Das Geheimnis der schönen Catherine

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Dass Catherine Singleton die reiche Erbin einer australischen Diamantmine sei, ist nicht das einzige Gerücht, das über die Herkunft der schönen Lady kursiert. Aufgewachsen in Indonesien, ist sie erst kürzlich nach London gekommen - und verdreht den Männern dort reihenweise den Kopf! Auch Hugo Devenish, vermögender Kaufmann aus Adelskreisen, gehört zu ihren Verehrern. Und für ihn hätte Catherine nur zu gern das Geheimnis gelüftet, das ihre Vergangenheit umgibt. Denn so spontan wie er hat auch sie ihr Herz verloren. Doch ein Versprechen an ihren verstorbenen Vater zwingt sie zu schweigen. Und so riskiert Catherine in ihrem gefährlichen Spiel womöglich zu viel ...


  • Erscheinungstag 01.02.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733775384
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Batavia auf der Insel Java, 1815

Versprich es!“ Der Sterbende packte sie am Unterarm. „Verdammt, nun versprich es mir schon endlich, Mädchen!“

Catherine Smith zuckte zusammen und sah hinab auf die dünnen, eleganten Finger, die sich unerwartet schmerzhaft in ihr Fleisch gruben. Ihr Vater hatte immer noch Hände wie ein Gentleman: weiß, weich und aristokratisch. Selbst der schlichte Ring wirkte schon zu schwer für sie. Es waren vornehme Hände, wie geschaffen dazu, die Hand einer Dame zum Kuss an die Lippen zu führen oder galante Geschichten mit amüsanten Gesten zu untermalen. Blau geäderte, feine Hände, denen harte Arbeit erspart geblieben war. Hände, die ungemein geschickt Karten mischen und austeilen konnten …

Catherine biss sich auf die Lippen und versuchte, ihm den Arm zu entwinden.

„Versprich es mir!“

Catherine schwieg. Mit der anderen Hand nahm sie ein Leinentuch und wischte ihm den dünnen Blutfaden vom Mundwinkel.

„Herrgott, nun stell dich nicht so an!“ Forschend sah er ihr ins Gesicht. „Du hast das doch schon Hunderte von Malen gemacht. Was verlange ich denn groß von dir?“

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht, Papa.“

Mit einem angewiderten Schnauben ließ er ihren Arm los. „Pah, warum frag ich dich überhaupt? Meine Tochter!“ Sein verächtlicher Ton ging Catherine durch Mark und Bein. „Das einzige Kind, das mir noch geblieben ist! Und das will mir nicht helfen!“

„Schsch, Papa, rede nicht so viel. Schone deine Kräfte.“

„Warum zum Teufel sollte ich das tun? Ich sterbe … und ich werde mir von dir … nicht den Mund verbieten lassen. Bei Sonnenuntergang …“ Von einem krampfartigen Hustenanfall geschüttelt, bäumte er sich plötzlich im Bett auf. Dann fiel er mit fahlem Gesicht zurück, rang nach Atem und keuchte: „So sterben zu müssen … und keinen Sohn zu haben …“ Er wandte den Blick von Catherine ab, starrte die Wand an und stöhnte: „Nur eine Tochter, eine nutzlose Tochter …“

Catherine blieb stumm; sie sagte sich, dass sie seine Tirade über ihre Undankbarkeit und die Schwachheit des weiblichen Geschlechts nicht mehr treffen könne. Schließlich hatte sie sich das ein Leben lang anhören müssen. Nein, er kann mich nicht verletzen, sagte sie sich immer wieder vor, bis Maggie Bone mit frischen Tüchern und einer Schüssel Wasser zurückkam. Dankbar nickte sie ihrer Kammerzofe zu.

Auf ihr Zeichen hin wickelte Maggie den durchweichten Verband vom Oberkörper ihres Vaters. Catherine presste eine frische Kompresse auf die immer noch heftig blutende Wunde.

Ihr Vater stöhnte auf. „Mit mir ist es aus … verflucht. Im Duell einem … Lumpen … aus den Kolonien … unterlegen. Ich! Ein … Engländer …“

Catherine drückte den Verband so fest auf die Wunde, dass der Blutstrom für einen Moment versiegte.

„Nicht so fest, Mädchen!“

Vorsichtig linderte sie den Druck, während Maggie versuchte, die Kompresse zu befestigen. Es dauerte nur einen Augenblick, da war das frische Bündel Leinen wieder von warmem, süßlich riechendem Blut durchtränkt. Dem Blut ihres Vaters, rotem Blut, mit dem sich sein Leben unaufhaltsam verströmte. Der Arzt hatte angesichts der Verletzung nur den Kopf geschüttelt, denn es gab keine Hoffnung mehr für den Verwundeten.

„Dieser verfluchte … Holländer. Wie konnte er … es wagen … zu behaupten … dass ich … falsch spiele! Ich! Jer…!“ Ein Hustenanfall würgte ihn.

„Schsch, Papa. Du machst es nur schlimmer, wenn du dich so aufregst. Und du bist nicht mehr Jeremy Smythe-Parker. Nicht hier. Der warst du in New South Wales. Hier bist du als Sir Humphrey Weatherby bekannt.“

Nicht dass dies jetzt noch eine Rolle gespielt hätte. Der niederländische Doktor hatte sich verabschiedet, die malaiischen Diener verstanden kein Englisch, und Maggies Loyalität stand außer Frage. Es war überhaupt niemand da, dem sie etwas hätten vorspielen müssen. Sie hatte ihren Vater schlicht aus Gewohnheit daran erinnert, nicht aus der Rolle zu fallen. So wie sie es immer getan hatte.

Ihr Vater hatte die Augen geschlossen. Einige Minuten lag er schwer atmend auf dem Bett, doch es dauerte nicht lang, da hob er wieder an: „Von einem dummen … in einem … ausländischen … Kaff … im Nirgendwo. Wenn nur … wenn nur das verdammte Gnadenbrot … pünktlich da gewesen wäre …“

Das Gnadenbrot war das Geld, das von Zeit zu Zeit geheimnisvollerweise in den größeren fremden Häfen für sie eintraf. Es kam immer an, wohin sie auch reisten. Selbst wenn es meist zu spät kam. Catherine wusste nicht, woher das Geld stammte oder warum es geschickt wurde. Ihr Vater weigerte sich, darüber zu reden. Diesbezüglich war er immer ungewöhnlich schweigsam gewesen.

Wehmütig sah sie aus dem Fenster. Ihr Vater hatte natürlich auch Batavia nichts abgewinnen können. An jedem Ort, an dem sie sich aufgehalten hatten, egal, wie schön oder exotisch er auch sein mochte, hatte ihr Vater etwas auszusetzen gehabt. England war für ihn das Maß aller Dinge geblieben, das Land, an dem sein Herz hing und mit dem sich nichts sonst messen konnte. Zeit seines Lebens war er ein verbitterter, der Welt überdrüssiger Exilant geblieben.

Wieder quoll Blut aus seinem Mund. „Warum … hat mir Mary … keinen Sohn geboren … Söhne …“

Sie versuchte, die Worte des Sterbenden zu ignorieren. Schweigend presste sie das Tuch gegen seine Wunde. Bildete sie sich das nur ein, oder wurde der Blutstrom allmählich schwächer?

„Ein Sohn wüsste … was … Ehre … bedeutet!“

„Ich weiß sehr wohl, was Ehre ist, Vater“, gab Catherine müde zurück. „Auch wenn ich nur deine Tochter bin!“

Welche Ironie, dachte Catherine. Mein Vater, ein notorischer Falschspieler und Hochstapler, glaubt, er könne mir beibringen, was Ehre ist!

„Ich verbitte mir diesen … Ton, Catherine! Wenn du von Ehre etwas verstündest, würdest du nicht zögern, mir das Versprechen zu geben!“ Vor Anstrengung begann er zu keuchen. „Ihr Frauen habt überhaupt keine Ahnung, was Ehre ist. Euer Verstand wird von euren Gefühlen in Mitleidenschaft gezogen … Wenn nur mein Sohn noch am Leben wäre …“

Catherines Mutter hatte einen toten Knaben zur Welt gebracht, als Catherine sechs Jahre alt gewesen war.

„Wenn er nicht gestorben … wäre …“ Voll Bitterkeit sah er sie an. „Ein Sohn würde mir am Sterbebett nicht die Gewissheit verweigern, dass das Unrecht, das mir angetan wurde, gerächt wird.“

Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sich Catherine, was wohl in England passiert war, das ihren Vater so verbittert hatte, damals, noch bevor sie selbst geboren war. Immer hatte er von Rache gesprochen, doch wem die Rache gelten sollte und wofür, das wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass die Verbannung ihn nicht zur Ruhe hatte kommen lassen. Immer wieder hatte er davon gesprochen – meist, wenn er betrunken war –, dass er ein bedeutender Mann gewesen sei, ein Mann der Gesellschaft, dass er einen wunderschönen Landsitz in England geerbt hätte, wenn ihm nicht das große Unrecht zugefügt worden wäre.

So ganz hatte sie ihm das nie glauben wollen. Doch jetzt kamen ihr Zweifel. Handelte es sich vielleicht doch nicht nur um einen Wunschtraum? Wenn ihm auf seinem Sterbebett so viel daran lag, dass sie ihn rächte … war ihm da nicht möglicherweise wirklich Unrecht widerfahren? War er gezwungen gewesen, dieses Leben zu führen – ein Leben, das darin bestand, von einem Ort zum nächsten zu ziehen, sich von Kartenpartie zu Kartenpartie zu hangeln, in obskuren Orten am Rande der zivilisierten Welt als Sir Humphrey Soundso oder der ehrenwerte Mr X aufzutreten.

Erst vor ein paar Wochen hatten sie aus Sydney in New South Wales verschwinden müssen. Es war ein überstürzter Aufbruch gewesen: Mit dem nächstbesten Schiff waren sie nach Batavia ausgelaufen.

Wenn ihm das große Unrecht nicht zugefügt worden wäre, hätte er dann ein anständiges, zufriedenes Leben in England geführt?

Wer konnte das schon mit Sicherheit sagen? Aber er war ihr Vater. Catherine biss sich auf die Lippen. Ihr einziger Anverwandter. Wie konnte sie ihm nur auf seinem Sterbebett seinen letzten Wunsch abschlagen? Plötzlich kamen ihr ihre Skrupel ziemlich selbstsüchtig vor.

Sie blickte auf ihn hinunter. Sein Gesicht war grau und eingefallen, die Lippen hatten sich trotz der Hitze bläulich verfärbt. Die Augen hatte er geschlossen, aber er schlief nicht – sein Körper war aufs Äußerste angespannt.

Er sah aus wie jemand, der keine Hoffnung mehr hatte.

Ihr Vater – hoffnungslos ? Stets hatte er neue verwegene Pläne geschmiedet, hatte Träumen nachgehangen … Nein, ich habe kein Recht, ihm seinen letzten Wunsch abzuschlagen, dachte Catherine.

Seufzend beugte sie sich zu ihrem Vater hinunter und nahm sanft seine Hand. „Ich werde versuchen, deine Ehre wiederherzustellen. Sag mir, was ich tun soll.“

Langsam öffnete er die Augen. Ein triumphierendes Lächeln spielte um seine Lippen. Er umklammerte die Hand seiner Tochter und zog sie zu sich hinunter. Flüsternd erläuterte er ihr, was sie zu tun hatte. Dann schloss er erschöpft die Augen und sank mit rasselndem Atem zurück in die Kissen.

Die Luft im Zimmer war heiß und stickig. Unvermittelt öffnete er noch einmal die Augen. Seine Stimme war erstaunlich klar, als er sagte: „Ich habe Rose aus Sydney geschrieben.“ Dann keuchte er und wurde erneut von einem Hustenanfall geschüttelt. Nach Luft ringend, krümmte er sich auf dem Bett.

„Sorge dich nicht, Papa. Ich verspreche dir, ich werde alles tun, was du mir aufgetragen hast. Bleib einfach ruhig liegen und vergeude deine Kraft nicht.“

„Mein Sohn“, murmelte er, so leise, dass Catherine ihn kaum verstehen konnte. „Mein geliebter Sohn …“

Mit diesen Worten starb Catherines Vater – mittags an einem Tropentag, Tausende von Meilen von der Welt entfernt, in die er gehörte. Er war bei einem Duell getötet worden, weil er beim Kartenspiel betrogen hatte. Das war der letzte Schlag in einem Leben gewesen, das seinen Worten nach aus nichts als Ungerechtigkeiten bestanden hatte.

Er starb, ohne ein letztes Wort an sein einziges Kind gerichtet, ohne eine liebevolle Geste oder einen Atemzug auf seine Tochter verschwendet zu haben, die ihm neunzehn Jahre lang im Exil Gesellschaft geleistet hatte.

„Grämen Sie sich nicht, Miss Catherine“, versuchte Maggie Bone die junge Frau zu trösten. „Er hat Sie sehr geschätzt, wirklich.“

Catherine rang sich ein Lächeln ab. „Ist schon gut, Maggie.“

„Sie hätten ihm nichts versprechen sollen, Miss.“

„Ich habe es aber getan. Und ich kann und werde mein Versprechen nicht brechen.“

Maggie seufzte. „Wir reisen also demnächst ab?“, fragte sie.

„Ja. Wir müssen nach London. Eine gewisse Rose erwartet uns dort.“

1. KAPITEL

London, 1816

Mr Hugo Devenish ritt im Trab durch das nächtliche London. Die Straßen und Gassen der Stadt wirkten zu dieser Stunde ungewöhnlich verlassen. Unverwandt starrte Hugo auf den schwachen, unnatürlich gelben Dämmerschein, der den Horizont erhellte. Gaslaternen. Sechsundzwanzig Meilen an Gasleitungsrohren waren in London bereits verlegt worden, hatte er gehört. Gaslaternen säumten hier wie überall in den besseren Vierteln die Straßen.

Sultans Hufe klapperten gleichmäßig über das Kopfsteinpflaster. Hugo beugte sich im Sattel nach vorne und klopfte seinem Reittier anerkennend auf den Hals. Es hatte ihn heute eine lange Strecke getragen und musste ebenso erschöpft sein wie er selbst.

Müde ließ Hugo den Blick über die Häuser zur Linken schweifen. Im Schein der Gaslaternen warfen die Portikussäulen der Gebäude, ihre Simse und Fenstervorsprünge bizarre, flackernde Schatten. Einer der Schatten schien ein Eigenleben zu führen.

Hugo zügelte erstaunt sein Pferd. Mit einem Mal war er hellwach. Prüfend versuchte er, den Schemen mit Blicken zu fixieren. Nein, ich habe mir die Bewegung nicht eingebildet, stellte er verblüfft fest. Einer der Schatten wanderte tatsächlich mit erstaunlicher Zielstrebigkeit von einem Fenster im zweiten Stock des Hauses links von ihm auf den nächsten Balkon zu.

Auf Hugos Stirn bildete sich eine steile Falte. Es handelte sich um Pennington House, das Heim von Lord und Lady Pennington. Flüchtig war er sogar mit dem Ehepaar bekannt: Lord Pennington war Regierungsmitglied, ein strenger, etwas wichtigtuerischer Mann um die sechzig Jahre, Lady Pennington eine tonangebende Dame der Gesellschaft. Wenn er nicht irrte, war ihr Sohn ein Freund seines Neffen Thomas.

Aus unbeleuchteten Fenstern von Regierungsmitgliedern sollten nachts keine Schatten gleiten, fand Hugo. Schon aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht. Der Krieg war zwar vorbei, aber das hieß nicht, dass es keine Regierungsgeheimnisse mehr gab, die gestohlen und verkauft werden konnten. Regierungsgeheimnisse gab es immer.

Er kniff die Augen zusammen und verfluchte leise die Errungenschaften der Technik. Gegen den blendenden Schein der Gaslaternen fiel es ihm schwer, den Schemen, der sich hinter der Lampe bewegte, nicht aus den Augen zu verlieren – den Umriss einer menschlichen Figur.

In diesem Moment kletterte eine dunkle Gestalt über die steinerne Balkonbrüstung, hielt inne und sprang ins Nichts. Hugo stockte der Atem. Der Dieb wird sich zu Tode stürzen, fuhr es ihm durch den Kopf. Aber nein – der Einbrecher klammerte sich an der nächsten Balkonbrüstung fest und schwang sich mit der Leichtigkeit eines Affen darüber. Geschickter Bursche, dachte Hugo mit einem Anflug von Bewunderung.

Kurz überlegte er, was er tun sollte. Bis er die Dienstboten in Pennington House alarmiert hätte, wäre der Dieb längst verschwunden. Nein, er musste versuchen, den Einbrecher selbst zu stellen.

Aufmerksam sah er zu, wie der Übeltäter an einer glatten Säule an der Hausecke nach unten kletterte – was ziemlich schwierig war, wie ihm, der er seine Kindheit damit verbracht hatte, in der Takelage von Schiffen herumzuturnen, wohl bewusst war. Dann sprang die dunkle Gestalt auf ein Vordach. Die Geschicklichkeit und Anmut des Eindringlings waren bemerkenswert. Hugo bedauerte fast, ihn dingfest machen zu müssen.

Der Dieb verschwand nun um die Hausecke, und Hugo drückte Sultan die Fersen in die Flanken. Das Trappeln, mit dem Sultan sich in Gang setzte, war verräterisch laut. Hugo zögerte nur einen Augenblick, dann sprang er aus dem Sattel und band sein Pferd an den nächsten Laternenpfosten. Leise lief er in die schmale Gasse, die von der Hauptstraße abzweigte, bemüht, den Dieb nicht aus den Augen zu verlieren.

Nur ab und an war vor ihm eine leichte Bewegung zu erahnen, nur hin und wieder ein leises Knirschen zu hören, während Füße über Dachziegel tappten. Ein Schatten huschte leichtfüßig über das Dach an der Rückseite des Hauses. Für einen kurzen Moment zeichnete sich die Gestalt, die Hugo bisher mehr erahnt als gesehen hatte, deutlich vor dem gelblichen Glimmen des Nachthimmels ab.

Er war verblüfft über den Anblick, der sich ihm bot. Der Einbrecher trug weite Kleidung – formlose Hosen und eine weite Tunika. Auf dem Kopf hatte er eine Kappe, von der etwas herunterbaumelte. Die Silhouette wirkte seltsam fremdartig, und doch hatte der Schatten etwas Vertrautes. So plötzlich, wie sie auf dem Dach erschienen war, verschwand die Gestalt auch wieder aus seinem Blickfeld.

Dann tauchten Füße über der Regenrinne auf. Hugo hielt den Atem an. Mutig sprang der Dieb vom Vordach auf ein niedrigeres Dach und von dort auf die Mauer, die den Garten der Penningtons umgab. Er schwang die Beine über die Mauer und landete auf allen vieren auf der Straße.

Hugo machte einen Satz auf den Dieb zu und bekam dessen Beine zu fassen.

„Aiee-ya!“ Der Einbrecher trat mit verblüffender Wildheit um sich. Mit einem Fluch ging Hugo zu Boden und krümmte sich vor Schmerz. Dann schnellte er wieder nach vorne und bekam den Eindringling zu fassen. Ineinander verknäult, rollten sie über die schmutzigen Pflastersteine. Als Hugo nach den weiten Kleidern griff, stach ihm ein starker, fremdartiger Geruch in die Nase.

Der Dieb hatte sich die schwarze Kappe tief in die Stirn gezogen und seine untere Gesichtshälfte hinter einem dunklen Tuch verborgen. Alles, was Hugo sehen konnte, waren die glühenden Augen. Er bekam den Einbrecher am Arm zu fassen, einem erstaunlich dünnen Arm, und …

„Aiee-ya!“

Es war, als wäre Hugos Handgelenk von einer Axt getroffen worden. Hugo stöhnte und lockerte unwillkürlich seinen Griff. Sekunden später hatte der Dieb sich losgerissen und rannte davon. Ein langer schwarzer Zopf tanzte über seinen Rücken.

Hugo rappelte sich mühsam hoch und nahm die Verfolgung auf. Als er um die Ecke bog, konnte er im Licht der Gaslaterne einen letzten Blick auf den Eindringling werfen, der auf einem Pferd davongaloppierte. Erst jetzt sah Hugo, was er längst hätte erkennen müssen: Der Dieb war ein Chinese!

Hugo hatte chinesische Kulis im Ausland erlebt, aber er hatte nicht damit gerechnet, in London auf einen zu treffen. Die weite, dunkle Hose, die Tunika, die dunkle Kappe, der lange Zopf, der im Wind flatterte, während Pferd und Reiter verschwanden – wo habe ich nur meine Augen gehabt, fragte Hugo sich ärgerlich.

Und dann der durchdringende Geruch! Der Dieb hatte wie ein chinesisches Warenlager gerochen, nach Räucherwerk. Was war es doch gleich, was die Chinesen dafür verwendeten? Sandelholz?

Er wusste es nicht. Und er verstand auch nicht, was für ein Interesse ein Chinese an den Geheimnissen eines englischen Regierungsmitglieds haben konnte.

Missmutig rieb er über sein immer noch heftig schmerzendes Handgelenk. Wie ausgesprochen peinlich, dass er von einem Mann übertölpelt worden war, der so viel kleiner und leichter war als er selbst! Nach Fassung ringend, sah er zu den Gaslaternen vor dem Haus auf. Sie sollten Verbrechen in London erschweren. Doch genau das Gegenteil war der Fall gewesen: Ein Tuch hatte fast das ganze Gesicht des Einbrechers bedeckt, und das Licht der Gaslampen hatte die Sicht auf das wenige behindert, was noch zu sehen gewesen war.

Verärgert marschierte er zur Vordertür, zupfte seinen Mantel zurecht und griff nach dem Klopfer.

„Was für ein furchtbarer Abend! Die Kälte hier hatte ich ganz vergessen.“

Catherine, die dabei war, sich für den Ball fertig zu machen, warf ihrer Kammerzofe, die missmutig durch das Fenster nach draußen blickte, einen erstaunten Blick zu.

„Regen, die ganze Zeit Nieselregen – und wenn er dann endlich aufhört, der Regen, was passiert? Es ist kalt und neblig. Wie hab ich das nur ausgehalten, als ich jung war?“

Catherine verkniff sich ein Lächeln. „Reg dich nicht auf, Maggie, wir werden ja nicht lange hier bleiben. Das weißt du doch.“

Die Kammerzofe schnaubte. „Junge Dame, mich täuschen Sie nicht. Sie haben sich immer ein Heim gewünscht, das Sie Ihr eigen nennen können, und jetzt, wo wir endlich in England sind …“

„Maggie“, unterbrach Catherine sie, „ich fühle mich hier nicht zu Hause. Ich gehöre nicht hierher. Ich bin nicht mal in England geboren …“

„Was soll das heißen, Sie fühlen sich hier nicht zu Hause? Natürlich sind Sie hier daheim! Sie sind eine Engländerin.“

„Nein, das bin ich nicht. Ich werde immer überall fremd sein. Ich kenne hier keine Menschenseele, bin mit niemandem verwandtschaftlich verbunden …“

„Unsinn! Was ist mit Ihrer Tante? Miss Singleton ist doch …“

Catherine blinzelte verwirrt. „Sag nicht, dass du …“

Fragend zog Maggie die Augenbrauen hoch: „Was?“

Die junge Frau lächelte schwach. „Sie ist nicht meine Tante, Maggie. Papa hatte keine lebenden Verwandten. Miss Singleton ist oder war zumindest – nehme ich an – eine von Papas Freundinnen. Hast du nicht schon Dutzende anderer angeblicher Tanten kennen gelernt?“

Maggie schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Miss Singleton ist nicht … nicht der Typ dafür. Ihr Vater war immer mehr an … an …“

„… glamouröseren Frauen interessiert? Ja, aber es ist auch schon mehr als zwanzig Jahre her, dass er seine Rose zuletzt gesehen hat. In zwanzig Jahren verändert sich viel. Und Miss Singleton wirkt immer noch, als wäre sie in ihrer Jugend eine echte Schönheit gewesen.“ Versonnen streifte Catherine ihr Tageskleid ab.

„Wir wollen nicht länger über Ihren Vater und seine … seine Freundinnen sprechen. Sein Verhalten war skandalös!“ Die Kammerzofe nahm ein weißes Kleid aus dünnem Baumwollmusselin aus dem Schrank. „Kommen Sie, Miss, schlüpfen Sie da rein.“

Sie half Catherine in das fast bodenlange Ballkleid und knöpfte das eng anliegende, tief ausgeschnittene Leibchen im Rücken zu.

„Drehen Sie sich bitte, Miss“, meinte sie dann und strich den Rock glatt. Als sie Catherines erhitzte Wangen und leuchtende Augen sah, wurde ihr Gesichtsausdruck weicher. „Das alles macht Ihnen ziemlich Spaß, stimmt’s, Miss?“

Catherine errötete. „Ja, und wie! Ich hätte nie gedacht, dass ich es so genießen könnte, ein junges Mädchen zu sein. Ich muss mir über nichts Gedanken machen, außer darüber, was ich anziehen und mit wem ich tanzen werde. Miss Singleton ist so nett. Noch nie habe ich eine so gütige Dame getroffen …“ Sie seufzte, schüttelte den Kopf und streifte rasch ihre Handschuhe über. „Ja. Es macht mir wirklich großen Spaß, hier zu sein.“

Prüfend musterte Maggie sie. „Meinen Sie nicht, Sie könnten die Gelegenheit nutzen, um sich einen Ehemann zu suchen, Miss?“

Catherine schüttelte den Kopf. „Deswegen bin ich nicht hergekommen.“

„Ja, aber …“

„Nein! Ich bin unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hier – wie könnte ich da einen Mann ermutigen, um mich anzuhalten? Es ginge ja noch an, dass ein Mann um die verarmte Nichte von Miss Singleton wirbt – obwohl Geld hier eine solch große Rolle spielt, dass ich mir auch das kaum vorstellen kann. Aber um die Hand einer mittellosen Abenteuerin anzuhalten, welche die Tochter von Miss Singletons früherem …“ Sie hielt inne. „Du weißt, was ich meine. Jeder Mann, dem ich meine wahre Identität enthüllen würde, würde mir statt eines Eherings eine carte blanche anbieten, und die würde ich nie akzeptieren.“

„Das will ich meinen!“

Catherine schmunzelte belustigt. „Ach Maggie, deine prüde Art hat wohl auf mich abgefärbt.“ Sie sah den empörten Blick, den Maggie ihr zuwarf. „Nun ja, ein bisschen. Schließlich bin ich auch noch die Tochter meines Vaters.“ Sie küsste ihre Kammerzofe leicht auf die rosige Wange.

Maggie schob ihren Schützling von sich fort. „Hören Sie bloß auf, Miss Frechdachs! Ich wünschte, Sie würden den Wunsch Ihres Vaters einfach vergessen. Natürlich weiß ich, dass es sinnlos ist, Sie nach so vielen Jahren immer noch belehren zu wollen – starrsinnig, wie Sie nun mal sind. Aber denken Sie immer daran, dass Leute hier für solche Dinge gehängt werden. Oder deportiert.“

„Ja, und in China hacken sie einem für alle möglichen Verbrechen Kopf und Hände ab. Aber ich bin noch gesund und munter, wie man sieht“, erwiderte Catherine und wirbelte wie zum Beweis fröhlich einmal um die eigene Achse. „Mach dir keine Sorgen“, fügte sie in ernsterem Tonfall hinzu. „Es ist doch nur ein kleines Versprechen und überhaupt nicht gefährlich.“

Maggie schnaubte. „Machen Sie mir doch nichts vor! Ihr Vater, Gott hab ihn selig, war von Natur aus verantwortungslos und hat sich nie Sorgen um Ihr Wohlergehen gemacht. Warum nur müssen Sie jetzt, wo er tot ist, schon wieder einen seiner unsinnigen Pläne in die Tat umsetzen?“

„Familienehre ist kein Unsinn“, erwiderte Catherine ernst. „Und außerdem“, fügte sie hastig hinzu, weil sie fast vergessen hatte, dass sie Maggie mit diesen Dingen ja verschonen wollte, „weiß ich gar nicht, wovon du redest. Ich bereite mich lediglich auf einen Ball vor. Nun …“

„Sie würden niemals ein Versprechen brechen, nicht wahr? Und das hat dieser verfluchte Kerl ganz genau gewusst!“, fügte Maggie leiser hinzu. „Nun, ich werde nicht mehr darauf zu sprechen kommen, es ist sinnlos. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.“

„Zweifellos. Aber wenn wir uns jetzt nicht beeilen, werde ich zu spät kommen. Wo ist denn das Schultertuch? Das aus bestickter Gaze? Ich glaube, es passt wunderbar zu diesem Kleid.“

Maggie brachte den gewünschten Schal und drapierte ihn um die Schultern ihrer Herrin. Sie trat einen Schritt zurück und musterte Catherine kritisch. Dann seufzte sie. „Wunderbar. Sie sehen wirklich bezaubernd aus. Ich wünschte nur, Sie wollten etwas anderes als Weiß tragen. Das betont Ihren dunklen Teint noch zusätzlich.“

Catherine lachte. „Ach, Unsinn. Ich bin doch gar nicht mehr so braun gebrannt – ich sehe fast schon kränklich aus, so weiß bin ich. Sei lieber froh, dass meine Haut nicht mehr so grässlich trocken und schuppig ist wie nach unserer Ankunft. Und mein Kleid muss weiß sein, liebe Maggie. Schließlich trete ich als junges Mädchen frisch aus dem Schulzimmer an, da muss ich mich weiß kleiden.“

Sie tat einen Schritt nach vorn, um ihr Gesicht in dem großen Pilasterspiegel zu studieren, der neben der Tür stand. „Ich sehe doch wie ein junges Mädchen aus, oder, Maggie? Man sieht mir nicht an, dass ich schon zwanzig bin?“

„Nein, Miss. Es heißt zwar immer, dass die Menschen in den Tropen schneller altern, aber Sie sehen aus, als wären Sie gerade sechzehn geworden – und noch jünger, wenn Sie lächeln.“

„Gut“, sagte ihre Herrin energisch. „Ich werde also so oft wie möglich lächeln. Und jetzt reich mir bitte mein Ridikül, sonst wird meine neue Tante noch länger warten müssen.“

Mit dem kleinen Beutel in der Hand eilte Catherine die Treppe hinunter. Rose Singleton wartete in der Eingangshalle schon auf sie.

„Ach, da bist du ja, meine Liebe“, meinte sie und schritt mit Catherine zur Eingangstür. „Ich hoffe, dein Tuch ist wärmer, als es wirkt. Zum Abend hin ist es recht kühl geworden, und dieses Mausoleum, das die gute Fanny Parsons bewohnt, ist so kalt wie ein Grab. Sie heizt einfach nie ordentlich ein. Dafür ist wahrscheinlich ihr Mann verantwortlich“, fügte sie nachdenklich hinzu. „Die Parsons waren schon immer als geizig verschrien, aber er ist der Schlimmste von allen. Ich habe vorsorglich Trikothosen angezogen, aber ich bin mir sicher, dass ich mich trotzdem erkälten werde.“ Sie schauderte und kuschelte sich in ihre pelzverbrämte enveloppe.

Die ältere Miss Singleton war eine schlanke, fast schon ätherisch wirkende Frau, die auf ihre blasse Art recht hübsch wirkte – ganz anders als die auffälligen Schönheiten, die Catherines Vater sonst bevorzugt hatte. Wegen Roses empfindlicher Gesundheit baumelten zudem stets irgendwelche Tücher und Schals an ihr herunter, was ihrem Aussehen eine altmodische Note gab.

Trotzdem hatte Rose Singleton etwas Aristokratisches an sich, etwas, das sie eindeutig als Mitglied der feinen Gesellschaft kennzeichnete und das auch der charmantesten und modischsten der Freundinnen ihres Vaters abgegangen war.

Catherine vermutete, dass ihr verstorbener Vater sie deshalb zu Rose Singleton statt zu einer seiner anderen Frauen geschickt hatte. Überrascht hatte sie allerdings, dass die vornehme Miss Singleton sie überhaupt aufgenommen hatte. Offensichtlich fühlte Rose Singleton sich ihrem Vater immer noch verbunden. Und dieselbe Zuneigung brachte sie auch seiner Tochter entgegen: Rose hatte Catherine schon bei der Ankunft so herzlich umarmt, als stünde ihr Catherine tatsächlich nahe und wäre wirklich ihre Nichte, die lange im Ausland gelebt hatte.

„Hübsche Perlen trägst du da. Sehr passend“, bemerkte Rose beiläufig, während sie die Stufen der Eingangstreppe hinuntergingen. „Mein Kompliment. Die meisten jungen Damen in deiner Situation würden der Versuchung erliegen und sich mit Juwelen bekränzen. Aber ich finde, dass Diamanten nichts für junge Mädchen sind. Sie sind so hart. Diese schlichten Perlen hingegen sind genau das Richtige für ein junges Mädchen wie dich.“

„Diamanten? Sei unbesorgt, Tante Rose, Diamanten werde ich wohl kaum anlegen!“ Catherine konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Diamanten! Catherine hatte aus finanziellen Gründen nichts weiter als ein schlichtes Schmuckset aus Perlen erstehen können. Diamanten waren einfach unerschwinglich für sie.

Miss Singleton nickte erfreut. „Das ist sehr weise von dir, meine Liebe. Schließlich wollen wir doch nicht vulgär wirken.“

„Nein, Tante Rose“, pflichtete Catherine ihr bei. Insgeheim rätselte sie, was Rose mit dem Ausdruck „ein Mädchen in deiner Situation“ wohl meinte. War das eine Anspielung auf den Platz in der Gesellschaft, den Catherine sich angemaßt hatte? Sie starrte Rose einen Moment irritiert an, während ihr der Diener in die Kutsche half. Dann verdrängte sie den Gedanken.

Die Nachtluft war kalt und der Himmel unnatürlich hell. Schon bald fuhr die Kutsche vor dem Stadthaus der Parsons vor, einem mächtigen, etwas exzentrischen Gebäude mit griechischen Säulen und gotischen Wasserspeiern. Die Fassade des Hauses wurde sowohl von modernen Gaslaternen als auch von Fackeln, die eine Reihe livrierter Diener in Händen hielten, hell erleuchtet.

Catherine stieg nach Miss Singleton aus der Kutsche und blickte auf die Menschenmenge, die sich vor dem Gebäude drängte. Vorfreude und Spannung überkamen sie. Heute Abend würde sie ihr Leben genießen. Heute Abend würde sie ganz das sorglose junge Mädchen sein können, für das jeder sie hielt. Zweifellos würde sie später dafür bezahlen müssen, aber das konnte sie nun einmal nicht ändern.

„Ist es nicht herrlich?“, flüsterte das junge Mädchen, das neben Catherine saß. „So viele Leute! Ich war noch nie in London auf einem Ball“, fügte sie schüchtern hinzu.

Catherine lächelte. „Für mich ist es auch die erste Saison.“

„Sind die Damen nicht schrecklich elegant?“

„Schrecklich“, pflichtete Catherine ihr ernst bei.

„Catherine, Lord Norwood würde gerne mit dir tanzen. Gib ihm deine Karte, meine Liebe“, unterbrach Miss Singleton das Gespräch und lächelte Catherine bedeutungsvoll zu.

Lord Norwood beugte sich galant über Catherines Hand. Sein blondes Haar war mit viel Pomade zu einer wilden Sturmfrisur frisiert. Unter seinem knapp bis zur Taille reichenden Frack trug er eine extravagant bestickte Weste, und der Kragen seines Hemdes war so hoch, dass er kaum den Kopf drehen konnte. Am bemerkenswertesten war sein Halstuch: Es war auf eine verwirrende Art geschlungen und einige Male in sich verknotet. Hellgelbe Hosen und Anstecknadeln vervollständigten das Ensemble. Alles in allem war Norwood der Inbegriff eines Dandys.

Catherine reichte ihm ihre Karte und bemühte sich, ihren Widerwillen zu verbergen. Schon seit einigen Tagen versuchte sie, diesen hartnäckigen Verehrer zu entmutigen, doch der junge Mann schien keinen ihrer Winke zu bemerken. Noch war sich Catherine nicht schlüssig geworden, ob sein Selbstvertrauen derart unerschütterlich war, dass er ihre Ablehnung einfach nicht verstehen konnte, oder ob er ein anderes Motiv hatte, ihre Unwilligkeit zu ignorieren – eine Wette oder etwas Ähnliches. Denn unwillig war sie: Ihr Plan sah freundschaftliche Beziehungen, ob nun zu Männern oder Frauen, nicht vor. Sie war wegen des Versprechens in London, das sie ihrem Vater geleistet hatte, und nicht, um Freundschaften zu schließen.

Lord Norwood kritzelte seinen Namen auf ihre Tanzkarte, verbeugte sich anmutig und gab sie ihr mit den Worten zurück: „Miss Singleton, dass ich meinen Namen auf diese Karte schreiben durfte, ist mehr, als ich verdient oder zu hoffen gewagt hätte.“

Catherine lächelte süß. „Wollen Sie damit sagen, dass wir nun, da Ihr Name auf meiner Karte steht, auf den Tanz selbst verzichten können?“

Er blinzelte verwirrt und lachte dann nachsichtig. „Welch reizender Esprit. Ich freue mich schon sehr auf unseren Tanz.“

„Haben Sie ein Glück“, wisperte das Mädchen neben Catherine und blickte ihm nach. „Er ist ein Bild von einem Mann.“

„Mmm, ja“, gab Catherine zu. „Das ist er.“

„Und so elegant!“

„Meinen Sie?“

„Ob er wohl in Sie verliebt ist?“, meinte die Debütantin verträumt.

„Nein“, erwiderte Catherine nachdenklich. „Das wohl nicht.“ Sie runzelte die Stirn, als sie sah, wie Lord Norwood in einem Nebenzimmer verschwand. Es war eines der Zimmer, in denen um Geld gespielt wurde.

„Aber er …“, fing das Mädchen an.

Catherine lächelte. „Ach, nein, ich möchte nicht vorschnell urteilen. Ich bin natürlich sehr glücklich, mit ihm tanzen zu können. Und nun sagen Sie, woher haben Sie dieses wunderhübsche Ridikül?“

Mit diesen Worten wandte sich das Gespräch der beiden der Mode im Allgemeinen und den Londoner Modegeschäften im Besonderen zu. Wie sich herausstellte, hatte die junge Dame mit ihrer Mutter im Pantheon-Basar nach Stoffen für ihr Ballkleid gesucht. Während sie sich voll Begeisterung in einer Schilderung der Herrlichkeiten erging, die sie in diesem wunderbaren Laden gesehen hatte, schweiften Catherines Gedanken ab.

Lord Norwood war nicht der Einzige, der ihr überraschend viel Aufmerksamkeit schenkte. Dass sie derart von allen Seiten umworben wurde, beunruhigte Catherine. Als schön hätte sie sich nicht bezeichnet, und es gab andere Debütantinnen, die sehr viel attraktiver waren als sie selbst und im Gegensatz zu ihr den ersten Kreisen entstammten. Und dennoch standen diese Mädchen nicht wie sie im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit.

Catherine hatte gehofft, sich in der Gesellschaft unauffällig bewegen zu können. Dass sie unbeachtet blieb, war für den Erfolg ihres Plans unbedingt erforderlich. Daher hatte sie bislang die Rolle des schüchternen, ein wenig faden und farblosen Schulmädchens gespielt und versucht, sich bei Gesellschaften im Hintergrund zu halten.

Und dennoch war sie bald nach ihrer Ankunft in London eifrig umworben worden. Junge Männer hatten sie überraschenderweise zu Ausflügen im Wagen eingeladen, ihr Blumen geschickt und sie zum Tanz geführt. Auch die Damen waren ungewöhnlich freundlich gewesen, hatten sie zu Abendgesellschaften, musikalischen Nachmittagen und zu Spaziergängen im Park eingeladen, zu Bällen, Gartenfesten und Landbesuchen aufgefordert, kurz, zu allem, was das Leben der feinen Gesellschaft ausmachte. Ob Englands ton sich wohl durch seine Offenheit und Toleranz Fremden gegenüber besonders auszeichnete?

„Oh, Miss Singleton, ist das nicht der eleganteste Mann, den Sie je gesehen haben?“

Catherine blickte in die Richtung, die ihre junge Bekannte mit einem leichten Kopfnicken andeutete. Eine Gruppe von Leuten stand am Eingang zum Ballsaal und tauschte Begrüßungsworte aus. Einer der Herren hob sich deutlich von seiner Umgebung ab, ein großer, dunkelhaariger Mann in modischer Abendkleidung. Elegant mag er sein, dachte Catherine, aber …

Er wirkte hart. Nüchtern. Ernst und distanziert. Ein wenig auf der Hut vielleicht und sich seiner eigenen Kraft doch bewusst. Während sie ihn mit angehaltenem Atem musterte, ließ er den Blick durch den Ballsaal schweifen. Schon seine Körperhaltung verriet, wie gleichgültig ihm die versammelte Gesellschaft war. Er sah mehr wie ein Eindringling als wie ein Gast aus. Und er wirkte hier ebenso deplatziert, wie Catherine sich fühlte.

Sein schwarzes Haar war fast schon brutal kurz gehalten. Ob er sich dem Modediktat verweigert, grübelte Catherine, oder ob das bloß sein persönlicher Stil ist? Sie fragte sich, wer er war. Er passte einfach nicht ins Bild.

Eine Frau eilte zu ihm, um ihn zu begrüßen. Catherine erkannte in ihr ihre Gastgeberin, Lady Parsons. Der Fremde beugte sich über ihre Hand. Man merkte ihm an, dass er sich nicht oft vor jemandem verbeugte – die Geste wirkte galant, aber ein gewisses Zögern war zu bemerken.

Lady Parsons strahlte und schäkerte mit ihrem Gast, der darauf nicht einzugehen schien. Catherine fragte sich, worüber die beiden wohl redeten.

„Miss Singleton“, drang es schwärmerisch an Catherines Ohr, „ist er nicht göttlich schön?“

Catherine blinzelte. Unbestreitbar war er höchst attraktiv. Und er war sehr beeindruckend, sogar ein wenig einschüchternd. Aber göttlich schön? Nach den in London geltenden Maßstäben ganz sicher nicht.

Sie wandte sich ihrer jungen Bekannten zu und sah, dass diese einen ganz anderen Mann ins Auge gefasst hatte, einen jungen Mann mit gestreifter Weste und zart rosafarbenen Pantalons. Er hatte die ganze Zeit neben dem bemerkenswerten Unbekannten gestanden.

Noch bevor Catherine die junge Dame fragen konnte, wer der Fremde war, erschien Lord Norwood, um sie zum Tanz abzuholen.

„Mr Devenish! Das ist aber eine Überraschung!“, zwitscherte Lady Parsons, die in einem rüschenübersäten zartgrünen Kleid auf ihn zugerauscht kam. „Ich war mir sicher, dass Sie meine Einladung wie immer ignorieren würden, Sie Schlimmer.“

„Ignorieren? Aber nicht doch, Lady Parsons.“ Hugo neigte sich über die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. „Ich bin nur viel zu selten in der Stadt, meine Liebe.“

Lady Parsons lachte und klopfte ihm spielerisch mit dem Fächer auf den Unterarm. „Ach wirklich? Und dann verbringen Sie Ihre kostbare Zeit im Kampf mit der Unterwelt? Wie tapfer, wie nobel von Ihnen. Ich hörte, Sie hatten es heute Nacht mit einem bis an die Zähne bewaffneten Unhold zu tun.“

Hugo lächelte süffisant. „Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass man Gerüchten nicht allzu viel Glauben schenken darf. Es war nur ein kleiner, unbewaffneter Chinese.“

„Ein Chinese? Du liebe Güte! Das wusste ich ja gar nicht! Aber weshalb wollte ein Chinese bei den Penningtons einbrechen? Ich verstehe nicht …“

„In Asien sollen schwarze Perlen gut verkäuflich sein, habe ich gehört.“

„Nein – die schwarzen Perlen? Die arme Eliza wird am Boden zerstört sein. Und Ihr Gatte wird sicher toben.“ Lady Parsons schüttelte verwundert den Kopf. „Das Erbstück der Penningtons … Die Perlen sind ein Vermögen wert, nehme ich an?“

Hugo seufzte. „Ja. Unglücklicherweise gelang es mir nicht, sie zu retten.“

„Denken Sie lieber daran, wie viel schlimmer es gekommen wäre, wenn Sie den Einbrecher nicht gestört hätten!“

Hugo zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts. Er hatte schon Lord Pennington erklärt, dass er der Ansicht war, der Dieb habe seinen Raubzug schon beendet gehabt, bevor er selbst an Ort und Stelle eintraf.

„Sie sind viel zu bescheiden, Hugo. Nun, ich freue mich sehr, dass Sie heute Abend hier sind – für den Fall, dass irgendwelches orientalisches Gesindel versucht, mich zu bestehlen, werden Sie mir bestimmt eine große Hilfe sein.“ Lady Parsons kicherte mädchenhaft und gab ihm einen weiteren Klaps mit dem Fächer.

Hugo tauschte noch ein paar belanglose Floskeln mit seiner Gastgeberin aus, verabschiedete sich dann und schlenderte durch die Menschenmenge auf eine Frau zu, die ihn seit seiner Ankunft angestarrt hatte.

„Was hast du hier zu suchen?“, zischte Lady Norwood, sobald er in Hörweite war, und schob ihn zu einem Nebenzimmer.

Hugo musterte sie kühl. „Du selbst hast mir doch in elf Eilbriefen erklärt, ich müsse dir sofort zu Hilfe eilen!“

„Ja, aber danach habe ich mindestens sechs Briefe geschrieben, in denen ich dich bat, auf keinen Fall nach London zu kommen.“

Er lächelte. „Ja, deswegen bin ich dann ja auch gekommen. Ich wollte dir heute Abend in Portland Place meine Aufwartung machen, aber es hieß, ihr wärt schon auf Lady Parsons Ball. Und da Lady Parson auch mich eingeladen hatte …“

Lady Norwood stampfte mit dem Fuß auf. „Du bist unmöglich! Versprich mir, dass du gleich morgen nach Yorkshire zurückkehrst. Um ehrlich zu sein: Du wärst mir hier sehr im Weg.“

Ihrem Schwager schien ihre Grobheit nichts auszumachen. Er zuckte nonchalant mit den Schultern. „Du schriebst, du seist in arger Verlegenheit?“

„Oh! Nun ja … das hat sich erledigt. Ich habe mir wegen Thomas Sorgen gemacht, weißt du.“

„Du hast dir wegen Thomas Sorgen gemacht?“

„Du brauchst mich gar nicht so ungläubig anzustarren.“ Gekränkt zog sie einen Schmollmund. „Du weißt genau, dass ich eine sehr liebevolle Mutter bin – ach, die Sorgen, die man sich als Mutter macht …“ Sie seufzte gefühlvoll. Hugo reagierte darauf keineswegs so, wie es zu erwarten wäre, stellte sie enttäuscht fest. Im Gegenteil: Er sah noch zynischer drein als vorher.

„Ach, hast du mal wieder Probleme mit dem lieben Geld? Bedauerlich. Aber von mir wirst du keinen Penny bekommen, du kannst also ruhig mit dem Theater aufhören, Amelia.“

Amelia gab die sorgenvolle Miene auf. „Du bist nichts als ein erbärmlicher Pfennigfuchser, Hugo!“

Er verneigte sich gelangweilt, schlenderte ein Stück von ihr weg und sah den Tanzenden beim Cotillon zu.

Seine Schwägerin warf ihm wütende Blicke nach. Der Anblick, den Hugo an diesem Abend bot, war nicht nach ihrem Geschmack. Sein Haar war viel zu kurz geschoren und ohne jede Raffinesse einfach nach hinten gekämmt, sein Kragen nicht breit genug, um modisch zu sein. Und dann dieser Frack! Er saß zwar tadellos, war aber so dunkel, dass Hugo darin wirkte, als würde er Trauer tragen. Besonders, wo er auch noch schwarze Kniehosen angezogen hatte.

Doch war es nicht die Kleidung an sich, mit der er der Familie Schande machte. Er selbst war das Problem. Diese Schultern … Amelia schauderte unwillkürlich. Eher wie ein Landarbeiter als ein Gentleman! Und sein Teint, den er unbekümmert Wind und Sonne aussetzte, sodass er fast schon vulgär braun gebrannt war. Als ihr Blick auf die hinter seinem Rücken verschränkten Hände fiel, zuckte sie zusammen. Er hätte wenigstens Handschuhe überziehen können! Diese furchtbaren Hände mit all den grässlichen Schwielen und Narben legten ein beredtes Zeugnis davon ab, dass ihr Schwager seine Jugend mit körperlicher Arbeit verbracht hatte.

Sie wandte den Blick von seinen Händen ab und konzentrierte sich auf seinen Geiz. „Nicht jeder mag sein Leben in mönchischer Klausur und selbst gewählter Armut verbringen, Hugo. Wir haben Ausgaben, Thomas und ich. Es ist teuer, ein respektables Leben zu führen. Du …“ Verächtlich nahm sie noch einmal seine schlichte Kleidung in Augenschein. „Du hast ja keine Ahnung, welche Ausgaben ein Gentleman wie Thomas zu tätigen hat.“

Die schwache Betonung, die sie auf das Wort Gentleman legte, war unmissverständlich. Aber Hugo machten derartige Anspielungen schon lange nichts mehr aus. Sie wollte ihn nur daran erinnern, dass in seinen Adern Kaufmannsblut floss. Seine Mutter war die zweite Frau des alten Lord Norwood gewesen, eine reiche Bürgerliche.

Lady Norwood fuhr fort: „Wie auch immer, Hugo, Thomas hat als Lord Norwood bestimmte Pflichten zu erfüllen. Er hat ein Recht auf sein Erbe. Und du darfst ihm nicht vorenthalten …“

„Das Erbe, das Thomas angetreten hat, meine Liebe“, unterbrach Hugo sie mit schneidender Stimme, „bestand lediglich aus einem schandbar heruntergewirtschafteten Gut, einem verfallenden Landsitz, auf dem bis unters Dach Hypotheken lasteten, und einem Berg von Schulden. Dass Thomas überhaupt etwas geerbt hat, verdankt er weder meinem Vater noch deinem Mann, sondern jenem weitsichtigen Vorfahren, der den Fideikommiss eingerichtet hat. Wäre das Land nicht unveräußerlich, hätten mein Vater und mein Halbbruder auch das noch verspielt.“

Amelia wand sich unbehaglich. „Das weiß ich. Können wir das nicht einfach vergessen? Jetzt ist alles anders, du bist zurück und kannst …“ Ihre Stimme verlor sich, als sie das Funkeln in seinen Augen sah. Sie spielte mit ihren Fingerringen. „Es tut mir natürlich leid, was dir passiert ist, aber schließlich ist es dir nicht allzu schlecht ergangen …“

„Davon hast du keine Ahnung …“

„… und du bist zu einem Vermögen gekommen. Ich bin mir sicher, dass du Thomas’ Schulden – und meine – begleichen könntest, ohne den Verlust des Geldes auch nur zu bemerken. Schließlich sind wir doch deine Familie.“ Sie wagte es nicht, ihm ins Gesicht zu schauen.

Er presste die Lippen aufeinander. „Ach ja? Dieses … dieses Gefühl familiärer Verbundenheit … ehrt dich natürlich. Aber ich werde nicht für Thomas’ Schulden aufkommen. Und für deine auch nicht.“

„Nein. Von dir kann niemand Hilfe erwarten …“

„Ich habe die Familie vor dem Bankrott und dem Schuldgefängnis gerettet, falls du dich erinnerst. Und ich habe wiederholt erklärt, dass ich Thomas gern zeige, wie er das Gut leiten und …“

„Das glaube ich dir aufs Wort – damit du einen Kaufmann aus ihm machen kannst, wie du selbst einer bist!“ Amelia rümpfte empört die Nase. „Wie Thomas dann allerdings eine gute Partie machen soll, ist mir ein Rätsel!“

Hugo sah regungslos über sie hinweg.

„Wenn du Thomas wirklich helfen wolltest, würdest du ihm eine größere Summe schenken. Er würde seinen Weg schon gehen. Und du müsstest dir nie wieder Gedanken um uns machen. Aber nein: Uns auf direkte Art helfen, das willst du nicht. Es macht dir nämlich viel zu viel Spaß, uns in der Hand zu halten.“

Hugo zog die Augenbrauen zusammen. Er musste zugeben, dass ein Körnchen Wahrheit in dieser Anschuldigung steckte. Nicht, dass er Macht über Thomas und Amelia ausüben wollte, aber ihre ständigen Betteleien gaben ihm irgendwie das Gefühl, doch zur Familie zu gehören. Was für eine erbärmliche Vorstellung, dachte er.

„Ehrlich gesagt, ich wäre froh, wenn ich dich und Thomas nie wieder sehen müsste. Ich würde mich ja gerne meiner Verantwortung für den Jungen entledigen, aber er ist mein einziger Verwandter, und ich habe natürlich eine Verpflichtung ihm gegenüber.“

„Und warum willst du dann nicht …“

„Meine Pflicht ist es sicherzustellen, dass Thomas lernt, wie er aus diesem Teufelskreis von Kartenspiel und Schuldenmachen aussteigen kann, in dem alle unsere Vorfahren gefangen waren.“

„Wie kannst du es wagen, seine Vorfahren zu kritisieren! Immerhin waren sie von vornehmer Geburt.“

„Und eine vornehme Geburt zieht automatisch ein Leben voller Schulden nach sich, willst du mir das sagen? Dann danke ich Gott dafür, dass durch meine Adern auch gewöhnliches Blut fließt. Ich habe keine Lust, das schon wieder zu erörtern. Nein“, er sah sie ernst an, „das ist mein letztes Wort, Amelia: Du und Thomas, ihr müsst lernen, von eurem Einkommen zu leben, oder jemand anders finden, der eure Schulden begleicht.“

„Das werden wir auch, wenn du nur endlich nach Yorkshire verschwindest!“, erwiderte Amelia heftig. „Du hättest wirklich zu keinem schlechteren Zeitpunkt nach London kommen können.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Thomas und ich haben die Lösung für all unsere Probleme gefunden. Wenn du wieder weg bist, können wir zur Tat schreiten.“

„Eine Lösung?“, fragte Hugo irritiert.

Sie antwortete nicht, sondern gab vor, ein Ölgemälde zu studieren, auf dem eine arkadische Landschaft abgebildet war.

„Antworte mir: Was für eine Lösung, Amelia?“, wiederholte er im Befehlston.

Amelia warf den Kopf zurück und hob störrisch das Kinn. Ihr Schwager wartete und starrte sie schweigend an.

Schließlich gab sie nach. „Thomas wird dasselbe tun wie dein Vater. Aber das Mädchen ist nur mäßig an ihm interessiert. Und deine Existenz, nun ja, wenn deine Herkunft bekannt wird, wird es vermutlich nie zur Verlobung kommen. Du weißt so gut wie ich, dass Titel und blaues Blut alles sind, was für sie zählt.“ Unbehaglich trat sie von einem Fuß auf den anderen.

„Wer, bitte schön, legt Wert auf Titel und blaues Blut?“ Hugo war für einen Augenblick irritiert. „Du willst doch nicht etwa andeuten, dass Thomas beschlossen hat, eine Erbin zu heiraten?“

„Doch, sicher. Eigentlich ist der Gute ja noch viel zu jung, um sich zu binden. Aber wenn du weiterhin darauf bestehst, uns so furchtbar kurz zu halten, wird er das Opfer wohl bringen müssen …“

Hugo überlegte. Vielleicht ist ein Verlöbnis gar keine schlechte Idee, dachte er. Mit der richtigen Frau an seiner Seite würde Thomas vielleicht lernen, seinen ruinösen Anwandlungen und den Einflüsterungen seiner Mutter zu widerstehen.

Als sein Vormund und Onkel hätte Hugo beim Aufsetzen des Ehevertrags ein Wörtchen mitzureden. Er würde Sorge tragen, dass die Braut und alle Kinder vor den Folgen von Thomas’ Extravaganz geschützt wären. Ja – vielleicht ist eine Heirat tatsächlich die Lösung, überlegte er. Es hing natürlich alles von Thomas’ zukünftiger Frau ab.

„Und? Wer ist die Auserwählte?“, meinte er interessiert.

Amelia, die offensichtlich erleichtert war, dass er die Neuigkeit so gut aufnahm, zögerte erst, dann gewann ihr Mitteilungsbedürfnis die Oberhand. „Es ist noch nichts beschlossen, und wenn du nicht unverzüglich zurück nach Yorkshire fährst … wenn du dich nicht in Schweigen hüllen kannst …“ Sie beugte sich vor. Ihre zarte Haut glühte vor Aufregung, als sie flüsterte: „Es ist ein Geheimnis, musst du wissen. Sie ist die Tochter eines Nabobs. Sie hat eine Diamantenmine geerbt!“

„Welches Nabobs? Seit wann ist ein Nabob in der Stadt?“

„Schsch, es ist, wie gesagt, ein Geheimnis. Außerdem gibt es keinen Nabob …“

„Aber du sagtest doch …“

„Soviel ich weiß, ist er tot, was einfach himmlisch ist, denn diese Neureichen sind ja alle so schrecklich laut und unkultiviert, und der Makel, der Kaufleuten anhaftet …“ Sie unterbrach sich. „Nicht, dass das Mädchen irgendwie vulgär wäre – sie ist sanft und gefügig, aber es ist natürlich ein Geschenk des Schicksals, dass sie eine Waise ist. Thomas wird von Anfang an über all ihren Besitz verfügen können.“

Noch immer wirkte Hugo skeptisch. „Merkwürdig, dass ich davon gar nichts weiß. Wie heißt sie denn?“

Amelia schürzte die Lippen. „Es geht dich zwar überhaupt nichts an, aber gut, ich will es dir sagen: Thomas umwirbt das Singleton-Mädchen.“

„Das Singleton-Mädchen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Erstaunt blickte er sie an.

Sie nickte stolz.

Hugo schüttelte verwundert den Kopf. „Guter Gott! Ich wusste wirklich nicht, dass der Junge schon so verzweifelt ist. Rose Singleton muss doch mindestens so alt sein wie du!“

„Rose Singleton? Du vergisst wohl, dass ich kaum der Kinderstube entwachsen war, als ich geheiratet habe … und natürlich pflegt sie sich kein bisschen … Aber was hat Rose Singletons Alter … oh nein, du willst doch nicht sagen, du dachtest …“

Sie lachte so sehr, dass ihr die Tränen kamen. „Rose Singleton? Und Thomas? Was für eine ulkige Idee!“

„Nach allem, was ich weiß, gibt es nur eine unverheiratete Miss Singleton. Nämlich Rose“, erwiderte er kühl.

„Du hast die lang verloren geglaubten Singletons vergessen“, erklärte Amelia nüchtern und tupfte sich mit einem Spitzentuch die Tränen aus den Augenwinkeln.

„Verloren geglaubte Singletons? Davon habe ich ja noch nie etwas gehört.“

„Ich auch nicht, muss ich gestehen. Aber dann kam dieses Mädchen, und Rose führt sie in die Gesellschaft ein. Ach, Hugo, sie besitzt eine Diamantenmine! Sie ist genau das, wonach Thomas gesucht hat!“ Sie stopfte das Tuch wieder in ihr Ridikül.

Hugo schüttelte skeptisch den Kopf. „Eine aus dem Nichts aufgetauchte Singleton, die angebliche Tochter eines Nabobs … Und du sagtest, sie sei eine Dame?“

„Nun ja, sie kommt aus keiner besonders guten Familie … aber sie ist unbestreitbar eine Dame. Sonst würde Thomas sie nicht heiraten“, erklärte Amelia entschieden. „Das Mädchen selbst ist eine Waise, der Vater ist tot und kann keinen mehr in Verlegenheit bringen. Und es gibt eine Diamantenmine.“

„Die Erbin einer Diamantenmine“, murmelte Hugo versonnen. „Du hast das natürlich überprüfen lassen?“

Amelia zuckte mit den Schultern. „Dass sie vulgäre Verwandte hat, ist klar, warum sollte ich sie also überprüfen lassen?“

Er seufzte. „Ihren finanziellen Hintergrund, meine ich.“

„Warum? Du machst die Dinge immer so unnötig kompliziert.“

Autor

Anne Gracie

Schon als junges Mädchen begeisterte sich Anne Gracie für die Romane von Georgette Heyer – für sie die perfekte Mischung aus Geschichte, Romantik und Humor. Geschichte generell, aber auch die Geschichte ihrer eigenen Familie ist Inspirationsquelle für Anne, deren erster Roman für den RITA Award in der Kategorie beste...

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