dich ihr nicht mehr nähern darfst. Hör mal, Canyon. Ich weiß, das geht mich eigentlich nichts an, aber …“

„Ja, ja, ich weiß schon, Stern. Ich soll nichts tun, was unsere Familie in Verruf bringen könnte.“

Nachdem Keisha sich von der anderen Frau verabschiedet hatte, ging sie alleine zu ihrem Auto. Ihr Gang war noch so atemberaubend sexy wie früher. Als Model hätte sie auf jedem Laufsteg der Welt eine tolle Figur gemacht. Doch gleichzeitig strahlte sie auch die kühle Professionalität einer erfolgreichen Anwältin aus.

„Eins noch, Canyon …“

„Jetzt nicht, Stern. Keine Zeit. Ich ruf dich später an.“

Canyon drückte das Gespräch weg, ohne die Augen von Keisha abzuwenden. Sie schaute sich nach allen Seiten um, bevor sie in ihren Wagen stieg. Zum Glück hatte er hinter einigen anderen Autos geparkt, sodass sie ihn nicht entdeckt hatte.

Bewusst ließ er ihr ein wenig Zeit, um den Wagen anzulassen und sich aus der Parklücke zu manövrieren. Als Canyon gerade losfahren wollte, setzte jedoch das Auto vor ihm zurück. Canyon stieg in die Bremsen. „Verflixt“, stieß er leise hervor. „Muss der Kerl ausgerechnet jetzt …?“

Auf keinen Fall durfte er Keisha verlieren. Und so hängte Canyon sich an die schwarze Limousine, die sich wiederum hinter Keishas Auto hielt. Nach ein paar Häuserblocks kam ihm die Situation allmählich verdächtig vor. Es sah ganz so aus, als ob der Fahrer der Limousine Keisha ebenfalls verfolgte!

Und das war gar nicht so unwahrscheinlich. Als Jurist machte man sich schließlich nicht immer nur Freunde. Warum sollte Keisha da eine Ausnahme sein? Gab es vielleicht jemanden, der sich an ihr rächen wollte? Oder hatte es ein Verbrecher auf ihr Auto abgesehen?

Als Keisha stadtauswärts fuhr und der Wagen ihr weiterhin folgte, schrillten bei Canyon alle Alarmglocken. Das konnte kein Zufall mehr sein! Leider konnte er nicht erkennen, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer saß. Die Scheiben des Autos vor ihm waren getönt. Allerdings konnte er das Nummernschild lesen. Das würde ihm weiterhelfen!

Mit einem Knopfdruck aktivierte er die Freisprechanlage und wurde automatisch mit der Telefonzentrale des familieneigenen Unternehmens verbunden.

„Hallo, Mr Westmoreland“, begrüßte ein Mitarbeiter ihn. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ja, Samuel. Bitte verbinden Sie mich mit Pete Higgins.“

Pete arbeitete bei der Polizei in Denver und war eng mit Canyons Cousin Derringer befreundet.

„Einen Moment bitte, Mr Westmoreland.“

Es dauerte nicht lange, dann ertönte Petes Stimme: „Deputy Higgins.“

„Hallo, Pete, hier spricht Canyon. Könntest du eine Autonummer für mich prüfen?“

„Warum?“

Die Frage war natürlich berechtigt, trotzdem reagierte Canyon gereizt. „Weil der Fahrer eine Frau verfolgt.“

„Und woher weißt du das?“

„Ich … ich weiß das, weil ich sie auch verfolge.“

„Oh. Und warum tust du das?“

„Jetzt hör mal zu, Pete. Entweder tust du mir den Gefallen oder du lässt es.“

„Nein, du hörst mir zu, Canyon. Wer eine Frau verfolgt, kann mit dem Gesetz in Konflikt kommen – du genauso wie jeder andere. Aber na schön, gib mir die Autonummer durch.“

Canyon nannte sie ihm. Insgeheim fragte er sich, warum Keisha anscheinend nicht bemerkte, dass sie verfolgt wurde – sogar von zwei Autos.

„Das ist ja interessant“, murmelte Pete.

„Was denn?“

„Das Nummernschild wurde als gestohlen gemeldet. Heute Vormittag erst. Das sehe ich hier im Computer. Wo bist du?“

„Ich überquere gerade die Kreuzung zwischen Firestone Road und Tinsel in Richtung Purcell Park Road.“

„Das ist ja ganz am anderen Ende der Stadt“, stellte Pete fest.

„Ja“, erwiderte Canyon einsilbig und überlegte, ob Keisha sich absichtlich so weit von den Westmorelands entfernt wie nur möglich einquartiert hatte.

„Fährt die verfolgte Frau ein teures Auto?“, fragte Pete.

„Einen ziemlich neuen BMW. Warum?“

„Vielleicht hat der Verfolger es auf ihren Wagen abgesehen. Ich mache mich auf den Weg in eure Richtung. Du folgst den beiden am besten weiter, deinen Wagen erkenne ich dann ja. Aber mach keine Dummheiten.“

„Bis später“, gab Canyon knapp zurück und legte auf. Wahrscheinlich würde er den beiden Autos nicht einfach bloß hinterherfahren können. Was passierte, wenn Keisha erst bei sich zu Hause ankam? Er entschloss sich, vorher einzugreifen.

Keisha bewegte sich im Takt der Musik aus dem Autoradio, während sie sich gleichzeitig auf den Verkehr konzentrierte. Ganz allmählich fiel die Anspannung von ihr ab.

Es war ein harter Tag gewesen.

Bereits um zehn Uhr morgens hatte sie den ersten Gerichtstermin gehabt. Danach war ihr kaum Zeit für einen kleinen Snack geblieben, bis um dreizehn Uhr der nächste Termin gefolgt war. Gegen fünfzehn Uhr war sie ins Büro zurückgekehrt. Dort hatte man sie sofort in ein Meeting gezerrt, das sie ganz vergessen hatte. Sie war wirklich heilfroh, dass diese Arbeitswoche vorüber war – obwohl das Wochenende ebenfalls sehr turbulent werden würde.

Immerhin konnte sie mit der Bilanz ihrer Woche zufrieden sein. Sie hatte drei Fälle gewonnen und wusste, dass ihre Chefs Leonard Spivey und Adam Whitlock sehr zufrieden mit ihr waren.

Vor drei Jahren war Leonard sehr enttäuscht gewesen, als Keisha kurzfristig gekündigt hatte. Sie hatte Denver verlassen wollen, um nach Texas heimzukehren. Aber weil sie eine der besten Anwältinnen der Firma gewesen war, hatte er ihr ein gutes Arbeitszeugnis ausgestellt. Und als sie drei Jahre später nach Denver zurückgekehrt war, hatte er sie mit Freuden wieder eingestellt.

Manche Dinge ergaben erst im Nachhinein einen Sinn. Als Keisha nach Texas gezogen war, hatte sie schnell einen Job bei einer Kanzlei in Austin gefunden. Wäre sie damals nicht nach Hause zurückgekommen, hätte sie vielleicht gar nichts von dem Brustkrebsdrama um ihre Mutter mitbekommen.

So hatte Keisha ihrer Mutter zum Glück in dieser schweren Zeit beistehen können. Die beiden hatten sich immer sehr nahegestanden. Lynn Ashford war die beste alleinerziehende Mutter gewesen, die man sich nur hatte vorstellen können. Nachdem Keishas leiblicher Vater seine Vaterschaft angezweifelt hatte, war Lynn aus ihrer Heimatstadt Austin fortgezogen und hatte sich mit ihrer Tochter in Baton Rouge niedergelassen. Nach dem Tod ihres Großvaters waren ihre Mutter und sie dann zurück nach Austin gezogen, um sich um Keishas Großmutter zu kümmern. Keisha war fünfzehn Jahre alt gewesen.

All das war nicht leicht gewesen: Um ihre Familie versorgen zu können, hatte Keishas Mutter lange Zeit in zwei Jobs gearbeitet. Doch mit unendlich viel Fleiß und Willenskraft hatte sie es geschafft. Auch ohne Mann. Und Keisha hatte daraus den Schluss gezogen, dass sie es im Zweifelsfall ebenso schaffen würde.

Es schmerzte sie, wenn sie an den Mann dachte, durch den es dann tatsächlich so gekommen war.

Canyon Westmoreland.

Schon bei ihrem allerersten Aufeinandertreffen hatte Keisha sich unsterblich in ihn verliebt. Alles war wunderbar gewesen, bis sie eines Tages gehört hatte, dass er sie betrog. Mit vielem hätte sie leben können, aber nicht mit Untreue. Vertrauen war ihr in einer Beziehung stets besonders wichtig. Wenn das fehlte, hatte alles keinen Zweck mehr – nicht einmal eine Romanze, die so verheißungsvoll begonnen hatte. Ganz offensichtlich hatte sie sich in Canyon Westmoreland getäuscht.

Inzwischen waren drei Jahre vergangen, und Keisha lebte wieder in Denver. Die Kanzlei in Austin, für die sie gearbeitet hatte, war in einen Riesenskandal verwickelt gewesen und zu guter Letzt sogar geschlossen worden. Keisha hatte sich also einen neuen Job suchen müssen. Um nicht noch einmal ganz von vorne anfangen zu müssen, hatte sie sich auf ihre alte Kanzlei Spivey and Whitlock in Denver besonnen. Dort hatte man sie mit Kusshand wieder aufgenommen.

Keisha vermisste natürlich ihre Mutter, die sie in Austin zurückgelassen hatte, aber sie brauchte das Geld. Schließlich hatte sie nicht nur sich selbst zu versorgen. Ihr war von vornherein klar gewesen, dass sie beruflich hin und wieder auf Canyon treffen würde. Damit sie ihm nicht auch noch privat ständig über den Weg lief, hatte sie sich so weit weg wie möglich von den Westmorelands einquartiert.

Sie kannte die ganze bewegende Geschichte der Westmorelands. Canyons Eltern sowie seine Tante und sein Onkel waren bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Insgesamt fünfzehn Kinder waren als Waisen zurückgeblieben. Sie alle hatten jedoch zusammengehalten und waren auch zusammengeblieben – was gar nicht so einfach zu bewerkstelligen gewesen war, weil damals einige Familienmitglieder noch unter sechzehn gewesen waren. Doch gemeinsam hatten die jungen Westmorelands alles gemeistert und lebten dank der Familienfirma Blue Ridge mittlerweile sogar im Reichtum.

Canyons Eltern hatten sieben Söhne: Dillon, Micah, Jason, Riley, Canyon, Stern und Brisbane. Seine Tante und sein Onkel hatten sogar acht Kinder gehabt: fünf Jungen – Ramsey, Zane, Derringer und die Zwillinge Aiden und Adrian – sowie die drei Mädchen Megan, Gemma und Bailey. Soweit Keisha wusste, hatten die meisten der Westmorelands einen Collegeabschluss und waren allesamt beruflich erfolgreich. Manche arbeiteten für das Familienunternehmen, manche hatten einen anderen Beruf ergriffen, der sie mehr interessierte. Die meisten von ihnen hatte Keisha in der Zeit, in der sie mit Canyon zusammen gewesen war, kennengelernt – und zwar auf dem jährlichen Westmoreland-Ball. Der war ein Großereignis in der Stadt, und die Einnahmen und Spenden dieses Society-Events kamen jedes Mal mehreren Wohltätigkeitsorganisationen zugute.

Es wimmelte in Denver von Westmorelands, aber sie konnte immer nur an den einen denken. Canyon.

In intimen Stunden hatte sie ihn manchmal zärtlich „Grand Canyon“ genannt – den großen Canyon. Und das nicht ohne Grund …

Noch immer bekümmerte es sie, an diese Zeiten zurückzudenken. Sie hatte ihn geliebt und geglaubt, dass er sie auch liebte. Sie hatte ihm ihr Herz und ihr Heim geöffnet. Nach einem halben Jahr war er bei ihr eingezogen. Und sie hatte gedacht, ihre Liebe sei für die Ewigkeit. Doch er hatte sie bitter enttäuscht.

Plötzlich ertönte das plärrende Geräusch einer Hupe. Erschrocken sah Keisha in den Rückspiegel. Was ist denn da los?

Die Fahrer der beiden Wagen hinter ihr schienen sich einen gefährlichen Zweikampf zu liefern. Offenbar versuchte der Fahrer des burgunderroten Autos, die schwarze Limousine von der Straße zu drängen.

Mit diesen beiden Verrückten will ich nichts zu tun haben, dachte sie bei sich. Sie gab Gas und überließ die Streithähne ihrem Schicksal.

Flüchtig schaute Keisha auf die Uhr am Armaturenbrett. Sie wollte so schnell wie möglich ihr Fahrtziel erreichen. Dort wartete schließlich jemand auf sie.

Befriedigt registrierte Canyon, dass der Fahrer der schwarzen Limousine die Flucht ergriff. Er war dem Wagen sehr nahe gekommen. Wegen der getönten Scheiben hatte er jedoch nicht erkennen können, wer am Steuer saß.

Aus der Ferne konnte er gerade noch Keishas Wagen ausmachen. Er setzte die Verfolgung fort und hielt dabei gebührenden Abstand, damit sie ihn nicht bemerkte. In dieser Ecke von Denver war er schon lange nicht mehr gewesen. Allerdings wusste er, dass sich hier einiges tat. Neue Wohnsiedlungen wurden gebaut, wodurch auch neue Restaurants und Einkaufsgelegenheiten hinzukamen.

Jetzt bog Keisha rechts ab. Sie hielt vor einem Gebäude, das durch ein farbenprächtig bemaltes Schild als Kindertagesstätte ausgewiesen wurde. Canyon runzelte die Stirn. Was wollte Keisha denn bei einem Kindergarten? Na ja, vielleicht tat sie einer Arbeitskollegin einen Gefallen und holte deren Kind ab.

Er parkte in einiger Entfernung und beobachtete, wie sie glücklich lächelnd in dem Haus verschwand. Ja, sie hatte eindeutig gute Laune. Hoffentlich blieb es auch so, wenn sie erst erfuhr, dass er sie bis nach Hause verfolgt hatte.

Gerade wollte er einen anderen Sender im Autoradio einstellen, als sein Handy klingelte. Hoffentlich nicht wieder Stern, dachte er. Auf dem Display sah er, dass es Bailey war. Seine Cousine war die Jüngste der Westmoreland-Sippe hier in Denver. Ebenso wie Bane war sie als Jugendliche ziemlich wild gewesen und öfter in Schwierigkeiten geraten.

Er nahm das Gespräch an. „Was gibt’s, Bay?“

„Zane ist wieder da. Er ist heute angekommen.“

Canyon nickte. Sein Cousin Zane hatte vor etwas mehr als drei Wochen die Stadt verlassen. Zunächst hatte Canyon gedacht, es handelte sich um eine normale Geschäftsreise. Dann hatte er erfahren, dass sein Cousin hinter einer Frau her war, mit der er einmal eine Affäre gehabt hatte. Die junge Dame hieß Channing Hastings. Insgeheim rechneten einige der Westmorelands damit, dass Zane mit einem Ehering am Finger zurückkehrte.

„Und? Hat er geheiratet?“, wollte Canyon wissen.

„Noch nicht. Aber er und Channing überlegen, ob sie genau zu Weihnachten heiraten sollen.“

Nachdenklich schüttelte Canyon den Kopf. Für ihn war es schwer vorstellbar, dass der eingefleischte Junggeselle Zane wirklich heiraten wollte.

„Zane als Ehemann“, meinte er. „Hätte nicht gedacht, dass ich das noch erleben würde.“

„Na, ich freue mich, dass er zur Vernunft gekommen ist“, gab Bailey zurück und fügte hinzu: „Vergiss nicht unser Essen heute Abend.“

An jedem zweiten Freitag trafen sich alle Westmorelands aus Denver bei Canyons Bruder Dillon zum gemeinsamen Abendessen. Die Frauen übernahmen das Kochen, und die Männer brachten gesunden Appetit mit. Anschließend spielten die Männer Poker, und die Frauen taten, was immer ihnen in den Sinn kam.

„Könnte sein, dass ich etwas später komme“, erwiderte Canyon. Er konnte ja noch nicht abschätzen, wie sein Zusammentreffen mit Keisha laufen würde. Vielleicht holte sie tatsächlich das Kind einer Arbeitskollegin aus der Kita ab. Falls sie es zum Babysitten mit nach Hause nahm, würde er nicht stören wollen. Doch immerhin wusste er dann, wo sie wohnte. Bei nächster Gelegenheit würde er eben wiederkommen, um mit ihr zu reden. Und auf jeden Fall würde er ihr auch mitteilen müssen, dass ein Unbekannter sie verfolgt hatte.

„Warum?“

Canyon runzelte die Stirn. „Warum was?“

„Warum du vielleicht später kommst. Dillon hat erwähnt, dass du heute früher von der Arbeit abgehauen bist.“

Warum müssen Frauen bloß immer so neugierig sein? dachte Canyon. Er klopfte ein paarmal mit dem Fingernagel auf das Handy und rief dann: „Die Verbindung ist auf einmal so schlecht, Bailey! Wir unterhalten uns später weiter.“

Gerade legte er auf, als Keisha das Gebäude verließ. Sie lächelte immer noch; er betrachtete das als ein gutes Zeichen. An der Hand hielt sie einen kleinen Jungen, der ungefähr zwei Jahre alt sein musste.

Als Canyon das Gesicht des Jungen sah, zuckte er zusammen. „Was zum Teufel …!“, stieß er hervor. Das Kind war Denver, dem dreijährigen Sohn seines Bruders Dillon, wie aus dem Gesicht geschnitten. Hätte Canyon nicht genau gewusst, dass Denver zu diesem Zeitpunkt bei seiner Mutter zu Hause war, hätte er den Jungen glatt für seinen Neffen gehalten!

Es rieselte ihm eiskalt den Rücken herunter. Es gab nur eine einzige plausible Erklärung, warum das Kind haargenau wie ein Westmoreland aussah. Unwillkürlich umklammerte Canyon das Lenkrad noch fester.

Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er ausgestiegen und auf Keisha zugelaufen war. Aber den Blick, den Keisha ihm zuwarf, würde er sicher niemals vergessen. Eine Mischung aus Überraschung, Schuldgefühl und Reue.

Je näher er kam, desto mehr veränderte sich ihre Miene. Bald strahlte sie puren Beschützerinstinkt aus. Keisha drückte ihren Sohn – ihren gemeinsamen Sohn, da war Canyon sich sicher – fest an sich. „Was willst du denn hier, Canyon?“

Kochend vor Wut blieb Canyon vor ihr stehen. Nur mit Mühe konnte er sich zusammenreißen. Der kleine Junge schaute ihn erschrocken und misstrauisch an.

Canyon sah Keisha tief in die Augen. Zwischen zusammengebissenen Zähnen presste er hervor: „Würdest du mir vielleicht verraten, warum du mir unseren Sohn verheimlicht hast?“

2. KAPITEL

Keisha holte tief Luft. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Schon oft hatte sie sich gefragt, wie Canyon wohl reagieren würde, wenn er von seinem Sohn erfuhr. Würde er abstreiten, der Vater zu sein – wie ihr Vater es bei ihr getan hatte?

Sie beantwortete seine Frage nicht, sondern stellte eine Gegenfrage. „Hätte es für dich irgendeinen Unterschied gemacht?“

„Zu wissen, dass ich einen Sohn habe?“, gab er empört zurück. „Wie kannst du nur so etwas fragen? Raus damit: Warum hast du es mir verschwiegen?“

Verstört klammerte ihr Sohn sich an sie. Keisha wusste, dass sie Canyon ein klärendes Gespräch schuldig war – aber nicht hier und nicht jetzt.

Sie entgegnete: „Ich muss Beau erst einmal nach Hause bringen und …“

„Beau?“

„Ja“, bestätigte sie. „Mein Sohn heißt Beau Ashford.“

„Was den Nachnamen angeht, könnte sich das noch ändern“, murmelte Canyon vor sich hin.

Keisha atmete durch. „Wie gesagt, Canyon: Ich bringe Beau erst nach Hause, mache ihm was zu essen und …“

„Wie du willst“, unterbrach er sie. „Aber ich komme mit.“

Das würde ihm so passen! „Jetzt hör mir mal zu, Canyon, ich …“

Plötzlich kam die Kita-Besitzerin Pauline Sampson aus dem Gebäude und ging auf sie zu. Pauline war vor fünf Jahren eine von Keishas ersten Mandantinnen gewesen und war obendrein eine Freundin von Mr Spiveys Frau Joan. Sie lächelte zwar freundlich, schien aber ebenso besorgt wie neugierig zu sein.

„Ich habe zufällig vom Fenster aus gesehen, dass Sie noch hier sind, Keisha“, sagte Pauline. „Ich wollte nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist.“

In Ordnung? Das konnte man so oder so sehen. Doch auf jeden Fall hatte Keisha keine Lust, in dieser Situation lange Erklärungen abzugeben. „Alles bestens, Pauline. Trotzdem danke für Ihre Aufmerksamkeit.“ Sie hatte kein Interesse daran, Canyon und Pauline einander vorzustellen. Es überraschte sie allerdings auch nicht sehr, als Canyon nun die Initiative ergriff.

Freundlich lächelnd reichte er Pauline die Hand. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Pauline. Ich bin Canyon Westmoreland, Beaus Vater.“

Pauline zog eine Augenbraue hoch. „Westmoreland?“

„Ja, genau. Westmoreland.“

Pauline musterte ihn interessiert. „Sind Sie mit Dillon Westmoreland verwandt?“

Canyons Lächeln wurde breiter. „Allerdings. Dillon ist mein ältester Bruder.“

„Wie klein die Welt doch ist“, meinte Pauline amüsiert. „Dillon und ich sind zusammen auf die Highschool gegangen und sitzen gemeinsam im Aufsichtsrat einiger Unternehmen hier in der Stadt.“

„Da freue ich mich gleich noch viel mehr, Sie kennenzulernen“, erwiderte Canyon und sah auf die Uhr. „Aber wenn Sie uns bitte entschuldigen würden: Keisha und ich müssen Beau nach Hause bringen, damit er rechtzeitig sein Abendessen bekommt.“

„Kein Problem“, antwortete Pauline strahlend und blickte Keisha an. „Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.“

Wenn es etwas nicht wird, dann ein schönes Wochenende, schoss es Keisha durch den Kopf. „Danke. Ihnen auch, Pauline.“

Sie würde Canyon nicht ausreden können, sie nach Hause zu begleiten. Das war Keisha klar. Er wollte Antworten – und zwar nicht erst morgen oder nächste Woche, sondern sofort.

Nachdem Pauline wieder im Haus verschwunden war, wollte Keisha sich auf den Weg zu ihrem Wagen machen. Sie zuckte zusammen, als Canyon sich zu Beau hinunterbeugte und ihn auf den Arm nahm. Ihr Sohn war Fremden gegenüber sehr schüchtern. Sie rechnete fest damit, dass er jede Sekunde in Tränen ausbrechen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil: Zutraulich schlang Beau die Arme um den Nacken des ihm fremden Mannes.

„Ich trage ihn für dich zum Auto“, sagte Canyon.

„Er hat zwei gesunde Beine, er kann selber laufen.“

„Das weiß ich, aber ich möchte ihn gerne tragen. Gönn mir doch die Freude.“

Keisha verspürte nicht die geringste Lust, zu Canyons Wohlbefinden beizutragen. Sie wollte schlicht und einfach nichts mit ihm zu tun haben. Vater oder nicht: Wenn er dachte, er könnte sich auf diese Weise in ihr und Beaus Leben hineinmogeln, war er auf dem falschen Dampfer. Canyon hatte vor drei Jahren seine Chance gehabt. Und er hatte alles vermasselt.

Keisha sah die Dinge eben anders als ihre Mutter Lynn. Die war der Meinung, dass ein Mann das Recht hatte, von seiner Vaterschaft zu erfahren. Seinerzeit hatte sie es auch Kenneth Drew mitgeteilt, als sie mit Keisha schwanger gewesen war. Allerdings hatte er davon nichts wissen wollen. Unter dieser Zurückweisung hatte Keisha nicht nur in ihrer Kindheit, sondern bis ins Erwachsenenalter hinein gelitten. Und diese bittere Erfahrung hatte sie ihrem Sohn ersparen wollen.

Als sie beim Auto angekommen waren, öffnete sie die hintere Tür. Sie überließ es Canyon, Beau in den Kindersitz zu verfrachten. Zu ihrer großen Überraschung protestierte der Kleine und wollte zurück auf Canyons Arm.

„Anscheinend mag er dich“, murmelte Keisha süßsäuerlich.

„Westmorelands wissen eben, dass sie zusammengehören“, erklärte Canyon mit einem triumphierenden Lächeln.

Keisha sagte dazu nichts. Eins war ihr jedoch klar: Canyon wollte ihr damit durch die Blume zu verstehen geben, dass er fand, sein Sohn müsse seinen Namen tragen.

„Ab sofort werde ich immer für dich da sein, Partner“, sagte er zu dem Jungen.

Das wird sich noch zeigen, dachte Keisha. Kommt nämlich ganz darauf an, welche Umgangsrechte ich dir überhaupt zugestehe, Freundchen!

Als hätte ihr Sohn alles verstanden, sprach Beau nun zum ersten Mal zu Canyon. Der Kleine wies mit dem Finger auf sich und meinte: „Beau.“ Dann deutete er auf Canyon. „Und du?“

Canyon lächelte beglückt. Anstatt seinen Namen zu nennen, antwortete er nun betont laut, damit Keisha es garantiert hörte: „Dad.“

Mit geradezu feierlichem Ernst wiederholte Beau: „Dad.“

Canyon lachte auf. „Genau: Dad.“ Er schloss die Autotür und drehte sich zu Keisha um.

„Du kannst offenbar gut mit Kindern umgehen“, kommentierte sie.

Er zuckte mit den Schultern. „Dillon hat einen Sohn namens Denver, der ein bisschen älter als Beau ist. Mit dem beschäftige ich mich oft. Die beiden sehen sich übrigens zum Verwechseln ähnlich – wenn man davon absieht, dass Denver etwas größer ist.“

Jetzt war es Keisha, die mit den Schultern zuckte. Bestimmt übertrieb Canyon, was die Ähnlichkeit anging. „Weil du ja auf einer Aussprache bestehst, kannst du mit zu mir nach Hause kommen“, sagte sie. „Aber ich versorge Beau wie gewöhnlich, als ob du nicht da wärst. Da mache ich keine Ausnahme.“

„Das hätte ich auch nicht von dir verlangt.“

Sie wollte gerade um das Auto herum zur Fahrerseite gehen, als er sie ganz behutsam am Arm berührte. Schlagartig wurde ihr heiß. Canyon strahlte so viel Männlichkeit aus! Eigentlich hatte sie geglaubt, nach all der Zeit dagegen immun zu sein. Offensichtlich war das ein Irrtum …

„Keisha?“

Krampfhaft versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. „Ja, was denn?“

Er sah ihr tief in die Augen. „Könnte es sein, dass du aus irgendwelchen Gründen verfolgt wirst?“

„Von dir, oder was meinst du?“

„Nein, nicht von mir.“ Verlegen schob Canyon die Hände in die Hosentaschen. „Ich bin dir hinterhergefahren, seit du deine Arbeitsstelle verlassen hast. Doch ich war nicht der einzige. Eine schwarze Limousine war auch hinter dir her. Als es mir zu bunt wurde, habe ich dem Unbekannten Angst eingejagt. Ich wollte verhindern, dass der Fahrer rauskriegt, wo du wohnst. Er ist dann verschwunden.“

„Ach ja, ich habe was im Rückspiegel gesehen. Aber ich habe es nicht auf mich bezogen. Du warst also der Fahrer des roten Wagens?“

„Ja, genau. Ich habe mich schon bei der Polizei erkundigt und …“

„Bei der Polizei?“

„Ja. Ich kenne über Derringer jemanden, der bei der Polizei arbeitet. Der hat mich darüber informiert, dass das Nummernschild des Wagens als gestohlen gemeldet wurde. Er hat sich vorhin noch mal kurz gemeldet und mir mitgeteilt, dass sie immer noch auf der Suche nach dem Auto sind.“

Keisha hatte Derringer bisher nur ein einziges Mal getroffen – auf dem Ball der Westmorelands. Sie hatte jedoch schon umso mehr von ihm gehört. Bevor er geheiratet hatte und treusorgender Ehemann geworden war, hatte er einen Ruf als großer Frauenheld gehabt. Dieser Ruf ging allerdings noch mehreren anderen Westmorelands voraus.

„Ich weiß wirklich nicht, wer mich verfolgen sollte und warum. Und da wir gerade beim Thema sind: Warum hast du mich verfolgt?“

„Weil ich dich in den vergangenen Monaten mehrfach um eine Aussprache gebeten habe und du mich immer hast abblitzen lassen. Jetzt weiß ich natürlich, warum.“

„Hör mal, ich will das hier nicht auf offener Straße diskutieren. Lass uns das bei mir zu Hause bereden.“

„Gut, ich fahre hinter dir her.“

Canyon wartete, bis Keisha eingestiegen war. Danach lief er zu seinem Auto. Erst als er hinter dem Steuer saß und sich anschnallte, wurde ihm die Tragweite dessen bewusst, was er in den letzten Minuten erfahren hatte.

Er hatte einen Sohn. Einen Sohn, von dem er bis heute nichts geahnt hatte!

Keisha fuhr los. Hatte Canyon etwa recht? War sie wirklich von einem Unbekannten verfolgt worden? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Keiner der Fälle, an denen sie arbeitete, war so wichtig, als dass es jemand auf sie abgesehen haben könnte. Vielleicht hatte jemand ihr das Auto rauben wollen? Auch kein sehr beruhigender Gedanke. Es lief ihr kalt den Rücken herunter.

Als sie vor einer roten Ampel warten musste, schaute sie sich kurz um. Keisha wollte sichergehen, dass mit Beau alles in Ordnung war. Sie konnte immer noch nicht fassen, wie schnell er Zutrauen zu Canyon gefasst und wie schnell er ihn akzeptiert hatte.

Und wie schnell Canyon ihn akzeptiert hatte.

Er hatte nicht einmal einen Vaterschaftstest verlangt. Ihm hatte der Umstand genügt, dass Beau angeblich dem Sohn seines Bruders so ähnlich sah. Bisher verhielt er sich ohnehin erstaunlich vernünftig. Aber sie kannte ihn gut genug: Canyon konnte sich äußerlich ruhig, freundlich und gelassen geben, während es in seinem Inneren kochte und brodelte.

Sie betätigte den Blinker und bog auf die Ausfallstraße ein, die zu ihrem Haus führte. Im Rückspiegel entdeckte sie Canyon, der ihr hinterherfuhr. Es kam ihr vor, als würde er sie keine Sekunde aus den Augen lassen – sie persönlich, nicht nur ihren Wagen. Mit einem Mal wurde ihr heiß, und sie konnte sich nur mit Mühe aufs Fahren konzentrieren.

Ja, bei Canyon reichte ein Blick, und sie war wie verzaubert. So war es seit dem verhängnisvollen Tag vor knapp vier Jahren gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Wie ein Film lief das Geschehen von damals noch einmal vor ihrem inneren Auge ab …

„Entschuldigen Sie, ist der Platz noch frei?“

Keisha blickte von den Unterlagen hoch, in die sie vertieft gewesen war. Sie konnte kaum fassen, was sie da sah. Was für ein Prachtexemplar von Mann!

Er war weit über einen Meter achtzig groß, hatte dunkles Haar und breite Schultern. Das ganze Superluxuspaket steckte in einem teuren Anzug. Gepflegt und männlich zugleich – so etwas begegnete einem nicht alle Tage!

„Also, ist er …?“

Die Nachfrage riss sie aus ihren Träumereien. „Ist wer was?“

„Der Platz. An Ihrem Tisch. Ob er noch frei ist. Alle anderen scheinen besetzt zu sein.“

Sie schaute sich in der Kantine des Gerichts um und stellte fest, dass der Mann recht hatte. „Ach so, ja, der ist noch frei.“

„Darf ich mich dann zu Ihnen setzen?“

Sie dürfen gerne alles mit mir machen, hätte sie fast erwidert. Stattdessen lächelte sie ihn nur an und sagte freundlich: „Natürlich, setzen Sie sich.“

Selbst die Art, wie er Platz nahm, hatte eine unnachahmliche Eleganz. In weniger als einer Stunde hatte sie einen Gerichtstermin, und normalerweise hätte sie sich gestört gefühlt. Doch dieser Mann war es wert.

„Mein Name ist Canyon Westmoreland“, stellte er sich vor. „Und Sie sind …?“

„Keisha. Keisha Ashford.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Sie verlor sich in seinem Blick. Ihr Blut begann zu kochen.

„Und, was machen Sie so? Sind Sie Anwältin oder Anwaltsgehilfin?“

Sie zog eine Braue hoch. „Spielt das eine Rolle?“

Gleichmütig zuckte er mit den Schultern. „Für mich nicht. Ich sitze hier mit einer wunderschönen Frau am Tisch. Da werde ich mich sicher nicht beklagen!“

Geschmeichelt lachte sie auf. „Na, Sie sind ja locker drauf.“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“

Keisha kannte den Mann nicht, doch er war ihr vom ersten Moment an sympathisch. Ein Blick auf seinen Ringfinger verriet ihr, dass er nicht verheiratet war. „Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich bin Anwältin.“

„Und ich bin Anwalt“, gab er freundlich zurück.

„Das hätten Sie mir gar nicht zu sagen brauchen, das sieht man sofort“, entgegnete sie.

Langsam beugte er sich zu ihr hinüber. „Das müssen Sie mir eingehender erklären. Aber später und nicht hier.“

Oha, dachte sie. Eine geschickte Anmache. Normalerweise ginge mir das zu schnell, aber bei ihm …

Statt auf seinen Vorschlag einzugehen, wechselte sie das Thema: „Canyon ist ein ungewöhnlicher Name.“

„Meine Eltern fanden ihn offenbar passend“, erwiderte er lächelnd. „Wie es aussieht, bin ich nämlich im Grand Canyon gezeugt worden. Muss eine wilde Nacht gewesen sein.“

Sie neigte den Kopf zur Seite. „Haben Ihre Eltern Ihnen das so erzählt?“

„Nein, aber ich habe ein paarmal mitbekommen, wie sie darüber gescherzt haben. Sie haben sich über viele Jahre hinweg gern daran erinnert.“

„Und jetzt nicht mehr?“

Betrübt schlug er die Augen nieder. „Meine Eltern sind vor über fünfzehn Jahren gestorben. Bei einem Flugzeugunglück.“

„Oh, das tut mir leid.“

„Danke. Wie gesagt, es ist lange her. Also, was meinen Sie: Wollen wir uns später auf einen Drink treffen? Es gibt hier in der Nähe ein nettes Lokal namens Woody’s.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Wie wär’s um fünf? Hoffentlich gewinnen wir beide unsere Fälle – dann haben wir Grund zum Feiern.“

„Das wäre schön“, gab sie zurück. „Ich werde da sein.“

Er erwiderte ihr Lächeln und sah dabei so sexy aus, dass ihr ganz anders wurde. „Wunderbar. Ich freue mich auf nachher, Keisha Ashford.“

„Und ich mich erst“, platzte sie heraus. Ein wenig mehr damenhafte Zurückhaltung hätte ihr vielleicht besser zu Gesicht gestanden. Aber sie konnte nicht anders, so überwältigt war sie von ihm …

„Mommy …“

Die Stimme ihres Sohnes riss Keisha jetzt aus ihren Gedanken. Bis eben hatte er ganz ruhig in seinem Kindersitz gesessen und sich mit seinem Spielzeug beschäftigt. Normalerweise redete er sehr viel, aber heute war er irgendwie anders. Ob das Zusammentreffen mit Canyon etwas damit zu tun hatte?

„Ja, Beau?“

„Dad weg?“

Lag Enttäuschung in seiner Stimme? Es war eine große Umstellung für ihn gewesen, von Texas nach Denver umzuziehen. Der Kleine war sehr an seine Großmutter gewöhnt gewesen und vermisste sie sehr. Damit hatte er Keisha das Leben nicht gerade leichter gemacht.

„Er sitzt im Auto hinter uns.“

Im Rückspiegel beobachtete sie, wie Beau sich in seinem Kindersitz umdrehte und durch die Heckscheibe schaute. „Warum, Mommy?“

„Warum was?“

„Warum anderes Auto?“

Oje, das konnte noch schwierig werden! Wenn Canyon wieder fort war, würde sie ihrem Sohn einiges zu erklären haben. „Weil er sein eigenes Auto hat.“

„Kommt er Hause?“

„Ja.“ Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, erläuterte sie: „Aber nur zu Besuch. Er hat sein eigenes Zuhause.“

„Besuch?“

„Ja, Beau, nur Besuch.“

Er erwiderte nichts, sondern wandte sich wieder seinem Spielzeug zu. Keisha würde ihm gleich etwas zu essen machen, ihn baden und ihn danach ein wenig spielen lassen, bevor es Zeit fürs Bettchen war. Was das Schlafen anging, hatte sie mit ihm Glück. Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern legte er sich freiwillig hin, ohne einen Aufstand zu machen. Es schien fast, als würde er geradezu darauf bestehen, jede Nacht seine acht Stunden Schlaf zu bekommen.

Erneut blickte sie in den Rückspiegel. Canyon hielt sich dicht hinter ihr. Es kam ihr beinahe so vor, als würde er sie direkt ansehen.

Sie liebte ihn nicht mehr, da war sie sich sicher. Ihre Liebe war nicht abrupt erloschen, sondern ganz allmählich, nach und nach. Und dieser lange Prozess war an jenem späten Nachmittag eingeleitet worden, als sie früher als sonst heimgekommen war. Ausgerechnet an diesem Tag hatte sie Canyon eigentlich von ihrer Schwangerschaft erzählen wollen. Und dann hatte sie ihn gesehen – mit Bonita. In einer mehr als verfänglichen Situation!

Ja … und damit war es zwischen ihnen aus gewesen. Sie war nicht der Typ Frau, der sich betrügen ließ. Seitdem war Canyon Geschichte für sie, und sie schaute nur noch nach vorn. Und niemals zurück.

Wenige Minuten später bog sie in die Einfahrt zu ihrem Haus ein. Die Wohnsiedlung war erst vor Kurzem erbaut worden; hier lebten viele junge Ehepaare und auch alleinerziehende Mütter und Väter. Keisha hatte bereits einige Nachbarn kennengelernt und verstand sich gut mit ihnen. Sie wohnte gern hier.

Nun parkte sie und stieg aus. Kaum war sie um das Auto herumgegangen, als Canyon vor ihr stand. Müde betrachtete sie ihn. „Ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn du nicht darauf bestehen würdest, das Ganze heute noch durchzusprechen.“

„Wir kriegen leider nicht immer, was wir wollen, Keisha.“

Sie seufzte auf und öffnete die Autotür, um Beau aus seinem Kindersitz zu holen.

„Lass mal, das mache ich“, sagte Canyon.

Sie ließ ihn gewähren, denn in Beaus Gegenwart wollte sie keinen Streit mit ihm anfangen. Später würde sie ihm jedoch einiges klarmachen müssen. Sicher, er war Beaus Vater. Trotzdem würde sie nicht zulassen, dass er sich in ihr Leben drängte.

Sie zog die Schlüssel aus der Tasche und ging zur Haustür. Canyon folgte ihr mit Beau auf dem Arm. Am liebsten hätte sie ihn daran erinnert, dass ihr Sohn selber laufen konnte. Allerdings wollte sie die Stimmung nicht unnötig aufheizen.

Keisha schloss auf und trat in den Flur. Plötzlich hielt sie sich erschrocken die Hand vor den Mund.

Sie stand inmitten eines einzigen Durcheinanders.

Jemand hatte bei ihr eingebrochen!

3. KAPITEL

Canyon überblickte die Lage sofort und reagierte prompt. „Hier, nimm Beau und setz dich mit ihm wieder ins Auto“, wies er Keisha an.

Anschließend rief er Pete an. „Hallo, hier spricht Canyon. Die Frau, die vorhin verfolgt wurde … Man hat bei ihr eingebrochen.“

„Gib mir die Adresse. Ich bin noch in der Gegend. Rührt nichts an, bis ich da bin.“

Canyon wandte sich um und war nicht überrascht, dass Keisha seiner Aufforderung nicht Folge geleistet hatte. „Welche Adresse ist das hier?“

Sie schwieg. An ihrer starren Miene erkannte er, dass sie unter Schock stand.

„Keisha …?“

Mit leerem Blick sah sie ihn an. „Ja?“

„Die Adresse. Ich brauche deine Adresse.“

Sie nannte sie ihm schließlich und klang dabei wie ein Roboter. Canyon gab sie gleich an Pete weiter.

„Mommy …“

Canyon bemerkte, wie Keisha zusammenzuckte. Sie hatte hier für sich und Beau ein neues Zuhause, einen Rückzugsort geschaffen. Und nun hatte jemand ihre Privatsphäre missachtet und war gewaltsam in ihr Heim eingedrungen!

„Wir sollten nicht in der Tür stehen bleiben, Keisha“, sagte Canyon leise. „Die Polizei ist schon auf dem Weg. Wir warten am besten im Auto. In der Wohnung dürfen wir sowieso nichts anrühren.“

Keisha wusste, dass er recht hatte. Bis zum Eintreffen der Polizei konnten sie nichts tun. Also setzte sie Beau wieder in den Kindersitz und lenkte ihn mit seinem Spielzeug ab. Währenddessen telefonierte Canyon auf seinem Handy. Sprach er noch einmal mit der Polizei?

„Ja, Keisha geht es so weit gut“, berichtete Canyon seinem ältesten Bruder Dillon. Er hatte ihm stichwortartig alles berichtet – inklusive der großen Überraschung, dass er einen Sohn hatte.

„Die ganze Familie sitzt hier gerade beim Essen zusammen“, meinte Dillon. „Ich gehe mal davon aus, dass ich denen noch nichts von deinem Sohn erzählen soll.“

Canyon atmete tief durch. „Nein, nein, das mache ich selbst. Pete ist auf dem Weg hierher. Wenn wir hier fertig sind, nehme ich Keisha und Beau mit. Sie können unmöglich in diesem Haus bleiben, solange wir nicht wissen, was hinter dem Einbruch steckt. Meinen Wagen lasse ich stehen. Ich bräuchte allerdings jemanden, der ihn später abholt und zu meinem Haus bringt.“

„Das kann ich übernehmen, deine Ersatzschlüssel habe ich ja. Ich werde mir nachher ein Taxi rufen. Aber … wird Keisha denn damit einverstanden sein, mit dir irgendwohin zu fahren?“

Entnervt wischte Canyon sich übers Gesicht. Nein, damit würde sie wohl kaum einverstanden sein. Jedenfalls nicht sofort. Keisha konnte ziemlich widerspenstig sein; das hatte sie vermutlich von ihrer Mutter geerbt, die sie alleine großgezogen hatte. Eigentlich hatte er Keishas Willensstärke und ihr Bedürfnis nach Unabhängigkeit stets bewundert. Doch in diesem Fall verhielt sich die Sache anders. Sie trug ja nicht nur die Verantwortung für sich, sondern auch für Beau. Ihren Sohn.

Ihren gemeinsamen Sohn.

Er hatte tatsächlich einen Sohn. Was für ein merkwürdiges Gefühl das war! „Du hast recht, Dil, sie wird Schwierigkeiten machen. Aber ich bin mir sicher, dass der unheimliche Verfolger und dieser Einbruch etwas miteinander zu tun haben. Das kann kein Zufall sein. Meine einzige Trumpfkarte ist, dass sie auch an Beau denken muss. Wenn er nicht wäre, würde sie wahrscheinlich komplett auf stur schalten.“

In dem Moment trafen drei Polizeiautos ein. Im ersten entdeckte Canyon Pete am Steuer. „Dil, ich muss Schluss machen. Pete ist gerade gekommen. Ich rufe dich später noch mal an.“

Verstört blickte Keisha den Polizisten an. „Was soll das heißen, der Täter hatte es auf mich persönlich abgesehen?“

Pete lehnte sich gegen den Küchenschrank. „Nach Ihrer Aussage ist ja nichts gestohlen worden. Nicht mal das Glas mit Goldmünzen auf ihrem Frisiertisch im Schlafzimmer, das nun wirklich nicht zu übersehen ist. Kein normaler Einbrecher hätte das stehen lassen. Daraus kann ich nur schließen, dass der Einbrecher es auf Sie persönlich abgesehen hat. Er will Ihnen Angst machen.“

Keisha konnte das alles nicht begreifen. Sie war bloß froh, dass sich ihre Nachbarn, die selbst zwei kleine Kinder hatten, um Beau kümmerten. Die ganze Aufregung hätte ihn zu sehr belastet.

Zusammen mit Canyon und Pete hatte Keisha Zimmer für Zimmer inspiziert. Es war ein Bild des Schreckens gewesen. Chaos überall. Stühle und sogar das Sofa waren umgestoßen worden, Zeitschriften lagen auf dem Boden verstreut. In der Küche hatte der unbekannte Übeltäter Mehl verteilt, sodass alles wie von Schnee bedeckt aussah. Kein Zimmer war unbehelligt geblieben, nicht einmal Beaus Kinderzimmer. Etliche seiner Spielzeuge waren zerstört worden. Auch in Keishas Schlafzimmer sah es schlimm aus: Ihre Kleidung – inklusive ihrer Dessous! – war aus den Schränken gerissen und auf den Fußboden geworfen worden.

Da nichts gestohlen worden war, konnte dieser verheerende Einbruch tatsächlich nur eine Botschaft sein. Eine Warnung, eine Drohung. Aber wovor? Und warum?

„Bitte denken Sie noch einmal genau nach, Miss Ashford. Betreuen Sie nicht vielleicht doch gerade einen Fall, mit dem Sie irgendjemanden gegen sich aufgebracht haben könnten?“

Keisha fiel beim besten Willen nichts ein. Auch in der Vergangenheit hatte sie keinen Fall bearbeitet, der solche Rachegelüste hätte auslösen können. In letzter Zeit hatte sie mit einer Ausnahme alle Fälle gewonnen, und nie war jemand durch sie in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten.

„Nein, mir fällt wirklich nichts ein, Deputy Higgins.“

Pete nickte und steckte seinen Notizblock ein. „Falls Ihnen später noch was in den Sinn kommt, rufen Sie mich jederzeit an. Ich übergebe die Angelegenheit an einen Detective, der sich mit Ihnen in Verbindung setzen wird. Wir müssen außerdem die Sache mit dem Auto im Auge behalten, das Sie verfolgt hat.“

„Du glaubst also auch, dass das eine mit dem anderen etwas zu tun hat?“, fragte Canyon.

„Das ist durchaus möglich. Vielleicht wüssten wir mehr, wenn ich den Verfolgerwagen erwischt hätte. Aber ich kam zu spät dort an, wo er sich nach unseren Kalkulationen etwa hätte aufhalten müssen: Du hattest ihn ja schon verjagt. Hätte mir gleich klar sein müssen, dass ein Westmoreland sich nicht an das hält, was man ihm sagt.“

„Was passiert ist, ist passiert“, murmelte Canyon und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Wie geht’s jetzt weiter?“

„Wir fahnden weiter nach dem Wagen. Ich werde die Videos der Überwachungskameras auf der Strecke auswerten, vielleicht kommt dabei ja was raus. Wir wissen zwar, dass es eine schwarze Ford-Limousine war und dass das Nummernschild gestohlen war. Aber möglicherweise entdecken wir auf den Videos noch irgendwelche Eigenheiten, anhand derer wir den Wagen ausfindig machen können. Ich will unbedingt die Person finden, die dahintersteckt.“

„Ich auch.“

Keisha und Pete schauten Canyon an. Es waren weniger die Worte selbst, als vielmehr der Tonfall, in dem er sie ausgesprochen hatte. Leise, ruhig, aber bedrohlich. Das überraschte Keisha nicht. Schließlich hatte sie miterlebt, wie er bei der Inspektion der Zimmer immer zorniger geworden war. Vor allem, als er die Zerstörung in Beaus Kinderzimmer und in ihrem Schlafzimmer gesehen hatte.

Pete kommentierte Canyons Aussage nicht weiter und wandte sich stattdessen an Keisha: „Ich würde Ihnen dringend davon abraten, heute Nacht hierzubleiben. Wer auch immer der Eindringling ist: Er war raffiniert genug, Ihre Alarmanlage außer Gefecht zu setzen. Und er könnte wiederkommen.“

„Natürlich bleibt sie nicht hier“, schaltete Canyon sich ein, bevor Keisha sich dazu äußern konnte. „Sie kommt mit zu mir. Und da bleibt sie fürs Erste auch.“

„Gute Idee“, meinte Pete, als wäre die Angelegenheit damit geklärt.

War sie für Keisha aber noch lange nicht. „Immer langsam“, protestierte sie und blickte Canyon aus zusammengekniffenen Augen an. „Natürlich bleibe ich nicht hier. Aber ich gehe in ein Hotel.“

„Kommt gar nicht infrage“, widersprach Canyon.

Kämpferisch stemmte sie die Hände in die Hüften. „Und ob das infrage kommt.“

„Tut es nicht.“

„Tut es doch.“

Pete räusperte sich verlegen. „Ich bin sicher, da wird sich eine Lösung finden. Wie gesagt, Miss Ashford: Wenn Ihnen noch was einfallen sollte, rufen Sie an. Der Detective, der Ihren Fall übernehmen wird, heißt Ervin Render.“ Damit verabschiedete Pete sich schnell und überließ die beiden Streithähne sich selbst.

Kaum war er aus der Tür, setzte Keisha erneut an: „Sag mal, was bildest du dir ein? Warum sollte ich bei dir wohnen, wenn ich in ein Hotel gehen kann? Mal ganz davon abgesehen, dass dich das Ganze sowieso nichts angeht!“

Sie klang so aggressiv, dass ihr wohl jeder andere Mann ihren Willen gelassen hätte. Aber nicht Canyon. Tief sah er ihr in die Augen. „Wenn es nur um dich ginge und nicht auch um unser Kind, könntest du von mir aus tun, was du willst, Keisha. Wahrscheinlich jedenfalls. Denn deine Entscheidung vor drei Jahren hat mir ja gezeigt, wie wenig du mir vertraust. Du hast tatsächlich geglaubt, dass ich dir zuerst meine Liebe gestehe und danach mit einer anderen Frau schlafe – noch dazu in deinem Bett. Dass du mir so etwas zugetraut hast, hat mich sehr verletzt.“

Sie ballte die Fäuste. „Für wie dumm hältst du mich eigentlich, Canyon? Ich weiß, was ich gesehen habe!“

Wütend betrachtete er sie. „Ja, was hast du denn gesehen? Hast du gesehen, wie ich es mit Bonita treibe? Wie sie in meinen Armen liegt oder ich in ihren? Nein. Du hast gesehen, wie ich nach dem Duschen mit einem Handtuch um die Hüften aus dem Badezimmer gekommen bin. Und wie ich dann Bonita entdeckt habe, die in deinem Bett lag.“

„Sie war nackt“, zischte Keisha ihn an.

„Das hat mich genauso überrascht wie dich. Ich habe dir doch erzählt, was passiert ist. Ich bin nach dem Sport in dein Apartment gegangen, um zu duschen. Ein paar Minuten später ist Bonita aufgetaucht. Sie hatte sich mit ihrem Verlobten Grant Palmer gestritten und wollte sich wohl bei dir ausheulen. Weil du nicht da warst, habe ich ihr zur Beruhigung etwas zu trinken angeboten. Sie meinte, ich solle doch auch etwas trinken, und das habe ich getan. Anschließend hat sie sich bei mir bedankt und mich gebeten, noch eine Weile bleiben zu dürfen. Sie erklärte mir, sie sei zu aufgewühlt, um sofort nach Hause zu fahren. Für mich war das in Ordnung, aber ich wollte trotzdem kurz unter die Dusche. Und daraufhin sagte sie: ‚Tu das. Wenn du fertig bist, bin ich bestimmt schon weg.‘ “

Canyon atmete durch und fuhr fort: „Ich schwöre, ich hatte keine Ahnung, dass sie sich in der Zwischenzeit nackt in dein Bett gelegt hatte. Als ich aus dem Badezimmer kam, habe ich dich schon mit vorwurfsvollem Blick dastehen sehen. Ich habe dir die Wahrheit gesagt, aber du hast mir nicht geglaubt. Du hast dich lieber auf die Lügengeschichte deiner Freundin Bonita verlassen.“

„Warum hätte sie mich anlügen sollen? Immerhin wollte sie Grant heiraten.“

„Tja, das Rätsel musst du wohl für dich alleine lösen. Bonita kann uns keine Auskunft mehr geben.“

„Leider nicht. Sie ist ja tot.“ Bonita war im vergangenen Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

„Außerdem sollten wir unsere Zeit nicht mit diesen alten Geschichten verschwenden“, sagte Canyon streng. „Wir müssen über Beau reden. Über meinen Sohn, den du mir, verdammt noch mal, verheimlicht hast. Und wenn du gerne in ein Hotel ziehen möchtest, obwohl irgendjemand es auf dich abgesehen hat – bitte schön, meinen Segen hast du. Aber du wirst nicht meinen Sohn dorthin mitnehmen.“

Zornig trat sie einen Schritt auf ihn zu. „Du willst über meinen Sohn bestimmen? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“

„Sein Vater. Und jetzt bitte ich dich, deinen unbegründeten Hass auf mich mal eine Minute zu vergessen. Überleg mal, ob ihr beide nicht in Westmoreland Country am besten aufgehoben seid. Würdest du dich hier in diesem Haus wirklich noch sicher fühlen?“

„Ich habe doch gesagt, dass ich mir ein Hotelzimmer nehme.“

„Und wenn der große Unbekannte rausfindet, wo du eingecheckt hast? Du weißt doch nicht einmal, wer hinter dem Ganzen steckt. Wenn du unbedingt dein eigenes Leben riskieren willst, tu dir keinen Zwang an. Aber nicht das von Beau.“

Keisha biss sich auf die Unterlippe. Wollte Canyon ihr nur aus Eigennutz Angst machen? Nein, bestimmt nicht. Sie brauchte sich bloß umzusehen, um zu erkennen, wozu der Täter fähig war. Solange der Verbrecher nicht enttarnt war, musste sie für Beaus Sicherheit sorgen. Und eins war ihr klar: Beim großen, starken Canyon waren sie beide sicher.

Doch wie würde sie mit der Situation klarkommen? Das Gefühlschaos war vorprogrammiert. Canyon würde ihr ständig vorbeten, dass er sie nicht betrogen hatte. Aber sie hatte es schließlich mit eigenen Augen gesehen!

Und was Bonita gesagt hatte, wog ebenso schwer. „Eigentlich wollten wir gar nicht miteinander schlafen“, hatte sie damals unter Tränen hervorgestoßen. „Es ist einfach so passiert …“

Bis zu dem Punkt mit dem Drink deckte sich Bonitas Aussage mit der von Canyon. Die Geschichte ihrer Freundin war danach allerdings ganz anders weitergegangen. Bonita hatte ihr gestanden, dass sie noch mehr getrunken hätten und es schließlich zum Sex auf dem Wohnzimmerteppich gekommen sei. Canyon sei dann duschen gegangen und habe Bonita gebeten, im Bett auf ihn zu warten.

Bonita nackt im Bett, Canyon halbnackt aus der Dusche kommend – das war doch wohl mehr als eindeutig.

Natürlich hatte Canyon das Unschuldslamm gespielt. Doch das hatte Keisha ihm damals nicht abgekauft, und das tat sie auch heute nicht. Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder die leeren Weingläser und Bonitas Kleider, die überall auf dem Boden verstreut gelegen hatten. All diese Beweise stützten eher Bonitas Version der Ereignisse.

Ihre Freundin war wohl kaum ein so raffiniertes Luder gewesen, um all das zu inszenieren! Oder?

„Keisha, es wird spät“, unterbrach Canyons Stimme ihre Gedanken. „Wir müssen allmählich los.“

Keisha dachte nach. Konnte es überhaupt gut gehen, mit Canyon unter einem Dach zu wohnen? Doch im Grunde waren sie beide trotz allem vernünftige Menschen. Und das Allerwichtigste war schließlich die Sicherheit ihres Sohnes.

„Na gut, eine Nacht“, willigte sie zögernd ein. „Für eine Übernachtung erkläre ich mich einverstanden.“ Sie musste an das Durcheinander in ihrem Haus denken, das beseitigt werden musste. „Oder vielleicht notfalls zwei Nächte. Maximal zwei.“

Canyon runzelte entnervt die Stirn. „Gut, wie du willst. Aber mein Angebot ist unbegrenzt gültig. Ihr könnt so lange bleiben, wie ihr wollt. Da draußen läuft ein Irrer herum, und ich werde alles tun, damit ihr sicher seid.“

Trotzig hätte sie ihm am liebsten an den Kopf geworfen, dass sie seine Hilfe nicht brauchte. Doch das wäre eine Lüge gewesen. Bei all diesen Unsicherheiten, bei all den im Dunkeln lauernden Gefahren waren Beau und sie tatsächlich auf Canyons Unterstützung angewiesen. Wenigstens für ein, zwei Tage.

4. KAPITEL

„Fühl dich wie zu Hause.“

Keisha betrat Canyons Haus und glaubte zu träumen. Das war kein Haus, das war ein wahrer Palast!

Es war schon dunkel gewesen, als sie angekommen waren. Dennoch hatte sie das beleuchtete Schild gesehen, das nach Westmoreland Country wies. Und dann war dort dieses andere ebenfalls beleuchtete Schild gewesen, das zu seinem Anwesen zeigte. Erst als das Riesengebäude im Scheinwerferlicht aufgetaucht war, hatte ihr zum ersten Mal der Atem gestockt.

Der Bau hatte sich noch in der Planungsphase befunden, als sie seinerzeit die Stadt verlassen hatte. Die Vorgeschichte kannte sie; Canyon hatte sie ihr einmal erzählt. Nach dem Tod der Eltern hatten er und seine Brüder jeweils hundert Morgen Land geerbt, die jedem von ihnen zum fünfundzwanzigsten Geburtstag zugeteilt worden waren. Die einzige Ausnahme hatte Dillon gebildet: Als ältester Sohn hatte er das Familienanwesen mit dreihundert Morgen erhalten.

Canyon und mehrere seiner Brüder waren zunächst vollauf damit zufrieden gewesen, zusammen mit Dillon im Hauptgebäude zu wohnen. Doch dann hatte Dillon geheiratet. Die Brüder hatten sich daraufhin entschlossen, auf ihrem Land jeweils selbst ein Haus zu errichten. Zunächst hatte Canyon es damit nicht eilig gehabt. Nach dem Auszug bei Dillon waren er und sein Bruder Stern zunächst zu ihrem Bruder Jason gezogen, der genug Platz hatte. Später hatte Canyon dann bei Keisha gewohnt.

„Und, gefällt’s dir?“

Nachdenklich schaute sie sich um. „Kann ich dich was fragen, Canyon?“

„Schieß los.“

„Wozu braucht ein alleinstehender Mann so ein riesiges Anwesen?“

Er lächelte versonnen, und ihr wurde ganz heiß. „Manchmal sind sozusagen die Augen größer als der Magen. Vier meiner Brüder und ich haben quasi gleichzeitig unsere Häuser geplant und erbaut. Jeder von uns hatte den Ehrgeiz, etwas Einmaliges, Unverwechselbares zu errichten. Wenn du mein bescheidenes Häuschen schon für groß hältst, solltest du erst mal die der anderen sehen.“

Sie musste lachen und streckte die Hand nach Beau aus, der in Canyons Armen schlief.

Er übergab ihr den Jungen. „War nett von deinen Nachbarn, sich nach der Sache mit dem Einbruch um Beau zu kümmern.“

„Ja, die sind wirklich in Ordnung“, bestätigte Keisha. Janice und Everett Miles hatten Beau zu essen gegeben, ihn gebadet und ihm einen Schlafanzug von ihren Kindern geliehen.

Mit dem schlafenden Kind auf dem Arm bewunderte Keisha nun das Haus, das für eine Einzelperson viel zu groß war. Es war exquisit eingerichtet – wie für einen König … und für die dazugehörige Königin. Die Möbel waren hochwertig, und die Raumdekoration war geschmackvoll. Bei allem Luxus wirkte es keinesfalls protzig.

„Offenbar hast du einen Top-Innenarchitekten gehabt“, kommentierte sie.

Canyon schaltete gerade die Lichter ein. Er blickte über die Schulter zu ihr hinüber und lächelte. „Das ist das Werk meiner Cousine Gemma“, erklärte er. „Eigentlich hätte sie innerhalb der Verwandtschaft ja einen Freundschaftspreis machen können – hat sie aber nicht. Sie hat sich an ihren Brüdern und Cousins eine goldene Nase verdient und hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei.“

„Sie hat es aber auch wirklich gut gemacht. Ich weiß nicht, was du bezahlt hast. Doch das hier war es auf jeden Fall wert.“

„Sie hat für gute Arbeit gutes Geld bekommen. Sehr gutes Geld. Ich glaube fast, sie hat uns mehr abgeknöpft als anderen Kunden. Vermutlich dachte sie, wir haben’s ja. Und wer würde schon die Rechnung seiner Cousine infrage stellen?“

Er sagte das alles mit Humor, und ihm war deutlich anzumerken, wie gern er seine Cousine in Wirklichkeit hatte. Das hatte Keisha immer an ihm und seiner Verwandtschaft gemocht: wie nahe sie sich standen und wie eng sie zusammenhielten. Von Canyon hatte sie alles über seine Familie erfahren. Trotzdem hatte sie sich aus freien Stücken entschieden, seine Verwandten lieber nicht näher kennenzulernen. Denn so gerne sie mit Canyon zusammen war, so grandios der Sex war: Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Beziehung von Dauer wäre. Ursprünglich hatte sie angenommen, dass es nur um das Körperliche ging.

Doch im Laufe der Zeit waren sie sich auch auf anderer, auf geistiger Ebene immer nähergekommen. Nach rund einem halben Jahr hatte sie ihm schließlich vorgeschlagen, bei ihr einzuziehen. Das Zusammenleben hatte prächtig funktioniert, bis … ja, bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem er sie betrogen hatte.

„Ich habe mehrere Gästezimmer, aber leider keines mit Kinderbett“, sagte er plötzlich und riss sie damit aus ihren Gedanken.

„Ach, das macht nichts. Dann schläft er eben bei mir im Bett.“

Canyon nickte. „Okay. Komm bitte mit.“

Eine Wendeltreppe führte sie nach oben. Keisha fand die Räumlichkeiten aus dieser Perspektive noch beeindruckender. Alle Einrichtungsgegenstände harmonierten perfekt miteinander. Da merkt man die Hand einer Frau, dachte Keisha. Ein Mann hätte das nicht so gut hingekriegt.

„Mein Haus ist allerdings leider nicht kindersicher.“

Darauf erwiderte sie nichts. Was spielte das für eine Rolle? Sie würde mit Beau ja sowieso nicht lange bleiben.

Oben angekommen geleitete er sie über einen Gang, öffnete eine der Türen und ließ sie eintreten. Der Anblick des Gästezimmers überwältigte sie fast.

„Dies hier ist das blaue Zimmer“, sagte er.

Die Wände waren himmelblau gestrichen, als Kontrast dazu waren die Gardinen vor den Fenstern wölkchenweiß. Auch der Bezug auf dem riesigen Bett war in Blau-Weiß gehalten. Zwei Nachttischchen mit weißen Lampen und ein mit weißem Leder bezogenes Sofa rundeten die Einrichtung ab.

„Es ist wunderschön“, lobte sie.

„Oh, vielen Dank.“

Sie ging zum Bett, schlug die Überdecke zurück und legte Beau vorsichtig in die Mitte. Er schlief so ruhig und süß. Wie ein Engel. Er war zu jung und konnte noch nicht begreifen, wie sehr das Leben seiner Mutter innerhalb weniger Stunden durcheinandergewirbelt worden war.

„So habe ich es auch immer gemacht.“

Keisha zuckte bei den Worten zusammen. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Canyon ihr bis zum Bett gefolgt war. „Was?“

„So habe ich mich früher immer zum Schlafen hingelegt. Mit dem Gesicht auf den Händen.“

Sie lächelte. „Er macht im Schlaf auch dieselben Geräusche wie du.“

„Ich? Was denn für Geräusche?“

Diese Geräusche, bei denen mir sofort heiß geworden ist, wenn ich nachts mal zwischendurch aufgewacht bin, dachte sie. Kein Schnarchen, eher ein wohliges Stöhnen, als ob du gerade einen schönen Traum durchlebt hast.

„Was für Geräusche?“, wiederholte er.

„Ach, egal“, gab sie zurück und rieb sich den Nacken. So hatte sie nicht ins Wochenende starten wollen. Sie hatte sich für Samstag und Sonntag so viel vorgenommen. Deshalb hatte sie den Freitagabend eigentlich auf der Couch verbringen und sich einen spannenden Film ansehen wollen. Stattdessen war wie jetzt hier – im Haus des Mannes, mit dem sie nie mehr engeren Kontakt hatte haben wollen.

Gelegentlicher beruflicher Kontakt hatte sich nicht vermeiden lassen, seit sie nach Denver zurückgekehrt war. Denn ihre Kanzlei vertrat auch mehrere Klienten, die zur Kundschaft von Canyons Firma gehörten. Nur ungern erinnerte sie sich an den Tag, als sie sich zum ersten Mal seit der Trennung gegenübergesessen hatten. Sie waren sich im Gerichtssaal begegnet, als Vertreter gegnerischer Parteien.

An diesem Tag – und an den folgenden – hatte sie ständig daran denken müssen, wie er sie betrogen hatte. Und dann hatte er tatsächlich den Nerv gehabt, sie zum Essen einzuladen. Er hatte „Gesprächsbedarf“ gesehen – so hatte er sich ausgedrückt. Selbstverständlich hatte sie entrüstet abgelehnt. Der ersten Einladung war später eine zweite gefolgt, eine dritte und so weiter. Jedes Mal hatte sie ihn zurückgewiesen, doch er hatte nicht aufgegeben und war in seinem Bitten sogar hartnäckiger geworden. Der Gipfel war natürlich gewesen, als er sie heute verfolgt hatte, um eine Aussprache durchzusetzen!

Andererseits war sie froh gewesen, ihn an ihrer Seite zu haben, als sie den Einbruch entdeckt hatte. Er hatte besonnen und tatkräftig reagiert, wozu sie durch den Schock nicht in der Lage gewesen war.

„Es ist kein Kinderbett mit Gitterchen. Ich hoffe, er rollt nicht raus.“

Keisha musste lachen. „Keine Sorge, Beau schläft durch. Wie ein Stein. Er ist auch keines von diesen Kindern, die nachts aufstehen und herumwandern. Außerdem machen wir zur Sicherheit die Tür zu.“

„Gut, das beruhigt mich. Wenn du dich nicht zu kaputt fühlst, könnten wir ja noch nach unten gehen und einige Dinge bereden.“

Sie fand es sehr rücksichtsvoll von ihm, dass er ihr die Wahl ließ. Zugleich wusste sie jedoch, dass eine Aussprache überfällig war. Sie wollte die Angelegenheit hinter sich bringen. „Okay.“

Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie dicht er bei ihr stand. Für ihren Geschmack viel zu dicht, denn seine Nähe erregte sie. Diese Erregung überraschte sie nicht weiter: Canyon hatte nun mal diese Wirkung auf Frauen. Sie hatte es damals bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Kantine des Gerichts gleich gespürt. Und bei jeder weiteren Begegnung.

„Ich muss aber vorher mal für kleine Mädchen“, meinte sie verlegen lächelnd.

„Jedes Gästezimmer hat ein angrenzendes Badezimmer“, erklärte er. „Wir sehen uns in ein paar Minuten unten.“ Damit verließ er den Raum und schloss die Tür.

Als sie seine Schritte auf den Treppenstufen hörte, atmete sie tief durch. Seinerzeit hatte sie sich entschieden, Canyon nichts von Beau zu sagen. Mit dieser Entscheidung hatte sie sich durchaus wohlgefühlt. Doch jetzt drohte die Aussprache. Und sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie anschließend anders darüber denken würde.

Canyon stand am Wohnzimmerfenster und blickte hinaus. Es war bereits stockdunkel, aber er wusste ja, was sich da draußen befand: hundert Morgen besten Landes, das er geerbt hatte.

Schon als Kind hatte ihm dieses Stück Land am besten gefallen. Von hier hatte man den perfekten Ausblick auf Whisper Creek Canyon. Er musste nicht an Gemma’s Lake sein – dem See, der nach seiner Großmutter benannt war – und ebenso wenig in der Nähe der anderen Wiesen und Täler und Gewässer, die die Schönheit von Westmoreland Country ausmachten. Nein, hier, genau hier, hatte er schon immer sein wollen.

Fast wehmütig dachte er an früher zurück, als er mit seinem Vater, seinem Onkel, seinen Brüdern und seinen Cousins auf die Jagd gegangen war. Sie waren übers Land geritten und hatten in der Nähe des Canyons kampiert. Und wenn die anderen in der Nacht längst geschlafen hatten, war er meist noch wach gewesen. Voller Bewunderung hatte er nach oben geschaut, zum Himmel, zu den funkelnden Sternen. Er war überzeugt davon gewesen, dass nur ganz besondere Sterne diesen Flecken Erde erhellten. Seine Sterne. Wann immer er im Laufe der Jahre Probleme gehabt hatte, war ein Blick hinauf genug gewesen: Dann waren ihm die Antworten eingefallen, nach denen er gesucht hatte.

Hierher hatte er sich auch zurückgezogen, nachdem seine Eltern mitsamt seiner Tante und seinem Onkel bei dem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren. Und hier hatte er nach Bestätigung gesucht, als er in seiner Collegezeit mit seinem Medizinstudium gehadert hatte und stattdessen Jura studieren wollte.

Ursprünglich hatte er vorgehabt, in die Fußstapfen seines Bruders Micah zu treten und Arzt zu werden. Nach zwei Jahren hatte er jedoch erkannt, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er war zwischen vermeintlicher Pflichterfüllung und seinen Bedürfnissen hin und hergerissen gewesen.

Dillon hatte sofort gespürt, dass seinen Bruder etwas beschäftigte, als dieser in den Frühjahrsferien nach Hause gekommen war. Und er war es auch gewesen, der Canyon vorgeschlagen hatte, das Studium eine Zeit lang zu unterbrechen und zu Hause nach den Antworten zu suchen, die er brauchte. So hatte Canyon sich für ein Semester beurlauben lassen.

In dieser Zeit hatte er bei seinem Bruder Riley gewohnt und tagsüber entweder Ramsey mit den Schafen oder Zane, Derringer und Jason mit den Pferden geholfen. An den Wochenenden hatte er dann hier gezeltet und nachgedacht.

Mit dem Beginn des nächsten Semesters hatte er schließlich mit dem Segen seiner Familie von Medizin zu Jura gewechselt. Natürlich gab es mit der Verwandtschaft auch mal Streit. Doch wenn es um wirklich wichtige Dinge ging, hielten sie stets zusammen und halfen einander.

Und noch eine wichtige Entscheidung hatte Canyon seinerzeit hier unter dem Sternenzelt getroffen: die Entscheidung, Keisha um ihr Jawort zu bitten. Als sie eines Abends aus beruflichen Gründen fort gewesen war, hatte er sich auf den Weg hierher gemacht. Es hatte bereits festgestanden, dass er hier ein Haus bauen würde; im Kopf hatte er schon eifrig geplant. Und plötzlich hatte er die Erkenntnis gehabt, dass Keisha hier als seine Frau mit ihm leben sollte. Es war wie eine Eingebung gewesen.

Im Gegensatz zu manchen seiner Brüder und Cousins hatte er kein Problem damit, sich zu verlieben. Einige von ihnen schreckten davor zurück, weil sie seit dem furchtbaren Flugzeugunglück unter Verlustängsten litten. Andererseits hatte er sein Singledasein durchaus genossen. Canyon hatte nicht damit gerechnet, dass er so bald die richtige Frau finden würde.

Aber unter den Sternen war es ihm vollends bewusst geworden. Er würde Keisha einen Heiratsantrag machen; er hatte es kaum erwarten können, dass sie von ihrer Reise zurückkehrte. Und dann war sie früher als geplant nach Hause gekommen – und war hereingeplatzt, als Bonita nackt in ihrem Bett gelegen hatte. Natürlich hatte sie da das Naheliegende vermutet, und Bonita hatte ihren Verdacht auch noch bestätigt. Doch das war eine miese Lüge gewesen!

Diese Lüge hatte alles kaputt gemacht. Und bis heute wusste Canyon nicht, warum Bonita ihre Freundin Keisha so schamlos belogen hatte.

Plötzlich riss ein Geräusch ihn aus seinen Gedanken. Keisha kam die Treppe herunter. Er nahm das Weinglas mit, das er vorsorglich schon gefüllt hatte, und ging ihr entgegen. „Hier, ich glaube, das kannst du brauchen“, sagte er.

Sie trank einen Schluck. „Oh, der ist richtig gut. Wo hast du ihn her?“

„Mein Cousin Spencer und seine Frau haben ein Weingut in Kalifornien. Das Gut gehört schon seit Langem Chardonnays Familie und …“

„Chardonnay?“

„Ja, Spencers Frau heißt Chardonnay.“

„Die Eltern besaßen ein Weingut und haben ihre Tochter Chardonnay genannt?“

Canyon lachte auf. „Ja, genau wie den Wein. So ähnlich wie meine Eltern mich nach dem Ort meiner Zeugung benannt haben.“ Er hielt kurz inne. „Wie bist du überhaupt auf den Namen Beau gekommen?“

Sie ließ sich auf dem Treppenabsatz nieder.

„Du brauchst dich da nicht hinzuhocken“, meinte er. „Ich habe ein sehr bequemes Sofa.“

Keisha schüttelte den Kopf. „Nein, nein, es ist gut so.“ Nach einem weiteren Schluck Wein erklärte sie: „Beaus voller Name ist Beaumont. Nach meinem Onkel, dem einzigen Bruder meiner Mom. Er ist gestorben, als ich noch ein kleines Kind war. Mom und Onkel Beau hatten sich immer sehr nahegestanden. Als ich schwanger war und einen Namen brauchte, hat sie mich gefragt, ob ich den Kleinen nach ihrem Bruder nennen würde. Das habe ich dann auch gemacht.“

Canyon lehnte sich gegen das Treppengeländer. „Wann hast du gemerkt, dass du schwanger bist?“

Sie nippte noch einmal an ihrem Glas und sah ihn an. „Ich war schon überfällig, als ich auf die Dienstreise nach Tampa gefahren bin. Dort habe ich mir gleich einen Schwangerschaftstest besorgt.“ Sie machte eine kleine Pause. „Wegen meiner Schwangerschaft bin ich auch früher als geplant nach Hause gekommen. Ich fand das so wichtig, dass ich es dir nicht am Telefon mitteilen wollte. Aber dann … habe ich dich ja mit Bonita vorgefunden.“

Canyon krampfte sich vor Wut der Magen zusammen. Bis eben hatte er geglaubt, Keisha und er könnten alles friedlich klären. Und nun das: Sie hatte bereits gewusst, dass er Vater wurde, als sie ihn verlassen hatte! Und aus ihrer Enttäuschung heraus – ihrer unberechtigten Enttäuschung, wohlgemerkt! – hatte sie es ihm verschwiegen. Das war zu viel! Er konnte seinen Zorn kaum bändigen.

„Komm mit, wir gehen in die Küche. Beau soll nicht wach werden, falls es etwas lauter wird.“

Keisha folgte ihm durch das Esszimmer. Auch die Küche war riesig und mit den modernsten Elektrogeräten ausgestattet. Das meiste hatte er sicher noch nie benutzt; sie wusste, dass er ebenso ungern selbst kochte wie sie.

Canyon setzte sich an den Küchentisch und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ebenfalls Platz zu nehmen. Eigentlich hätte sie lieber gestanden. Als sie seine finstere Miene bemerkte, setzte sie sich jedoch schnell. Trotzig fragte sie: „Hast du sonst noch Fragen, Canyon?“

Er lief rot an. „Ob ich noch Fragen habe? Da kannst du drauf wetten!“

Als würde er um Fassung ringen, holte er tief Luft. „Ich werde jetzt nicht noch tausendmal beteuern, dass an diesem Tag – und überhaupt – nichts zwischen Bonita und mir gewesen ist. Du glaubst ja lieber einer Lügnerin. Und um ehrlich zu sein: Inzwischen ist mir das auch egal. Denn wenn du mir wirklich zutraust, dass ich dich so schamlos betrogen habe, dann hast du meine Liebe gar nicht verdient.“

Deutlich schwangen Zorn und Empörung in seiner Stimme mit. Plötzlich kamen Keisha Zweifel. Hatte sie ihm unrecht getan? Hatte vielleicht Bonita gelogen, und er war unschuldig?

Eigentlich konnte das kaum sein. Bonitas Geschichte hatte absolut glaubwürdig geklungen. Und warum hätte sie sich so etwas ausdenken sollen? Dennoch …

„Hast du mich so sehr gehasst, dass du mir zur Strafe meinen Sohn vorenthalten wolltest?“, unterbrach er ihre Gedanken.

Schuldbewusst blickte sie zu Boden. „Wir waren ja schließlich nicht mehr zusammen, und …“

„Und was?“, hakte er nach, als sie nicht weitersprach.

„Na ja, ich habe darüber nachgedacht und … und irgendwie dachte ich, du würdest deine Vaterschaft sowieso anzweifeln, wenn ich dir von dem Kind erzähle.“

Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er sie. „Das ist totaler Unsinn, das weißt du genau“, sagte er mit eisiger Stimme. „Warum hätte ich denken sollen, dass das Kind nicht von mir ist? Im Gegensatz zu dir hatte ich vollstes Vertrauen. Das ist also nur eine faule Ausrede, Keisha. Und was noch schlimmer ist: Du bist seit fast einem Jahr wieder in Denver, und wir sind uns aus beruflichen Gründen mehrfach begegnet. Und trotzdem hast du mir nie verraten, dass ich einen Sohn habe. Hatte ich in deinen Augen etwa nicht das Recht, davon zu erfahren?“

Sie war fest entschlossen, ganz ehrlich zu ihm zu sein. „Nein. Was du getan hattest, war unverzeihlich. Damit hattest du alle Rechte auf mich und mein Kind verspielt. Außerdem wollte ich nicht, dass du dich wegen meiner Schwangerschaft mir gegenüber verpflichtet fühltest. Gegenüber einer Frau, die du ja offensichtlich nicht liebtest.“

Es wirkte beinahe bedrohlich, als er sich zu ihr vorbeugte. „Aber ich habe dich geliebt. Das habe ich dir immer wieder gesagt.“

Auch sie kam ihm näher, sodass sich ihre Nasen fast berührten. „Deine Taten haben mir gezeigt, dass deine angebliche Liebe nur eine Lüge war.“

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu beherrschen. „Du hast mir meinen Sohn zwei Jahre lang vorenthalten, weil du geglaubt hast, ich hätte dich betrogen. Das ist unverzeihlich, Keisha. Irgendwann und irgendwie wird dir aufgehen, dass du einer Lüge aufgesessen bist. Dass du dich in mir getäuscht hast. Und wenn es so weit ist, solltest du mal gründlich darüber nachdenken, was du mir angetan hast. Und was du Beau angetan hast.“

Jetzt war sie es, die ihn böse anfunkelte. „Beau hat ja mich gehabt.“

„Ach ja? Und du warst für ihn Mutter und Vater in Personalunion, was?“

„Wenn’s drauf ankommt und kein Mann da ist, tut eine Frau eben, was sie zu tun hat. Hat meine Mutter auch geschafft.“

„Aber ich wäre da gewesen. Du hast mir nur nicht die Chance dazu gegeben.“ Er stützte den Kopf in die Hände. „Allmählich verstehe ich, was dahintersteckt, Keisha. Dein Vater hat dich nicht gewollt. Deshalb bist du davon ausgegangen, dass ich mein Kind nicht akzeptieren würde. Stimmt’s? Das nehme ich dir aus zwei Gründen übel. Einerseits, weil du mir nicht vertraut hast. Und andererseits, weil du mich einfach für einen solchen Schuft wie deinen Vater gehalten hast.“

Seine Worte schmerzten sie. Ganz langsam erhob sie sich. „Ich hätte heute Abend nicht herkommen dürfen. Das war ein Fehler.“

„Du hast jede Menge Fehler gemacht, Keisha. Hierherzukommen war keiner davon. In einem Punkt bin ich mir ziemlich sicher: Irgendwann bemerkst du, dass du mir unrecht getan hast. Du hast an mir gezweifelt und mir meinen Sohn verheimlicht.“ Er legte eine Kunstpause ein. „Aber eins schwöre ich dir: Du bringst Beau und mich nicht mehr auseinander.“

„Was … was soll das heißen?“

„Du hast mich schon verstanden. Wenn du mein Kind von mir fernzuhalten versuchst, zerre ich dich vor Gericht und kämpfe ums Sorgerecht. Und zwar ums alleinige Sorgerecht.“

Mit offenem Mund starrte sie ihn an. „Du wärst imstande, mir mein Kind wegzunehmen?“

„Hast du es mit mir nicht genauso gemacht? Was hast du mir nicht alles weggenommen! Die Schwangerschaft durfte ich nicht miterleben, ich konnte nicht bei Beaus Geburt dabei sein. Wie gerne hätte ich seine ersten Schritte gesehen und seine ersten Worte gehört! All das hast du mir genommen. Deshalb lautet meine Antwort: Ja. Ja, ich würde dir Beau wegnehmen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und es würde mir gelingen, denn ich habe die Mittel dazu. Wer Krieg will, kann Krieg bekommen.“

Nervös strich sie sich übers Haar. „Ich will doch gar keinen Krieg. So ein Riesenstreit ist bestimmt nicht die Lösung, Canyon.“

„Da bin ich ganz deiner Meinung. Trotzdem solltest du wissen, wozu ich imstande bin, wenn es sein muss.“ Er stand auf. „Detective Render hat übrigens angerufen, als du oben gewesen bist. Er kommt morgen gegen Mittag vorbei, um mit dir zu sprechen.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Ach ja, Pam hat auch angerufen. Du weißt schon, Dillons Frau.“

„Ja, ich weiß. Und?“

„Wir sind morgen zum Frühstück eingeladen. Um neun.“

„Canyon, ich glaube nicht …“

„Schätzchen, im Moment ist es mir ziemlich egal, was du glaubst oder was du nicht glaubst. Es ist eindeutig an der Zeit, dass meine Familie meinen Sohn kennenlernt.“

Entschlossen schaute sie ihn an. „Na schön, ich komme mit. Aber ich werde ihnen nichts vormachen.“

„Was denn vormachen?“, fragte er gefährlich leise. „Dass wir uns lieben? Dass wir eine heile Familie sind? Dass du mich nicht abgrundtief hasst, weil du glaubst, ich hätte dich betrogen? Nein, Keisha, das wäre das Letzte, was ich will. Du sollst niemandem vormachen, dass du mich liebst. Denn ich werde bestimmt auch niemandem vormachen, dass ich dich liebe.“

Keishas Herz schlug so heftig, dass es schmerzte. Also würde seine Familie nun erfahren, wie sehr er sie hasste. „Na schön“, erwiderte sie schwach. „Es ist spät geworden. Ich will ins Bett. Wärst du noch so nett, die Sachen aus dem Auto zu holen?“

Auf der Fahrt zu Canyons Anwesen hatten sie noch das Nötigste besorgt, weil Keisha nichts aus ihrer Wohnung hatte mitnehmen wollen. Nach dem Einbruch war ihr dort alles verschmutzt und besudelt erschienen.

Morgen würde sie den Rest einkaufen, bevor sie mit Beau in einem Hotel abstieg. Gleich nachdem sie mit Detective Render gesprochen hatte. Denn es stand fest, dass sie so schnell wie möglich umziehen würde.

Noch eine Nacht in einem Haus mit Canyon – das war für sie die reinste Horrorvorstellung!

Etwa eine Stunde später ging Canyon hoch in sein Schlafzimmer, aber an Schlaf war nicht zu denken. Die Wut hielt ihn wach. Wie hatte Keisha es wagen können, ihm so viel wegzunehmen? Ihr Vertrauen, ihre Liebe. Sogar den gemeinsamen Sohn. Und all das, weil sie einer Lügnerin mehr Glauben schenkte als ihm!

Plötzlich klingelte sein Handy. „Hallo?“, meldete er sich.

„Hallo, ich bin es, Dillon. Ich hoffe, du warst noch wach. Wollte nur kurz fragen, ob alles in Ordnung ist.“

Canyon richtete sich im Bett auf. Nach dem Tod ihrer Eltern, ihrer Tante und ihres Onkel war Dillon zum Vormund für alle minderjährigen Westmorelands ernannt worden. Auch die älteren hatten ihn als Vaterersatz betrachtet. Diese Rolle war für ihn nicht immer leicht gewesen. Mit Schaudern dachte Canyon daran zurück, wie die Zwillinge Adrian und Aiden sowie Bane und Bailey in ihren Pubertätsjahren jede Menge Probleme gemacht hatten.

Obwohl seitdem viele Jahre vergangen waren und alle Westmorelands längst erwachsen waren, war Dillon so etwas wie das heimliche Familienoberhaupt geblieben. Wer Rat oder Hilfe brauchte, konnte sich auf ihn verlassen. Er merkte genau, wenn einer der „Kleinen“ in Schwierigkeiten steckte. So gesehen kam sein Anruf nicht völlig unerwartet.

„Ja, alles in Ordnung, Dillon“, antwortete Canyon. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Momentan wenigstens. Wie es morgen aussieht, ist eine ganz andere Frage. Wenn man bedenkt, wie Keisha und ich zueinander stehen …“

„Wie steht ihr denn zueinander?“

Canyon seufzte tief. „Sie hasst mich, und ich hasse sie.“

„Hass ist ein sehr starkes Wort, Canyon. Ich glaube nicht, dass du irgendjemanden wirklich hassen könntest. Das liegt gar nicht in deiner Natur. Vielleicht magst du mal jemanden nicht. Aber sicherlich hasst du niemanden.“

Nachdenklich zog Canyon die Stirn in Falten. Sein großer Bruder schien ihn wieder einmal besser zu kennen als er sich selbst. „Schon gut, schon gut, du hast recht. Ich hasse sie nicht. Aber ich mag sie nicht.“

„Nein. Weil du sie nämlich liebst.“

Canyon verdrehte die Augen. „Ich habe sie mal geliebt. Doch sie hat diese Liebe zerstört.“

„Wodurch, wenn ich fragen darf?“

„Verdammt, Dillon, ich habe einen Sohn. Einen Sohn, den sie mir verheimlicht hat. Sie hätte so viele Gelegenheiten gehabt, mir reinen Wein einzuschenken; sie hat es nicht getan. Kein Anruf, keine E-Mail, kein Brief. Und sie fühlt sich mit diesem Verhalten im Recht, weil ich sie ja angeblich betrogen habe. Das glaubt sie tatsächlich heute noch. Und deshalb ist sie der Meinung, ich hätte überhaupt keine Rechte, was unseren Sohn angeht. Ich habe die ersten zwei Jahre seines Lebens verpasst. Die hat sie mir genommen. Kannst du dir vorstellen, die ersten zwei Jahre im Leben deines Sohnes Denver verpasst zu haben?“

Einen Moment lang herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann sagte Dillon leise: „Nein, das kann ich nicht.“

Dillon wäre jedoch nicht Dillon gewesen, wenn diesem Zugeständnis nicht in der nächsten Sekunde ein vernünftiger Rat gefolgt wäre – egal, ob er in diesem Moment gewünscht war oder nicht.

„Du solltest die Angelegenheit mal von der anderen Seite betrachten“, sagte er.

„Wie meinst du das?“, erkundigte sich Canyon.

„Was, wenn sie sich entschieden hätte, das Kind nicht zu bekommen?“

Canyon schloss die Augen. Für ihn ein schrecklicher Gedanke! „Dann … dann würde ich sie richtig hassen.“

„Mit anderen Worten: Wie sie’s macht, ist es verkehrt.“

„Verflixt, Dillon! Nimm sie nicht auch noch in Schutz!“

„Nein, das tue ich nicht. Denk trotzdem ruhig mal drüber nach. Keisha hat gedacht, du hättest sie betrogen. Und wenn du ehrlich bist, musst du eins zugeben: Alle Indizien haben gegen dich gesprochen. Dazu die Aussage dieser Bonita …“

„Ja, aber Keisha hätte mir vertrauen müssen!“

„Drehen wir den Spieß mal um. Stell dir vor, du wärst unerwartet früh nach Hause gekommen und hättest alles so vorgefunden: ein nackter Mann in deinem Bett, Keisha nur mit einem Handtuch bekleidet. Was hättest du gedacht?“

„Ich …“

„Schlaf gut, Canyon. Ich freue mich darauf, morgen dich und deine kleine Familie zu begrüßen.“

Seine kleine Familie!

„Gute Nacht, Dil.“ Er legte auf und strich sich übers Gesicht. Danke für deine Weisheiten, Dil! Jetzt würde Canyon erst recht nicht schlafen können.

5. KAPITEL

„Aufwachen, Mommy.“

Keisha zwang sich, die Augen zu öffnen, und blinzelte. Ihr Sohn schaute sie fröhlich lächelnd an. Er hatte die ganze Nacht brav durchgeschlafen. Zärtlich umarmte sie ihn.

Der Kleine lachte. „Großes, großes Bett, Mommy.“

„Ja, sehr groß.“ Sie nahm Beau für eine Morgenwäsche mit ins Bad. Er war wirklich schlau für sein Alter, fand sie. Aus der Kindertagesstätte kannte sie andere Zweijährige, die noch nicht so weit waren wie er und nicht so gut sprachen.

Gerade kamen sie wieder aus dem Bad, als es an der Tür klopfte. Keisha warf sich rasch etwas über und rief: „Herein!“

Canyon trat ein.

Trotz der frühen Stunde sah er umwerfend aus. In den Jeans und dem Westernhemd wirkte er wie ein Cowboy aus einem Hollywood-Streifen – breitschultrig, muskulös und topfit. Unwillkürlich musste sie an früher denken. An die wilden Liebesnächte, wenn sie …

„Na, wie geht’s euch heute Morgen?“, fragte er.

Sie war froh, dass er ihren Gedankenfluss unterbrochen hatte. Schließlich wollte sie Vergangenes vergessen sein lassen.

Sein breites Lächeln verwunderte sie. Warum hatte er nur so gute Laune? Gestern Abend hatte das noch ganz anders ausgesehen!

Dann fiel es ihr ein. Natürlich, wegen Beau! Vor seiner Verwandtschaft wollte Canyon sich nicht verstellen, aber für seinen kleinen Sohn zog er freiwillig eine Show ab.

„Dad!“

Bevor sie den Kleinen zurückhalten konnte, stürmte er auf Canyon zu. Der lachte laut und hob seinen Sohn in die Luft, was Beau mit einem Freudenschrei quittierte.

Keisha konnte nicht fassen, wie schnell Canyon Beaus Vertrauen gewonnen hatte. Normalerweise fremdelte der Kleine eher. Und bis gestern war sein Vater ja ein Fremder für ihn gewesen.

Noch immer hielt Canyon seinen Sohn in den Armen. Dabei betrachtete er jedoch Keisha sehr eingehend, das bemerkte sie genau. Und es war keine Wut, die in seinen Augen aufblitzte. Es schien eher Begehren zu sein …

„Seid ihr beiden schon fit?“, wollte er wissen.

„Na ja, geht so. Du bist ja ziemlich früh dran.“

„Frühstück bei Dillon, hast du’s vergessen?“, meinte er und setzte Beau ab. „Du kommst doch mit? Oder hast du es dir etwa anders überlegt?“

Als ob er ihr eine Wahl ließe! „Wir kommen mit, aber du hast doch neun Uhr gesagt. Und jetzt ist es nicht mal sieben.“

„Der frühe Vogel fängt den Wurm. Ich bin schon um fünf aufgestanden und habe in meinem Fitnessraum trainiert. Und gleich geht’s auf einen kleinen Ausritt in den Canyon. Das mache ich jeden Samstagmorgen.“

„Großes Bett, Dad.“ Beau streckte die Arme aus, und Canyon musste lachen.

„Meins ist sogar noch größer“, erwiderte er schmunzelnd.

„Größer?“, fragte Beau staunend.

„Kaum zu glauben, was?“, gab Canyon zurück. Danach sagte er sich zu Keisha: „Ich lasse euch mal eine Stunde Zeit, damit ihr euch fertig machen könnt. Und anschließend führe ich euch ein bisschen im Anwesen herum.“

„Das ist nicht nötig“, winkte Keisha ab.

„Oh doch. Beau wird in Zukunft eine Menge Zeit bei mir verbringen. Deshalb will ich dir zeigen, dass ein kleines Kind hier völlig sicher ist.“

Er hatte das durchaus freundlich gesagt und dabei gelächelt. Doch Keisha war die Entschlossenheit in seinem Blick nicht entgangen. Was er gestern gesagt hatte, hatte er genauso gemeint. Er würde sich seinen Sohn nicht wegnehmen lassen.

„Also gut“, lenkte sie ein. „Wenn du zurückkommst, sind wir fertig.“

Er zog eine Braue hoch und schien erstaunt zu sein, dass sie so schnell nachgegeben hatte. Aber sie war ja nicht dumm. Sie wollte ihre Energie nicht auf Nebenkriegsschauplätzen verschwenden. „Komm, Beau, ziehen wir uns an.“

„Dads großes Bett sehen, Mommy.“

Das hätte sie auch gerne gesehen! Aber das war in diesem Moment unwichtig. „Später, Beau“, erklärte sie ihrem Sohn. „Wir müssen uns zuerst anziehen, weil dein Daddy nachher mit uns wegfährt.“

Verwirrt schaute er sie an. „Mein Daddy?“

„Ja“, antwortete sie.

Offensichtlich hatte Beau das Wort Dad als Canyons Eigennamen aufgefasst, nicht als Bezeichnung für Vater. Doch das Wort Daddy für Vater – das kannte er aus der Kindertagesstätte, wenn seine Spielgefährten abgeholt wurden. Nun strahlte der Kleine Canyon an. „Großes Bett sehen, Daddy-Dad.“

Canyon lachte schallend. „Das kriegst du noch zu sehen, Kleiner, aber nicht jetzt.“ Damit wandte er sich an Keisha: „Danke.“

Dein Daddy, hatte sie gesagt. Das wusste er wirklich zu schätzen. Und heute würde er Beau seiner Familie vorstellen. Bei dem Gedanken wurde er richtig aufgeregt.

Nach einer Stunde kehrte er von seinem Ausritt zurück. Er war immer noch ein wenig verunsichert, doch zugleich erfüllte ihn eine tiefe innere Ruhe. Übers Land und durch den Canyon zu reiten hatte stets eine wunderbar erholsame Wirkung auf ihn. Die hundert Morgen waren nicht nur sein Erbe und sein Vermächtnis, sondern auch ein Quell des Trostes und der Erbauung für ihn. Und eines fernen Tages würde er das alles seinem Sohn hinterlassen.

Beau.

Wie merkwürdig es war, plötzlich einen Sohn zu haben. Aber wie beglückend! Ihn zu sehen, ihn zu berühren, mit ihm zu lachen – Canyon empfand die Vatergefühle geradezu als berauschend. Und wie er Keisha bereits klargemacht hatte: Er würde sich sein Kind nicht wegnehmen lassen.

Es war zu früh, um einzuschätzen, wie sie mit seinen Forderungen umgehen würde. Für ihn zählte jedoch ohnehin nur, eine gute Beziehung zu seinem Kind aufzubauen. Und zwar ab sofort. Er hatte genug Zeit verloren.

Mit Keisha würde er sich irgendwie arrangieren müssen, auch wenn es ihm sicher nicht leichtfiel. Zwei Jahre hatte er bloß wegen ihres Starrsinns verloren! Das machte ihn wütend! Dann musste er jedoch an Dillons Worte denken. Sie hätte sich auch gegen das Kind entscheiden können. Doch das hatte sie zum Glück nicht getan.

Als Canyon das Haus betrat, kamen Keisha und Beau gerade die Treppe herunter. Am liebsten wäre der Kleine seinem Vater sofort entgegengestürmt, aber Keisha hielt ihn an der Hand fest. „Nein, Beau. Immer daran denken: Stufe für Stufe. Nicht die Treppe hinunterrasen.“

„Ja, Mommy.“

Canyon konnte die Augen nicht von Keisha abwenden. Sie trug Jeans und eine schlichte Bluse und sah darin absolut umwerfend aus. Nach der Schwangerschaft hatte sie offenbar nicht alle Pfunde wieder verloren, aber er fand das gut so. Ihr Körper war eine Spur üppiger und dadurch sogar noch verlockender …

Sofort wischte er diesen Gedanken beiseite. Eine Beziehung zu einer Frau, die kein Vertrauen zu ihm hatte, kam überhaupt nicht infrage! Und Keisha hatte ja nun wirklich bewiesen, wie wenig sie ihm vertraute.

Kaum hatte Beau die letzte Treppenstufe bewältigt, lief er Canyon entgegen. „He, langsam, kleiner Mann“, ermahnte Keisha ihn. „Du kennst unsere Regel: Im Haus wird nicht gerannt.“

Der Kleine blieb stehen und blickte Keisha an. „Nicht unser Haus.“

Canyon lachte auf, verstummte bei Keishas finsterer Miene aber sofort wieder. „Egal, wem das Haus gehört, du Schlauberger“, sagte sie zu Beau, „es wird drinnen nicht gerannt. Haben wir uns verstanden?“

Ihr Sohn nickte fügsam, ging mit betont langsamen Schritten auf Canyon zu und breitete die Arme aus. „Hochnehmen, Daddy-Dad.“

Autor

Nancy Warren
Nancy Warren hat mehr als 20 erotische und witzige Liebesromane mit großem Erfolg veröffentlicht. Ihren großen Durchbruch hatte sie im Jahr 2000, als sie den Harlequin Blaze-Wettbewerb für bisher unveröffentlichte Autoren gewann. Daraufhin erhielt sie sogleich den Auftrag, drei Romane zu verfassen. Es folgten weitere Preise bei etlichen Wettbewerben. Zudem...
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