Die Bolton Brüder (3-teilige Serie)

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SCHWARZES LEDER, NACKTE HAUT
"Mr Bolton, ich bin Josey White Plume." Es ist nicht, was sie sagt, sondern wie sie es sagt! Die Frau mit den schwarzen Mandelaugen könnte Ben gefährlich werden. Er sollte sie aus seinem Büro werfen! Doch das kann er nicht. Er ist schließlich auch nur ein Mann ...

ZUM ERSTEN, ZUM ZWEITEN ... ZU DIR?
Sexy, wild, gefährlich: Ein Bad Boy wie Billy Bolton ist wirklich der Letzte, der zu einer braven Lehrerin wie Jenny passt. Warum nur weckt er trotzdem ihre Lust? Als Billy bei einer Charity-Auktion als Junggeselle versteigert wird, gerät Jenny spontan in Versuchung ...

(K)EIN PLAYBOY FÜR EINE NACHT
"Dann heiraten wir eben." Stella ist sprachlos. Sicher, der One-Night-Stand mit dem attraktiven Playboy Bobby war unglaublich. Aber sie zweifelt: Will er wirklich sie? Oder steckt ihr Vater dahinter? Der ist mächtig genug, Bobbys gesamte Karriere zu ruinieren ...


  • Erscheinungstag 09.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733739959
  • Seitenanzahl 416
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Sarah M. Anderson

Die Bolton Brüder (3-teilige Serie)

IMPRESSUM

COLLECTION BACCARA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2013 by Sarah M. Anderson
Originaltitel: „Straddling the Line“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: DESIRE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe COLLECTION BACCARA
Band 345 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Friederike Debachy

Abbildungen: igorr1 / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 09/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733722937

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Josey atmete tief durch und stieß die Tür zu Crazy Horse Choppers auf. Was für eine dumme Idee, ausgerechnet in einem Motorrad-Shop um Spenden für die Errichtung einer Schule zu bitten! Der Laden machte einen recht vornehmen Eindruck, aber trotzdem, was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Im Vorraum roch es nach teurem Leder und Motorenöl. Zwei schwarze Ledersessel standen rechts und links von einem Couchtisch, dessen Glasplatte auf einem Fuß lag, der aus verbogenen Motorradlenkern gestaltet war. Der Tisch war eine Spezialanfertigung und musste eine Stange Geld gekostet haben. An einer Wand hingen signierte Fotos von irgendwelchen Berühmtheiten zusammen mit einem von Robert Bolton, dem Inhaber des Ladens.

Die gegenüberliegende Wand war aus Glas und gab den Blick in die Werkstatt frei.

Dort arbeiteten ein paar furchterregend aussehende Männer mit genau den Werkzeugen, die Josey für den Werkunterricht brauchte. Oje, war sie wirklich so verzweifelt, dass sie in diesem Schuppen nachfragen sollte?

„Kann ich Ihnen helfen?“, übertönte plötzlich eine Frauenstimme die laute Heavy-Metal-Musik. Eine junge Frau mit strähnigen blonden Haaren blickte sie fragend an. So viele Piercings hatte Josey noch nie an einem Menschen gesehen. Außerdem waren Arme, Schultern und sogar der Hals der Frau mit Tattoos übersät.

„Hallo!“ Josey musste schreien, denn in diesem Moment kreischte plötzlich eine Säge in der Werkstatt los. Was für ein Höllenlärm hier herrschte! „Ich heiße Josey White Plume. Ich habe um halb zehn einen Termin mit Robert Bolton“, fuhr sie lächelnd fort und streckte der Empfangsdame die Hand entgegen. Diese warf ihr lediglich einen abschätzenden Blick zu, und Josey zog die Hand sofort zurück.

„Dein Termin ist hier!“, rief die Frau in eine Sprechanlage.

„Mein was?“, plärrte eine tiefe, blechern klingende Stimme zurück.

Hatte Robert etwa vergessen, dass sie kam? Verunsichert sah Josey durch die Glasscheibe, ein dumpfes Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit.

Cass – der Name stand auf dem T-Shirt der Frau – warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Dein Termin um halb zehn“, rief sie wieder in die Sprechanlage, „genauer gesagt, Bobbys Termin. Aber der ist in L. A., oder hast du das vergessen?“

Wer war in L. A.? Mit wem sprach dieses Piercingwunder eigentlich?

Josey wurde schlecht. Wieso war sie überhaupt hergekommen?

Wochenlang hatte sie sich auf dieses Treffen vorbereitet, hatte im Internet Nachforschungen über Robert Bolton angestellt. Sie wusste, mit wem er sich traf und warum, was er am liebsten aß (Cheeseburger aus irgendeinem schäbigen Restaurant in L. A.) und mit welchen Schauspielerinnen (unzählbar vielen) er irgendwo gesichtet worden war. Sie hatte extra ein knappes schwarzes Wollkleid angezogen, um sich mit diesem sagenumwobenen Geschäftsmann zu treffen. Und nun war er gar nicht da?

Darauf war sie nicht vorbereitet, und Josey hasste es, unvorbereitet zu sein. Für sie war es gleichbedeutend mit versagen.

Auch vor zwei Jahren war es für sie völlig unerwartet gewesen, als Matt sie verlassen hatte. Josey hatte Pläne geschmiedet, aber letzten Endes – denn alles ging zu Ende – hatte er sich für seine Familie entschieden. Und dort hatte sie nicht „hineingepasst“. Matt hatte das wörtlich gemeint, denn sie war eine Lakota-Indianerin, sie passte nicht in seine Welt. Und er hatte kein Interesse daran gehabt, sich mit ihrer Welt auseinanderzusetzen. Zumindest nicht auf Dauer.

„Ich weiß, dass Bobby in Kalifornien ist“, unterbrach die Stimme in der Sprechanlage Joseys Gedanken. „Ist es ein Kunde oder ein Lieferant?“

„Weder noch.“

„Weshalb rufst du dann überhaupt an?“ Der Mann klang ziemlich genervt.

„Tut mir leid“, wandte sich Cass gelangweilt an sie. „Ich kann Ihnen nicht helfen.“

Also, das war ja wohl das Allerletzte. So leicht ließ Josey sich nicht abwimmeln. Eines hatte sie von ihrer Mutter gelernt: Man durfte als Lakota-Frau nicht schweigen, sonst wurde man vergessen. Und sie war mit Leib und Seele Lakota-Indianerin.

Es gab eine Zeit, da hatte sie krampfhaft versucht, keine zu sein. Das hatte ihr allerdings nichts als Seelenqualen eingebracht. Nachdem die Beziehung mit Matt vorbei gewesen war, hatte sie ihren Job in New York gekündigt und war zur ihrer Mutter und ihrem Volksstamm zurückgekehrt. Sie hatte gedacht, man würde sie dort mit offenen Armen aufnehmen – aber dem war ganz und gar nicht so.

Und deshalb war es ihr wichtig gewesen, ihre Zugehörigkeit zum Stamm unter Beweis zu stellen. Sie wollte mitten im Reservat eine Schule bauen. Aber der Bau einer Schule war teuer. Noch teurer war es, die Schule auszustatten.

Crazy Horse Choppers war bekannt dafür, dass sie sich Spendensammlern gegenüber – milde ausgedrückt – nicht eben großzügig zeigten. Na und? Davon würde sie sich nicht abschrecken lassen. Auch wenn Robert Bolton nicht hier war, irgendjemand war hier. Und ehe sie nicht mit diesem jemand gesprochen hatte, würde sie nicht weggehen.

„Aber klar können Sie mir helfen. Es scheint mir, als hätten sowieso Sie hier das Sagen, oder nicht?“

Cass sah sie zwar nicht an, aber ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Absolut. Die Jungs wären völlig aufgeschmissen ohne mich.“

Aha, nun wusste Josey, wie sie es anzugehen hatte. „Sie haben sicher noch keine schulpflichtigen Kinder“, fuhr sie fort. Erfreut sah Cass sie an. Josey konnte die Frau schwer einschätzen. Sie konnte fünfunddreißig, aber auch fünfundfünfzig sein. Aber es kam meistens gut an, wenn man den Leuten schmeichelte. „Ich sammle Geld für die Werkstatt an einer neuen Schule, und da dachte ich, dass ein Motorradladen dafür vermutlich perfekt geeignet ist.“

Na ja, das war etwas gelogen. Zuerst hatte Josey es bei großen Firmen versucht und hatte sich dann langsam über diverse Autowerkstätten, Bauunternehmer und sogar einige wohlhabendere Schulen nach unten gearbeitet. Aber außer ein paar Computern und einer Küche war dabei nicht viel herausgesprungen. Der Motorradladen war ihr letzter Versuch, an Werkzeug zu kommen.

Was hatte sie also zu verlieren? Die Schule würde in fünf Wochen eröffnen.

„Eine Schule?“ Cass runzelte zweifelnd die Stirn. „Na ja, ich weiß nicht …“

Josey zog eine Broschüre hervor. „Ich vertrete die Pine-Ridge-Charter-Schule. Wir bemühen uns um das pädagogische und emotionale Wohl der unterversorgten Kinder des Pine-Ridge-Reservats …“

Cass hob die Arme. „Okay, okay, ich sehe mal, was ich tun kann.“ Wieder betätigte sie die Sprechanlage.

„Verdammt, was ist?“ Der Mann am anderen Ende klang wütend. Erneut machte sich der Klumpen in Joseys Magen bemerkbar.

„Sie will nicht gehen.“

„Wer? Von wem redest du überhaupt?“ Na super, jetzt schrie der Mann sogar.

Cass musterte Josey von oben bis unten. „Von deinem Termin. Sie sagt, sie geht nirgendwohin, bevor sie nicht mit irgendwem gesprochen hat.“

Der Mann fluchte.

Oje, was hatte sie sich da eingebrockt?

„Seit wann schaffst du es nicht, jemanden rauszuwerfen, Cassie?“

Cassie grinste und zwinkerte Josey zu. „Komm doch einfach selbst runter und wirf sie raus.“

„Ich habe keine Zeit. Billy soll ihr Angst einjagen.“

„Der macht eine Probefahrt mit deinem Vater. Bleibst also nur noch du übrig.“

Ein Knacken in der Sprechanlage, danach verstummte das Gerät.

„Ben kommt gleich“, wandte sich Cass grinsend an Josey und deutete auf eine Tür in der Glaswand.

Ben? Benjamin Bolton? Robert war als einziger Bolton im Internet zu finden gewesen. Die anderen waren offensichtlich noch nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen. Außer einem verschwommenen Foto der Mitarbeiter von Crazy Horse hatte sie nichts über irgendeinen anderen Bolton im Internet gefunden. Über Ben wusste sie nur, dass er der Finanzchef der Firma und Roberts älterer Bruder war.

Die Glastür flog auf. Im Türrahmen stand ein wütend aussehender Ben Bolton. Wäre ich doch nur gegangen.

„Was, zum Teufel …“ Mr Bolton wollte gerade weiterpoltern, als er Josey erblickte. Einen Moment lang schien er zu erstarren. Alles an ihm veränderte sich. Sein kantiges Gesicht nahm weichere Züge an, und in seinen Augen flackerte etwas auf, das möglicherweise Zorn war, aber für Josey eher wie Begehren aussah.

Vermutlich war das nur Wunschdenken, denn wahrscheinlich war Ben noch sauer, aber er war zweifelsohne der attraktivste Mann, den Josey seit Langem – womöglich sogar überhaupt jemals – gesehen hatte. Ihre Wangen begannen zu glühen.

Plötzlich wurde Josey zuversichtlich. Irgendwie würde sie die Situation schon retten. Brüder mochten oft ähnliche Dinge, wieso sollte das in Bezug auf ihren Frauengeschmack nicht auch so sein? Mit einem unsicheren Augenaufschlag sah sie zu ihm hoch. Dieser Blick zeigte normalerweise immer Wirkung, das wusste Josey aus Erfahrung.

„Mr Bolton? Ich heiße Josey White Plume“, sie streckte ihm freundlich die Hand entgegen. Sein Handschlag war kräftig. „Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.“ Sie wussten beide, dass dem nicht so war, aber ein Gentleman würde niemals einer Dame widersprechen. An seiner Reaktion würde sie sehen, was für eine Art Mann er war.

Seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. „Wie kann ich Ihnen helfen, Mrs White … Plume?“ Er sprach ihren Namen aus, als habe er Angst davor.

Nett. Hoffentlich fing er nicht mit diesem Mist an, dass sie eine amerikanische Ureinwohnerin indianischer Herkunft sei. Aber solange niemand sie eine Rothaut nannte, war alles in Ordnung. Ob sein Haar schwarz oder braun war, konnte sie im trüben Licht nicht erkennen, aber er sah auf jeden Fall umwerfend aus. „Vielleicht können wir woanders die Details besprechen?“

Boltons Gesicht verdunkelte sich. „Möchten Sie mit in mein Büro kommen?“, fragte er sie, sein Ton klang immer noch verärgert.

Ein Prusten ertönte in diesem Moment aus Cass’ Richtung, und Ben Bolton funkelte seine Angestellte warnend an. Als er sich erneut Josey zuwandte, lag wieder diese Mischung aus Wut und Begehren in seinem Blick. Er schien auf eine Antwort zu warten, denn er starrte Josey unverwandt an. Das war ja was ganz Neues. Für die meisten Männer war das eher eine rhetorische Frage, und sie erwarteten, dass man ihnen gleich folgte.

„Sehr gern“, antwortete Josey schnell.

Bolton drehte sich auf dem Absatz um und ging aus dem Zimmer. Josey konnte gerade noch ihre Aktentasche packen, ehe er verschwunden war.

„Viel Glück“, rief Cass ihr lachend hinterher.

Josey musste sich beeilen, um mit Ben Schritt zu halten. Er nahm immer zwei Stufen, als er vor ihr die Metalltreppe hinaufging, und Josey konnte nicht anders, als auf seinen prächtigen Hintern zu sehen. Überhaupt war Bens Anblick auch von hinten nicht zu verachten. Er hatte breite Schultern, und das graue Hemd konnte den muskulösen Rücken darunter nicht verbergen. Seine schwarze Jeans wurde von einem Werkzeuggürtel gehalten, der eher an einen Cowboy als an einen Biker erinnerte.

Ben Bolton war auf jeden Fall kein typischer Finanzchef, das war klar.

Ein bewundernder Pfiff ertönte von irgendwo hinter ihr, aber ehe Josey reagieren konnte, hatte er sich bereits umgedreht. „Das reicht!“, rief er so laut, dass Josey das Gefühl hatte, die Metalltreppe unter ihr würde vibrieren. Der Lärm in der Werkstatt verstummte sofort, und nur noch ein leises Summen war zu hören.

Josey war es plötzlich etwas mulmig zumute. Ben Bolton verlangte absoluten Respekt. Sie war hier völlige Außenseiterin, schon lange hatte sie sich nicht mehr so fehl am Platz gefühlt wie in dieser Werkstatt, aber trotzdem verteidigte er sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

Er warf ihr noch einen kurzen Blick zu, ehe er weiter die Treppe hinaufstieg, dieses Mal etwas langsamer.

Joseys Puls raste. Sie war es gewöhnt, dass Männer versuchten, ihr mit Geld und Besitz zu imponieren. Dieser Mann war das komplette Gegenteil. So wie er mit verschränkten Armen oben an der Treppe stand und ungeduldig zu ihr hinuntersah, war sie sich sicher, dass er sie nicht mochte. Aber irgendwie imponierte ihr das umso mehr.

Als Josey endlich oben angekommen war, stieß er eine Stahltür auf und wartete ungeduldig darauf, dass sie ihm folgte. Das mulmige Gefühl in ihrem Bauch verstärkte sich, aber jetzt konnte sie keinen Rückzieher mehr machen. Sie musste da durch.

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und auf einmal war es völlig still um sie herum. Was für eine Wohltat für ihre Ohren. Sie sah sich um. Boltons gesamtes Büro schien aus Edelstahl zu bestehen. Alles in diesem grauen Raum stank förmlich nach Geld.

Unten war auch alles exklusiv, und die Einrichtung hier war darauf ausgerichtet, Kunden zu beeindrucken. Aber war noch eine Nummer größer. Hier ging es allein um Macht und Kontrolle. Oder dieser Mann litt an Geschmacksverirrung. Diese industrielle Einrichtung war schlichtweg deprimierend.

Kein Wunder, dass er schlecht gelaunt ist. Wenn Josey in einem solchen Büro arbeiten müsste, würde sie eingehen wie eine Primel.

Bolton deutete an, sie solle sich setzen. Auch der Stuhl war natürlich aus Metall. Nachdem er hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, musterte er sie erneut. Ungeduldig tippte er dabei mit der Spitze eines Kugelschreibers auf dem metallenen Schreibtisch herum. „Was wollen Sie?“

Oh ja, er war immer noch wütend. „Mr Bolton …“

„Ben“, unterbrach er sie.

Das war besser. „Ben“, begann sie erneut. „Wo sind Sie zur Schule gegangen?“

Robert war in einem wohlhabenden Stadtteil von Rapid City zur Schule gegangen, vermutlich hatte Ben dieselbe Schule besucht.

„Wie bitte?“ Ganz gut, er war verwirrt. Ein Gegner war leichter umzustimmen, wenn er bereits aus dem Gleichgewicht war.

„Ich möchte wetten, dass Sie als einer der Besten Ihrer Klasse abgeschlossen haben und vermutlich im Football-Team gespielt haben. Sie sehen aus wie ein ehemaliger Quarterback.“ Josey lächelte Ben entwaffnend an. Dabei ließ sie ihren Blick über seine breiten Schultern schweifen. Wow. Wenn Ben Bolton doch nur nicht so einschüchternd wirken würde, er wäre ein richtig scharfer Kerl. Wie er wohl auf einem Motorrad aussah? Er fuhr ganz sicher Motorrad. Schließlich gehörte ihm ein Motorradshop.

Mit Schmeicheleien erreichte Josey normalerweise alles, aber nicht bei diesem Mann. „Ich war Jahrgangsbester und landesbester Runningback. Na und?“

Josey schaffte es, zu schlucken und gleichzeitig weiterzulächeln. Dass er „landesbester“ hinzugefügt hatte, war ein gutes Zeichen. Er gab also ein bisschen an. Das Tippen der Kugelschreiberspitze auf dem Metalltisch wurde lauter und schneller. Sie musste endlich zur Sache kommen. Wenn sie es schaffte, der Schule Werkzeuge zu besorgen, bedeutete das einen dauerhaften Platz und Anerkennung in ihrem Stamm.

„In Ihrer Schule waren sicher in jedem Klassenzimmer Computer, nicht wahr?“ Ehe er sie wieder mit einem „Na und?“ unterbrechen konnte, fuhr sie fort: „Vermutlich bekamen Sie jedes Jahr neue Bücher, die teuersten Football-Helme, und die Lehrer waren bestimmt gut, oder?“

Das Geräusch des Kugelschreibers verstummte. Aber Ben starrte sie weiterhin an. Josey schwieg. Sie würde nicht zulassen, dass dieser Mann sie einschüchterte. Herausfordernd hob sie das Kinn, blickte ihm direkt in die Augen und wartete.

Sein kurzgeschnittenes Haar war dunkelbraun und viel dunkler als ihr eigenes kastanienbraunes Haar. An den Schläfen entdeckte sie ein paar vereinzelte graue Strähnen. Sein mürrischer Gesichtsausdruck schien angeboren zu sein.

Hat dieser Mann jemals Spaß?

Endlich brach Mr Bolton das Schweigen. „Was wollen Sie?“

Das war keine Frage, sondern ein Befehl, zur Sache zu kommen.

Wenn sie sich jetzt nicht beeilte, würde er sie vermutlich eigenhändig rausschmeißen.

„Wissen Sie, dass der Bundesstaat South Dakota kürzlich dazu gezwungen wurde, sämtliche Finanzierungen von Schulen zu reduzieren?“

„Was?“, fragte er und sah sie ungläubig an.

Klar. Er hatte nicht gewusst, dass sie kam. Sein Bruder hatte offenbar nichts von ihr erzählt. „Wie ich Ihrem Bruder Robert bereits mitgeteilt habe …“

„Sie meinen Bobby.“

Josey lächelte. Unwiderstehlich und einschüchternd war eine gute Mischung. Aber gerade war das Unwiderstehliche sehr viel intensiver geworden. Hoffentlich wurde sie nicht rot. „Genau. Ich versuche, Spenden für die Pine-Ridge-Charter-Schule aufzutreiben. Weniger als zwanzig Prozent der Lakota-Sioux-Schüler haben einen Highschoolabschluss – nicht mal dreißig Prozent machen nach der achten Klasse weiter.“ Nein, das glaubte er ihr ganz offensichtlich auch nicht, aber das taten nur wenige. Die Zahlen waren erschreckend.

Unbeirrt fuhr sie fort: „Derzeit muss man in einigen Teilen des Reservats länger als zwei Stunden fahren, um zu einer Schule zu gelangen. Viele Schüler sitzen mehr als vier Stunden täglich im Schulbus. Wenn sie Glück haben, gehen sie auf eine der besseren Schulen. Die meisten allerdings benutzen Schulbücher, die über zwanzig Jahre alt sind, haben keine Computer, und die Lehrer interessiert es nicht, ob ihre Schüler leben oder sterben.“

Aufmerksam hörte Ben ihr zu.

„Viele schmeißen die Schule hin, da sie zusätzlich noch gemobbt werden, weil sie Indianer sind. Die Leute erwarten von ihnen, dass sie versagen. Die Arbeitslosenquote im Reservat liegt bei fast achtzig Prozent. Jeder Idiot erkennt, dass diese Quote die der Schulabbrecher widerspiegelt. Und Sie sehen mir nicht aus wie ein Idiot.“

„Was wollen Sie?“, fragte er, dieses Mal etwas vorsichtiger.

Plötzlich hatte Josey ein gutes Gefühl bei der Sache. Ben Bolton wollte Zahlen hören – ihm waren harte Fakten am liebsten. Aber er war auch ein Biker – deshalb schien es ihm auch zu gefallen, dass sie in einem rauen Ton mit ihm sprach.

Ihr Gesicht glühte, und es wurde ihr ganz warm. Vermutlich war sie jetzt knallrot.

Ben Bolton riss die Augen auf, als er bemerkte, wie sie errötete, und seine Augen schienen noch blauer zu werden. Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, als er sich etwas nach vorn beugte. Obwohl es nur eine winzige Annäherung war, spürte Josey, wie eine unsagbare Spannung von ihm ausging und sich auf sie übertrug. Und sie spürte Begehren.

Eigentlich sah ihr das überhaupt nicht ähnlich. Sie war immer stolz darauf, dass sie Beruf und Privates trennen konnte. Manche Leute waren der Meinung, man könne sie mit Spenden ins Bett bekommen, aber darauf hatte sich Josey noch nie eingelassen.

Mit großer Mühe schaffte sie es jetzt, sich am Riemen zu reißen. Sie hatte einen Auftrag zu erledigen. Spaß kam später, wenn überhaupt. Die Schule war sowieso viel wichtiger. Für Liebschaften war keine Zeit – und erst recht nicht mit einem Weißen.

Sie reichte Ben die Broschüre, die sie selbst entworfen hatte. „Die Schule soll unseren Lakota-Kindern eine Grundlage bieten, nicht nur in pädagogischer Hinsicht, sondern fürs ganze Leben. Aber wir brauchen Gelder, um das zu erreichen.“

Ben blätterte ihre Broschüre durch, sah sich die Fotos der glücklichen Kinder an, die sich um ihre Mutter scharten, die ihnen eine Geschichte erzählte. Dann betrachtete er die Skizze des sechsräumigen Schulhauses, das erst zur Hälfte gebaut war. „Sind das Ihre Kinder?“

„Ich bin ein registriertes Mitglied des Pine-Ridge-Stammes der Lakota-Sioux.“ Josey hasste es, das Wort „registriert“ hinzufügen zu müssen, aber so war das eben. Aufgrund des Rotstiches in ihrem Haar hielten die meisten Leute sie für eine Möchtegernindianerin. „Meine Mutter wird die Direktorin und Hauptlehrerin an der neuen Schule sein. Sie hat einen Doktortitel in Pädagogik und bringt den Kindern unseres Stammes schon seit Langem bei, wie wichtig eine gute Ausbildung für sie und den Stamm ist.“

„Ach, deshalb hören Sie sich so an, als hätten sie die Highschool abgeschlossen.“

Entgeistert starrte sie Ben an. „Mein MBA ist von der Columbia. Ihrer?“

„Berkley.“ Er warf die Broschüre auf seinen Schreibtisch. „Wie viel?“

„Wir wollen kein Geld.“ Hauptsächlich deshalb, weil sie wusste, dass sie keins bekommen würde. Aber sie hatten auch ihren Stolz. Die Lakota bettelten nicht. Sie baten höflich. „Wir bieten Firmen eine einzigartige Gelegenheit zum Sponsoring an. Kostenlose Werbung als Dank für Sachspenden. Auf unserer Website sind alle Spender aufgeführt.“ Sie beugte sich vor und deutete mit dem Zeigefinger auf die Internetseite, die in der Broschüre verzeichnet war. Als sie wieder hochschaute, bemerkte sie, dass Ben sie intensiv ansah.

Langsam lehnte sie sich zurück, wobei er sie nicht aus den Augen ließ. Die Gefahr, die von ihm auszugehen schien, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war beinahe verschwunden. In seinem Blick spiegelte sich nur noch Begierde wider. „Alle gestifteten Gegenstände werden mit dem Namen der Firma des Spenders gekennzeichnet, was wiederum Reklame für den Spender …“

„Sie wollen Werbeanzeigen in der Schule verbreiten?“

„Na ja, ich würde sie nicht unbedingt als Werbeanzeigen bezeichnen, es sind eher Informationen zum Spender.“

Er neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie anerkennend. Dann schien er sich eines Besseren zu besinnen. „Ich frage nur noch einmal. Was genau wollen Sie?“ Ungeduldig tippte er wieder mit dem Kugelschreiber auf den Tisch.

„In der Pine-Ridge-Charter-Schule sollen Kinder nicht nur eine gute Bildung erhalten, sondern auch eine berufliche Ausbildung. Wir bitten deshalb um Ausrüstung für eine Werkstatt.“

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und Josey hatte das Gefühl dahinzuschmelzen. Wow! Er war so unglaublich anziehend. „Endlich kommen wir zum Punkt. Sie wollen also, dass ich Ihnen Werkzeug für Ihre Werkstatt stifte.“

„Ja, genau.“

Wieder nahm Ben die Broschüre in die Hand und schien zunächst ihren Vorschlag ernsthaft in Erwägung zu ziehen. „Nein“, antwortete er schließlich, nachdem er das Heft zur Seite gelegt hatte. „Hören Sie. Sie sind schön und intelligent, aber dieses Unternehmen ist riskant. Und für so etwas spende ich kein Werkzeug. Das kann sich diese Firma nicht leisten.“

Hatte sie richtig gehört? Er fand sie schön?

Erst in diesem Moment wurde ihr so richtig bewusst, was er eben gesagt hatte. „Nicht mal für kostenlose Werbung?“ Sie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.

„Nein, nicht mal für kostenlose Werbung.“

Er ließ sie nicht aus den Augen, offensichtlich wartete er darauf, dass sie ihn herausforderte. Josey schluckte und biss sich auf die Lippe.

„Kann ich irgendetwas tun, um Ihre Meinung zu ändern?“

Oh Gott! Wieso hatte sie denn das gesagt? Sie machte niemals solche Angebote, warum also jetzt?

Verärgert kniff Ben die Augen zusammen. „Denken Sie wirklich, dass das was nützt?“

Nein, denn so etwas habe ich noch nie getan! Ja, er war unglaublich attraktiv, aber er war auch arrogant, gebieterisch, womöglich herzlos – und auf jeden Fall ein Geizhals. Ach, hätte sie doch nur den Mund gehalten. Es war völlig egal, ob Ben gut im Bett war … oder auf seinem Schreibtisch … oder unter Umständen sogar auf einem seiner Motorräder. Und sie wollte das ja auch gar nicht herausfinden. Nein!

Er würde dem sowieso nicht zustimmen.

Seine Absage hatte allerdings ihren Stolz verletzt, und am liebsten hätte sie ihn zur Hölle gejagt. Aber dazu hatte sie keine Gelegenheit, denn in diesem Moment ertönte ein derart ohrenbetäubendes Krachen, das das Büro erbeben ließ.

Ben sackte mit einem reichlich verdrießlichen Ausdruck im Gesicht nach vorn. Er hob drei Finger seiner Hand und zählte langsam rückwärts, drei, zwei, eins … Schon klingelte das Telefon.

„Was?“, rief er und klang dabei wenig überrascht.

Die Stimme am anderen Ende war so laut, dass Ben den Hörer weit weg vom Ohr hielt. „Ich habe zu tun“, war alles, was er zu dem Anrufer sagte, bevor er den Hörer hinknallte. „Miss White Plume …“, sagte er, hielt aber kurz inne, als wartete er darauf, dass sie ihm anbot, er solle sie Josey nennen, aber sie schwieg. Achselzuckend fuhr er fort: „Kommen Sie bitte mal her.“ Er deutete ihr an, auf seine Seite des Schreibtischs zu kommen. Wieder ein lautes Krachen. „Sofort.“

Josey war es bei diesem Lärm nicht ganz wohl in der Haut, und sie packte ihre Tasche und rannte um den Schreibtisch herum zu Ben, der aufgestanden war.

Gleich darauf flog die Tür auf, und ein riesiger Mann stürmte ins Zimmer. Er war sicher zwei Meter groß und hatte einen kohlrabenschwarzen Schnauzbart. Sein blaues T-Shirt spannte über den Muskeln seines Oberkörpers. Josey konnte seine Augen nicht sehen, denn er trug eine dunkle Sonnenbrille. „Verdammt. Richte deinem Bruder, diesem Mistkerl, aus, dass ich gesagt habe, er soll …“

Dann bemerkte er Josey und verstummte. Plötzlich aber wurde er von einem noch größeren Mann, der aufgrund seiner zotteligen Gesichtsbehaarung Ähnlichkeit mit einem Bär hatte, zur Seite geschoben. Obwohl sie wütend auf Ben war und eigentlich nur noch weg wollte, ertappte Josey sich dabei, wie sie ein wenig hinter Ben in Deckung ging. Diese merkwürdige Situation war ihr alles andere als geheuer. Die Tatsache, dass Ben in diesem Moment schützend einen Arm vor sie legte, rührte Josey jedoch ein wenig.

„Ich hab dir doch gesagt, dass du das nicht …“, brüllte der Bär los, bekam aber sofort von Schnauzbart einen Stoß verpasst mit einem Fingerzeig auf Josey.

„Oh, verdammt“, murmelte der Bär.

„Was haben wir denn da, mein Sohn?“, wollte Schnauzbart von Ben wissen und beäugte dabei Josey von oben bis unten.

Schnauzbart war also Bruce Bolton, Vater von Ben und Firmenchef von Crazy Horse Choppers. Vermutlich war der mit dem Vollbart sein Sohn Billy, die schöpferische Kraft der Firma.

Josey gefiel es nicht, wie der ältere Mann sie ansah, und erst recht nicht, dass er sie mit „was“ bezeichnete. Sie war sich zwar nicht sicher, denn er trug immer noch seine Sonnenbrille, aber irgendwie hatte sie das unangenehme Gefühl, als ziehe er sie mit den Augen aus.

„Ich habe doch gesagt, ich habe zu tun.“ Ben streckte die Hand nach seinem Telefon aus. Obwohl seine Bewegungen ruhig waren und seine Stimme gelassen klang, spürte Josey, dass er angespannt war.

Was sie absolut nicht wollte, war, mitten in eine Streiterei der Bolton-Männer zu geraten. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie es dabei zugehen würde.

„Cassie, bitte bring unseren Gast zum Auto“, sagte Ben mit eiskalter Stimme und legte den Hörer wieder auf den Tisch. Anschließend stellte er sich zwischen Josey und seinen Vater.

Niemand rührte sich, und alle schwiegen. Josey hatte öfter mal Angst gehabt, aber das hier erschien ihr gefährlicher als alles, was sie je erlebt hatte.

Josey war entsprechend erleichtert, als kurz darauf Cass erschien. „Verdammt, Bruce, du machst ihr Angst“, scherzte sie und schob den großen Mann dabei lachend zur Seite. „Kommen Sie“, wandte sie sich an Josey, „die sollen das unter sich austragen.“

Vorsichtig kam Josey hinter dem Schreibtisch hervor, ging in großem Bogen um Bruce Bolton herum und auf Cass zu. Als sie an dem jüngeren der beiden Männer vorbeiging, trat dieser höflich zur Seite und nickte ihr freundlich zu.

„Viel Glück, Miss White Plume“, rief Ben ihr noch hinterher, als sie bereits auf dem Flur war.

Sie hatte keine Gelegenheit, etwas zu antworten, denn Cass hatte die Tür bereits zugezogen. Sofort schrien sich die Männer hinter ihr gegenseitig an. Gott sei Dank, nun war sie in Sicherheit.

2. KAPITEL

Kaum war der letzte Akkord von Sticks Gitarre verklungen, setzte Ben mit seinem Schlagzeugsolo ein. „Hot for Teacher“ von Van Halen, da konnte er sich so richtig austoben.

Die Mädels vor der Bühne kreischten. Als Bens ältester Freund Stick mit einem Gitarrenriff einsetzte, stellte Ben sich für einen Moment lang vor, sie wären eine echte Rockband und nicht nur ein paar Musiker, die am Wochenende Coversongs spielten.

Die Rapid City Rollers waren zwar in der Gegend von Rapid City bekannt, darüber hinaus aber leider nicht. Und Rex, der Sänger, konnte auch nicht mit David Lee Roth mithalten, sodass sich Bens Wunschträume, zu einer der ganz großen Bands zu gehören, immer wieder blitzschnell in Luft auflösten.

Aber trotzdem, das war Bens Lied, und er gab alles. Das Publikum tobte.

Er liebte die Samstagabende, denn einmal die Woche, eine lange Nacht lang, war Ben nicht der Finanzchef. Die Firma rückte in weite Ferne, und er musste sich keine Sorgen um die Produktion, irgendwelche Bankgeschäfte oder darum machen, was sein Bruder Bobby gerade so anstellte.

Selbst an seinen sturen Vater, der das Unternehmen noch in den Ruin treiben würde, verschwendete er an diesen Abenden keinen Gedanken. Dann war es Ben auch völlig gleichgültig, dass sein Vater ihn ständig mit unverhohlener Enttäuschung ansah. Am Samstagabend war Ben Schlagzeuger und sonst nichts.

Doch an diesem Abend war es anders. Das Publikum war begeistert, und in der Kneipe, in der sie heute Abend spielten, traten sie am liebsten auf. Oberflächlich betrachtet war alles in Ordnung. Aber egal, wie hart er auf sein Schlagzeug eindrosch, Ben ging der Satz von Josey White Plume nicht aus dem Kopf: „Kann ich irgendetwas tun, um Ihre Meinung zu ändern?“

Seit acht Tagen hörte er den Klang von Joseys Stimme, und er konnte diese Erinnerung nicht verdrängen. Hätte er das Angebot möglicherweise annehmen sollen? Was immer es auch beinhaltete …

Es war ihm vor allem nicht klar, wieso er nicht aufhören konnte, an sie zu denken. Ja gut, sie war schön, aber vor der Bühne tanzten haufenweise schöne Frauen herum. Allerdings war sie vermutlich die klügste Frau, mit der er seit Langem gesprochen hatte. Und ihre Nähe hatte ein wohlig warmes Gefühl in ihm ausgelöst.

Aber vielleicht lag es auch einfach daran, dass es schon so lange her war, dass er mit einer Frau im Bett gewesen war. Mist.

Die Menge brüllte, als das Lied vorbei war, die Leute wollten mehr hören. Irgendjemand warf einen BH auf die Bühne, den Toadie, der Bassist, triumphierend in die Höhe hielt.

„Wir sind gleich wieder da“, rief Rex ins Mikrofon und warf einer vollbusigen Blondine in der ersten Reihe sein Plektrum zu.

„Kommst du?“, wandte sich Stick an Ben, während Rex und Toadie bereits von Groupies umzingelt waren. Ben wusste, dass Stick es kaum erwarten konnte, sich ebenfalls unter die Leute zu mischen.

Es war lange her, dass Ben bei diesem Spektakel mitgemacht hatte, aber Stick fragte ihn trotzdem noch jedes Mal. Er war eben ein guter Freund. „Nein“, antwortete Ben wie immer, als ihm plötzlich eine Frau in der Menge auffiel.

Sie war groß und schlank und trug ein weißes paillettenbesetztes Trägerhemd. Obwohl er in der dämmrigen Kneipe eine Sonnenbrille trug, fiel ihm auf, dass auch ihre Oberweite nicht zu verachten war. Aber das war es nicht, wieso er auf die Frau aufmerksam geworden war. Nein, es war die Art, wie sie ihn ansah …

Das konnte doch nicht möglich sein. Oder doch?

Die Frau drehte sich um und sprach mit jemandem hinter ihr, warf ihm aber kurz darauf wieder einen Blick zu. Ihr dunkles Haar reichte ihr fast bis zum Po. Einem Po, der jedem Mann schlaflose Nächte bereiten würde. Als sie aus seinem Büro stolziert war, hatte er zwar nur kurz auf ihr Hinterteil schauen können, aber so schnell würde er dieses Vergnügen sicher nicht vergessen.

Es bestand kein Zweifel. Josey White Plume war hier.

„Doch, Stick, heute komme ich mal mit“, rief er seinem Freund zu. Zusammen sprangen sie von der Bühne und waren sofort von Leuten umringt.

Irgendjemand packte ihn am Hintern, ein paar Mädchen warfen sich ihm an den Hals, aber Ben ignorierte sie alle. Er wollte zu der Frau in dem weißen Paillettentop.

Unter Umständen hatte er sich ja doch geirrt, dachte er, als er näherkam. Immer noch kehrte die Frau ihm den Rücken zu, und ihre langen Haare verunsicherten ihn. Die Haare der Frau, die in sein Büro gekommen war, waren zu einem klassischen eleganten Knoten nach oben gebunden gewesen. Die Frau, die nur noch ein paar Meter von ihm entfernt stand, trug knallenge Jeans und hatte Locken. Ihre Haarfarbe konnte er in diesem Licht nicht genau erkennen.

Egal, er musste es jetzt wissen. Mit ein paar Schritten war er bei ihr, packte die Frau am Arm und wirbelte sie zu sich herum. Sie versuchte sich von ihm loszureißen, und Ben rempelte unwillkürlich in sie hinein, wobei ihm die Sonnenbrille herunterfiel.

„Hey, lass sie sofort los!“ Eine etwas kleinere Frau, ganz eindeutig uramerikanischer Herkunft, drängte sich zwischen ihn und die andere Frau.

Ohne Sonnenbrille erkannte er sofort das Rot in Joseys Haar und das Feuer in ihrem Blick wieder.

„Was, zum … Oh! Ben?“ Völlig geschockt schaute Josey ihn an.

Ben sah auf seine Hand hinunter und stellte erstaunt fest, dass er immer noch ihren Arm festhielt. Ihre Haut fühlte sich so weich an. „Was machen Sie denn hier?“

„Und wer will das wissen?“, mischte sich die kleinere Frau wieder ein. Sie war wohl so etwas wie eine Aufpasserin und schien sich in dieser Rolle auch ganz wohl zu fühlen.

„Ist in Ordnung, Jenny, ich erkläre es dir.“

„Hier gibt’s nichts zu erklären, der kann dich nicht einfach am Arm packen, Josey“, widersprach die Frau namens Jenny und schubste Ben von ihrer Cousine weg.

Josey errötete. „Jenny, das ist Ben Bolton, Finanzchef von Crazy Horse Choppers.“

„Moment mal, du bist der Kerl, der uns nichts gespendet hat.“ Verächtlich rümpfte Jenny die Nase. Diese Jenny war ihm sympathisch, stellte Ben überrascht fest. Sie hatte Mumm in den Knochen.

Josey allerdings hatte Feuer. Die Hitze, die diese Frau ausstrahlte, brachte ihn jetzt schon ins Schwitzen. „Jenny, das ist Ben“, fuhr Josey fort – unbeirrt von den Worten ihrer Cousine. „Ben, das ist Jenny Wawasuck. Sie ist Lehrerin an unserer neuen Schule.“

„Und Joseys Cousine, also pass lieber auf, mein Freund.“ Jenny verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn feindselig an.

Irgendjemand schubste Ben in diesem Augenblick von hinten, sodass er erneut gegen Josey taumelte. Jenny protestierte lautstark.

Verflucht! Er konnte hier in dieser lauten Bar unmöglich in Ruhe mit Josey plaudern, erst recht nicht, wenn sie von diesem Drachen einer Cousine keinen Moment aus den Augen gelassen wurden. „Ich muss allein mit Ihnen reden“, flüsterte er Josey ins Ohr und atmete ihren Duft ein. Sie roch wunderbar.

Am liebsten hätte er noch eine Weile so ausgeharrt, und nur widerwillig wich er wieder etwas von ihr ab. Als er nun in ihre wunderschönen dunkelbraunen Augen sah, war da nichts mehr von der raffinierten, taffen Geschäftsfrau zu erkennen. Joseys Blick hatte jetzt eher etwas Weiches und Verwundbares an sich.

Sie nickte und drehte sich zu ihrer Cousine um. „Ich komme gleich wieder!“

„Warte! Was? Nein!“ Jenny versuchte Ben zurückzudrängen, aber dieses Mal ließ er es nicht zu.

„Es geht um die Schule“, erklärte Josey.

Jenny rollte frustriert die Augen. „Wenn sie nicht in zehn Minuten wieder hier ist …“

„Ich will nur mit ihr reden.“

Na ja, eigentlich wollte er alles andere als mit ihr reden, was ihm noch viel bewusster wurde, als Josey ihre Hand in seine schob und sich von ihm wegführen ließ.

Es gab nur einen Ort, an dem man hier ungestört sein konnte, und das war der kleine Raum, der der Band als Garderobe diente. Ben bahnte ihnen beiden einen Weg durch das Gedränge und zog sie hinter sich her in das kleine Zimmer, das kaum größer als ein Wandschrank war, und schlug die Tür zu.

Josey lehnte sich gegen die Wand. Ben stützte sich links und rechts von ihr an der Wand ab. Fass sie bloß nicht an, ermahnte er sich.

„Wieso sind Sie hier?“, fragte er leise. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt.

Josey fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen, die im Halbdunkel tiefrot schimmerten.

Nicht anfassen!

„Jennys Sohn ist bei ihrer Mutter. Wir machen einen Mädelsabend …“ Ihre Stimme wurde leiser, als sie ihn durch ihre dichten Wimpern ansah.

Auf diesen Trick würde er nicht reinfallen, egal wie verführerisch sie dabei aussah. „Sie haben gesagt, Sie wollten mit mir über die Schule reden. Ich habe aber Nein gesagt. Woher wussten Sie, dass ich hier bin?“

„Ich bin wegen der Band hier.“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Um sie verstehen zu können, musste er sich ihr noch mehr nähern. „Ich wollte die Musik hören“, wiederholte sie.

„Quatsch!“ Sie nahm doch wohl nicht an, dass er ihr das glauben würde?

Josey schluckte, dann hob sie die Hand und zeichnete mit dem Finger die Konturen seiner Wange nach. Sofort durchströmte ihn eine unsagbare Hitze, ausgelöst von dieser einen zarten Berührung.

Ach was, das war ganz normal. Er brauchte einfach mal wieder eine Frau. Aber wieso konnte er sie kaum ansehen, ohne sie gleichzeitig berühren zu wollen? Völlig erledigt schloss er die Augen. Ihre Stimme konnte er allerdings nicht abschalten.

„Ich habe Sie schon mal spielen hören.“

„Ach ja?“

„Im Fat Louie’s, letztes Jahr Ende März, das Datum weiß ich nicht mehr so genau. Aber es war damals ein anderer Sänger.“ Er spürte, wie jetzt auch ihre andere Hand sein Gesicht berührte und dann seine Wange bedeckte. „Der war zwar nicht schlecht, aber der Sänger heute war besser.“

Rex war an jenem Abend krank gewesen, und Bobby war für ihn eingesprungen. Das konnte Josey unmöglich wissen, es sei denn, sie war damals wirklich dabei gewesen. Später war Bobby mit einer ganz heißen Frau verschwunden und hatte wochenlang von dem Sex mit ihr geschwärmt.

„Sind Sie eine Art Groupie? Sind Sie an dem Abend mit ihm nach Hause gegangen?“

Josey nahm sofort die Hände von seinem Gesicht. „Ich sammle Spenden.“ Ihre Stimme klang verärgert. „One-Night-Stands sind nicht mein Ding, und ich schlafe nicht mit Männern, die ich nicht kenne.“

Sie hatten sich zweimal getroffen. Konnte man das schon als „einander kennen“ bezeichnen? Verdammt, es war wirklich zu lange her, dass er Sex gehabt hatte.

„Davor war ich in Bob’s Roadhouse“, fuhr Josey fort. „Ich glaube, das war unmittelbar vor Thanksgiving. Sie haben eine Metal-Version von ‚Over the River‘ gespielt.“

Wieder streichelte sie sanft seine Wangen.

An diesen Auftritt konnte er sich noch gut erinnern. Den ganzen Abend hatte Rex blöde Truthahn-Witze gerissen.

Ben spürte, wie sich sein Kopf nach vorn neigte, aber er wusste nicht, ob Josey ihn zu sich zog oder ob er sich selbst über sie beugte.

„Davor …“

Und auf einmal … ehe er etwas dagegen tun konnte, lagen seine Lippen auf ihren. Als seine Zunge an ihre Lippen stieß, öffnete sie bereitwillig ihren Mund für ihn. Zitrone. Josey schmeckte nach Limonade, köstlich. Sie stöhnte leise.

Irgendwie schaffte er es, sich von ihr loszureißen, ehe er etwas tun würde, was er bereuen könnte. Er wollte nicht im schäbigen Hinterzimmer einer Bar mit einer Frau schlafen, die er kaum kannte.

„Ich wusste es nicht.“ Joseys Stimme bebte. „Eigentlich hätte es mir auffallen müssen, so wie du mit diesem Kugelschreiber auf dem Tisch rumgetrommelt hast, aber ich habe dich nicht erkannt. Du trägst sonst immer diese Sonnenbrille und das Tuch um den Kopf … Ich hatte keine Ahnung, dass du es bist.“

Wieder küsste er sie. Dieses Mal etwas stürmischer. Zärtlich knabberte er an ihrer Unterlippe, bevor seine Zunge sich um ihre wand. Unglaublich! Diese wunderschöne intelligente Frau fand seine Musik gut, ohne etwas anderes von ihm zu wollen. Konnte es sein, dass sie ihn mochte? Einfach so? Auch ohne Werkzeuge für diese Schule zu wollen?

Josey schlang ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn näher zu sich. Ben spürte ihre Brustwarzen. Die Hitze und die Lust, die sie ausstrahlte, wenn sie sich an ihn drückte, war kaum auszuhalten. Sie begehrte ihn genauso sehr wie er sie.

Sosehr wollte er ihr glauben, aber er schaffte es nicht.

Mit aller Kraft schob er sie von sich, atmete tief durch und strich sich mit der Hand über den Mund, in dem Versuch, ihren süßen Geschmack loszuwerden. Er hatte einen Fehler gemacht und war wütend. Allerdings wusste er nicht genau, auf wen er wütender war – auf sie oder auf sich selbst.

„Erreichst du normalerweise etwas damit?“, wollte er wissen.

„Erreiche ich was womit?“ Nun besaß sie auch noch die Frechheit, ihn unschuldig und verwirrt anzusehen.

„Das hier. Erreichst du es mit Sex, jemanden für dich zu gewinnen?“ Verdammt, Hautkontakt war nie gut, wenn es ums Geschäftliche ging. „Glaubst du, du kriegst jetzt, was du willst?“

Er hatte eine Ohrfeige, Verachtung oder sogar Verleugnung erwartet. Aber nichts von dem geschah. Ein Ausdruck trauriger Enttäuschung huschte über Joseys Gesicht, ehe sie sich von ihm abwandte. Plötzlich fühlte er sich wie ein Idiot. „Du hattest bereits Nein gesagt, ich wollte nicht …“

Jetzt glitt ihr Blick über seine Arme und blieb an seiner Jugendsünde hängen – seinen Tattoos. Diese blöden ärmellosen T-Shirts, fluchte Ben leise vor sich hin. Nun konnte sie das Geburts- und das Sterbedatum seiner Mutter sehen. Am liebsten hätte er sich umgedreht, aber das wäre noch schlimmer gewesen, denn auf der anderen Seite war Moose zu sehen, sein Hund. Er verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, sie so böse wie möglich anzustarren. Josey blieb völlig ungerührt.

Einen kurzen Moment lang hasste er sie. Es war ihm unangenehm, wie sie offensichtlich direkt in ihn hineinsehen konnte und ihm dabei das Gefühl gab, ein totaler Vollidiot zu sein.

So schnell wie möglich musste er das hier beenden. Wenn er nicht bald sein Schlagzeug bearbeiten konnte, wer weiß, worauf er sonst eindreschen würde.

Aber dann geschah etwas noch viel Merkwürdigeres. Josey machte einen Schritt auf ihn zu und berührte seine Tattoos. „Es tut mir leid“, flüsterte sie, ehe sie ihn küsste. Was war denn jetzt los? Ben hatte sie gerade fürchterlich beschimpft, und sie reagierte darauf mit einem Kuss?

Ihr Kuss war zart und irgendwie unschuldig. Vorsichtig legte er seine Arme um Josey. Sie war warm und weich und passte wunderbar in seine Umarmung.

Und auf einmal veränderte sich etwas in ihm. Seit seine Mutter tot war, fühlte er sich einsam, aber auf einmal war diese Einsamkeit nicht mehr ganz so groß. Beinahe so, als spürte Josey White Plume, wie allein er sich zwischen seinen Brüdern fühlte, wie schwer es für ihn war, immer der Vernünftige zu sein, wie sehr er die täglichen Streitereien mit seinem Vater und das Gefühl, niemals gut genug zu sein, satthatte. Josey verstand all das und schien ihm sogar einen Teil der Last abnehmen zu wollen.

Langsam löste sie nun ihre Lippen von seinen und lehnte die Stirn gegen seine Brust. Merkwürdig, für Ben war diese kleine Geste fast genauso schön wie der Kuss. Auf einmal war es ihm völlig gleichgültig, wann er das letzte Mal Sex gehabt hatte. Viel wichtiger erschien ihm die Frage, wann er zuletzt eine Frau im Arm gehalten hatte, die nicht auf sein Geld spekulierte.

Joseys Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigen Atemzügen. Ihre Arme hatte sie um seinen Nacken gelegt, sie hielt ihn fest an sich gedrückt. Normalerweise löste so etwas ein sehnsüchtiges Ziehen in seiner Lendengegend aus, aber komischerweise blieb das dieses Mal aus. Am liebsten hätte er den ganzen Abend so mit ihr hier gestanden.

Aber in diesem Augenblick hämmerte jemand ungeduldig gegen die Tür.

„Benny, mach den Reißverschluss zu, schmeiß das Mädel raus, wir müssen weitermachen!“

Josey sprang erschrocken zurück, und Ben konnte nicht anders, als sie loszulassen. Schnell zupfte sie ihr Top zurecht, schüttelte ihre dunkle Mähne und leckte sich die Lippen. Konnte sie ihn auch noch so deutlich schmecken wie er sie?

„Ich bin schließlich wegen der Musik hier“, meinte sie augenzwinkernd, während das Hämmern an der Tür schonungslos weiterging. „Keine weiteren Bedingungen.“

„Keine weiteren Bedingungen“, stimmte er ihr leise zu.

Als er die Tür öffnete, fielen Toadie, Stick und Rex geradezu ins Zimmer hinein. Rex kicherte, ein sicheres Zeichen dafür, dass er bereits einiges getrunken hatte. Als die Männer Josey sahen, blieben sie plötzlich wie erstarrt stehen. Toadie kam als Erster wieder zu sich. „Willst du uns diese Kleine etwa vorenthalten?“

Ben fragte sich, wie viele Schnäpse die anderen wohl in sich hineingeschüttet hatten und ob sie den Rest des Konzerts überhaupt noch durchstehen würden.

Außerdem war er echt sauer auf die drei. Er würde es nicht zulassen, dass diese Idioten Josey so respektlos behandelten.

Rex versetzte Toadie einen Stoß und ging auf Josey zu. „Ma’am, würden Sie mich vielleicht nach der Show nach Hause begleiten? Sie sind eindeutig eine Nummer zu groß für unseren Benny. Halten Sie sich an mich, und ich zeige Ihnen, was ein wahrer Mann so drauf hat.“

Wütend schubste Ben seinen Kumpel von Josey weg, aber Rex stieß ihn zurück. Stick wollte dazwischengehen, und Toadie machte einen halbherzigen Versuch, Rex zurückzuhalten, aber Ben war das egal. Rex wollte einen Kampf? Gut, den würde Ben ihm bieten.

Aber dazu kam es nicht, denn anstatt in Deckung zu gehen, trat Josey zwischen die beiden Streithähne. Sie musterte den Sänger von oben bis unten und schüttelte bedauernd den Kopf. „Vielen Dank für das Angebot, aber ich stehe mehr auf Schlagzeuger.“ Anschließend drehte sie sich zu Ben um und lächelte ihn vielsagend an. Wow! Wie konnte eine Frau so feurig sein und gleichzeitig so unschuldig aussehen?

Oh, ist sie heiß, dachte Ben, als sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen gab. Blöde Kommentare von den Jungs folgten, aber das war Ben völlig egal. Nur dieser Moment zählte für ihn. „Keine weiteren Bedingungen“, hatte Josey gesagt. Unglaublich.

„Macht ihr jetzt endlich weiter, oder wie?“ Der Inhaber des Lokals steckte seinen Kopf durch die Tür. „Die Leute werden langsam ungeduldig.“

„Wir treffen uns nach der Show, ja?“, konnte Ben gerade noch Josey zurufen, bevor ihn die anderen aus dem Raum drängten.

Rex sah Ben finster an, als er an ihm vorbeiging. Für ihn war die Sache offensichtlich noch nicht erledigt.

Während des nächsten Sets von Liedern suchte Ben immer wieder die Menge nach Josey ab. Immer noch spürte er ihre Lippen auf seinen. Ein paarmal entdeckte er sie kurz, verlor sie aber gleich wieder aus den Augen.

Rex und Toadie machten sich nach dem Konzert sofort aus dem Staub. Normalerweise war Ben dafür zuständig, nach den Auftritten die komplette Ausrüstung sicher aus der Bar zu bringen. Aber nicht heute.

Er warf Stick einen kurzen Blick zu, ehe er sich auf den Weg machte, Josey zu suchen. Stick schien auch ohne Worte verstanden zu haben, dass Ben heute ausnahmsweise etwas anderes wichtiger war.

Aber Josey war nicht in der Bar, und auch draußen auf dem Parkplatz konnte er sie nirgends sehen. Ben bat sogar eine Kellnerin darum, kurz auf der Toilette nachzusehen. Nichts. Sie war weg.

Verdammt noch mal, wo war sie?

Josey legte ihren Kopf auf das Lenkrad. Die Kreuzung war um diese Zeit völlig verlassen, sie hatte also Zeit nachzudenken, ohne dass jemand hinter ihr ungeduldig hupen würde.

Wohin sollte sie fahren?

Bog sie nach rechts ab, wäre sie in einer knappen halben Stunde zu Hause. Ihr Apartment befand sich in einem hippen Viertel von Rapid City über einer teuren Boutique. Die Wohnung war zwar klein, aber schön. Heizung und Wasser funktionierten immer, und sie konnte fernsehen und gleichzeitig im Internet surfen. Das behagliche moderne Leben eben, an das sie sich gewöhnt hatte, während sie in New York gelebt hatte. Sozusagen fast als weiße Frau.

Wenn sie jetzt nach rechts fuhr, würde es morgen ruhig werden.

Entschied sie sich dafür, nach links abzubiegen, würde sie in etwa fünfundzwanzig Minuten die Grenze zum Reservat erreichen und nach einer weiteren Dreiviertelstunde vor dem extrabreiten Wohnwagen ihrer Mutter parken. Obwohl sie versuchen würde, leise zu sein, würde ihre Mutter trotzdem aufwachen und sie wie immer mit denselben Worten begrüßen: „Oh, Josey, ich bin so froh, dass du zu Hause bist.“ Ihre Mutter freute sich immer, sie zu sehen. Dann würde sie kurz das Foto von Joseys Dad berühren, das auf dem Fernseher stand, und anschließend wieder zum Bett schlurfen.

Wenn sie nach links fuhr, würde sie die nächsten paar Tage an dem Schulprojekt arbeiten. Ihr Rücken würde schmerzen, die manikürten Fingernägel abbrechen, und sie würde wieder knallhart mit der Tatsache konfrontiert werden, dass sie es bis zur Eröffnung der Schule nicht schaffen würden.

Es war das Vermächtnis ihres Großvaters an sie, die Schule zu bauen, und einige Mitglieder des Stammes würden es ihr übelnehmen, wenn das Projekt nicht rechtzeitig fertig werden würde. Die nächsten Tage würden anstrengend und chaotisch werden.

Genau wie die Sache mit Ben. Wenn sie jetzt umdrehen würde, wäre sie in weniger als fünf Minuten wieder an der Bar. Sie konnten dort weitermachen, wo sie vor etwa einer Stunde aufgehört hatten. Mann, dieser Typ konnte küssen! Und dann …

Nein. Sie würde nicht zurückfahren. Es war richtig gewesen, die Bar vor Konzertende zu verlassen. Richtig deshalb, weil Ben Bolton nicht der arrogante, gebieterische und herzlose Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Na ja, vielleicht oberflächlich gesehen, aber tief drinnen war er verloren und einsam. Das hatte Josey gemerkt.

Ben Bolton war gefährlich für sie. Als sie das letzte Mal ihrem Herzen gefolgt war, hatte ein Mann es gebrochen und zertrampelt. Außerdem hatten viele Leute im Reservat es als Verrat angesehen, dass sie mit einem Weißen zusammen gewesen war. Deshalb hatte sie während der letzten Wochen hart daran gearbeitet, dem Stamm ihre Vertrauenswürdigkeit zu beweisen. Kein weißer Mann, nicht mal Ben Bolton, war das Risiko wert, das aufs Spiel zu setzen.

Jemand hupte hinter ihr, und sie schreckte hoch. Links oder rechts?

Josey setzte den Blinker nach links.

3. KAPITEL

Ben atmete tief durch. Wie sehr er diese vierteljährlichen Treffen mit seinem Vater hasste. Er kam sich dabei immer vor, als sei er noch in der sechsten Klasse und müsste die beiden Vieren in seinem Zeugnis erklären.

Aber unter Umständen würde es dieses Mal ja besser laufen. Je schneller er es hinter sich brachte, desto besser.

„Dad?“

„Komm rein.“

Als er in das Büro seines Vaters trat, musste Ben wie immer lächeln über all die Papierstapel, die jede freie Fläche bedeckten. Bruce Bolton lehnte jede Art von neuer Technologie ab. Und obwohl Ben ihm gezeigt hatte, wie man einen Computer und das Internet benutzt, bestand sein Vater immer noch darauf, alles auszudrucken und in den entsprechenden Ordnern abzuheften.

Aber die Firma gehörte noch immer Bruce Bolton, und daran war nichts zu ändern. Billy stellte zwar die Motorräder her, und Ben war für die Finanzen zuständig, und Bobby, na ja, der machte auch irgendetwas, doch Bruce war immer noch alleiniger Inhaber von Crazy Horse Choppers. Deshalb auch die vierteljährlichen Treffen, bei denen Ben krampfhaft versuchte, seinem Vater die Bücher zu erklären.

„Der Quartalsbericht“, meinte Ben, als er den Ordner auf den Schreibtisch legte.

„Schreiben wir noch schwarze Zahlen?“ Das war jedes Mal alles, was sein Vater wissen wollte. Es war ihm völlig gleichgültig, was man tun musste, damit die Zahlen schwarz blieben, und es schien ihn auch nicht besonders zu interessieren, wie hoch diese schwarzen Zahlen waren. Nur dass sie schwarz waren, war wichtig.

„Ja, immer noch schwarz. Wir haben siebenunddreißig Stück geliefert, fünfundvierzig Motorräder sind bestellt, und wir konnten die Zahlungsverzögerungen auf achtundzwanzig Tage senken.“ Ben hatte natürlich einige Kredite aufnehmen müssen, um die Zeit zwischen Lieferung und Zahlung zu überbrücken, aber solche Fakten langweilten seinen Vater.

So wie sein alter Herr konnte man heutzutage kein Unternehmen mehr führen. Um die Firma voranzubringen, brauchte Ben Kapital, damit sie in neue Technik investieren und mehr Mechaniker einstellen konnten. Ben hatte ein gutes Gespür für Zahlen, und er hatte sein eigenes Geld nach den modernsten Investmentstrategien angelegt, was ihm bereits zu Millionen verholfen hatte. Genau das wollte er auch mit den Geldern der Firma tun, aber sein Vater sträubte sich dagegen, wie auch heute wieder.

„Verdammt, Ben, ich lasse doch nicht irgendwelche korrupten Banker mein Geld verprassen.“ Bruce schlug auf den Tisch, als Ben etwas Neues vorschlug. „So etwas tun wir hier nicht. Also hör auf, mich überhaupt zu fragen!“

„Ich weiß, wie man Geld sicher anlegt“, widersprach Ben und versuchte ruhig zu bleiben. „Meine eigenen Investitionen laufen doch auch gut. Und selbst Bobby und Billy lassen mich ihre Anlagen verwalten, und ihnen geht es finanziell nicht schlecht.“

„Wir schreiben schwarze Zahlen. Dem Unternehmen geht es gut“, brummte sein Vater. „Diesen ganzen Geld-Hokuspokus, oder wie du es nennst, brauchen wir nicht, und damit basta.“

„Man nennt es investieren.“ Ben würde sich heute nicht von der abfälligen Art seines Vaters ins Bockshorn jagen lassen. „Dem Unternehmen geht es nur gut, weil Billy, Bobby und ich mit unserem Geld für dieses Gebäude bezahlt haben.“

„Ha! Mit deinem Geld? Du hättest doch gar keins, wenn deine Brüder nicht wären. Was tust du denn? Deine Brüder arbeiten. Du rechnest doch nur ein bisschen rum. Selbst ein Fünftklässler könnte das.“ Sein Vater lachte hämisch. „Wo ist denn dein Geld? Ich kann auf die Bank gehen und Bares abheben. Aber deins schwirrt irgendwo da draußen rum.“

Bens Gesicht brannte. Er hatte diese Streitereien so satt. Egal, was er auch tat, sein alter Herr würde ihn nie mit demselben Respekt behandeln wie seine Brüder. „Lass uns doch wenigstens ein paar Investoren …“

„Es reicht! Das ist immer noch meine Firma, was du immer wieder zu vergessen scheinst. Ich sage es dir zum letzten Mal, ich treffe hier die Entscheidungen.“ Bruce blitzte ihn wütend an. „Und wenn du das nicht kapierst, dann …“

Die Drohung blieb unausgesprochen. Was wäre dann? Würde sein Vater ihn wirklich durch einen Fünftklässler ersetzen? Die Versuchung, alles hinzuwerfen und seinen alten Herrn hängen zu lassen, war jedes Mal groß. Und heute noch größer als sonst.

Doch da hörte er wieder seine Mutter sagen: „Ben, du musst die Familie zusammenhalten. Du bist der Einzige, der das kann.“

Sie hatte im Sterben gelegen, ihre Stimme schwach, aber trotzdem bestimmt. Seine Mutter hatte es irgendwie immer geschafft, die vier Bolton-Männer davon abzuhalten, sich gegenseitig umzubringen, und Ben hatte ihr versprochen, sie nicht zu enttäuschen.

Und das würde er auch nicht tun.

„Ich weiß, wer hier die Entscheidungen trifft“, murmelte er. Er würde dafür sorgen, dass die Zahlen im schwarzen Bereich blieben, wenn auch nur knapp. Nur so konnte er den letzten Wunsch seiner Mutter erfüllen.

Als er wieder in seinem Büro war, setzte er sich an den Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Wie lange würde er es noch schaffen, die Firma über Wasser zu halten? Es wurde immer schwieriger.

Sein Blick fiel auf die Broschüre der Pine-Ridge-Charter-Schule, und Bens Gedanken wanderten zu Josey White Plume.

Seit er sie vor vier Tagen geküsst hatte und sie danach verschwunden war, ertappte er sich immer wieder dabei, wie er die Broschüre anstarrte. Selbst die Website mit Joseys E-Mail-Adresse hatte er sich angesehen. Aber er konnte ihr ja schlecht eine E-Mail schicken, weil er „Sex ohne weitere Bedingungen“ wollte.

Aber wenn er Werkzeug für sie hätte, wäre das ein perfekter Grund, sie anzuschreiben. Allerdings wäre sein Vater niemals damit einverstanden, Werkzeug zu spenden, auch wenn einige der Maschinen und Geräte in der Werkstatt älter als Ben waren.

Plötzlich flog die Tür auf. „Ben, alter Junge!“, rief sein Bruder Bobby, als er hereinstürmte.

Erschrocken schob Ben die Broschüre unter einen Stapel Papiere. Na toll, sein jüngerer Bruder war also wieder da. Ben wusste nicht genau, ob das schlecht oder sehr schlecht war.

Bobby setzte sich auf den Gästestuhl und lockerte seine Krawatte. Er war der Einzige in der Firma, der Krawatten trug. „Wie war mein Termin heute Morgen? Ich habe gehört, sie sei ganz niedlich?“

Ben ignorierte ihn. Sein Bruder war recht gut mit Rex befreundet, und Ben zweifelte nicht daran, dass er bereits von dem Kuss wusste. Die Frage war, wusste er auch, dass der Termin und der Kuss mit ein und derselben Person zu tun hatten?

„Ein Gentleman schweigt also, was?“ Bobby pfiff anerkennend. „Dann war sie sicher toll. Was wollte sie?“

Mich. Sie wollte mich. „Spenden. Und vielen Dank auch, dass du sie mir aufs Auge gedrückt hast. Du weißt genau, dass ich am Quartalsende mehr als genug zu tun habe.“

Bobby warf ihm einen abfälligen Blick zu. „Komm eben nächstes Mal mit nach New York.“

„Wozu?“

„Du musst mal wieder hier raus. Wann hast du das letzte Mal eine Frau flachgelegt?“

„Das geht dich nichts an, verdammt noch mal.“

„Volltreffer! Du hast also nicht mal dieses Groupie von neulich abgeschleppt? Rex meinte, die wäre ganz schön heiß gewesen.“ Bobby lachte und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Armer Kerl!“

„Verschwinde! Ich muss arbeiten im Gegensatz zu dir.“

Bobby sah ihn gespielt traurig an. „Oh, Ben, das tut mir aber weh. Flieg in ein paar Wochen mit, und ich zeige dir, woran ich gearbeitet habe.“

Bisher hatte Bobby mit seinem Verhalten der Firma zwar noch nicht finanziell geschadet, aber irgendwie wusste Ben, dass das beim nächsten Vorfall, den Bob sich leistete, anders sein würde. Und es lag an ihm, seinen Bruder im Zaum zu halten.

„Mann, du wirst vor der Kamera groß rauskommen, Bruderherz.“

Kamera? Verdammt. Ben sah sich den letzten Bankauszug ihres Geschäftskontos an. Darauf standen mehrere Abbuchungen von eleganten Hotels und Bars in New York. Er schleuderte sie vor Bobby auf den Schreibtisch. „Was soll das?“

„Das wird alles anders, ich verspreche es dir. Dieser Deal …“

„Nein, keine Deals mehr!“

„Doch“, widersprach Bobby sofort. „Ich habe bereits mit Dad darüber gesprochen.“

Es war immer dasselbe. Bobbys Trumpf: Er hatte schon mit Dad gesprochen. Ben fühlte sich wie damals als Kind, als er mit der Familie gerne mal einen Ausflug in irgendein Wissenschaftszentrum gemacht hätte. Bobby wollte immer in den Zoo gehen, und Billy war es egal gewesen. Jedes Mal hatte es zu einem Streit zwischen ihm und Bobby geführt, bei dem ihre Mutter dazwischen gegangen war und ihr „armes Baby“ in den Arm genommen hatte. Als sich alle beruhigt hatten, hatte sein Vater ihn zornig angeblitzt und angekündigt, dass sie in den Zoo gehen würden.

Und das war bis heute so. Ben sah sich in seinem Büro um, er war gefangen in diesen vier Wänden. Wie gerne wäre er ausgebrochen und hätte etwas völlig anderes mit seinem Leben angefangen.

Jetzt saß Bobby vor ihm und grinste selbstgefällig.

Resigniert fiel Bens Blick auf eine Ecke der Schulbroschüre, die unter den anderen Papieren hervorlugte.

Und genau in diesem Moment reichte es ihm, und er traf einen spontanen Entschluss. Bobby reiste in der Weltgeschichte umher, Billy machte ständig Testfahrten. Ben würde nicht den Rest seines Lebens damit verbringen, in diesem Gefängnis Finanzberichte anzustarren.

Es war allerhöchste Zeit, dass Ben sich auf den Weg machte.

„Super, Mädels!“ Josey stand mitten in dem großen Mehrzweckraum, der überall mit Zeitungen ausgelegt war. Siebenundzwanzig Augenpaare sahen sie begeistert an. „Und wer will die Farbe umrühren?“

„Ich! Ich! Ich!“, riefen die Mädchen alle gleichzeitig.

Josey konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Den Mädchen war es egal, dass die Schule nicht rechtzeitig fertig wurde und dass Josey es nicht geschafft hatte, Geräte für die Werkstatt zu beschaffen. Selbst als ein Typ, der ihnen ein paar Instrumente versprochen hatte, heute Morgen mit einer faulen Ausrede angerufen hatte, dass er nun doch nichts spenden konnte, hatte das die Kinder nicht aus dem Konzept gebracht.

Alles, was sie interessierte, war, dass sie bald ihre eigene Schule bekommen würden. Die Mädchen, die hier drin endlich anfangen wollten zu streichen, und auch die Jungs, die draußen mit halb verrostetem Werkzeug herumhämmerten und Holz durchsägten, freuten sich einfach nur darüber, dabei helfen zu können, die Schule fertig zu bauen.

Josey beauftragte die beiden ältesten Mädchen, Livvy und Ally, mit dem Umrühren der Farbe. In dem Moment, als sie in die Hocke gegangen war, um den beiden zu zeigen, wie man den Deckel der Farbeimer öffnete, stieß Livvy einen entzückten Schrei aus. Dann wurde es still in dem großen Raum. Alle Kinder starrten auf irgendetwas hinter Josey.

Neugierig drehte Josey sich um. Dort stand ein großer weißer Mann in schwarzer Motorradkleidung, er hatte dunkle Haare und strahlend blaue Augen.

Ben Bolton.

Ihr Mund war völlig trocken, als sich ihre Blicke trafen. In seinen Augen lag wieder dieser Ausdruck der gefährlichen Begierde. Mann, er sah umwerfend aus. Seine Wangen waren etwas gerötet, seine Haare zerzaust, und seine Augen funkelten.

Oh Gott. Wie sie wohl aussah? Sie war gestern um Mitternacht todmüde ins Bett gefallen und stand seit sechs Uhr morgens bereits wieder hier. Hatte sie sich überhaupt die Zähne geputzt?

„Was machst du denn hier?“, brachte sie stotternd über die Lippen. Na toll. Sie klang genauso, wie sie aussah. Wenigstens schaffte sie es, sich aufzurichten, ohne dabei auf dem Hinterteil zu landen.

Bens Mundwinkel zuckten. War das ein Lächeln?

„Ich kam her, um …“ Kaylie, das jüngste Mädchen, begann zu wimmern und verbarg ihr Gesicht in Joseys Arbeitsanzug. Ben zuckte zusammen, als habe er erst jetzt bemerkt, dass noch andere Menschen im Raum waren. „Die Schule. Ich bin hier, um mir die Schule anzusehen.“

Betretenes Schweigen. Himmel, was sollte sie sagen?

Ben sah sich um. Die älteren Mädchen standen beschützend vor den jüngeren und wussten nicht so recht, wo sie hinschauen sollten; nur die allerkleinsten starrten Ben ungeniert an. „Tut mir leid“, sagte Josey, nachdem sie sich etwas gefangen hatte. Sie streichelte Kaylies Kopf. „Sie sind es nicht gewöhnt … Fremde zu sehen.“ Beinahe hätte sie Weiße gesagt.

Bens Wangen wurden noch roter vor Verlegenheit, was ihn für Josey noch anziehender machte.

„Hallo, Kinder“, meinte er und winkte zaghaft.

Plötzlich hörte sie laute Schritte im Flur. Gleich darauf stürmte Don Two Eagles ins Zimmer. Schlimmer konnte es nicht kommen. „Hey! Wer, zum Teufel, sind Sie?“

Ben wich ein paar Schritte zurück.

Genau das war der Grund, wieso Josey sich überhaupt nicht für Ben interessieren sollte. Wenn herauskam, dass sie einen Weißen geküsst hatte, wäre die Hölle los, und Leute wie Don würden sie wie Dreck behandeln. Der weiße Teufel, so nannten die Lakota den weißen Mann.

„Don“, begann Josey so höflich es ging, „das ist Ben Bolton. Er möchte sich die Schule ansehen.“ Sicherheitshalber warf sie Ben einen kurzen Blick zu, und er nickte freundlich zurück.

„Bolton? Wie Bruce Bolton, der Motorrad-Kerl?“, fragte Don mürrisch.

„Das ist mein Vater.“ Ben bemühte sich um einen gelassenen Tonfall, trat aber noch einen Schritt zurück. Er hatte zwar keine Angst vor dem anderen Mann, aber er wusste, dass er vorsichtig sein musste. „Kennen Sie ihn?“

„Ich habe mir 1987 die Hand an seinem Gesicht gebrochen.“ Er ballte seine Hand zur Faust, als wolle er andeuten, dass er kein Problem damit hatte, sie ein weiteres Mal bei einem anderen Bolton zu brechen.

„Sturgis? 1987?“ Ben ließ sich von Don nicht im Geringsten einschüchtern. Er lächelte sogar amüsiert. „Ach, Sie sind also der Mann, der ihm damals den Kiefer gebrochen hat? Er konnte danach einen Monat lang nicht sprechen. Das war der friedlichste Monat meines Lebens.“ Ben trat einen Schritt auf Don zu, was den älteren Mann zu verwirren schien. Daraufhin streckte Ben ihm die Hand entgegen. „Lassen Sie mich Ihre Hand schütteln, Mr …“

Don blitzte Ben einen Moment lang wütend an, ehe er seine Hand ergriff. „Don Two Eagles. Ich bin der Lehrer der Werkstatt.“

Josey war beeindruckt, dass Don den alten Bolton zusammengeschlagen hatte, auch wenn er sich dabei die Hand gebrochen hatte. Bens Vater war ein Schrank von einem Mann.

„Es ist mir ein Vergnügen.“ Ben schien das wirklich ernst zu meinen. Er schüttelte Don die Hand und klopfte ihm freundlich auf den Rücken. „Nicht viele Männer haben meinen alten Herrn fertiggemacht. Aber an Ihrer Stelle würde ich mich von der Firma fernhalten“, fügte er lachend hinzu.

„Ich fahre eine Harley“, erklärte Don, als würde das an der Situation irgendetwas ändern.

Ben grinste, er war total entspannt. „Miss White Plume und ich konnten neulich unser Gespräch über die Spendenaktion für die Schule nicht zu Ende führen. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich hier vorbeigekommen bin, ich wollte mir nur selbst ein Bild von der Schule machen.“ Mit diesen Worten wandte er sich Josey zu und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

Es klang alles perfekt, aber das ungezwungene Lächeln, das er ihr zuwarf, passte nicht zu dem, was Josey in seinen Augen las. Ich bin hier, um dich zu sehen.

Sofort spürte sie eine wohlige Wärme in sich aufsteigen.

„Ja … eine Besichtigung.“ Sie zwang sich, Don anzusehen. „Mr Bolton wollte sichergehen, dass wir alles bekommen, was wir brauchen.“

Don runzelte die Stirn. „Wačhíŋmayaya hwo?“

„Taŋyáŋ naúŋžiŋpe ló. Nein, ich komme klar.“ Sie hatte ein schlechtes Gewissen, vor Ben die Sprache der Lakota zu sprechen, denn das war unverschämt. Aber im Moment wollte sie einfach nur, dass Don sie in Ruhe ließ und sich nicht noch weiter einmischte.

Don warf Ben einen Blick zu, bei dem die meisten weißen Menschen ordentlich Angst bekommen hätten.

Aber Ben hob nur die Augenbrauen. Dieser Mann hatte zwar seinen Vater niedergeschlagen, aber das war eine Ewigkeit her.

„Danke, Don, es ist alles okay.“ Josey räusperte sich, dann fügte sie im Stillen hinzu: Und jetzt verzieh dich endlich.

Noch einmal sah Don zu Ben hinüber, danach war er verschwunden.

„Also, was ist nun mit der versprochenen Besichtigung?“, fragte er und strahlte Josey an.

„Ach ja, die Besichtigung.“ Wie gerne würde sie sich noch ein wenig zurechtmachen. „Also, das hier ist der Mehrzweckraum“, erklärte sie schließlich.

Gott, diese Augen, sind die wirklich so blau, oder sind das Kontaktlinsen?

„Mehrzweck?“

„Turnhalle und Kantine.“ Josey deutete auf ein paar Tische, die auf der einen Seite des Raumes standen. Sie stammten aus einer Grundschule in Iowa, in der eine neue Kantine gebaut wurde. Josey hatte die alten Möbel umsonst bekommen.

„Musikzimmer“, flüsterte Livvy kaum hörbar.

„Oh ja. Dort drüben.“ In der Ecke des Zimmers, auf die Josey zeigte, stand eine einzige Trommel.

Es fiel Josey schwer, sich von Bens Anblick loszureißen, am liebsten hätte sie ihn pausenlos angestarrt. Sie bemerkte, wie sein strahlendes Lächeln langsam verschwand. Ungläubig wandte er sich an sie. „Ihr habt nur eine Trommel für wie viele Schüler?“

„Dreiundsechzig.“ Josey atmete tief ein. Der Duft von Leder stieg ihr in die Nase, und sie wünschte sich, hinter ihm auf seinem Motorrad zu sitzen und einfach in der Gegend herumzufahren. Nicht im Reservat und auch nicht in der Nähe seiner Firma, sondern irgendwo ganz weit weg, wo sie sich keine Sorgen machen musste, was die Leute über sie oder Ben dachten. „Ja, mehr Instrumente haben wir nicht. Ich habe in der Musikhandlung nachgefragt, aber die konnten nichts entbehren.“

Nachdem sie Livvy damit beauftragt hatte, die Wände im Mehrzweckraum zu streichen, ging sie Ben voraus in den Flur. „Komm, ich zeige dir die Werkstatt.“ Er folgte ihr in dichtem Abstand, so dicht, dass sie seine Hand hätte ergreifen können. Aber das konnte sie hier nicht wagen, Don war schließlich noch in der Nähe.

Als sie kurz darauf die Tür nach draußen öffnete, blies ihr ein heftiger Wind entgegen und zerzauste ihr Haar. „Hier entlang.“ Ein paar größere Kinder sägten nicht weit entfernt vom Schulhaus Holzbretter zurecht, während kleinere Jungs die Bretter festhielten. Don stand bei ihnen und sah von seiner Arbeit auf, als Josey und Ben durch das hohe Gras auf sie zukamen. Plötzlich hielten alle Kinder inne und erstarrten.

Jetzt bloß professionell bleiben, ermahnte sich Josey, als sie bei der Gruppe ankamen. „So wie die Kantine wird auch dieses Gebäude mehrere Zwecke erfüllen. Zusätzlich zur Schulwerkstatt werden wir es als Lager benutzen und als Garage für das Schulfahrzeug“, erklärte Josey ihrem Begleiter.

„Wieso sehen mich die Kinder nicht an?“ Mist. Er hatte es gemerkt. „Haben sie etwa ein Problem mit Weißen?“

Oje. Wie sollte sie ihm erklären, dass diese Kinder meist nur dann weiße Menschen zu Gesicht bekamen, wenn ihre Eltern wegen Alkohol- oder Drogenverstößen verhaftet wurden? Oder wenn Leute vom Sozialamt kamen und jemanden aus dem Stamm mitnahmen. Wie konnte sie ihm begreiflich machen, dass viele Lakota weiße Menschen schlichtweg ignorierten, so als existierten sie gar nicht?

Sie selbst und auch ihre Mutter wurden von manchen Stammesmitgliedern als Außenseiter behandelt. Man flüsterte heute noch hinter ihrem Rücke darüber, wie ihre Großmutter die Lakota hintergangen hatte, weil sie sich in einen weißen Mann verliebt hatte. Wie sollte Ben jemals verstehen, dass, egal, wie viel ihr Großvater auch für den Stamm getan hatte, er immer der weiße Mann und somit der Feind aus New York bleiben würde?

Nein, das konnte sie ihm nicht erklären. Es war schwierig genug für sie, sich in beiden Welten zurechtzufinden. In der einen war sie zu sehr Indianerin, in der anderen zu sehr Weiße. Einmal hatte sie probiert, es jemandem zu erklären, damals, als sie verliebt gewesen war. Und zu was hatte das geführt? Zu einem gebrochenen Herzen.

„Nein“, antwortete sie daher und bemühte sich um einen ruhigen Ton, „sie sind es nur nicht gewohnt, fremde Leute zu sehen.“

Ben sah sie neugierig an. In seinen Augen spiegelte sich völliges Unverständnis über diese für ihn neue Welt, in die er völlig ahnungslos hineingestolpert war.

Dann nickte er. „Wieso benutzen sie Handsägen?“

„Ich habe in ein paar Firmen versucht, Elektrowerkzeuge zu bekommen, aber die meisten können es sich nicht leisten, etwas zu stiften.“

Bens Augen verengten sich zu Schlitzen. War das zu direkt gewesen? Egal, nun war es zu spät, sie hatte es schon gesagt.

Josey warf Don einen bedeutungsvollen Blick zu, den er zu verstehen schien. Er murrte etwas in der Lakota-Sprache, und die Kinder sägten weiter. Ben ignorierten sie jedoch weiterhin.

„Komm, wir lassen sie in Ruhe“, meinte Josey und machte sich auf den Weg zum Hauptgebäude. Plötzlich aber hielt sie inne. „Ist das deins?“

Autor

Sarah M. Anderson
Sarah M. Anderson sagt, sie sei 2007 bei einer Autofahrt mit ihrem damals zweijährigen Sohn und ihrer 92-jährigen Großmutter plötzlich von der Muse geküsst worden. Die Geschichte, die ihr damals einfiel, wurde ihr erstes Buch! Inzwischen konnte sie umsetzen, wovon viele Autoren träumen: Das Schreiben ist ihr einziger Job, deshalb...
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