Der unwiderstehliche Dr. North

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Eine Fortbildung in London: Für die junge Ärztin Claire geht ein Traum in Erfüllung! Aber ihr neuer Boss, der renommierte Neurochirurg Alistair North, ist eine echte Herausforderung. Statt ihr etwas beizubringen, wagt der umschwärmte Playboy-Doc, sie heiß zu küssen …


  • Erscheinungstag 06.03.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505888
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Claire Mitchell war zwar schon seit mehreren Wochen in London, aber noch immer musste sie sich kneifen, um es zu glauben, wenn sie auf die Straßen von Paddington hinausging. Ihr als Australierin kam das alles leicht unwirklich vor, als würde sie durch die Kulissen von Mary Poppins oder Das Haus am Eaton Place streifen: viktorianische Reihenhäuser mit Balkons und Säulen vor dem Eingang und in der Mitte winzige, säuberlich gepflegte Gärten.

Als sie durch den kleinen Park mit seinen zwei schmiedeeisernen Toren ging, fehlte zum Glück der typische Londoner Nieselregen. Morgenlicht drang durch das zarte, leuchtend grüne Frühjahrslaub der uralten Eichen und Ulmen. Der Park ihrer Kindheit war staubig und trocken gewesen, und nur die Menschen neben ihr hatten auf dem Spielplatz von Gundiwindi etwas Schatten geworfen.

Schnell ging sie an einer Straße vorbei, auf der in einer Stunde der Verkehr toben würde. Jetzt waren nur Straßenkehrer, Bäcker, Zeitschriftenhändler, Baristas und weitere Frühaufsteher aktiv. Durch das Verkaufsfenster ihrer italienischen Lieblingstrattoria begrüßte Tony sie mit einem fröhlichen „Buongiorno“ und überreichte ihr auf einem Papptablett sechs caffè latte. „Mit Sie geht die Sonne auf, bella.

Claire lächelte und verspürte eine unbändige Freude. Der redselige Barista flirtete zwar mit sämtlichen weiblichen Wesen zwischen zwei und zweiundneunzig, aber da nur wenige Männer sie überhaupt wahrnahmen, war sein Kompliment für sie ein wunderschöner Start in den Tag.

Sie kaufte sich ein Schokocroissant, balancierte die Tüte auf dem Kaffee und ging zum Paddington Children’s Hospital. Als ein leuchtend roter Doppeldeckerbus an ihr vorbeifuhr, machte sie ein Foto mit ihrem Handy und schickte es ihrem Bruder. Er war stolzer Besitzer der Autowerkstatt von Gundiwindi und liebte einfach alles, was einen Motor hatte. Claire fotografierte oft etwas für ihn und bekam dafür von ihm Bilder von ihren Nichten und Neffen oder von ihren Eltern.

Im Gegensatz zu ihr lebte David gern in der kleinen Stadt im Outback, in der sie aufgewachsen waren. Weil er gut Fußball und Cricket spielte, hatte er sich immer zugehörig gefühlt und konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu wohnen. Claire dagegen wollte weg, seit sie zehn gewesen war – weg aus der engstirnigen Kleinstadt am Rande der Wüste, in der sie so oft schikaniert worden war.

Sie näherte sich den verzierten Toren des Kinderkrankenhauses, eines roten Backsteinbaus, dessen Türme in den Himmel ragten. Davor trotzten wie jeden Morgen einige Demonstranten mit Handschuhen der Kälte und hielten Schilder mit der Aufschrift „Rettet unser Kinderkrankenhaus“ hoch. Viele davon waren Eltern gegenwärtiger Patienten, aber es kamen auch Teilnehmer, die vor Jahren selbst im Krankenhaus behandelt worden waren. Gemeinsam hielten sie die Hoffnung am Leben, dass das Krankenhaus doch noch vor der Schließung bewahrt werden konnte.

„Hier kommt heißer Kaffee!“, rief Claire wie fast jeden Morgen. Sie arbeitete zwar erst seit ein paar Wochen im castle, wie das Krankenhaus bei den Einheimischen hieß. Aber die Vorstellung, dass London eine so wichtige Einrichtung verlieren könnte, war beängstigend. Ohne das Krankenhaus hätte es beim Brand in der Grundschule Westbourne mehrere Tote gegeben. Einige davon waren noch nicht über den Berg, zum Beispiel der kleine Ryan Walker.

Die tapferen Demonstranten jubelten über den Kaffee. „Guten Morgen, Liebes“, sagte einer. „So früh schon hier? Sind Sie noch in einer australischen Zeitzone?“, fragte ein anderer.

Claire lachte. „Nein. Dann wäre mein Arbeitstag nämlich zu Ende, und ich würde nach Hause gehen.“

Sie überreichte den Kaffee, ging durchs Tor und dann durch den Torbogen. Hinter der malerischen viktorianischen Fassade verbarg sich ein Krankenhaus mit hochmoderner Ausstattung sowie erfahrenen, engagierten Mitarbeitern. Es hatte eine hundertfünfzig Jahre alte Geschichte, und Claire war stolz, Teil davon zu sein. Als man ihr angeboten hatte, unter Anleitung des weltberühmten Neurochirurgen Alistair North zu arbeiten und sich von ihm ausbilden zu lassen, hatte sie vor Freude laut gequietscht.

„Aber, aber, Miss Mitchell“, hatte am anderen Ende der Leitung die Sekretärin des Vorsitzenden vom Royal College of Surgeons etwas missbilligend gesagt. Dann hatte sie ihr die Bedingungen der Facharztausbildung erläutert. Claire war überglücklich gewesen, denn ihre Arbeit war ihr Leben, die Weiterbildung in London eine einmalige Chance. Vor lauter Freude war sie durch die Flure des Flinders Medical Centre getanzt und hatte jedem erzählt, dass sie nach London ziehen würde.

Als sie nun die fünf Treppen hinaufeilte, dachte sie: Hätte ich damals gewusst, was mich hier erwartet, wäre ich nicht ganz so begeistert gewesen. Beim Anblick des großen Koalas musste sie wie immer lächeln. Alle anderen Stationen waren nach Vögeln und anderen Tieren der nördlichen Halbkugel benannt. Dass die Tür zur neurologischen Abteilung ausgerechnet ein australisches Beuteltier zierte, war mysteriös, aber es gefiel Claire. So fühlte sie sich in diesem Land, das sich als unerwartet fremd entpuppte, etwas weniger als Außenseiterin.

Claires Muttersprache war Englisch, und sie war in einem Land aufgewachsen, dessen Flagge noch immer den Union Jack zeigte. Aber die Menschen in London waren einfach anders. Auch der großartige Alistair North, wenn auch nicht auf die typische zurückhaltend-höfliche Art der Briten. Claire hatte in Australien schon mit mehreren begabten Neurochirurgen zusammengearbeitet und wusste, dass großes Talent oft mit merkwürdigen Eigenarten einherging. Diese waren bei Mr. North allerdings besonders ausgeprägt, und manchmal war sie nicht sicher, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war, ihre fachärztliche Weiterbildung hier zu absolvieren.

Sie betrat die helle Abteilung und stellte erstaunt fest, dass niemand auf der Schwesternstation war. Erschrocken blickte Claire zu der rot-gelben Uhr mit den blauen Zahlen. Zu ihrer Erleichterung hatte sie sich nicht verspätet. Natürlich nicht, das passierte ihr doch nie. Im Gegenteil: Heute war Claire noch früher dran als sonst. Aufmerksamkeit und sorgfältige Vorbereitung waren ihr zur zweiten Natur geworden – seit jenem schicksalhaften Tag in der fünften Klasse, der die ganze kleine Welt ihrer Kindheit verändert hatte.

Claire setzte sich an einen Computer und loggte sich ein, denn sie las sich vor der Visite immer die nächtlichen Berichte über ihre Patienten durch. Dafür nahm sie sich zusätzlich Zeit, um genau Bescheid zu wissen. Allein die Vorstellung, vor den kritischen Blicken der Medizinstudenten in Verlegenheit zu geraten, machte sie nervös.

Auf dieser Station wurden Kinder mit unterschiedlichsten neurologischen und kraniofazialen Erkrankungen sowie Störungen des zentralen Nervensystems behandelt, auch solchen, bei denen eine Operation nötig war. Genau aus diesem Grund hatte Claire unbedingt herkommen wollen. Und wie ihr Bruder immer lakonisch zu sagen pflegte, nachdem alles schiefgegangen war: „Damals schien das eine gute Idee zu sein.“ Und jetzt bezweifelte Claire, dass ihre Entscheidung tatsächlich so gut gewesen war.

Langsam trudelten die Tagesschwestern ein, kurz darauf die Medizinstudenten. Schließlich hastete der notorische Zuspätkommer Andrew Bailey herein, der ihr unterstellte Assistenzarzt. Verblüfft blickte er sich um. „Ist er noch später dran als ich?“

Claire, die gerade den Bericht über den kleinen Ryan Walker gelesen hatte – „keine Veränderung“ – stand seufzend auf. „Ja, ist er.“

Andrew lächelte jungenhaft. „Ich muss meinem Vater unbedingt sagen, dass ich zum Neurochirurgen prädestiniert bin – wegen meiner Unpünktlichkeit!“

„Vielleicht liegt da mein Problem …“ Claire sah nach, ob der hochbegabte Chirurg und Oberarzt, dem der Zeitbegriff ebenso fehlte wie ein Gespür für rücksichtsvolles Verhalten bei der Arbeit, ihr eine Nachricht geschickt hatte, aber das war nicht der Fall.

„Ich habe gehört, dass er drüben im Frog and Peach Hof gehalten hat, während wir hier geschuftet haben“, sagte Andrew in verschwörerischem Ton.

„Das muss ja noch nicht heißen, dass er lange gefeiert hat.“

Andrew zog die dunklen Augenbrauen hoch. „Ich bin gerade der entzückenden Islay Kennedy begegnet, die noch das Outfit von gestern anhatte. Sie erzählte etwas von auf den Tischen tanzen, gefolgt von einer illegalen Bootsfahrt und dann Eiern und Speck im Worker’s Café, um von dort aus den Sonnenaufgang über der Themse zu bewundern. Wenn er auftaucht, werde ich mich vor ihm verneigen.“

Heiße Wut erfasste Claire. Am liebsten hätte sie Alistair North erwürgt! Die Chirurgie war wirklich ein Männerverein, und in der Neurochirurgie war es noch schlimmer. Seit Jahren kämpfte sie gegen den herrschenden Sexismus, denn Talent allein genügte nicht. Und jetzt nun musste sie sich auch noch mit Männern auseinandersetzen, die sich aufführten wie kleine Jungen.

Claire war so aufgebracht, dass sie etwas ganz Untypisches tat: Sie ließ ihren Ärger am Überbringer der Nachricht aus.

„So ein Verhalten ist nichts Verdienstvolles, sondern pubertär und verantwortungslos. Sollten Sie jemals so etwas bringen, dann glauben Sie ja nicht, dass ich bei einer OP mit Ihnen zusammenarbeiten werde.“

Bevor der verblüffte junge Arzt antworten konnte, ertönte das ohrenbetäubende Geräusch von Luftrüsseltröten. Ein großer Mann mit dichtem, verwuscheltem dunkelblondem Haar und einer Faschings-Hornbrille – mit unechter Knollennase und Schnurrbart – marschierte den Flur entlang. Ein kleines Mädchen klammerte sich wie ein Affe an seinem Rücken fest. Ihnen folgten Kinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren. Einige gingen, andere wurden von Krankenschwestern im Rollstuhl geschoben, und viele hatten einen Verband um den Kopf. Aber alle pusteten begeistert in ihre Tröten.

„Wink Dr. Mitchell zu“, sagte der Mann zu dem kleinen Mädchen. „Wusstest du, dass sie in Wirklichkeit ein Känguru ist?“

Er sprach eindeutig mit der tiefen, klangvollen Stimme von Alistair North.

Claires Körper spannte sich an, wie immer, wenn er mit ihr sprach – oder wenn sie an ihn dachte. Es war eine fast ungezügelte Abneigung, doch in ihrem Innern vibrierte noch etwas anderes. Ganz sicher fühlte sie sich nicht zu ihm hingezogen. Der gesamte weibliche Teil der Belegschaft hielt Alistair North für unwiderstehlich, aber sie gehörte nicht dazu!

Doch als der einen Meter achtzig große Mann mit den breiten Schultern das erste Mal auf sie zugekommen war, hatte seine selbstbewusste Ausstrahlung auch sie beeindruckt. Im Gegensatz zu ihr schien Alistair North keinerlei Selbstzweifel zu kennen. Seine perfekt geschnittenen Outfits trug er mit lässiger Eleganz. Und trotz seines vornehmen Akzents hatte er ein sehr ansprechendes, äußerst unbritisches freches Lächeln, das so gar nicht zu einem Oberarzt zu passen schien.

Wenn es sich auf seinen markanten Zügen ausbreitete, schien der renommierte Chirurg sich in einen kleinen Jungen zu verwandeln. Aber nicht sein Lächeln ging ihr so unter die Haut, sondern das Funkeln seiner schiefergrauen Augen. Wenn er seine Aufmerksamkeit auf jemanden richtete, kam der sich vor, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt.

„Herzlich willkommen im Paddington“, hatte er am ersten Tag zu ihr gesagt.

Sie hatte ihm die Hand gegeben, den festen Druck seiner Finger um ihre gespürt – und entsetzt festgestellt, dass ihr der Atem stockte. Plötzlich hatte sie ihre sorgsam vorbereiteten Worte vergessen und erwiderte mit breitem australischem Akzent: „Danke. Ich freue mich, hier zu sein.“

Schon nach einer knappen Woche wusste Claire: Alistair Norths freches Lächeln bedeutete fast immer, dass er drauf und dran war, gegen die Vorschriften zu verstoßen. Und mit dem eindringlichen Blick seiner faszinierenden Augen, der einem das Gefühl gab, unsagbar wichtig zu sein, lockte er oft und gerne Frauen zu sich ins Bett.

Zum Glück war Claire jetzt, nachdem sie ein paar Wochen mit ihm zusammenarbeitete, immun dagegen. Zehn Jahre lang schuftete sie schon, um in ihrer Karriere vorwärtszukommen, und das würde sie nicht aufs Spiel setzen, indem sie mit ihrem Chef im Bett landete. Außerdem mochte sie Alistair North gar nicht und würde sich nicht einmal dann mit ihm abgeben, wenn er der einzige Mann auf der Welt wäre.

Doch offenbar stand sie mit dieser Meinung ziemlich alleine. In den letzten Wochen hatten unzählige Kolleginnen versucht, von ihr Informationen über Alistair North und seine Vorlieben zu bekommen. Oder sie hatte als Vermittlerin für aufgebrachte Frauen fungieren sollen, mit denen er ausgegangen war und die er dann nicht einmal angerufen hatte. Dieses rücksichtslose Verhalten in Kombination mit seinem lässigen Umgang mit den Vorschriften machte Claire klar, dass jede persönliche Beziehung zwischen ihnen beiden ausgeschlossen war.

Die Geschichten über Alistair North, die im Krankenhaus kursierten, waren schier unglaublich. Doch weil Claire mit ihm zusammenarbeitete, wusste sie, dass sie stimmen mussten. Ständig hörte sie von seinen Heldentaten, ob nun im OP oder anderswo, und Gerüchte, mit welcher Frau er zuletzt gesehen worden war und welche er gerade fallen gelassen hatte. Am meisten regte sie auf, wie beeindruckt die jungen Assistenzärzte von ihm waren, während sie immer wieder den Schaden begrenzen musste, den er anrichtete.

Das, was sie in seiner Gegenwart empfand, war also reine Feindseligkeit. Alistair North war zwar ein brillanter Chirurg, aber außerhalb des OPs verhielt er sich absolut unprofessionell. Mit seinen neununddreißig Jahren benahm er sich, als wäre er in der Pubertät. Die meisten waren in seinem Alter verheiratet, aber die Frau, die ihn heiratete, musste schon sehr mutig sein. Doch trotz allem musste Claire zugeben, dass er der beste Neurochirurg im Land war.

Das kleine Mädchen, das er auf dem Rücken trug, winkte ihr nun eifrig zu. Claire blinzelte hinter ihrer Brille. Es war Lacey, die in einer Stunde operiert werden sollte. Warum lag sie nicht im Bett?

„Winken Sie schon zurück, Känga.“ Sein glasklares Oxford-Englisch schien sie zu necken. „Davon bricht man sich nicht den Arm.“

Wieder wurde Claire wütend. Ob er wusste, dass Kängurus boxten? Am liebsten hätte sie ihm auf die unechte Nase geschlagen. Als sie den erwartungsvollen Blick der anderen Mitarbeiter spürte, fühlte sie sich wieder wie in Gundiwindi, als sie vor der versammelten Klasse stand. Sie sah den roten Staub im unbarmherzigen Licht der Sonne und ihren Lehrer, dessen angespanntes Lächeln verschwand, als er den Mund missmutig zu einem schmalen Strich zusammenpresste. Sie hörte das Husten ihrer Mitschüler, die den bösartigen Bemerkungen immer vorangingen, bevor Mr. Phillips die Klasse wieder in den Griff bekam.

Die ist so blöde. So was von dämlich.

Hör auf, verdrängte Claire diese Erinnerungen. Schließlich bewies sie seit zwei Jahrzehnten, dass sie alles andere als blöd war. Sie war eine Frau, die auf einem schwierigen, von Männern dominierten Gebiet arbeitete und in elf Monaten ihre Abschlussprüfung in Neurochirurgie ablegen würde. Um so weit zu kommen, hatte sie sich gegen eine Menge Sexismus durchsetzen müssen. Auf keinen Fall würde sie jemandem erlauben, ihr Minderwertigkeitsgefühle einzureden. Und erst recht würde sie sich nicht von einem Mann zum Winken auffordern lassen, der endlich erwachsen werden sollte. Stattdessen würde sie wie immer die Ordnung wiederherstellen.

Mit ihren hohen Absätzen war Claire fast so groß wie Alistair North. Obwohl sie am liebsten flache Ballerinas trug, hatte sie sich Ende der ersten gemeinsamen Woche High Heels zugelegt. Die zusätzlichen Zentimeter warnten ihn davor, sich mit ihr anzulegen.

Claire stellte sich neben ihn, sodass sie Lacey zugewandt war. Sie ignorierte Alistair North, einschließlich seines Duftes nach frisch gewaschener Baumwolle und einem Hauch von Sonnenschein, bei dem sie plötzlich Heimweh bekam.

Mit ausgebreiteten Armen fragte sie das Mädchen: „Möchtest du mal mit Känga hüpfen?“

„Oh ja!“ Lacey schmiegte sich an sie und rief: „Boing, boing, boing!“

Claire stülpte ihren weißen Kittel über das Mädchen, um den Beutel eines Kängurus anzudeuten. Sie eilte durch die Station und brachte die aufgekratzte Lacey wieder ins Bett. Als sie das Mädchen ablegte und zuzudecken versuchte, hüpfte es auf und ab.

Na, vielen Dank, Alistair, dachte Claire. Nun würden die Routineuntersuchungen, die vor der OP anstanden, doppelt so lange dauern. Ein weiterer Tag fing wegen des Chefchirurgen mit Verspätung an.

2. KAPITEL

Hinter seinem Mundschutz bewegte Alistair North den Kiefer hin und her und dachte über die unfassbar perfektionistische, nervige Assistenzärztin nach, die er ausbildete. Sie hatte äußerst sachkundig eine Hauttasche für den Vagusnerv-Stimulator geformt, den sie Lacey Clarke einsetzte. Nun wickelte sie vorsichtig den Draht um den linken Vagusnerv, der hoffentlich Laceys Anfälle vermindern würde. Das war mit Medikamenten bislang leider nicht gelungen.

Ein bisschen Strom konnte tödlich sein, aber auch Leben retten. Das wusste Alistair nur zu gut. Was er nicht wusste: Warum war Claire Mitchell ständig so angespannt, dass man durch Zupfen ihrer Sehnen eine Melodie hätte spielen können?

Aufgrund ihrer Fähigkeiten und der ausgezeichneten Referenzen vom Royal Prince Alfred Hospital in Sydney und vom Flinders Medical Centre in Adelaide hatte sie sich gegen fünfundzwanzig andere Bewerber aus dem Commonwealth durchgesetzt. Mit ihren geschickten kleinen Händen und ihren sicheren Bewegungen war sie die Begabteste von allen. Das musste ihr doch klar sein, oder?

In seinem Fachgebiet traf Alistair ständig auf Menschen mit überdimensioniertem Ego. Und auch Claire wusste, was sie konnte. Er hatte selbst miterlebt, wie absolut mitleidslos sie gegenüber den Medizinstudenten und dem ihr unterstellten Assistenzarzt gewesen war, als diese sich nicht gut genug vorbereitet hatten, um ihre Fragen zu beantworten. Aber die meisten seiner Ärzte in der Facharztausbildung hielten sich für die Größten und stolzierten selbstverliebt umher.

Claire Mitchell stolzierte nicht, dabei hatte sie die tollsten Beine, die er seit Langem gesehen hatte. Und ihre Schuhe … Du meine Güte! Der absolute Kontrast zu ihrer unterkühlten, strengen Art. Durch die Schuhe hielt sie sich sehr aufrecht, ihre Brüste richteten sich auf, und ihre Hüften schwangen, als wollten sie liebkost werden …

Spiegelten Claires Schuhe und ihre Beine ein Verlangen tief in ihrem Innern wider? Wollte sie sich amüsieren, wie er es gerne tat? Würde er sich gerne mit ihr amüsieren? Nein. Mit schönen Beinen konnte man keinen charakterlichen Mangel ausgleichen.

Claire hatte schon so viel erreicht und würde mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit ihre Prüfungen im ersten Anlauf bestehen, was sehr ungewöhnlich war. Eigentlich sollte sie viel mehr Spaß an ihrer hart erarbeiteten Position haben. Aber hatte sie überhaupt an irgendetwas Spaß? Eigentlich wirkte sie nie glücklich.

Als ihr Chef hatte Alistair dafür zu sorgen, dass sie ihr Arbeitspensum bewältigen konnte und ausreichend Zeit für die Vorbereitung auf die Prüfung hatte. Und er hatte zwei Jahre in Australien gelebt, das abgesehen von der Sprache wenig mit England gemeinsam hatte. Es hatte Monate gedauert, bis er im Kinderkrankenhaus Fuß gefasst hatte und sozial eingebunden war. Deshalb hatte er damit gerechnet, dass Claire Mitchell anfangs Schwierigkeiten haben würde. Zehn Tage, nachdem sie bei ihm angefangen hatte, war sie sehr niedergeschlagen gewesen, als hätte sie Heimweh.

„Wie wär’s mit einem Bier im Frog and Peach?“, hatte er spontan vorgeschlagen.

Claire hatte die faszinierenden Augen – Wirbel aus Hell- und Dunkelbraun, die ihn an seinen Lieblings-Schokoriegel erinnerten – zusammengekniffen und in ihrem unverkennbaren Akzent knapp erwidert: „Ich habe Berichte zu schreiben.“

„Es gibt immer Berichte zu schreiben.“ Er schenkte ihr das Lächeln, das auch die Widerspenstigsten erweichte.

„Vor allem, weil Sie das ja kaum jemals tun.“

Alistair wusste nicht, wer verblüffter war: er selbst, denn so sprachen Assistenzärzte eigentlich nicht mit ihrem Chef – oder Claire, weil sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte.

„Verzeihung, das war unangebracht“, sagte sie schnell, allerdings nicht sehr reumütig.

„Quält der Jetlag Sie noch?“, fragte er versöhnlich, denn immerhin mussten sie ja zusammenarbeiten.

Einen Moment lang wirkte sie verwirrt. „Jetlag ist furchtbar“, erwiderte sie dann.

Allerdings wussten sie beide, dass Claire nicht mehr darunter litt. Sie hatte den Freitagabend mit Berichteschreiben verbracht, während Alistair in den Pub gegangen war, um ihre langen, verführerischen Beine zu vergessen. Zum Glück war er einer hübschen Hebamme mit irischem Tonfall begegnet. Bei Frauen, die mit Akzent sprachen, wurde er einfach schwach.

Nun beendete Claire Mitchell gerade den letzten Stich und bedankte sich bei allen, die an der OP beteiligt gewesen waren.

Nachdem sie nun schon mehrere Wochen zusammenarbeiteten, fiel es Alistair nicht mehr schwer, ihrem Outback-Akzent zu widerstehen. Seit seiner abgelehnten Pub-Einladung hatte er sie nie mehr privat angesprochen. Solange sie ihre Arbeit erledigte, machte er sich keine Gedanken darüber, ob sie vielleicht einsam war. Eher beunruhigte ihn, warum er sich so bemühte, sie aufzumuntern. Es hätte ihn irgendwie erleichtert, wenn sie ausnahmsweise einmal nicht so unglücklich wirken würde, als wäre gerade ihr Hund gestorben.

Nach einem kurzen Plausch mit der OP-Schwester über den Leichtathletikerfolg ihres Sohnes überließ er Lacey der Fürsorge des erfahrenen Kinderanästhesisten Rupert Emmerson und suchte Claire, die im Personalraum am Computer saß.

„Das lief doch gut.“ Er legte einen Pad in die Kaffeemaschine.

Claire schob sich die Schildpattbrille auf der Nase nach oben. „Ja.“

„Sie klingen überrascht.“

Als sie die Lippen aufeinanderpresste, stand die untere leicht vor – weich, prall und verlockend. Warum war ihm noch nie aufgefallen, dass ihr Mund einfach zum Küssen war?

„Ich bin es nicht gewohnt, dass Kinder vor einer OP so aufgekratzt sind“, sagte sie kühl.

Natürlich. Deshalb war ihm ihr Mund nie aufgefallen: weil sie meistens spitze, kritische Bemerkungen von sich gab, die nicht zu den sinnlichen rosa Lippen passten.

Alistair war es nicht gewohnt, von Mitarbeitern infrage gestellt zu werden, schon gar nicht von jemandem, der von ihm lernen sollte. Er hätte Claire problemlos sehr viele Steine in den Weg legen können, aber er hatte gelernt, dass das Leben zu kurz war, um jemandem zu grollen. Außerdem: Was waren schon sechs Monate?

Komisch allerdings, dass Claire nicht schon mit einem anderen Chirurgen aneinandergeraten war. Der wortkarge David Wu hatte richtiggehend von ihr geschwärmt: Sie habe Intuition, Talent und Mut. Aufgrund seiner Empfehlung war die Wahl auf Claire gefallen.

An ihren Fähigkeiten als Chirurgin hatte Alistair absolut nichts auszusetzen, nur an ihrer Persönlichkeit. Heute Morgen zum Beispiel hatten alle Spaß gehabt – außer Claire Mitchell, die mit ihrem zu einem akkuraten Knoten zusammengefassten blonden Haar gewirkt hatte wie eine strenge Lehrerin. Er hatte sie aufgefordert zu winken – und sofort gewusst, dass das ein Fehler war. Claire stand einfach nicht gerne im Mittelpunkt.

Dabei hatte er die kleine Patientin doch nur ein bisschen ablenken wollen, die vor der OP geradezu in Panik gewesen war. Also hatte er sie auf dem Rücken herumgetragen, und die anderen Kinder waren ihnen in einer spontanen Parade gefolgt. Und nun besaß Claire Mitchell die Unverfrorenheit, ihn zu verurteilen?

„‚Aufgekratzt‘?“, wiederholte er. „Ich war froh, dass sie keine Angst mehr hatte. Lacey musste eine Woche lang unzählige Untersuchungen über sich ergehen lassen, eine MRT und eine CT, sie war zwei Tage lang ans EEG angeschlossen, damit epileptische Anfälle aufgezeichnet wurden und wir herausfinden, welche OP angezeigt ist.“

Alistair war für seine stets entspannte Laune bekannt, aber jetzt klang er belehrend. „Finden Sie nicht, dass Lacey da etwas Spaß verdient hatte?“

Claires goldbraune Augen funkelten. „Doch, natürlich. Aber vielleicht zu einem etwas günstigeren Zeitpunkt.“ Sie schien absolut sicher zu sein, dass ihre Sichtweise die einzig richtige war. Auch Alistair hatte früher solche absoluten Sicherheiten gekannt. Und dann hatte das Schicksal ihm gezeigt, wie naiv das war.

Mit mehr Kraft als nötig zog er seinen vollen Becher aus der Maschine, sodass der Kaffee überschwappte. „Etwas Spontaneität kann nicht schaden, Claire.“

Sie machte große Augen, als wäre sie erschüttert darüber, dass er sie mit Vornamen angesprochen hatte. „In dieser Hinsicht sind wir offenbar verschiedener Meinung, Mr. … Alistair.“

Du meine Güte. Schon am ersten Tag hatte er sie gebeten, ihn mit „Alistair“ anzureden, doch sie war stur bei „Mr. North“ geblieben. Alle anderen Australier, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte, waren absolut entspannt und umgänglich gewesen. Claire dagegen …

„Möchten Sie den ventrikulo-peritonealen Shunt bei Bodhi Singh legen?“, fragte er, weil er lieber wieder an die Arbeit denken wollte. Die war so viel unkomplizierter als die rätselhafte Claire Mitchell!

„Meinen Sie das ernst?“ Sie schien es nicht ganz zu glauben.

„Natürlich.“

Plötzlich breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und auf ihrer linken Wange erschien ein Grübchen.

Autor

Fiona Lowe

Fiona Lowe liebt es zu lesen. Als sie ein Kind war, war es noch nicht üblich, Wissen über das Fernsehen vermittelt zu bekommen und so verschlang sie all die Bücher, die ihr in die Hände kamen. Doch schnell holte sie die Realität ein und sie war gezwungen, sich von den...

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