Cora Collection Band 54

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SEINE HOHEIT, DER VERFÜHRER von KATE HARDY
Für wen hält dieser gut aussehende Fremde sich – für einen Prinzen? Er verlangt, das Foto zu löschen, das Indigo von ihm gemacht hat! Doch noch am selben Abend entdeckt sie schockiert: Tatsächlich ist der Fremde ein Prinz – Kronprinz Lorenzo Torelli …

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VERLIEBT IN DEN BRUDER DES PRINZEN von JANETTE KENNY
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  • Erscheinungstag 08.07.2022
  • Bandnummer 54
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508766
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kate Hardy, Carol Marinelli, Janette Kenny

CORA COLLECTION BAND 54

1. KAPITEL

Eigentlich dürfte sie nicht hier sein.

Lorenzo wusste natürlich, dass Touristen wichtig waren. Denn ohne die Eintrittsgelder für die Besichtigung des Herrenhauses und der Gärten von Edensfield Hall hätte sein alter Schulfreund Gus niemals das alte Anwesen seiner Familie halten können. Allein die Instandhaltung des Dachs verschlang jedes Jahr riesige Summen!

Das Anwesen war aber nur zu bestimmten Zeiten für die Öffentlichkeit zugänglich, und heute waren definitiv keine Besucher erlaubt. Trotzdem wanderte eine junge Frau in unförmiger schwarzer Hose und Tunika ganz unverfroren auf dem Anwesen umher. Sie trug eine Kamera um den Hals und blieb immer wieder stehen, um ein Foto zu machen. Eigentlich ging ihn das alles nichts an. Aber dann drehte die Frau sich um, sah ihn – und fotografierte ihn.

Lorenzo würde nicht dulden, dass eine geldgierige Wildfremde Fotos von ihm machte. Schließlich war er extra nach Edensfield gekommen, um sich eine Weile der Öffentlichkeit zu entziehen. Er brauchte dringend eine kleine Auszeit, um vor der anstehenden Krönung noch einmal zur Ruhe zu kommen.

Er ging direkt auf sie zu. „Sie haben mich fotografiert. Bitte löschen Sie die Datei.“

Die Frau wirkte überrascht. „Aber warum denn?“

Wusste die Fremde wirklich nicht, wer er war? Lorenzo, genauer gesagt Seine Königliche Hoheit Prinz Lorenzo Torelli vom zwischen Italien und Frankreich gelegenen Fürstentum Melvante, würde nach der Abdankung seines Großvaters im nächsten Monat die Regentschaft übernehmen. Alle wichtigen Zeitungen in ganz Europa hatten darüber berichtet und Fotos von ihm abgedruckt. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass irgendjemand nichts davon mitbekommen hatte.

„Ihre Kamera bitte.“ Er streckte die Hand aus.

„Nein, tut mir leid, das geht nicht“, erwiderte die Frau gelassen. „Ich gebe mein Handwerkszeug grundsätzlich nicht aus der Hand.“

„Sie geben zu, dass Sie Klatschreporterin sind?“, fragte Lorenzo überrascht.

„Klatschreporterin?“ Sie lächelte spöttisch. „Natürlich nicht. Warum sollte sich denn die Klatschpresse für Sie interessieren?“

„Ich werde nicht gerne fotografiert“, erwiderte er, ohne darauf einzugehen. „Außerdem ist das Anwesen heute Nachmittag nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Wenn Sie die Fotodatei vernichtet haben, begleite ich Sie gerne hinaus.“

„Aber ich schade doch niemandem!“

Lorenzo war es gewohnt, dass man ohne Widerrede tat, was er sagte. Dass die Fremde sich weigerte, ihr Vergehen einzusehen, machte ihn wütend. Höflich, aber kühl sagte er: „Madam, das Anwesen steht Besuchern heute Nachmittag nicht offen. Sie halten sich also unerlaubterweise hier auf.“

„Tatsächlich?“ Ihre tiefblauen Augen blitzten.

„Bitte löschen Sie die Bilddatei.“

Die Frau verdrehte die Augen, nahm die Kamera in die Hand und löschte wie verlangt das betreffende Bild. „Zufrieden?“, fragte sie.

„Ja, vielen Dank.“

Die Fremde neigte den Kopf zur Seite und sagte: „Kleiner Tipp für die Zukunft: Versuchen Sie’s mal mit einem Lächeln.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging davon. Und plötzlich hatte Lorenzo das Gefühl, er habe etwas falsch gemacht.

Wahrscheinlich war der Mann ein Freund von Gus, er schien ungefähr im selben Alter zu sein wie Lotties älterer Bruder. Und möglicherweise hatte er einfach nur die Privatsphäre der Familie schützen wollen. Vielleicht hätte Indigo ihm erklären sollen, dass sie keine Touristin war, sondern eine Freundin der Familie, die an einem Restaurierungsprojekt auf dem Anwesen arbeitete. Andererseits ging es ihn nichts an, was sie tat, und seine Nörgelei hatte ihr auch nicht gefallen.

Indigo hatte ihn aus einem Impuls heraus fotografiert, weil er ausgesehen hatte wie ein dunkler Engel – ein Motiv, das sie für ihre Arbeit verwenden könnte. Sein Gesichtsausdruck hatte ihr Interesse geweckt und sie angezogen. Wie er wohl aussah, wenn er lächelte?

So schroff, wie er reagiert hat, könnte man glatt meinen, er sei ein weltberühmter Promi, dachte sie. Dabei war er wahrscheinlich einfach nur ein stinklangweiliger Banker.

Indigo verdrängte den Gedanken an den Fremden und ging zum Haus. Ihre Arbeit war jetzt wichtiger. Heute wurde das alte Buntglasfenster aus der Bibliothek in das Zimmer gebracht, das Gus ihr zum Arbeiten zur Verfügung stellte. Indigo hatte schon einen kurzen Videofilm für die Webseite von Edensfield Hall fertiggestellt, in dem erklärt wurde, was mit dem Fenster passierte. Außerdem hatte sie versprochen, täglich in einem Blog über die Fortschritte ihrer Arbeit zu berichten, um die Touristen mit einzubinden. Es machte ihr nichts aus, wenn Menschen mit ihr ins Gespräch kamen, während sie arbeitete. Im Gegenteil: Sie liebte es, andere an ihrer Leidenschaft für Buntglas teilhaben zu lassen.

Und was den Fremden mit dem Engelsgesicht anging – sollte er doch tun, was er wollte.

Lorenzo war noch immer verstimmt wegen des Zwischenfalls mit der Klatschreporterin, als er zum Dinner hinunterging. Er betrat den Salon – und konnte es nicht fassen. Die Reporterin befand sich mitten unter den Gästen. Nur dass sie statt der unförmigen Hose und der Tunika jetzt ein leuchtend rotes Etuikleid trug, kürzer als alle anderen Kleider im Raum. Dazu trug sie von allen Anwesenden die extravagantesten Schuhe: rot, glänzend und mit schwindelerregend hohen Absätzen.

Offenbar wollte sie, dass man sie ansah. Aber wie hätte jemand auch den Blick von ihr wenden können?

Das Haar, das sie nachmittags streng aus dem Gesicht frisiert getragen hatte, fiel ihr nun in seidigen dunklen Locken auf die Schultern. Mit einem bodenlangen grünen Kleid aus Samt und Seide wäre sie das perfekte Modell für ein Gemälde von Rossetti gewesen.

Einerseits waren Lorenzo seine oberflächlichen Gedanken fast selbst peinlich, andererseits war die junge Fremde eine der schönsten Frauen, die ihm je begegnet waren. Er musste unbedingt herausfinden, wer sie war und was sie hier tat. Nachdem er ein paar höfliche Floskeln mit Gus ausgetauscht hatte, fragte er betont beiläufig: „Wer ist eigentlich die junge Frau in Rot?“

„Wer?“ Gus folgte seinem Blick und fügte lächelnd hinzu. „Ach so, das ist Indigo.“

Wie konnte Gus nur so ruhig und gelassen bleiben? Lorenzo wurde schon bei ihrem Anblick unerträglich heiß.

„Sie ist eine von Lotties engsten Freundinnen. Die beiden kennen sich noch aus der Schule.“

Das überraschte Lorenzo, denn Indigo wirkte nicht, als stamme sie ebenfalls aus einer Adelsfamilie.

„Sie ist aus beruflichen Gründen hier“, erzählte Gus. „Sie restauriert ein Buntglasfenster aus der Bibliothek, und meine Mutter hat sie gebeten, Ideen für ein neues Buntglasfenster zu entwickeln. Deshalb hat sie überall auf dem Anwesen Fotos gemacht.“

Jetzt wurde Lorenzo einiges klar. „Ich verstehe.“

Gus bemerkte seinen Gesichtsausdruck. „Los, spuck’s aus. Was hast du angestellt?“, fragte er amüsiert.

„Ich habe sie heute Nachmittag beim Fotografieren ‚ertappt‘ und wollte … ähm … sie zum Ausgang begleiten, weil ich dachte, sie sei eine Klatschreporterin.“

Gus lachte. „Na, da hat sie dir sicher ordentlich die Meinung gesagt. Unsere Indi ist nämlich ein ziemlicher Freigeist und lässt sich nicht gerne herumkommandieren.“

Lorenzo verzog das Gesicht. „Ich sollte mich wohl bei ihr entschuldigen.“

„Das würde ich dir auch raten. Sie ist nämlich ziemlich … eigen. Ich werde Lottie bitten, euch einander vorzustellen.“ Er winkte seine Schwester herbei. „Lottie, wärst du so nett, Lorenzo mal Indi vorzustellen?“

„Na klar.“ Lottie hakte sich bei Lorenzo ein und führte ihn zu Indigo hinüber. „Indi, das hier ist Lorenzo Torelli, ein alter Freund der Familie. Lorenzo, das ist Indigo Moran, die coolste Frau, die ich kenne.“

Indigo lachte. „Aber nur, weil du in einer Welt voller Wichtigtuer lebst. Eigentlich bin ich ziemlich normal.“

Nein, dachte Lorenzo. Du bist nicht normal. Du bist etwas ganz Besonderes. „Gus sagt, Sie und Lottie seien zusammen zur Schule gegangen.“

„Bis ihr mit vierzehn die Flucht aus dem Internat gelang, sozusagen“, erzählte Lottie. „Indi war einfach toll. Sie hat Karikaturen von den fiesen Mädchen gezeichnet, die mich gemobbt haben, und hat die überall in der Schule aufgehängt. Es fällt deutlich schwerer, gemein zu sein, wenn alle mit dem Finger auf einen zeigen und lachen.“

Indigo zuckte die Schultern. „Tja, eine spitze Feder kann sehr wirkungsvoll sein.“

Jetzt verstand Lorenzo, was Gus mit „ziemlich eigen“ gemeint hatte. Und nach ihrer Bemerkung über die „Welt voller Wichtigtuer“ konnte er sich gut vorstellen, wie sie ihn selbst darstellen würde.

„Darf ich unhöflich sein und euch allein lassen?“, fragte Lottie.

„Natürlich“, versicherte Indigo sofort.

Ihr Lächeln verschlug ihm den Atem, und er fühlte sich nervös wie ein kleiner Schuljunge. „Ich, ähm, ich möchte mich entschuldigen.“

„Wofür?“

„Für mein Verhalten heute Nachmittag.“

Wieder zuckte sie die Schultern. „Ach, machen Sie sich deshalb keine Gedanken.“

Doch Lorenzo war seit der frühesten Kindheit eingebläut worden, wie wichtig gute Manieren und Höflichkeit waren. „Ich wusste nicht, dass Sie eine Freundin der Familie sind. Andererseits hätten Sie mir die Situation auch erklären können.“

„Warum hätte ich das tun sollen? Sie hätten sich ja ebenfalls widerrechtlich auf dem Anwesen aufhalten können.“

„Eins zu null für Sie.“ Indigos Temperament gefiel ihm. Er konnte es nicht leiden, wenn Menschen ihm sofort in allem zustimmten. „Gus hat mir erzählt, dass Sie ein Fenster der Bibliothek restaurieren.“

„Ja, das stimmt.“

„Sie sehen gar nicht aus …“ Lorenzo unterbrach sich. „Ach, vergessen Sie bitte, dass ich das gesagt habe.“

Als sie lächelte, ließ das Funkeln ihrer Augen sein Herz schneller schlagen. „Ich sehe nicht aus wie eine Glasrestauratorin? Oder wie jemand, der mit Lottie zur Schule gegangen ist?“

Beides. Lorenzo lächelte verlegen, ohne etwas zu erwidern.

„Verstehe.“ Indigo wirkte sehr amüsiert. „Also zuerst die Schule“, fuhr sie in genau dem vornehmen Tonfall fort, in dem auch Lottie sprach. „Wir haben uns kennengelernt, als ich elf war. Wir waren im selben Schlafraum, zusammen mit Lolly und Livvy. Eigentlich hätten wir so etwas wie die vier Musketiere sein können, nur dass mein Name leider nicht mit L anfängt. Außerdem habe ich nicht viel für bösartiges Schikanieren übrig.“ Jetzt sprach sie wieder mit ihrem normalen Akzent.

„Ich hoffe, Sie dachten heute Nachmittag nicht, ich wollte Sie schikanieren“, sagte Lorenzo.

„Bitte vernichten Sie das Foto“, äffte sie ihn nach, lächelte aber dabei. „Sind Sie eigentlich ein Filmstar?“

„Nein.“

„Sie benehmen sich aber wie ein B-Promi, der sich wichtigmachen möchte.“

Lorenzo beschloss, sie lieber nicht aufzuklären, damit sie ihre erfrischende Respektlosigkeit nicht verlor. So wie er Indigo Moran einschätzte, würde sie zwar nicht plötzlich ehrfürchtig und unterwürfig werden, aber er wollte das Risiko trotzdem nicht eingehen. „Ich fürchte, ich muss mich schuldig bekennen“, sagte er. „Aber sind Sie sicher, dass Sie wirklich Restauratorin sind und keine Staatsanwältin?“

Als sie lachte, betrachtete er ihren wunderschönen Mund und hätte sie am liebsten an sich gezogen und leidenschaftlich geküsst. Das war sehr ungewöhnlich für ihn: Normalerweise war Lorenzo Torelli immer ruhig und gelassen. Schon als Kind hatte er gelernt, sein Handeln von seinem Kopf bestimmen zu lassen und nicht von seinem Herzen. Wenn man sich an strenge Verhaltensregeln hielt, konnte man nichts falsch machen.

Doch Indigo Moran hatte etwas an sich, das ihn reizte, all seine Regeln über Bord zu werfen. Dabei war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt zum Rebellieren, schließlich würde er schon bald der König von Melvante sein.

„Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass ich wirklich Glasrestauratorin bin“, fuhr Indigo fort. „Hatten Sie sich darunter jemanden vorgestellt, der vierzig Jahre älter ist als ich, einen Bart hat und eine John-Lennon-Brille trägt, dazu schlecht geschnittene Haare und Sandalen?“

Lorenzo musste lachen. Plötzlich bemerkte er, dass sämtliche Anwesenden sie ansahen.

„Verzeihung“, sagte er zu Gus. „Ich bin gerade dabei, mich zu blamieren – und Ms. Moran mindestens zweifach zu beleidigen.“

„Nennen Sie mich bitte Indigo. Und das mit dem Beleidigen macht er ziemlich gut“, sagte sie lachend zu Gus.

„Ich freue mich schon darauf, deine Karikatur von ihm im Frühstücksraum hängen zu sehen“, erwiderte dieser.

„Noch hat er sie sich nicht verdient.“

„Aber ich arbeite daran“, versicherte Lorenzo, der das neckende Wortgefecht mit Indigo sehr genoss. Er konnte sich nicht an das letzte Mal erinnern, dass er so erfrischend respektlos behandelt worden war. Plötzlich kam ihm ein unschöner Gedanke. Würde er das nach seiner Krönung jemals wieder erleben? Oder würde ihn dann niemand mehr wie einen normalen Menschen behandeln?

„Indigo, darf ich mich beim Abendessen neben Sie setzen?“, fragte er, einem Impuls folgend.

„Tun Sie, was immer Sie möchten.“

Was für eine Ironie! Denn genau das würde er ab dem kommenden Monat nicht mehr können. Dann musste er Erwartungen erfüllen, Zeitpläne einhalten, offizielle Termine wahrnehmen. Nein, Lorenzo konnte nicht tun, was er mochte. Er musste tun, was von ihm erwartet wurde.

Seine Pflicht.

2. KAPITEL

Als zum Abendessen gerufen wurde, tauschte Lorenzo die Platzkarten so aus, dass er neben Indigo sitzen konnte.

„Sehr raffiniert, Mr. Torelli“, stellte sie fest, als er ihr den Stuhl zurechtrückte.

Lorenzo fand es sehr angenehm, dass sie ihn nicht mit seinem Titel ansprach, von dem sie ja auch nichts ahnte. „Ich finde, Ihr Name passt wirklich gut zu Ihrem Beruf“, antwortete er. Und er klingt wunderschön!

„Danke.“

„Wann haben Sie angefangen, mit Glas zu arbeiten?“

„Mit sechzehn. Ich habe parallel zur Schule Kurse genommen, dann habe ich eine Kunstakademie besucht.“

Ungewöhnlich zielstrebig für einen Teenager, fand Lorenzo. „Dann wussten Sie also schon sehr früh, was Sie beruflich machen wollten?“

„Das Ganze ist keine sehr aufregende Geschichte.“

„Erzählen Sie sie trotzdem“, entgegnete er.

„Ich wurde mit sechs Jahren aufs Internat geschickt.“

Lorenzo konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, als er sein vertrautes Zuhause verlassen hatte, um künftig unter Fremden zu leben. In seinem Fall war das sogar in einem anderen Land gewesen. Damals hatte er geglaubt, das Ganze solle vielleicht eine Strafe sein – als ob er auf irgendeine Weise schuld am tödlichen Unfall seiner Eltern gewesen sein könnte. Jetzt wusste er, dass sein Großvater damit eine gewisse Stabilität und Verlässlichkeit in sein Leben hatte bringen wollen. Und dass er ihn vor den Reaktionen der Presse hatte bewahren wollen – falls herauskommen würde, was wirklich passiert war. Doch damals war es furchtbar schmerzlich für ihn gewesen, sein Zuhause zurückzulassen. Und er war fünf Jahre älter gewesen als Indigo!

„Ich fand es schrecklich“, sagte sie jetzt leise. „Ich habe mich jede Nacht in den Schlaf geweint.“

Das hätte Lorenzo damals in seiner ersten Zeit im Internat wohl auch getan, nur dass Jungen ja nicht weinen durften.

„Erträglich war es einzig und allein wegen der Kapelle“, erzählte sie. „Sie hatte wunderschöne Fenster aus Buntglas. Wenn die Sonne hindurchfiel, erschienen die hübschesten Muster auf dem Boden. Das konnte ich mir stundenlang ansehen.“

Für Lorenzo war Musik die Rettung gewesen: das Klavier in einem der Musikräume. Er hatte die Augen geschlossen, Bach gespielt und sich vorgestellt, er sei zu Hause in der Bibliothek. „Es ist gut, wenn man etwas findet, das einem über schwere Zeiten hinweghilft“, sagte er leise.

„Ich bin öfter mal einfach verschwunden. Als mich dann eine Lehrerin in der Kapelle fand, dachte ich, sie würde böse sein, aber sie verstand mich. Sie besorgte mir Zeichenblock und Stifte. Und da habe ich gemerkt, wie viel Spaß mir das Zeichnen machte und dass ich so alles besser ertragen konnte.“

Am liebsten hätte Lorenzo sie jetzt umarmt: nicht aus Mitleid, sondern aus Mitgefühl. „Und warum sind Sie Restauratorin geworden und nicht Karikaturistin?“

„Zeichnungen sind … flach.“ Sie rümpfte ein wenig die Nase. „Glas dagegen … wie die Farben und das Licht zusammenwirken … was das für Gefühle hervorruft …“

Ihre dunklen Augen funkelten vor Leidenschaft. Und plötzlich wünschte Lorenzo, sie würde Leidenschaft für etwas ganz anderes empfinden …

Das war völlig verrückt, denn eine Beziehung kam für ihn wirklich nicht infrage. Sein Leben stellte momentan mehr als genug Anforderungen an ihn. Und auch sonst wäre eine Restauratorin, die mit Vorliebe Karikaturen ihrer Mitmenschen anfertigte, nicht gerade die vernünftigste Wahl für ein Date. Außerdem hatte sie ja vielleicht bereits einen Partner. Bei einer so schönen Frau standen die Männer sicher Schlange.

„Sie lieben Ihre Arbeit sehr, stimmt’s?“, fragte er.

„Natürlich. Sie Ihre nicht?“

„Doch, ich glaube schon“, sagte Lorenzo ausweichend. Seit seiner Kindheit war er darauf vorbereitet worden, dass er eines Tages König werden würde. Ob ihm das gefiel oder nicht, stand gar nicht zur Debatte. Es war seine Pflicht.

„Was machen Sie denn beruflich?“, fragte Indigo.

Sie wusste also wirklich nicht, wer Lorenzo war. Und er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, indem er ihr die Wahrheit sagte. „Ich bin im Familienunternehmen tätig“, erwiderte er deshalb. „Mein Großvater geht nächsten Monat in den Ruhestand, und dann übernehme ich die Leitung.“ Das stimmte tatsächlich, es war nur nicht die ganze Wahrheit.

„Dann sind Sie bestimmt ein Workaholic?“

Gezwungenermaßen … „Ja“, bestätigte Lorenzo kurz und brachte das Gespräch schnell wieder auf Indigos Arbeit als Restauratorin zurück.

Wenn Lorenzo lächelte, war er wie ausgewechselt und wirkte nicht mehr wie der Wichtigtuer vom Nachmittag. Er war richtig schön. Am liebsten hätte Indigo ihn gebeten, Modell für sie zu sitzen. Er wäre geradezu perfekt für das geplante Fenster.

„Wenn Sie das Glas so interessiert, dann sehen Sie sich nach dem Dinner doch mal meine provisorische Werkstatt an.“

„Gerne.“

Beim Essen setzten sie ihre angeregte Unterhaltung fort, und Indigo merkte, dass Lorenzo sie immer mehr faszinierte. Sie wollte ihn nicht nur zeichnen und auf Glas malen. Sie wollte ihn berühren.

Das war völlig verrückt, denn sie kannte Lorenzo Torelli doch überhaupt nicht. Außerdem war er ja vielleicht verheiratet. Auf ihren warnenden Instinkt in Bezug auf Männer, die verheiratet oder einfach nur die Falschen für sie waren, konnte Indigo sich nicht verlassen. Sie dachte an Nigel und den Riesenfehler, den sie begangen hatte.

Doch natürlich war es unfair, alle Männer als Lügner abzustempeln, die andere betrogen und fallen ließen, wie Indigos Ex und ihr Vater. Ihr Großvater war anders gewesen, und Gus war es auch. Trotzdem fiel es Indigo schwer, einem Mann zu vertrauen. Und deshalb hatte sie seit Nigel mit keinem Mann mehr geflirtet oder sich gar verabredet.

„Verraten Sie mir, was Sie gerade denken?“, fragte Lorenzo.

Auf gar keinen Fall. „Wenn ich anfange, an einem neuen Stück zu arbeiten, bin ich oft in Gedanken damit beschäftigt“, erwiderte Indigo stattdessen.

„Es ist doch gut, sich so voll und ganz auf die Arbeit zu konzentrieren.“

Stimmt, dachte sie und war froh, dass er das verstand.

„Steht Ihr Angebot noch, mir Ihre Arbeit zu zeigen?“, fragte Lorenzo beim Kaffee, der nach dem Dinner serviert wurde.

„Natürlich.“ Indigo führte ihn in die Bibliothek. „Hier haben wir heute Nachmittag das Fenster herausgenommen.“

„Auf den Brettern ist das Muster der Fenster nachgezeichnet“, stellte Lorenzo erstaunt fest.

„Ja. Viele Leute kommen extra nach Edensfield, um sich das Fenster mit der Seejungfrau anzusehen. Die möchte ich nicht enttäuschen, indem alles von Baugerüsten verdeckt ist“, erklärte sie. „Ich war in Venedig, als die Seufzerbrücke gerade restauriert wurde, dort wurde es genauso gehandhabt. Seitdem mache ich das nach Möglichkeit auch bei meiner eigenen Arbeit so.“

„Gute Idee“, fand Lorenzo.

„Sehen Sie sich die Seejungfrau mal aus der Nähe an, sie ist wunderschön. Viktorianisch, ganz im Stil von Burne-Jones, aber sie ist nicht von ihm.“

Er lächelte. „Ich fand vorhin, dass Sie in einem grünen Samtkleid wie ein Modell von Rossetti aussehen würden.“

„Danke“, sagte Indigo errötend. „Er und die anderen Präraffaeliten sind meine Lieblingsmaler.“

„Meine auch.“ Fast hätte Lorenzo ihr verraten, dass seine Familie eine große Gemäldesammlung besaß und dass Burne-Jones seine Ururgroßmutter gezeichnet hatte. Doch er wollte noch nicht verraten, wer er war.

„Mein Traum ist es, irgendwann einmal mit Glas der Präraffaeliten zu arbeiten.“ Sie lächelte wehmütig und führte ihn den Gang entlang. „Gus hat mir hier eine Werkstatt eingerichtet. Aus Sicherheitsgründen müssen wir meinen Arbeitstisch natürlich mit einem Seil absperren, weil ich mit gefährlichen Substanzen arbeite. Aber Interessierte können mit mir reden, und alles wird mit einer Kamera aufgezeichnet und dann auf die Leinwand dort drüben übertragen, sodass man mir beim Arbeiten zusehen kann.“

„Stört Sie das gar nicht?“, fragte Lorenzo.

„Es kommen ja nur an vier Tagen in der Woche für einige Stunden Besucher ins Haus“, erwiderte sie schulterzuckend. „Es wird mich also nicht sehr ablenken.“

Das Fenster war bereits in seine Einzelteile zerlegt worden. Das Stück mit der Seejungfrau lag in der Mitte des Arbeitstischs.

„Heute Nachmittag habe ich Nahaufnahmen vom gesamten Fenster gemacht“, berichtete Indigo. „Als Nächstes nehme ich es ganz auseinander, dann reinige ich es und fange mit den Reparaturen an.“

„Jetzt verstehe ich, warum die Kamera Ihr Handwerkszeug ist. Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie für eine Klatschreporterin gehalten habe.“

„Sie haben sich doch schon entschuldigt. Es ist vergeben und vergessen.“ Sie sah ihn an und fügte hinzu: „Wenn Sie es allerdings wiedergutmachen möchten, hätte ich eine Idee.“

„Und die wäre?“, fragte er misstrauisch.

„Sie könnten mir Modell sitzen.“

„Warum?“

„Weil Sie aussehen wie ein Engel“, erwiderte sie.

Lorenzo spürte, wie ihm heiß wurde. War das ihre Art, ihm mitzuteilen, dass sie ihn attraktiv fand? Fühlte sie sich ebenso zu ihm hingezogen wie er sich zu ihr? „Wie ein Engel?“, wiederholte er.

„Oder ein Prinz aus dem Mittelalter.“

Damit lag sie gar nicht so falsch. „Und was genau müsste ich dafür tun?“

„Einfach nur ruhig dasitzen, während ich Sie skizziere. Täuschen Sie sich nicht – zehn Minuten lang bewegungslos und mit demselben Gesichtsausdruck dazusitzen ist anstrengender, als man es sich vorstellt. Ich könnte stattdessen auch einfach ein Foto von Ihnen machen.“

„Haben Sie mich deshalb heute Nachmittag fotografiert?“, wollte er wissen.

Indigo nickte. „Sie haben so düster dreingeblickt wie ein dunkler Engel – die perfekte Vorlage für Luzifer.“

„Herzlichen Dank, Ms. Moran.“

Sie lächelte frech. „Das sollte ein Kompliment sein. Aber wenn es Ihnen lieber ist, können Sie auch der Erzengel Gabriel sein. Also, werden Sie mir Modell sitzen?“

Die Vorstellung war absolut verlockend, aber das Ganze war einfach zu kompliziert. Trotzdem wollte er nicht einfach rundheraus ablehnen. „Fragen Sie mich ein anderes Mal erneut“, sagte er sanft. „Und jetzt erzählen Sie mir mehr über Ihr Projekt. Wie ich sehe, ist das Gesicht der Seejungfrau beschädigt. Werden Sie den Teil des Glases ersetzen?“

„Nur als letzte Option. Ich möchte so viel vom Originalglas erhalten wie möglich. Und jetzt halte ich lieber den Mund, denn wenn ich erst einmal richtig in Gang komme, kann ich stundenlang von den kleinsten Details erzählen.“

Lorenzo lächelte. „Gut, dann erzählen Sie mir die Geschichte der Seejungfrau.“

Indigo war überwältigt, denn er schien es ernst zu meinen: Er wollte wirklich, dass sie ihm davon berichtete. „Es wird erzählt, dass der damalige Earl ein begeisterter Kartenspieler war und gegen fast jeden gewann, bis er eines Abends gegen einen dunklen Fremden spielte. Dieser entpuppte sich als der Teufel. Als Gegenleistung dafür, dass der Earl sein Anwesen und das Geld behalten durfte, das er gesetzt hatte, verlangte der Teufel, die Tochter des Earls zu heiraten. Der Earl stimmte zu, doch seine Tochter war so entsetzt, dass sie sich in den See des Anwesens stürzte. Sie verwandelte sich in eine Seejungfrau und lebte glücklich bis an ihr Lebensende.“

„Ich dachte, Seejungfrauen leben im Meer“, entgegnete Lorenzo.

Indigo lächelte frech. „Also, Mr. Torelli! Hat Ihnen denn noch niemand erzählt, dass es gar keine Seejungfrauen gibt?“

Sie betrachtete Lorenzos dunkle Augen und hätte ihn zu gerne gezeichnet. Leider hatte er Nein gesagt, aber vielleicht konnte sie ihn aus dem Gedächtnis zeichnen.

Er streckte den Arm aus und schlang sich eine ihrer Locken um den Finger. „Ich kann Sie mir sehr gut als Seejungfrau vorstellen, mit diesem wunderschönen Haar“, sagte er sanft.

Hilfe, dachte Indigo, denn nun nahm sie seine Nähe noch intensiver wahr als vorhin beim Dinner. Es wäre so einfach, jetzt den Kopf in den Nacken zu legen und sich von ihm küssen zu lassen … einfach, aber auch sehr dumm.

Sie wollte gerade vorsichtshalber einige Schritte zurückweichen, als er den Kopf neigte und mit den Lippen ihre streifte. Er küsste sie sanft, fast schüchtern, und doch ließ die Berührung sie am ganzen Körper erschauern. Dann küsste er sie noch einmal und noch einmal, bis sie ihm die Hände ins Haar schob und ihm erlaubte, sie intensiver zu küssen.

Indigo war in ihrem Leben schon oft geküsst worden, aber noch nie so wie jetzt. Nicht einmal bei Nigel, der vermeintlichen Liebe ihres Lebens, hatte es sich so sinnlich und berauschend angefühlt. Als Lorenzo die Lippen von ihren löste, hielt sie sich an ihm fest, denn sie war nicht sicher, ob sie sich allein auf den Beinen halten könnte.

„Wir sollten jetzt wirklich zu den anderen zurückgehen“, sagte sie ein wenig atemlos.

„Weil sie sonst befürchten könnten, Sie hätten mich nur unter dem Vorwand hergelockt, mir Ihre Arbeit zu zeigen?“

„Nein.“ Indigo spürte, wie sie heftig errötete. „Alle wissen, wie besessen ich von meiner Arbeit bin. Wahrscheinlich denken sie eher, dass ich Sie gerade zu Tode langweile.“

Plötzlich stellte sie sich vor, wie sie ihn ganz langsam auszog …

Jetzt reiß dich aber mal zusammen, schimpfte sie mit sich. Sie hatte ihn doch gerade erst kennengelernt! Solche wollüstigen Gedanken waren doch in dieser Phase sonst gar nicht ihre Art. Warum reagierte sie nur so stark auf ihn?

„Gehen wir“, sagte sie und hoffte, dass Lorenzo ihr nicht anmerkte, wie durcheinander sie war.

„Hat Indi dir ihr Projekt mit der Seejungfrau gezeigt?“, fragte Gus seinen Freund Lorenzo, als sie wieder bei den anderen im Salon waren.

„Ja.“

„Sie ist wirklich gut. Vielleicht solltest du ein Porträt bei ihr in Auftrag geben, für die Krönung – Glas statt Öl“, schlug Gus vor.

„Krönung?“ Indigo runzelte die Stirn. „Was für eine Krönung?“

„Oje, da bin ich wohl ins Fettnäpfchen getreten“, stellte Gus verlegen fest.

„Ist schon gut“, beschwichtigte Lorenzo ihn.

Nein, ist es nicht, dachte sie. Was hatte das zu bedeuten? Und warum wich Lorenzo plötzlich ihrem Blick aus?

Als Gus gegangen war, fragte sie noch einmal: „Was für eine Krönung?“

„Der König von Melvante übergibt nächsten Monat die Regentschaft an seinen Enkel.“

Indigo verstand es noch immer nicht. „Und?“, fragte sie.

„Also, dieser Enkel … das bin ich.“

Ungläubig sah sie ihn an. „Sie sind der zukünftige König von Melvante?“

Er nickte. „Nonno hat bereits zahlreiche seiner Pflichten auf mich übertragen. Nächsten Monat wird er achtzig, und ich möchte, dass er in seinem Alter sein Leben genießt und nicht die Last der Krone tragen muss.“

„Das ist also das ‚Familienunternehmen‘: ein Königreich“, stellte Indigo fest.

Er zuckte die Schultern. „Ob man ein Land führt oder ein Unternehmen – so groß ist der Unterschied nicht.“

Dennoch kränkte es sie, dass niemand ihr erzählt hatte, wer Lorenzo war. Immerhin war Lottie ihre engste Freundin! Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Kein Wunder, dass er nicht fotografiert werden wollte, dachte sie. Was sie jetzt erfahren hatte, änderte alles.

Als Lorenzo sie vor zehn Minuten geküsst hatte, war ihre Hoffnung gewesen, dies könnte der Anfang von etwas Wunderschönem sein. Aber ein zukünftiger König konnte sich unmöglich mit jemandem wie ihr einlassen. Gut, streng genommen war Indigo die Tochter eines Earls, doch der war mit einer Gräfin verheiratet gewesen und nicht mit Indigos Mutter. Diesen Umstand würde die Presse sofort herausfinden und sich wie wild darauf stürzen, wenn sich zwischen Indigo und Lorenzo auch nur andeutungsweise eine Beziehung entwickelte. Und dann war da noch das ganze Durcheinander mit Nigel und die Art und Weise, wie er sie fallen gelassen hatte. Das alles würde keinen guten Eindruck machen, und ein König konnte sich keinerlei Skandale leisten.

Es war dringend an der Zeit, dass ihre Vernunft wieder die Oberhand bekam. Zwischen ihnen durfte nichts mehr vorfallen, nie wieder.

„Ich werde darauf achten, Sie künftig korrekt mit Ihrem Titel anzureden, Ihre Hoheit“, sagte sie kühl. „Leider wusste ich ja bis jetzt nichts davon.“

„Hätte ich Sie korrigieren und bitten sollen, mich mit ‚Eure Hoheit Prinz Lorenzo‘ anzureden?“ Er verzog das Gesicht. „Das hätte furchtbar arrogant gewirkt.“

„Stimmt“, musste Indi zugeben. „Wo sind eigentlich Ihre Leibwächter? Wahrscheinlich sind sie einfach nur so diskret, dass sie mir nicht aufgefallen sind.“

„Hier habe ich etwas mehr Freiheit als sonst, weil ich auf dem Anwesen eines Freundes bin“, erklärte Lorenzo.

„Aber wahrscheinlich dürfen Sie nicht mal spontan spazieren gehen, ohne ein Dutzend Menschen darüber zu informieren. Bestimmt ist Ihr gesamter Tagesablauf bis in die letzte Sekunde durchgeplant.“

„Meistens schon. Aber im Moment habe ich sozusagen frei. Ich nehme meine Pflichten per Telefon und Internet wahr, aber Nonno war der Ansicht, dass ich mir ein bisschen Zeit gönnen sollte, um mich innerlich auf die Krönung vorzubereiten.“

„Ihr Großvater scheint sehr vernünftig zu sein“, stellte Indigo fest. Genau wie ihrer es gewesen war. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich so schwer von Begriff war. Ich lese einfach keine Klatschblätter.“

„Sie wären wirklich die Letzte, von der ich so denken würde“, versicherte Lorenzo.

„Sie haben mich doch heute erst kennengelernt“, erinnerte sie ihn. „Vielleicht bin ich total oberflächlich, wer weiß?“

„Etwas Menschenkenntnis dürfen Sie mir ruhig zutrauen.“

„Ja, in Ihrer Position brauchen Sie die wohl auch.“ Indigo schwieg kurz und fragte dann: „Warum werden eigentlich Sie gekrönt und nicht Ihr Vater?“

„Er und meine Mutter sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als ich zehn war“, erzählte Lorenzo.

Einen Moment lang sah sie den tiefen Schmerz in seinen Augen, dann wirkte er wieder gelassen und charmant. Aufgrund eigener Erfahrungen verstand Indigo gut, dass manche Dinge zu schmerzhaft waren, um über sie zu reden.

„Das war sicher sehr schwer für Sie – und für Ihre Großeltern“, sagte sie mitfühlend.

„Es ist lange her“, erwiderte Lorenzo. „Man findet sich damit ab.“

„Das stimmt.“

„Sprechen Sie aus Erfahrung?“

Indigo nickte. „Ja, ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen.“ Mehr sagte sie nicht, denn sie wollte kein Mitleid.

„Dann haben wir also etwas gemeinsam.“

Nicht ganz. Lorenzos Eltern hatten ihn nicht einfach im Stich gelassen, sondern waren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Indigos Vater hatte sich noch vor ihrer Geburt von ihr distanziert. Abgesehen von der finanziellen Unterstützung ihrer Ausbildung hatte er keinen Anteil an ihrem Leben genommen. Und ihre Mutter hatte sich lieber mit ihrem Liebesleben befasst als mit ihrer Familie. „Ja, aber das ist sicher auch das Einzige.“

Lorenzo lächelte. „Manchmal macht das die Dinge erst interessant.“

Und kompliziert, fügte Indigo in Gedanken hinzu. Bei seinem Kuss war sie fast dahingeschmolzen. Mit anderen Worten: Bis er Edensfield verließ und sich auf den Weg in sein Königreich machte, sollte sie unbedingt einen Sicherheitsabstand einhalten. „Und jetzt werde ich Sie nicht länger mit Beschlag belegen, damit Sie sich auch mit den anderen Gästen unterhalten können. Außerdem habe ich noch einiges zu erledigen. Also dann – es war nett, Sie kennengelernt zu haben.“

Lorenzo schenkte ihr ein Lächeln, das ganz eindeutig „Feigling!“ ausdrückte.

Ertappt, dachte Indigo. Doch sie konnte nicht zulassen, dass zwischen ihnen etwas vorfiel. Schon jetzt fühlte sie sich viel zu sehr zu ihm hingezogen.

Außerdem war er als Thronfolger sicher von klein auf zu ausgesuchter Höflichkeit erzogen worden. Sein charmantes Verhalten ihr gegenüber war also allein auf seine guten Manieren zurückzuführen. Und Indigo war schon einmal auf einen Charmeur hereingefallen – mit verheerenden Folgen. Seitdem wusste sie, dass Beziehungen sie – im Gegensatz zu ihrer Arbeit – schmerzlich enttäuschen konnten.

„Gute Nacht, Indigo!“, sagte Lorenzo leise.

Indigo drehte sich um – und floh.

3. KAPITEL

Als Lorenzo am nächsten Morgen in den Frühstücksraum kam, war Indigo nirgends zu sehen.

„Sie ist ein noch schlimmerer Workaholic als du und bestimmt schon seit dem Morgengrauen in ihrer Werkstatt“, erklärte Gus lächelnd.

Lorenzo wusste: Vernünftig wäre es, ihr aus dem Weg zu gehen. Doch er spürte die Anziehung vom Vorabend noch immer so intensiv, dass er in die Küche ging, ihr einen Kaffee besorgte und dann wie beiläufig in ihre Werkstatt schlenderte.

Indigo trug wieder ihre unförmige schwarze Kleidung und dazu eine Schutzbrille. Noch weniger sexy konnte ein Outfit kaum sein, und doch spürte Lorenzo seinen Puls im ganzen Körper, als sie aufblickte und ihn ansah.

„Hier, für Sie.“ Er reichte ihr den Becher. „Mit Milch, ohne Zucker.“

„Danke.“ Sie schob sich die Schutzbrille hoch. „Woher wissen Sie, wie ich meinen Kaffee trinke?“

„Ich habe es mir gestern beim Dinner gemerkt.“ Lorenzo hatte schon als Kind gelernt, auf Details zu achten. „Kann ich mich irgendwie nützlich machen?“ Was für eine dumme Frage, dachte er sofort.

„Nein, vielen Dank. Für meine Arbeit muss man ausgebildet sein. Außerdem benutze ich Säuren, Schmelzmittel, einen Lötkolben und scharfe Klingen. Ich hege zwar keine bösen Absichten Ihnen gegenüber – das nur für den Fall, dass Sie verkabelt sind und Ihre Leibwächter mithören –, aber Unfälle passieren nun einmal.“

„Und die Vorstellung schreckt Sie?“, fragte Lorenzo. „Ich habe Sie für einen Freigeist gehalten.“

„Das ist nicht dasselbe wie dummes, leichtsinniges Verhalten“, entgegnete sie schlagfertig.

„Stimmt auch wieder“, gab er zu. „Darf ich Ihnen heute beim Arbeiten zusehen?“

Überrascht sah Indigo ihn an. „Interessiert Sie das wirklich, oder langweilen Sie sich? Oder wollen Sie einfach nur höflich sein?“

Ihre Unverblümtheit gefiel ihm sehr. Doch da Lorenzo nicht mehr lange auf Edensfield sein würde, beschloss er, ihr reinen Wein einzuschenken. „Ehrlich gesagt, ist es ein Vorwand dafür, Zeit mit Ihnen zu verbringen. Vielleicht geht es Ihnen ja auch so.“

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, erwiderte Indigo zögernd.

Zumindest hatte sie nicht gesagt, dass sie keine Zeit mit ihm verbringen wollte. „Ich weiß, dass es keine gute Idee ist“, antwortete Lorenzo aufrichtig.

Sie sah ihn an, ohne etwas zu erwidern.

„Würde Ihre Antwort anders ausfallen, wenn ich nicht der wäre, der ich bin?“

„Wahrscheinlich schon.“

„Es war gestern unglaublich erfrischend für mich, dass mir mal jemand widerspricht und mich behandelt wie einen ganz normalen Menschen“, erzählte Lorenzo.

„Sie armer kleiner reicher Junge.“ Indigo verschränkte die Arme vor der Brust.

Er musste lächeln. „Genau das meinte ich. Ich mag Sie, Indigo, und ich glaube, Sie mögen mich auch. Was ist denn so schlimm daran, wenn sich zwei Menschen näher kennenlernen?“

„Sie haben Leibwächter und werden von Paparazzi gejagt“, erwiderte sie. „Sie sind eben kein ganz normaler Mensch. Wenn jemand Sie kennenlernen möchte oder Sie jemanden kennenlernen möchten, dann erfährt die ganze Welt davon.“

„Das hier ist ein privates Anwesen. Und die Besucher werden mich nicht erkennen, wenn sie mich hier in Ihrer Werkstatt sitzen sehen – einfach weil sie nicht damit rechnen. So wie vor ein paar Jahren auch niemand den berühmten Geiger erkannt hat, der in Washington in der U-Bahn auf einer Stradivari spielte. Es hat ihm sogar kaum jemand zugehört.“

„Sie hatten auf der Prinzenschule bestimmt eine Eins in Hartnäckigkeit“. Indigo seufzte.

Lorenzo lachte. „Sie wissen ganz genau, dass ich nicht auf einer ‚Prinzenschule‘ war, sondern auf derselben Schule wie Gus. Ich weiß, es ist verrückt“, fügte er eindringlich hinzu. „Aber ich würde einfach gerne etwas Zeit mit Ihnen verbringen. Ich habe heute frei, und Sie haben alle Hände voll zu tun. Vielleicht kann ich ja Multitasking betreiben und mich doch irgendwie nützlich machen.“

Indigo schnaubte verächtlich. „Männer und Multitasking?“

„Ja, das habe ich auf der Prinzenschule gelernt“, entgegnete er lächelnd und fuhr fort: „Ich erwarte nicht, dass Sie sich mir in die Arme werfen, weil ich der zukünftige König von Melvante bin. Aber ich muss einfach ständig an Sie denken. Dieser Kuss gestern …“ Er unterbrach sich und fuhr dann fort: „So etwas tue ich normalerweise nicht, und Sie vermutlich auch nicht.“

„Nein.“ Indigo errötete.

„Es wäre wohl das Vernünftigste, wenn wir uns aus dem Weg gehen. Aber das kann ich nicht. Sie haben so etwas an sich …“ Er atmete tief durch. „Und jetzt halte ich den Mund und lasse Sie arbeiten.“

„Vielleicht könnten Sie eine Schutzbrille aufsetzen, damit niemand Sie erkennt“, schlug Indigo vor. „Außerdem brauchen Sie Handschuhe, wenn Sie mit mir arbeiten wollen.“

Sie griff unter den Arbeitstisch und reichte ihm ein Paar Handschuhe, die perfekt passten, dazu eine Schutzbrille.

„Sie können mir helfen, die Bleiruten zu reinigen. Das kann ich Ihnen am einfachsten beibringen.“

Diese Aufgabe war ein absoluter Kontrast zu Lorenzos normalem Alltag. Fasziniert sah er zu, wie schnell und geschickt Indigo das Buntglas aus den Bleiruten löste, ohne das zerbrechliche Glas oder das weiche Metall zu beschädigen. Dann beschriftete sie alles, legte es an einem bestimmten Ort ab und machte ein Foto.

„Tun Sie das, damit alles später wieder an die richtige Stelle kommt?“, wollte er wissen.

„Ja. Außerdem dokumentiere ich sämtliche Arbeitsschritte, damit der nächste Restaurator genau weiß, was ich getan habe und warum.“

Indigo arbeitete methodisch, sauber und geschickt. Auch ihre Anweisungen waren hilfreich und klar. Und als die Besucher kamen, stellte Lorenzo fest, dass sie alles andere als unbeholfen im Umgang mit Menschen war, wie sie behauptet hatte. Ganz im Gegenteil: Sie war äußerst kommunikativ und charmant – und wusste instinktiv, ob jemand eine knappe oder eine ausführliche Antwort haben wollte. Und nie gab sie jemandem das Gefühl, ihr lästig zu fallen. Im Gegensatz zu ihm war Indigo sicher nie in der hohen Kunst der Diplomatie unterrichtet worden, sondern einfach ein Naturtalent: warmherzig und offen. Von ihr könnte er viel lernen. Und wenn er sich darauf konzentrierte, konnte er sie vielleicht auf eine Weise sehen, die ihnen beiden nicht allzu viele Probleme bescherte …

Als die Besucher gegangen waren, holte Lorenzo ihnen beiden noch mehr Kaffee.

„Danke“, sagte Indigo lächelnd. „Und es tut mir leid, wenn ich Sie heute Nachmittag praktisch ignoriert habe.“

„Sie waren eben mit den Besuchern beschäftigt. Und Sie können wirklich gut mit Menschen umgehen!“

„Sie als Prinz können das doch sicher mindestens genauso gut!“, erwiderte sie überrascht.

„Ich habe leider nicht dieselbe Empathie“, gab Lorenzo zu.

„Aber als Modell für einen Engel aus Buntglas wären Sie geradezu perfekt.“

„In einem anderen Leben würde ich nur zu gern Modell für Sie sitzen.“ Er würde ihr fasziniert bei der Arbeit zusehen, beobachten, wie sich ihre Zungenspitze vor lauter Konzentration zwischen ihre Lippen schob, und nach der Arbeit würden sie vielleicht …

„Aber in diesem Leben ist das ausgeschlossen, weil der König von Melvante stets tadelloses, absolut unverfängliches Verhalten an den Tag legen muss“, stellte Indigo mit ihrer üblichen Direktheit fest.

„Genau.“ Bis Lorenzo sie kennengelernt hatte, war das nie ein Problem für ihn gewesen. Doch jetzt hätte er am liebsten gegen jede einzelne der Vorschriften verstoßen, nach denen er sich zu richten hatte. „Und jetzt lasse ich Sie besser in Ruhe, Sie sind heute schon genug abgelenkt worden.“

Indigo lächelte. „Sie können ruhig bleiben.“

Das war sehr verlockend, denn ihr Humor und ihre offene Art gefielen ihm sehr. Doch er wusste, dass er vernünftig sein und sich auf seine künftige Rolle vorbereiten musste. Impulsives Verhalten war da nicht ratsam.

„Danke für das Angebot, aber wir sehen uns später, ja?“, sagte er deshalb und ging hinaus. Hoffentlich würde er bei ihrer nächsten Begegnung so vernünftig sein, mit Indigo umzugehen wie mit einer beliebigen Bekannten.

Um sich auf andere Gedanken zu bringen, ging Lorenzo in die Bibliothek und setzte sich an den alten Flügel. Toto, ein alter Labrador, den er schon als Welpen gekannt hatte, schmiegte sich an sein Bein. Lorenzo streichelte ihm das Fell, bevor er sich ganz der Musik hingab.

Indigo hörte Klaviermusik, dabei spielte ihr iPod ein Cello-Konzert. Erstaunt drückte sie die Pausetaste und lauschte. Ja, das war eindeutig ein Klavier. Und ein Stück, das sie nicht kannte.

Plötzlich herrschte Stille, dann erklangen ein paar Akkorde, als versuchte sich jemand zu entscheiden, was er als Nächstes spielen sollte. Indigo war neugierig geworden. Sie schaltete sämtliche Geräte aus, verschloss die Säuregefäße und ging dem Klang der Musik nach. Im Türrahmen der Bibliothek blieb sie stehen. Mit geschlossenen Augen saß Lorenzo am Flügel und spielte. In einem anderen Leben hätte er Pianist werden können, dachte sie. Doch diese Wahl hatte er nicht.

Als er das Stück beendete, klatschte sie, und er sah sie überrascht an.

„Sie spielen wunderbar!“

„Danke“, erwiderte Lorenzo fast ein wenig schüchtern.

Indigo hatte das Gefühl, dass er diesen Teil seiner Persönlichkeit normalerweise nicht zeigte. „Würden Sie noch etwas für mich spielen?“, fragte sie.

„Ich …“ Wieder lächelte er so schüchtern, dass ihr Herz einen Sprung machte. „Natürlich, wenn Sie möchten. Bitte setzen Sie sich doch.“

Indigo streifte sich die Schuhe ab und nahm auf einem der alten Chesterfield-Ledersofas Platz. Der alte Labrador kam zu ihr und legte eine Pfote aufs Polster, als wollte er sich neben sie hieven.

„Toto, du ungezogener Hund, du weißt ganz genau, dass du nicht aufs Sofa darfst“, schimpfte sie mit ihm.

Als der Hund sie tieftraurig ansah, seufzte sie und ließ sich zu ihm auf den Boden gleiten. „Also gut, dann setze ich mich eben zu dir.“

Toto wedelte erfreut und leckte ihr übers Gesicht.

Als sie ihm den Bauch kraulte, sagte Lorenzo: „Sie mögen also Hunde.“

„Ja. Aber weil ich beruflich ständig unterwegs bin, kann ich mir leider keinen halten“, erwiderte Indigo. „Ich habe gesehen, wie Toto sich vorhin an Sie gekuschelt hat – dann mögen Sie also auch Hunde?“

Er nickte. „Ja, ich habe mehrere. Sie sind allerdings etwas kleiner als Toto.“

„Prinz Lorenzo, jetzt sagen Sie aber bitte nicht, dass Sie einen Chihuahua haben!“ Indigo lächelte frech.

Lorenzo musste ebenfalls lächeln. „Den ich dann ständig mit mir herumtrage wie ein Modeaccessoire? Nein, wir haben Spaniels. Sie sind fast so alt wie Toto, aber bei Weitem nicht so gut erzogen, besonders Cäsar, mein absoluter Liebling. Wenn ich zu Hause bin, weicht er mir nicht von der Seite.“

Lorenzos Erzählungen ließen ihn sehr menschlich wirken, das gefiel Indigo.

„Was soll ich spielen?“, fragte er dann.

„Was Sie möchten“, erwiderte sie und hörte andächtig zu, als er nacheinander mehrere kurze Stücke vortrug.

„Das war traumhaft schön!“, gestand Indigo, als Stille eintrat. „Gestern sagten Sie, es sei gut, etwas zu haben, das einem über schwere Zeiten hinweghilft. Bei Ihnen war das die Musik, stimmt’s?“

Als er nickte, wäre sie am liebsten zu ihm gegangen und hätte ihn umarmt. „Haben Sie je darüber nachgedacht, Musiker zu werden?“

Lorenzo zuckte die Schultern. „Das stand nie zur Debatte. Mein Werdegang steht ja praktisch schon seit meiner Geburt fest.“

„Fühlen Sie sich nicht manchmal sehr unfrei?“, fragte Indigo stirnrunzelnd.

„Es ist nun einmal meine Pflicht, und ich werde niemanden enttäuschen.“

Also ja, dachte Indigo. Auch sie würde sich sehr unfrei fühlen in einer Welt, in der Formalitäten und Regeln alles bestimmten. „Wenn Sie tun könnten, was immer Sie wollen – was würden Sie dann tun?“, fragte sie sanft.

Lorenzos Augen wirkten plötzlich sehr dunkel. „Das hier.“ Er stand vom Klavierhocker auf, zog Indigo auf die Füße und küsste sie.

Es war noch intensiver als am Abend zuvor, und es fühlte sich einfach perfekt an. Hilfe, dachte sie mit klopfendem Herzen. Auf keinen Fall sollte Lorenzo wissen, wie stark seine Wirkung auf ihn war. Sie versuchte, mit einer ironischen Bemerkung die Situation zu entschärfen.

„Sie sind wirklich nicht schlecht, Ihre Hoheit“, sagte sie und fächelte sich Luft zu. „Haben Sie das auch auf der Prinzenschule gelernt?“

Doch ihr Ablenkungsmanöver schlug fehl: Lorenzo küsste sie erneut, so leidenschaftlich und sinnlich, bis sie seinen Kuss erwiderte.

Aber nein! Das war doch nicht richtig! „Sie … haben wohl eine Menge Übung im Küssen?“

„Indigo Moran, Sie reden entschieden zu viel“, stellte Lorenzo fest. „Aber wenn Sie unbedingt reden wollen, dann sprechen wir doch über gestern Abend – und über Ihr Kleid.“

„War damit etwas nicht in Ordnung?“, fragte Indigo stirnrunzelnd.

„Nein. Aber als ich Sie in dem Kleid sah, wollte ich Sie hochheben, mir über die Schulter legen und in mein Schlafzimmer tragen.“

Wenn er so weiterredet, mache ich noch eine Dummheit, dachte Indigo. „Das Recht der ersten Nacht?“

„Nein.“ Wieder küsste er sie. „Ich bin absolut dagegen, Menschen gegen ihren Willen zu etwas zu zwingen. Sie wie ein Neandertaler in mein Schlafzimmer zu tragen ist … nichts weiter als eine Fantasie.“

Indigo konnte sich das Ganze bildlich vorstellen – und auch das, was danach kommen würde … Sie erbebte.

„Was ist denn?“, fragte Lorenzo leise.

„Mir hat es gerade den Atem verschlagen“, gab sie zu.

„Gut. Dann wissen Sie jetzt, wie ich mich gestern Abend gefühlt habe.“

Als er ihre Lippen ganz sanft mit einer Fingerspitze berührte, erschauerte sie wieder und öffnete unwillkürlich den Mund.

Und Lorenzo lächelte frech.

Der glaubt wohl, er hätte mehr Selbstbeherrschung als ich, dachte Indigo leicht empört. Also nahm sie seine Fingerspitze in den Mund und saugte leicht daran.

Sofort wurden Lorenzos Pupillen riesig. „Touché!“, sagte er. „Indigo, wir müssen aufhören, und zwar sofort. Alles andere wäre nicht fair dir gegenüber. Nächsten Monat werde ich König von Melvante sein, und mein Leben wird sich völlig verändern.“ Gequält fügte er hinzu: „Ich kann dir keine Zukunft bieten.“

Indigo, die erst später bemerken sollte, dass sie beide plötzlich zur vertrauen Anrede übergegangen waren, erwiderte: „Ich weiß. Und auch sonst wäre ich wohl denkbar ungeeignet.“ Sie dachte an den Skandal um ihre Geburt und ihr naives Vertrauen in Nigel, der sich als verheirateter Mann entpuppt hatte. Nein, sie taugte nicht einmal zur Geliebten eines Königs. „Ich nehme an, du sollst dir eine Prinzessin suchen.“

Lorenzo verzog das Gesicht. „Ja, vermutlich werde ich mir innerhalb des nächsten halben Jahres eine Braut suchen müssen, und vermutlich eine adlige. Aber nur um eins klarzustellen: Mich interessiert es überhaupt nicht, wenn deine Eltern keine Aristokraten sind.“

„Ehrlich gesagt, mein Vater ist ein Earl“, erzählte Indigo. Als er sie überrascht ansah, fügte sie hinzu: „Leider war er mit seiner Gräfin verheiratet, als er eine Affäre mit meiner Mutter hatte und sie von ihm schwanger wurde.“

„Bist du deshalb auf dieselbe Schule gegangen wie Lottie?“

„Ja. Das war seine Art und Weise, für mich zu sorgen“, antwortete sie trocken.

„Mit Geld statt mit Aufmerksamkeit.“

Genau, dachte Indigo. „Mein Vater und ich wissen nicht so recht, wie wir mit der Existenz des jeweils anderen umgehen sollen. Ich möchte seiner Familie nicht wehtun, indem ich ihn offiziell als meinen Vater bezeichne. Immerhin bin ich das Ergebnis einer Affäre, und sie können nichts dafür, wie er sich verhalten hat.“ Sie seufzte. „Also ist es einfacher, wenn ich nicht darauf beharre – und er so tut, als würde es mich nicht geben.“

„Aber es tut dir weh“, stellte Lorenzo fest.

Merkte man ihr das noch immer an, oder war er einfach besonders einfühlsam?

Indigo zuckte die Schultern. „Eigentlich hatte ich großes Glück, denn meine Großeltern liebten mich sehr. An Liebe hat es mir also nie gemangelt, falls du das denkst.“

„Und deine Großeltern haben dich schon in so jungen Jahren aufs Internat geschickt?“

„Sie hatten keine Wahl“, erklärte Indigo. „Meine Großmutter war sehr krank, da konnten sich die beiden nicht noch zusätzlich um ein Kind kümmern.“

„Und deine Mutter?“, fragte Lorenzo stirnrunzelnd.

Sie atmete tief durch. „Als sie begriff, dass der Graf seine Frau nicht verlassen würde, hat meine Mutter mich bei ihren Eltern gelassen und sich aus dem Staub gemacht – mit dem Ehemann einer anderen Frau.“

Lorenzo wusste aus eigener Erfahrung, was Affären anrichten konnten. Durch die Affäre seiner Mutter war seine ganze Welt aus den Fugen geraten. Aber wäre sie mit dem Leben in der Adelsfamilie zurechtgekommen, hätte sie keine Affäre angefangen – und sein Vater hätte nicht darauf reagiert, indem er seinen Wagen gegen eine Mauer fuhr und sie und sich umbrachte. Vielleicht wäre Lorenzo dann mit seinen Eltern in einer glücklichen Familie aufgewachsen. Und dann hätte ich jetzt noch dreißig Jahre Zeit, bevor ich mir Gedanken darüber machen müsste, König zu werden, dachte er.

Vielleicht wäre seine Kindheit aber auch dann unglücklich geworden. Wegen der ständigen Streitereien seiner Eltern, die nach außen hin so taten, als sei alles in bester Ordnung. Doch davon würde er Indigo nichts sagen. Lorenzo erzählte grundsätzlich niemandem von den Narben, die sein Herz davongetragen hatte.

„Das muss schwer für dich gewesen sein“, sagte er.

Indigo zuckte die Schultern. „Wie gesagt, meine Großeltern haben mich sehr geliebt.“

Offenbar im Gegensatz zu ihrer Mutter. „Hast du Kontakt zu deiner Mutter?“, wollte Lorenzo wissen.

„Nein. Sie ist bei einem Segelunfall mit einer Jacht ertrunken, zusammen mit dem vierten verheirateten Mann, mit dem sie eine Affäre hatte. Mir sind von ihr nur ein paar Fotos und wenige Erinnerungen geblieben.“

So ging es Lorenzo ebenfalls, nur dass niemand die wirklichen Umstände des tödlichen Unfalls seiner Eltern kannte – außer seinem Großvater und seinen Rechtsberatern. Auch Lorenzo hatte die Wahrheit nur durch Zufall erfahren, als ihm mit achtzehn die Akten in die Hände gefallen waren. Eine Woche lang war er wie unter Schock darüber gewesen, dass sein Vater so etwas hatte tun können.

„Das muss schwer gewesen sein“, sagte er noch einmal.

„Schwerer war es, allen zu beweisen, dass ich anders bin als meine Mutter“, entgegnete Indigo.

Auch das war Lorenzo sehr vertraut: Er hatte seinem Großvater zeigen müssen, dass er nicht war wie sein Vater.

„Besonders, als ich das Internat verlassen wollte. Alles war so starr und steif, und die anderen Mädchen hatten so eine schreckliche Anspruchshaltung.“

„Was hast du unternommen?“

„Ich habe meinem Vater eine Art Businessplan überreicht. Wenn ich mit vierzehn auf eine normale staatliche Schule gehen würde, könnte er vier Jahre die Schulgebühren für das teure Internat einsparen und damit das Cottage meiner Großeltern kaufen. Wenn er sie ihr Leben lang mietfrei dort wohnen ließ, würde er seine Investition beim Verkauf des Cottages wieder herausbekommen. Eine Win-win-Situation: Er bekam Geld und ich meine Freiheit.“

Dass sie nur dank solcher Argumente eine Schule verlassen durfte, die sie gehasst hatte, versetzte Lorenzos Herz einen Stich. „Hat er sich darauf eingelassen?“

„Ja.“

Einen Moment lang sah er den tiefen Schmerz in ihren Augen. Dann lächelte sie frech. „Ich habe ihm damit gedroht, dass ich mich andernfalls so danebenbenehmen würde, dass mich sämtliche Internate Englands rauswerfen würden. Und ich habe meinen Großeltern bewiesen, dass ich anders bin als meine Mutter. Ich bin nicht einfach weggelaufen, sondern habe die richtige Entscheidung getroffen. Sobald ich alt genug war, habe ich am Wochenende im Supermarkt gejobbt. Und parallel zur Kunstakademie habe ich in einer Kneipe gearbeitet.“

„Und bestimmt hast du einen tollen Abschluss gemacht.“

Indigo neigte den Kopf. „Ich habe meine Großeltern stolz gemacht, bevor sie gestorben sind.“

Ihr Vater dagegen hatte offenbar nicht anerkannt, was sie geleistet hatte. „Indi, ich bemitleide dich nicht, aber jetzt würde ich dich am liebsten in den Arm nehmen.“

„Ist schon gut, ich bin ja schon groß.“ Sie zuckte die Schultern. „Der Graf ist eben selbst schuld.“

Allerdings, dachte Lorenzo. Der Kerl begriff offenbar nicht, was für ein Schatz seine Tochter war. „Sag mir bitte, dass ich aufhören soll“, bat er, als er sie erneut küsste.

„Was wäre die Alternative zum Aufhören, Eure Hoheit?“, fragte sie frech.

Er atmete tief durch. „Jetzt hast du meinen Blutdruck aber ganz schön in die Höhe gejagt. Willst du etwa vorschlagen …?“

„Wir wissen beide, wo wir stehen. Du, der zukünftige König von Melvante, hast keine Zeit für eine Beziehung, und mir lässt meine Arbeit auch keine Zeit dafür.“ Sie unterbrach sich. Das Ganze war doch verrückt! Gleichzeitig würde sie aber kein Risiko eingehen, weil es zeitlich begrenzt wäre, sodass sie sich nicht zu sehr auf ihn einlassen konnte. „Ich werde noch bis Ende des Monats hier sein – und du auch noch eine Weile, wenn ich mich nicht irre. Wir sind hier unter Freunden, die niemals etwas an die Klatschpresse weitergeben würden.“

„Ja, ich habe absolutes Vertrauen zu ihnen.“ Als Lorenzo ihre Hand nahm und ihr Handgelenk küsste, spürte er ihren Puls an seinen Lippen. Indigo Moran verkörperte all das, was er nicht haben konnte: Sie war wie ein frischer Wind, so lebendig – und absolut unpassend. Sie würde seine Welt ebenso sehr hassen, wie seine Mutter es getan hatte. Es würde niemals funktionieren. Gleichzeitig konnte er die intensive Anziehung zwischen ihnen nicht leugnen.

„Du schlägst mir also eine Affäre vor“, sagte er langsam.

„Eine völlig verrückte Affäre“, erwiderte sie. „Denn wir wissen beide, dass wir in der wirklichen Welt absolut nicht zusammenpassen. Wir wissen also genau, worauf wir uns einlassen, und werden damit abschließen können, ohne Schaden zu nehmen.“

Das klang so, als hätte sich einmal jemand von Indigo abgewandt und ihr dabei sehr wohl Schaden zugefügt.

„Wenn wir keine Affäre haben, müssen wir uns von jetzt an aus dem Weg gehen und ständig eiskalt duschen. Aber nur, dass das klar ist: Normalerweise mache ich mich nicht so an Männer heran“, fügte sie schnell hinzu.

„So habe ich dich auch nicht eingeschätzt. Und ich fühle mich sehr geschmeichelt“, erwiderte Lorenzo.

Sie kniff die Augen zusammen: „Aber du wirst meinen Vorschlag ablehnen?“

„Mein Verstand sagt mir, dass es keine gute Idee ist. Und ich höre grundsätzlich immer auf meinen Verstand. Aber …“ Er atmete tief durch. „Aber ich muss einfach ständig an dich denken. Und so etwas Impulsives, wie dich zu küssen, habe ich schon seit Jahren nicht mehr getan.“ Er lehnte die Stirn an ihre und fragte leise: „Wolltest du schon einmal etwas so sehr, dass du geglaubt hast, du wirst verrückt, wenn du es nicht bekommst?“

Sie schwieg, und das hatte sicher mit dem Mann zu tun, der sie verletzt hatte. Auch Lorenzo würde sich schließlich von ihr abwenden müssen. Er wollte ihr um keinen Preis wehtun, denn sie war schon genug enttäuscht und verletzt worden.

Also löste er sich von ihr, küsste sie auf die Stirn und sagte: „Ich glaube, wir sollten es lieber mit den kalten Duschen und dem Aus-dem-Weg-Gehen versuchen.“

„Aber ich habe ständig diese Bilder vor meinem inneren Auge, und du bestimmt auch.“ Als sie sich mit der Zungenspitze über den Mund fuhr, wurde ihm heiß.

„Indigo, bitte – ich versuche mich zu beherrschen.“

„Das brauchst du doch gar nicht.“ Sie streichelte ihm das Gesicht, und er küsste ihre Handfläche. „Warum sagen wir nicht, du kannst tun, was immer du möchtest – nur eine Nacht lang?“

„Ich habe Angst, dass mir nur eine Nacht mit dir nicht reichen wird“, gab er zu.

„Wir haben eine Woche, vielleicht zwei … bis du zurück nach Melvante musst. Du kannst immer noch wie geplant Zeit mit Gus verbringen und dich gedanklich auf deine Krönung vorbereiten. Und ich werde an dem Fenster weiterarbeiten. Aber dazwischen wird es genügend Freiraum geben …“

„… nur für uns beide“, ergänzte Lorenzo.

„Ja“, sagte Indigo leise.

Er setzte sich auf das Chesterfield-Sofa und zog sie auf seinen Schoß. „Ms. Moran, Ihre schlagkräftigen Argumente sind äußerst überzeugend.“

„Vielen Dank, Eure Hoheit.“ Lächelnd umfasste sie sein Gesicht und hauchte einen Kuss auf seinen Mund.

Lorenzo konnte gar nicht anders. Mit wild schlagendem Herzen zog er Indigo an sich und erwiderte ihren Kuss.

4. KAPITEL

Obwohl Indigo wieder zurück an ihre Arbeit gegangen war, nachdem sie die Bibliothek verlassen hatte, musste sie immer wieder an Lorenzo denken. Sie konnte noch immer nicht ganz fassen, worauf er und sie sich geeinigt hatten. Hatte sie jemals schon so etwas Verrücktes getan? Nachdem sie vor zwei Jahren von Nigel so schrecklich hintergangen worden war, hatte sie sämtliche Beziehungen bewusst platonisch gehalten. Und jetzt würde sie eine Affäre mit einem zukünftigen König anfangen. Einfach verrückt!

Zu Hause zog Indigo sich nie zum Abendessen um. Meist aß sie nur hastig eine Kleinigkeit, um dann schnell wieder an die Arbeit gehen zu können. Aber hier auf Edensfield war das Dinner eine wichtige Mahlzeit, und aus Rücksicht auf ihre Freundin Lottie passte sie sich den Gepflogenheiten an.

Doch was sollte sie anziehen? Das Kleid vom Vorabend hatte in Lorenzo den Neandertaler geweckt. Also würde sie heute etwas Dezenteres tragen! Auch, um ihm die Gelegenheit zu geben, es sich anders zu überlegen. Indigo zog ein Kleid an, das eine Freundin von der Kunstakademie im Stil der Zeit Edwards VII. geschneidert hatte: Es war aus nachtblauem, bodenlangem Samt, hatte einen hohen Kragen und Flügelärmel. Dazu trug Indigo eine farblich perfekt abgestimmte Seidenschärpe und Halskette und Armband aus schimmernden Kunstperlen.

Hoffentlich würde der Anblick von Lorenzo im Smoking sie nicht zu sehr aus dem Gleichgewicht bringen! Schon in normaler Kleidung sah er ja schon aus wie ein James-Bond-Darsteller …

Lorenzo spürte genau, als Indigo den Speisesaal betrat, doch er zwang sich, sich nicht umzudrehen und sie anzustarren.

Vielleicht war sie ja inzwischen zur Vernunft gekommen und hatte sich nun doch gegen eine Affäre entschieden?

Er gab sich so gelassen wie möglich, als Gus sie zu ihnen winkte. Indigos Gesicht war ausdruckslos, doch dann sah Lorenzo einen winzigen Moment lang heiße Leidenschaft in ihren Augen aufblitzen. Er blickte sie eindringlich an. Dann unterhielt er sich wieder höflich und sachlich, während es in seinem Innern brodelte.

Im Vergleich zu dem roten Kleid war Indigos Outfit wirklich sehr dezent, gleichzeitig aber unglaublich erotisch: Der weiche Samt schmiegte sich so um ihre Kurven, dass Lorenzo unbedingt mehr sehen wollte. Am liebsten hätte er die winzigen Knöpfe auf der Rückseite des Kleides einen nach dem anderen geöffnet und Indigos zarte Haut geküsst, die darunter zum Vorschein kam.

Die Vorstellung erregte ihn so sehr, dass er sich kaum noch auf das Gespräch konzentrieren konnte. Wie konnte das sein? So etwas passierte ihm doch sonst nie! Was hatte Indigo Moran nur an sich, dass er so heftig auf sie reagierte?

Und dann saß er ihr beim Dinner auch noch gegenüber, sodass sie ihm ganz nah war – und gleichzeitig unerreichbar. Wäre das Essen doch nur schon vorbei!

„Und ständig schleppt sie mich mit in irgendwelche kleinen Kirchen“, neckte Lottie gerade ihre Freundin.

„Was du total toll findest, weil sich in der Nähe garantiert eine nette kleine Teestube mit leckerem Kuchen findet“, entgegnete Indigo lächelnd.

„Stimmt, ich liebe Kuchen. Aber es ist auch schön, jemanden zu kennen, der ein Auge für Schönes hat und den Blick anderer dafür schärft.“

Lorenzo stellte fest, wie beliebt Indigo auf Edensfield war. Offenbar war sie oft hier zu Besuch. Warum waren sie sich dann nie zuvor begegnet, noch nicht einmal bei Gus’ und Maisies Hochzeit vor zwei Jahren?

Als er aufblickte, merkte er, dass sie ihn beobachtete. Ganz unauffällig und diskret hob er sein Glas, als wolle er auf sie anstoßen. Lächelnd tat Indigo es ihm nach.

Nun war Lorenzo sicher, dass sie keine Bedenken wegen der Affäre bekommen hatte. Er spürte, wie ihm innerlich vor Erleichterung und Vorfreude ganz warm wurde. So sehr, dass er sich nach dem Essen von Gus überreden ließ, ihnen auf dem Stutzflügel etwas vorzuspielen. Er entschied sich für das langsame Beethoven-Stück vom Nachmittag. Hoffentlich würde Indigo verstehen, dass er es eigentlich für sie spielte – und dabei an den Kuss dachte. Als sie leicht errötete, wusste er, dass sie verstand.

Dann ging er zu Popsongs über, bei denen alle mitsingen konnten – und stellte fest, dass Indigo im Singen schrecklich unbegabt war. Zu seiner Freude schien das aber niemandem etwas auszumachen. Sie wurde als Mitglied der Familie von allen geliebt und akzeptiert.

Irgendwann schien Indigo aufzufallen, wie laut sie mitsang, denn plötzlich verstummte sie und errötete heftig. „Ich gebe jetzt mal den Partymuffel“, sagte sie schnell. „Ich muss mich nämlich noch um die Fotos kümmern, die ich heute Nachmittag gemacht habe, und den Blog aktualisieren.“

Lottie umarmte ihre Freundin. „Arbeite nicht mehr zu viel. Du bist schließlich nicht unsere Sklavin, sondern unsere Freundin!“

„Ich weiß. Trotzdem habe ich hier auch Arbeit zu erledigen.“

„Und du liebst deine Arbeit mehr als alles andere auf der Welt“, stellte Lottie liebevoll fest.

Ihre Worte erinnerten Lorenzo wieder an den Mann, der Indigo so wehgetan hatte. Lenkte sie sich vielleicht mit Arbeiten von ihrem Schmerz ab? Auch er selbst war ein Workaholic. Vor allem, weil er seinen Großvater für die Enttäuschung entschädigen wollte, die sein Vater ihm bereitet hatte. Was idiotisch war, da so etwa ja unmöglich gelingen konnte! Lorenzo wusste das, doch er konnte nicht damit aufhören, es zumindest zu versuchen. Indigo war der einzige Mensch, den Lorenzo kannte, der das nachvollziehen konnte. Ob es ihr mit ihm ebenso ging?

Er spielte noch einige Stücke, damit sein Verhalten nicht zu auffällig sein würde. Nachdem Lorenzo sich verabschiedet hatte, ging er in Indigos Werkstatt und blieb im Türrahmen stehen. Zu seiner Verwunderung saß sie tatsächlich am Laptop und arbeitete.

„Entschuldige bitte“, sagte sie verlegen lächelnd. „Ich singe wirklich furchtbar.“

„Ich fand es schön, dass du dich so der Musik hingegeben hast“, erwiderte Lorenzo. „Außerdem musst du doch nicht in allem perfekt sein.“

Indigo nickte, wirkte jedoch nicht überzeugt. Warum war sie denn so streng mit sich? Hatte das etwas mit der schwierigen Beziehung zu ihrem Vater zu tun?

„Wie ich sehe, hast du zu tun“, sagte Lorenzo. „Dann werde ich dich in Ruhe lassen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Es sei denn, du hättest gerne einen Kaffee.“

„Einen Kaffee hätte ich wirklich gerne.“ Sie sah ihn direkt an und fügte hinzu: „Aber noch lieber hätte ich dich.“

„Wenn du nicht aufpasst, werde ich doch noch zum Neandertaler“, warnte er sie.

Indigo errötete. „Dabei habe ich doch extra ein züchtiges Kleid angezogen! Meine beste Freundin an der Kunstakademie hat es mir geschenkt. Sie hat es selbst genäht.“

„Wenn ich mir die Knöpfe auf dem Rücken ansehe, will ich sie unbedingt öffnen.“

„Ja?“ Ein freches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ich muss das hier noch korrekturlesen und hochladen. In zehn Minuten in meinem Zimmer?“ Als ihr ein Gedanke kam, biss sie sich auf die Lippe. „Aber was ist mit deinen Leibwächtern? Es ist ein komisches Gefühl, Publikum zu haben.“

„Bruno und Sergio sind absolut diskret“, beruhigte er sie. „Außerdem lassen sie mir so viel Freiraum wie nur möglich, wie zum Beispiel heute beim Klavierspielen in der Bibliothek. Sie haben auch nicht gesehen, wie ich dich geküsst habe.“ Er schwieg kurz und fragte dann: „Das Ganze soll also unter uns bleiben?“

„Ja.“ Indigo nickte. „Wir wissen beide, dass unsere Affäre zeitlich begrenzt ist und keine Zukunft hat. Außerdem sind wir hier bei Freunden zu Besuch, die ich nicht in Verlegenheit bringen möchte.“

„Ich verstehe“, sagte er lächelnd. „Übrigens hatte ich gedacht, du hättest es dir vielleicht anders überlegt.“

„Und ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.“

Lorenzo schüttelte den Kopf. „Immer, wenn mir wieder einfällt, dass ich eigentlich sehr vernünftig und ein bisschen langweilig bin, sehe ich dich an – und dann will ich dich unbedingt küssen.“

„Wenn das so ist, wäre es natürlich äußerst unhöflich von mir, dir diesen Wunsch abzuschlagen“, erwiderte sie.

„Dann sehen wir uns in zehn Minuten.“

Als Indigo zehn Minuten später in ihrem Zimmer war, war sie so aufgeregt, dass sie nicht still sitzen konnte.

Immer wieder dachte sie an Lorenzo, der jeden Moment da sein würde, und an den Beginn ihrer völlig verrückten Affäre. Wie früher als Teenager war ihr fast schwindelig vor Sehnsucht.

Denk daran, dass die Sache zeitlich begrenzt ist, rief sie sich in Erinnerung.

Es klopfte leise an der Tür.

Lorenzo.

„Herein!“, brachte sie mühsam heraus.

Er trug noch immer seinen Smoking, hatte jedoch seine Fliege gelöst und die obersten Hemdknöpfe geöffnet. Indigo fand, dass er jetzt noch ein bisschen mehr wie James Bond aussah – oder eigentlich wie Mr. Darcy aus „Stolz und Vorurteil“. Sie liebte die alte BBC-Miniserie! Dabei ist er ein zukünftiger König, dachte sie mit klopfendem Herzen. Das machte die ganze Sache noch verrückter.

Plötzlich hob Lorenzo sie hoch, wirbelte sie herum und setzte sie dann wieder ab. „Indigo Moran, ich will dich schon den ganzen Abend küssen.“

„Ich dich auch“, gestand sie. „Und wie!“

„Gut.“

Als er ihr mit der Fingerspitze übers Gesicht strich, spürte sie die Berührung im ganzen Körper.

„Küss mich, Lorenzo“, flüsterte sie.

Und das tat er: langsam und genüsslich, bis ihr ganz heiß war und sie alles um sich her vergaß. Lorenzo streifte ihr die Schärpe ab, drehte Indigo sanft herum und schob ihr das Haar aus dem Nacken. Dann strich er mit den Fingern über ihr Kleid.

„Der Samt ist so weich“, stellte er fest. „Aber deine Haut ist bestimmt noch weicher. Allerdings ist das eine Hypothese, die ich überprüfen muss. Wissenschaftliche Nachweise sind wichtig.“ Langsam begann er, die Knöpfe zu öffnen, und streichelte jeden Zentimeter Haut, den er dabei freilegte.

Plötzlich spürte Indigo seine Lippen auf ihrer Haut. „Lorenzo“, flüsterte sie erbebend.

„Du bist wunderschön“, sagte er. „Und du duftest nach Rosen.“

Sie lächelte. „Das ist mein Lieblingsduft. Im Sommer bin ich besonders gerne in den Gärten hier, weil es dann so ist, als würde man mit jedem Atemzug Rosen trinken.“

„Ich werde von nun an jedes Mal an dich denken, wenn ich Rosenduft rieche“, erwiderte Lorenzo und bedeckte ihren Rücken mit zarten Küssen.

Autor

Janette Kenny
Solange Janette sich erinnern kann, prägten fiktive Geschichten und Charaktere ihre Welt. Die Liebe zur Literatur entdeckte sie bereits als kleines Mädchen, da ihre Eltern ihr rund um die Uhr vorlasen. Ermutigt durch ihre Mutter, begann Janette schon früh zu schreiben. Anfänglich begnügte sie sich damit, ihren Lieblingssendungen neue, nach...
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