Die Derwent Familie - drei royale Geschwister finden ihre Liebe - 4-teilige Serie

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SÜßE KÜSSE IM SCHNEE

Er hat sie nie vergessen - und in dem traumhaften Alpenchalet spürt Ethan Caversham auch warum: Während leise die Schneeflocken fallen, wärmt Rubys Zärtlichkeit sein Herz. Aber sie will eine Familie - und Ethan weiß nicht, ob er ihren größten Weihnachtswunsch je erfüllen kann …

DIE BRAUT DES SPANISCHEN PLAYBOYS

"Ich will, dass Sie mich heiraten."Rafael Martinez heiraten? Die Vorstellung war so lächerlich, dass Cora ihn nur anstarren konnte. "Soll das ein Witz sein?"Was sucht ein milliardenschwerer spanischer Playboy an einem regnerischen Samstagabend in einem Park in Cornwall? Lady Cora glaubt zu träumen, als Rafael Martinez zielstrebig auf sie zukommt und sie auffordert, ihn nach Spanien auf sein Weingut zu begleiten. Bloß für einen Job? Von wegen! Er will, dass sie ihn heiratet. Jedoch nur, weil er ihren Adelstitel braucht. Cora hingegen könnte mit seinem Geld endlich ihre Schulden zahlen. Eine reine Geschäftsbeziehung also. Aber warum prickelt es dann so sinnlich, als er sie zur Übung zärtlich küsst?

EIN FEST DER LIEBE FÜR UNS ZWEI?

Lichterglanz, der Duft von gerösteten Maronen, Zimt und Nelken … Verzückt plant Historikerin Etta einen viktorianischen Weihnachtsmarkt auf Derwent Manor. Doch den Küssen des attraktiven Hausherrn sollte sie besser widerstehen! Denn der Earl of Wycliffe gilt als Playboy …

NUR EINE SÜNDIGE ERINNERUNG?

Nach einer sinnlichen Nacht mit einer aufregenden Fremden steht das Leben von Staranwalt Daniel Harrington plötzlich Kopf - erst recht als ihm klar wird, wer die Schöne wirklich ist: Lady Kaitlin, Tochter des Duke of Fairfax und Aristokratin par excellence! Sie will nicht zu ihrer Affäre stehen? Für den smarten Daniel kein Problem! Denn um ein spektakuläres Wohltätigkeitsprojekt zu unterstützen, müssen sie beide nach Venedig reisen! Und wo könnte der attraktive Anwalt ihr besser beweisen, dass ihre Leidenschaft mehr ist als eine sündige Erinnerung?


  • Erscheinungstag 09.11.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733735142
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Nina Milne

Die Derwent Familie - drei royale Geschwister finden ihre Liebe - 4-teilige Serie

IMPRESSUM

Süße Küsse im Schnee erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2015 by Nina Milne
Originaltitel: „Christmas Kisses with Her Boss“
erschienen bei: ORIGINALVERLAG
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA WEIHNACHTEN
Band 29 - 2016 by CORA Verlag GmbH, Hamburg
Übersetzung: Elfie Sommer

Umschlagsmotive: gpointstudio/GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733735197

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Trödeln. Sich herumdrücken. Panik schieben. Wer hätte gedacht, dass man alles drei gleichzeitig tun konnte? Ruby Hampton vergrub die Hände in den Taschen ihres langen Daunenmantels. Er sollte sie nicht nur vor dem kalten Dezemberwind schützen, sondern auch davor, erkannt zu werden.

Verrückt. Sie musste doch bloß die belebte Londoner Straße überqueren und die imposante Zentrale von Caversham Holiday Adventures betreten. Einfach, stimmts? Offenbar nicht, denn ihre Füße waren wie festgeklebt auf dem Bürgersteig.

Wenigstens schienen keine Reporter in der Nähe zu sein. Es sei denn, sie tarnten sich als Straßenverkäufer, die so ziemlich alles von heißen Maroni bis Pullovern mit Rentiermotiven anpriesen. Ruby hatte die Männer nicht genauer betrachtet. Sie war mit gesenktem Kopf durch den Stadtteil Knightsbridge gelaufen, in der verzweifelten Hoffnung, ihre mit Fell gesäumte Kapuze und die Sonnenbrille könnten sie davor bewahren, gelyncht zu werden.

So weit, so gut. Wenn ihr keine Paparazzi auf den Fersen waren, hatten die vielleicht endlich kapiert, dass Ruby nichts sagen würde. Hugh hatte ihre Lippen mit seinen Drohungen fest verschlossen.

Sein amerikanischer Akzent klang ihr noch in den Ohren:

Ein falsches Wort, und meine PR-Leute machen dich fertig, dass dir Hören und Sehen vergeht – bevor sich meine Anwälte auf dich stürzen.

Die Paparazzi hatten mehr davon, vor Hughs Haus herumzulungern, wo er ihnen Lügen auftischte. Mal wieder. Ruby konnte seinen unzähligen Fans nicht einmal verübeln, dass sie ihm jede Silbe glaubten. Schließlich war sie selbst auf die zuckersüßen Worte hereingefallen, mit denen er sie geblendet hatte. Und jetzt …

Jetzt bekam sie die Schlagzeilen nicht mehr aus ihrem Kopf.

Ruby Hampton – untreu und geldgierig!

Hugh Farlane: Hollywood-Megastar krank vor Liebeskummer!

Rauschende Verlobungsparty zu Weihnachten geplatzt!

Farlanes Fans machen Ruby Hampton nieder!

„Niedermachen“ war untertrieben – Hughs Anhänger wollten Ruby bluten sehen. Alle glaubten, sie hätte sein Herz gebrochen und wäre nur auf schnöden Mammon aus. Sie krümmte sich innerlich. Schon als Kind hatte sie sich geschworen, nie auf Al mosen angewiesen zu sein zu müssen, und dieses Versprechen hielt sie. Ihre Eltern hatten ein Baby nach dem anderen in die Welt gesetzt, um mit dem Kindergeld Drogen zu finanzieren. Sie hatten geschnorrt, gelogen und betrogen. Dazu war Ruby nicht fähig.

Einen Moment lang drohten die Schatten der Vergangenheit sie einzuholen. Tom, Edie, Philippa … Geschwister, die sie nie wiedersehen würde.

Stopp, Ruby.

Aus und vorbei.

Jetzt musste sie in die Gänge kommen und zum Bewerbungsgespräch antreten. Tun, was sie am besten konnte: sich zusammenreißen und weitermachen. Den Mistkerl Hugh Farlane und ihre Kindheit vergessen.

Es gab bloß einen Haken. Den Grund, warum sie an diesem windigen Dezembertag auf einem Londoner Bürgersteig trödelte, sich herumdrückte und Panik schob.

In der Caversham-Zentrale wartete jemand aus ihrer Vergangenheit – und dieser Jemand würde gleich das Bewerbungsgespräch mit ihr führen.

Ethan Caversham.

Nervosität sprudelte in ihr hoch. Ethan. Der letzte Mann, von dem sie geglaubt hatte, sie würde ihn noch einmal sehen. Der letzte Mann, den sie noch einmal hatte sehen wollen.

Krieg dich ein, Ruby. Die Sache mit Ethan lag Ewigkeiten zurück. Ruby war nicht mehr jener naive, bis über beide Ohren verknallte Teenager. Trotzdem fühlte sie sich immer noch grässlich, wenn sie daran dachte, mit welchen Worten Ethan ihre Gefühle zerschmettert hatte.

Hör auf, mir nachzulaufen. Ich will deine Dankbarkeit nicht. Ich will deine Hilfe nicht. Ich will dich nicht. Also, lass mich bitte einfach in Ruhe.

Zehn Jahre später hatte Ethan sie kontaktiert, um ihr ein Bewerbungsgespräch anzubieten. Seine E-Mail war kurz und sachlich gewesen – kein Hinweis, ob er sich an sie erinnerte, und nur spärliche Informationen über den Job selbst. Egal. Ruby brauchte Arbeit – irgendeine.

Es war dumm gewesen, ihre Stelle zu kündigen. Der Frust über ihren Fehler schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte ihren gesunden Menschenverstand über Bord geworfen und Hugh geglaubt, dass er sie an seiner Seite brauchte. Deshalb hatte sie einen tollen Job aufgegeben. Dämliche Nuss.

Arbeit war ihr Anker. Und derzeit gab ihr nur Ethan Gelegenheit, sich vorzustellen. Niemand sonst wollte die negative Publicity auf sich ziehen, und Ruby mochte nicht warten, bis der Sturm vorüberzog. Warten lag ihr nicht.

Also … Jetzt musste sie sich gut verkaufen.

Ethan Caversham bedeutete ihr nichts mehr. Er hatte ihre Freundschaft beendet. Soweit es Ruby betraf, war er nur ein potenzieller Arbeitgeber mit einem Job, der sich in ihrem Lebenslauf gut machen würde.

Mehr als das, dachte sie entschlossen. Die Stelle würde ihr zu Geld und Sicherheit verhelfen – den Voraussetzungen, um Kinder adoptieren zu dürfen. Eine Familie zu haben. Ohne Mann.

Ruby zog ihre Hände aus den Manteltaschen und befahl sich, die Straße zu überqueren. Dann ging sie durch die Drehtür in das elegante gläserne Hochhaus. Während der Aufzugfahrt in den dritten Stock blieb ihr gerade genug Zeit, um den Mantel auszuziehen und sich zu vergewissern, dass der strenge Haarknoten noch ebenso perfekt war wie das dezente Make-up.

Als die Lifttüren zur Seite glitten, holte Ruby tief Luft und betrat die Lobby von Caversham Holiday Adventures.

Wie erwartet traf sie ein missbilligender Blick der Empfangsdame. Offenbar zählte die Blondine zu Hughs Gefolgschaft.

Auf keinen Fall würde Ruby den Kopf einziehen. Sie lächelte und besann sich auf die Stärke, die ihr das sorgfältig zusammengestellte Outfit verlieh: ein grauer, taillierter Wollblazer über einem exzellent geschnittenen schwarzen Jerseykleid. Klassisch und geschäftsmäßig.

„Ich habe einen Termin bei Ethan Caversham.“

Die Empfangsdame nickte knapp. „Ich sage ihm, dass Sie hier sind.“

„Danke.“

Ruby spürte einen Adrenalinschub und blickte sich um. Diesen Trick hatte sie als Kind entdeckt. Er hatte ihr in kniffligen Situationen geholfen, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Zum Beispiel, wie sie Sozialarbeiter davon überzeugte, dass alles okay war. Wie sie ein Milchfläschchen halten musste, damit das Baby nicht spuckte. Wie sie ihre Geschwister schützen konnte …

Mit dem Marmorboden, den exotischen Grünpflanzen und dem glänzenden Glastisch am Empfang unterschied sich diese Lobby drastisch von der armseligen Umgebung, in der Ruby aufgewachsen war. An den Wänden hingen Fotos von majestätischen Bergen, türkisblauem Meer und einem Surfer auf einer hohen Welle. Sie strahlten Energie und Euphorie aus.

Nach einem kurzen Telefonat stand die Empfangsdame auf. „Ich bringe Sie zu Mr. Caversham.“

„Danke.“

Mit einer Mischung aus Neugierde, Angst und Vorfreude folgte Ruby der Blondine einen Korridor entlang. Ethan Caversham. Ethan Caversham. Ethan Caversham. Wieder und wieder schossen ihr die Silben durch den Kopf, im selben Rhythmus, in dem ihre Absätze auf dem Boden klackten. Obwohl sie sich einredete, dass ihr nichts mehr an dem Mann lag.

Die Empfangsdame öffnete eine Tür. „Ihr Zehn-Uhr-Termin ist hier, Ethan.“

„Danke, Linda.“

Nach einem weiteren missbilligenden Blick in Rubys Richtung zog sich Linda zurück. Die Tür schnappte hinter ihr ins Schloss.

Ruby spürte, wie stark ihr Herz gegen die Rippen hämmerte. Sie trat einen Schritt vor, während sich der Mann hinter dem Schreibtisch aus Kirschholz erhob.

Oh.

Natürlich hatte sie sich über ihn informiert. Fotos im Internet ließen keinen Zweifel daran, wie attraktiv Ethan Caversham war. Schon als Teenager war er nicht gerade hässlich gewesen.

Doch jetzt … Jetzt stand Ruby stocksteif auf dem teuren Teppich und fixierte Ethan fasziniert. Markante Gesichtszüge, dichtes braunes Haar, kühle blaugraue Augen. Deutlich über einsachtzig, mit einem perfekt durchtrainierten Körper. Der zornige junge Mann von früher wirkte selbstbewusst und zäh. Wie jemand, dem man besser nicht in die Quere kam.

Die Nervosität, die sie eine Weile hatte verdrängen können, keimte jetzt wieder auf.

Na los, Ruby. Du darfst es nicht vermasseln.

Irgendwie gelang es ihr, zum Schreibtisch zu gehen und die rechte Hand auszustrecken. „Ruby Hampton.“

Als sie seine Finger um ihre fühlte, stiegen Erinnerungen und ein undefinierbares, geradezu lächerliches Gefühl von Sicherheit in ihr hoch. Sie spürte den Impuls, Ethans breite Hand festzuhalten. Ihre Blicke trafen sich, und in seinen blaugrauen Augen blitzte etwas auf.

„Schön, dich wiederzusehen“, sagte er.

„Gleichfalls.“

Er zog die Brauen hoch. „Du klingst nicht wirklich überzeugt.“

„I…ich …“

Oh, um Himmels willen. Albern. Sie hatte gewusst, dass die Vergangenheit zur Sprache kommen würde, und sich vorgenommen, lässig damit umzugehen. Dummerweise hatte sie die Wirkung des Mannes, der Ethan heute war, nicht einkalkuliert. Was war mit ihr los? Sie glaubte doch überhaupt nicht daran, dass man sich auf den ersten Blick in jemanden verlieben konnte.

„Ich war mir nicht sicher, ob du weißt, wer ich bin. Wir haben uns ja nicht gerade harmonisch getrennt.“ Ruby sagte es schroffer als beabsichtigt – eher frostig denn lässig.

„Stimmt.“

Es entstand eine Pause, und Ruby merkte, dass Ethan erstmal abwartete. Vorwürfe lagen ihr auf der Zunge. Sie war drauf und dran, eine Entschuldigung zu fordern für eine Beleidigung, die sie vor zehn Jahren erfahren und nicht verdient hatte.

Keine gute Idee, Ruby.

Die Vergangenheit musste vergangen bleiben. Außerdem sollte Ethan um keinen Preis merken, dass er noch immer derart intensive Gefühle in Ruby auslösen konnte. Eine Tatsache, über die sie ganz und gar nicht glücklich war.

Sie zwang sich zu einem coolen Lächeln und nickte. „Wichtig ist wohl nur, dass wir es beide in den letzten zehn Jahren weit gebracht haben.“

Ethan deutete einladend auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Das haben wir allerdings. Bitte – setz dich und lass uns anfangen.“

Leichter gesagt als getan.

Seine unerklärliche Reaktion auf Ruby Hampton irritierte Ethan.

Unerklärlich? Wohl kaum.

Ruby war hinreißend. Irgendwann im letzten Jahrzehnt hatte sie sich vom Straßenkind zur schönen Geschäftsfrau gemausert. Dunkle, zum Knoten gesteckte Haare, makellose, schimmernde Haut und hohe Wangenknochen … Leider war ihre Wirkung auf Ethan nicht nur physischer Natur.

Mit körperlicher Anziehungskraft kam er klar, attraktive Frauen gab es wie Sand am Meer. Aber Ruby weckte noch etwas anderes in ihm. In ihren saphirblauen Augen hatte Verletzlichkeit aufgeleuchtet, nur ganz kurz. Dieselbe Verletzlichkeit wie vor zehn Jahren. Ein undefinierbares, gleichzeitig vertrautes Gefühl schnürte ihm den Brustkorb zusammen, als er erneut die Empfindungen seiner Jugend durchlebte: Wut, Verwirrung, Angst.

Damals hatte Heldenverehrung in Rubys Blick gelegen. Das hatte Ethan gehasst. Schon früher war ihm klar gewesen, dass in ihm kein Held steckte, und die Erkenntnis, dass Ruby ihn förmlich anbetete, hatte ihn geärgert.

Jäh fühlte er sich schuldig. Das war natürlich überflüssig. Vor zehn Jahren hatte er das Richtige für Ruby getan – ihre Schwärmerei im Keim erstickt, bevor sich mehr daraus entwickeln konnte. Denn damals wusste er genauso gut wie heute, dass er ihr nichts bieten konnte.

Schluss damit.

Die Vergangenheit war passé – jetzt zählte die Gegenwart. Und jetzt las er in Rubys Augen nur Kühle und Argwohn, während sie darauf wartete, dass er dieses Bewerbungsgespräch eröffnete.

„Wie bist du in der Cateringbranche gelandet?“, fragte er.

„Nachdem du und ich …“, sie zögerte kurz, „… getrennte Wege gegangen sind, habe ich gekellnert und die Abendschule besucht. Ich habe jede Schicht gearbeitet, die ich kriegen konnte, und den Rest der Zeit gelernt.“ Ethan sah Ruby die Entschlossenheit an, als sie fortfuhr: „Ich wollte raus aus dem Wohnheim und der staatlichen Fürsorge. Meinen eigenen Weg gehen, und zwar möglichst bald.“

„Verstehe.“

Er konnte das Bedürfnis nachvollziehen, sich jede Sekunde des Tages zu beschäftigen, damit man erschöpft ins Bett fiel und einen die Vergangenheit nicht bis in die Träume verfolgte. Ethan wusste auch, wie wichtig es war, erfolgreich zu sein, um sich selbst retten zu können.

„Als ich ein paar Zeugnisse vorweisen konnte, hat mich der Cafébesitzer von der Kellnerin zur Managerin befördert. Später bin ich in die Hotelbranche eingestiegen, und …“

Ruby schilderte ihren Werdegang, und Ethan konnte nicht umhin, beeindruckt zu sein.

„Zuletzt warst du Empfangschefin im Forsythe’s.“

So hieß eins der renommiertesten Restaurants in London. Es hatte viele reiche und prominente Gäste und lag neben einem Theater, das die Familie Forsythe seit Jahrhunderten leitete.

„Erzähl mir von deinen Aufgaben dort“, bat Ethan.

„Ich habe eng mit dem Geschäftsführer zusammengearbeitet, um dem Restaurant eine unverwechselbare Note zu geben. Es war zum Beispiel meine Idee, das Forsythe’s im Regency-Stil einzurichten. Dafür habe ich stundenlang im Internet recherchiert, in Galerien und auf Kunstmärkten gestöbert und auch einige schöne Stücke aufgetrieben.“

Ihr Argwohn hatte sich verflüchtigt. Ruby lehnte sich vor und unterstrich ihre Worte mit ausdrucksvollen Gesten. Eifrig beschrieb sie, wie sie auf eine zweihundert Jahre alte Zeichnung des Forsythe-Theaters gestoßen war.

„Außerdem habe ich mich um die neuen Speisekarten gekümmert, Kundenbeziehungen gepflegt …“ Sie brach ab, und ein Schatten zog über ihr Gesicht, als sie sich wieder zurücklehnte.

„Zu Kunden wie Hugh Farlane“, stellte Ethan fest.

„Ja. Und vielen anderen“, ergänzte Ruby. Der Argwohn kehrte in ihre dunkelblauen Augen zurück. „Hoffentlich passt meine Erfahrung bei Forsythe’s zu der Aufgabe, die du für mich im Sinn hast?“

„Ja. Was weißt du über Caversham Holiday Adventures?“

„Es ist ein Reiseunternehmen mit einer besonderen Note. Caversham bietet exklusive Pakete mit Extremsportarten und außergewöhnlichen Hotels auf der ganzen Welt an. Zu deinen Kunden zählen Milliardäre, Jetsetter und Prominente. Dein neuestes Projekt ist ein Schloss in Cornwall.“

„Richtig.“

Adrenalin pumpte durch Ethans Körper, als er an seine Vision für das Schloss dachte. Das auf den ersten Blick ein wenig düstere Gemäuer faszinierte ihn und weckte in ihm den Wunsch, etwas Neues auszuprobieren – die Arbeit mit karitativen Engagement zu verknüpfen.

„Die Renovierung ist fast abgeschlossen, deshalb will ich das Restaurant bald eröffnen. Ich brauche einen Manager, der mit mir über Ausstattung, Speisekarte und Mitarbeiter entscheidet und die große Eröffnung am Silvesterabend organisiert. Am fünfzehnten Januar nimmt das Hotel den regulären Betrieb auf, also drängt die Zeit. Vor allem, weil Weihnachten vor der Tür steht. Traust du dir den Job zu?“

„Ja.“ In Rubys Stimme lag nicht der Hauch eines Zweifels. „Allerdings verstehe ich nicht ganz, warum du noch niemanden für diese Position eingestellt hast.“

„Hatte ich, aber wir waren uns nicht immer einig, darum ist er gegangen.“ Der Mann hatte Ethans Vision nicht geteilt. „Ich führe seit einer Woche Bewerbungsgespräche, bisher ohne Erfolg. Dies ist ein wichtiges Projekt, und ich brauche die richtige Person. Du könntest es sein.“

Ihre Augen leuchteten, und zum ersten Mal, seit sie das Büro betreten hatte, lächelte sie ein echtes Lächeln, das Ethan durch und durch ging.

„Großartig.“ Eine kleine, steile Falte erschien zwischen Rubys Brauen. „Ich fühle mich der Aufgabe gewachsen“, bekräftigte sie. „Aber du weißt bestimmt, dass ich momentan nicht gerade der Liebling der Medien bin. Die sozialen Netzwerke und Boulevardzeitungen feuern gegen mich. Wenn du mich einstellst, könnte sich die Stimmung auch gegen dich richten.“

Ihre Stimme klang gleichmütig, doch in ihren Augen flackerte ein Kummer auf, der Ethan zu schaffen machte. Ruby untertrieb – die Kommentare gegen sie waren bösartig, voller Drohungen und in manchen Fällen sogar obszön.

Er presste die Lippen aufeinander. Düstere Erinnerungen stiegen in ihm auf, denn er wusste, was für tragische Folgen Mobbing haben konnte.

„Das ist mir bewusst. Kein Problem. Ich halte zu meinen Angestellten, weil ich ihnen vertraue. Womit ich bei meiner nächsten Frage bin.“ Rubys Referenzen waren ausgezeichnet. Jetzt musste er sich nur noch vergewissern, dass sein Instinkt ihn nicht trog und er an diese Frau glauben konnte.

„Nur zu.“ Ihr Körper spannte sich erwartungsvoll an.

„Ich lese Zeitung. Darum kenne ich die Vorwürfe, du seist geldgierig und hättest deine Stelle bei Forsythe’s ausgenutzt, um mit Hugh Farlane anzubändeln. Bei Caversham würdest du in der ersten Reihe stehen und hättest direkt mit meinen Gästen zu tun. Also muss ich mich darauf verlassen können, dass du Kundenbeziehungen pflegst, ohne auf den Geldbeutel der Leute zu schielen. Bisher hast du die Anschuldigungen nicht zurückgewiesen. Könntest du mich bitte aufklären?“

Ethan lehnte sich zurück und wartete.

Rubys Lächeln verschwand. Sie verschränkte die Hände so fest, dass ihre Knöchel leise knackten – der einzige Laut, der die Stille durchbrach.

„Kein Kommentar“, sagte sie schließlich.

2. KAPITEL

Ruby wappnete sich, als Ethan die Augenbrauen hochzog.

„Bist du sicher, dass du nicht mehr dazu sagen willst?“, fragte er.

Was sollte sie tun? Schnell überlegte sie, wie sie die Situation retten könnte. Sie war unschuldig, durfte aber nicht erwarten, dass Ethan im Zweifel für die Angeklagte entschied, wenn sie schwieg.

Auf keinen Fall durfte sie über Hugh reden – sie wusste ja, wie mächtig er war. Ethan bräuchte bloß mit ihrer „Story“ zu einer Zeitung zu gehen, und sie wäre noch schlechter dran als jetzt.

Aber sie wollte diesen Job. In ihr einsames Apartment zurückzukehren und sich wieder mit Eis vollzustopfen, war keine Option.

Mist. Wie hatte es bloß so weit kommen können? Ruby kannte die Antwort: Sie war dumm gewesen. Hatte sich erlaubt, das Unmögliche zu tun und zu träumen. Schon wieder. Träumen, sie könnte alles haben: Liebe und eine Familie. Im realen Leben musste sie sich auf reale Ziele konzentrieren. Wie diesen Job.

Ethan trommelte mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. Mit der leicht gerunzelten Stirn sah er eher perplex denn ablehnend aus.

Na los. Antworte ihm.

„Ich würde es gern erklären, doch das Risiko darf ich nicht eingehen. Alles, was ich sage, könnte verdreht werden, deshalb sage ich lieber gar nichts. Solltest du mich zitieren oder etwas in einem sozialen Netzwerk posten, bekäme ich nur noch mehr Hass zu spüren.“ Und Hughs Rache. „Das … Das will ich nicht.“ Entsetzt merkte sie, dass ihre Stimme bebte. Ethan sollte sie nicht für ängstlich halten. „Aber ich verspreche dir: Wenn du mir eine Chance gibst, werde ich einen fabelhaften Job machen und dich nicht enttäuschen.“

Die Falte auf seiner Stirn grub sich tiefer ein. „Und ich verspreche dir, dass ich nicht verrate, was du mir anvertraust. Ich werde den Rummel nicht anheizen.“

Eine Sekunde lang bemerkte Ruby so viel Schmerz in seinem Blick, dass sie ihre Hand ausstrecken und auf Ethans legen wollte. Auch nachdem er seinen Gesichtsausdruck wieder im Griff hatte, wirkte die Aufrichtigkeit seiner Worte nach.

Ruby überkam der Drang, ihm alles zu erzählen. „Ich …“

Stopp.

Hatte sie aus dem Debakel mit Hugh nichts gelernt? Sie hatte ihm vertraut – mit welchen Konsequenzen? Bis zum Hals steckte sie in Schwierigkeiten.

Trotzdem glaubte sie nicht, dass Ethan aus demselben Holz geschnitzt war wie Hugh. Ethan hatte ihr vor zehn Jahren das Leben gerettet.

Und dann war er spurlos aus ihrem Leben verschwunden.

Andererseits hatte er sich die Mühe gemacht, ihr einen Job anzubieten.

Ruby wusste nicht, was sie denken sollte. Sie atmete tief durch. Derzeit hatte sie keine guten Aussichten auf den Titel „Menschenkennerin des Jahres“. Deshalb lautete die Devise: Traue niemandem.

„Okay.“ Ethan hob beide Hände. „Denk darüber nach. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, geht das nur mit Vertrauen. Auf beiden Seiten. Und noch etwas: Ich muss sicher sein, dass du in diesem Job hundert Prozent geben würdest.“

„Das würde ich. Alles deins. Hundert Prozent.“

Ihre Blicke trafen sich, und Ruby wurde die Zweideutigkeit ihrer Worte bewusst. Sie schluckte.

„Bei Forsythe’s hast du nach nur zwei Monaten gekündigt.“

Ihre Wangen röteten sich. „Das fällt in die Kategorie ‚Karrierefehler‘.“ Ein Fehler monumentalen Ausmaßes. „Ich hatte mich verlobt, und es schien die richtige Entscheidung zu sein. Die Forsythe-Schwestern haben sehr verständnisvoll reagiert.“

„Nachvollziehbar. Die meisten Frauen wären hin und weg vom Lebensstil der Verlobten eines Hollywoodstars – verglichen mit Überstunden und Druck in einem fordernden Job. Ich habe von den rauschenden Partys gelesen. Du bist offenkundig zum Feiern geboren.“

„Nein!“ Das mochte alle Welt von ihr glauben, aber es kränkte sie, dass Ethan sich der Meinung anschloss.

„Die Partys waren mir zuwider. Ich bin so daran gewöhnt, Veranstaltungen zu organisieren und Leute zu bedienen, dass es mir schwerfiel, Gast zu sein. All der Glitzer und Glamour, und es gab nichts für mich zu tun, außer …“

Außer, die Rolle von Hugh Farlanes überglücklicher Freundin zu spielen.

Wie hatte sie darauf reinfallen können? Auf ihn? Zuerst war der Mann mit dem Ruf eines Playboys und Herzensbrechers für sie uninteressant gewesen. Genau wie sein Ruhm, das Rampenlicht und Hughs Geld. Aber nach und nach hatte er ihre Abwehr aufgeweicht. Ihr gestanden, dass er sie brauchte und nur sie ihn retten konnte. Seine Stimme hatte etwas tief in ihrer Seele berührt.

Schließlich hatte sie so kläglich versagt, als es darum ging, ihre Familie zusammenzuhalten – mit herzerreißenden Folgen.

Als Hugh auf Knien beteuert hatte, sein Leben zu ändern, war sie dahingeschmolzen und bereit gewesen, ihm um jeden Preis zu helfen. Wenn sie dafür ein Leben führen musste, das ihr widerstrebte, die glamouröse Freundin mimen und Paparazzi anlächeln musste, wollte sie es tun.

Dass sie derart blind gewesen war …

„Außer was?“ Ethan blickte sie unerwartet mitfühlend an. Er nahm einen Bleistift, drehte ihn hin und her. „Außer, Farlanes Freundin zu sein? Es war bestimmt schwer, nicht mehr als eigenständige Persönlichkeit zu gelten …“

Wie hypnotisiert starrte Ruby auf den Bleistift in Ethans Hand. Sein Verständnis warf sie aus der Bahn. Wieder erwachte der Drang, ihm ihr Herz auszuschütten. Ihm zu sagen, wie unglaublich schwer es ihr gefallen und wie viel schlimmer deswegen Hughs Betrug war.

Sie schluckte die Worte herunter und sah Ethan in die Augen. „Ich möchte lieber nicht über Hugh reden. Das ist viel verlangt, aber ich gebe dir mein Wort, dass du mir vertrauen kannst. Ich werde einwandfreie Arbeit abliefern und dich nicht hängen lassen. Gib mir eine Chance, dich zu überzeugen.“

Dieser Job war genau ihr Ding. Und ihr brennender Wunsch, ihn zu kriegen, hatte nichts zu tun mit dem Mann, der ihn vergab. Kein bisschen.

Ethan legte den Bleistift so entschieden hin, dass Ruby verunsichert war. Hatte sie es vergeigt?

Er musterte sie stumm. Dann blinzelte er kurz, und Ruby hätte schwören mögen, dass sein Lächeln ein wenig bedauernd war. „Okay. Ich stelle dich ein. Probezeit bis zur großen Eröffnung. Danach sehen wir weiter.“

Ruby strahlte erleichtert und eine Spur triumphierend. „Du wirst es nicht bereuen. Vielen Dank.“

„Dank mir noch nicht, Ruby. Ich bin ein strenger Chef und werde dich auf Schritt und Tritt beobachten.“

„Wirst du?“ Super – die Aussicht ließ einen Schwarm Schmetterlinge in ihrem Bauch aufflattern.

„Ja. Dieses Projekt ist mir wichtig, deshalb werden du und ich in den nächsten Wochen eng zusammenarbeiten.“

Eng zusammenarbeiten. In Rubys Hirn bekamen die geschäftsmäßigen Worte eine ganz eigene intime Note.

„Ab sofort. Ich fahre heute Nachmittag zum Schloss. Wir treffen uns dort. Wenn du es vorziehst, kann ich dich auch mitnehmen.“

Gesunder Menschenverstand besiegte ihren Instinkt, der darauf beharrte, das Angebot abzulehnen. Einzige Alternative war eine Zugfahrt – mit dem hohen Risiko, erkannt zu werden.

„Eine Mitfahrgelegenheit wäre toll.“ Das stimmte nicht wirklich. Die Vorstellung, auf engem Raum mit ihm eingepfercht zu sein, machte Ruby nervös. „Danke.“

Ethan blickte kurz zu seiner Beifahrerin und gleich wieder geradeaus auf die Straße. Ruby trug jetzt eine dunkle Hose mit einer weißen Bluse, darüber eine braune Jacke mit breitem Gürtel. Nach wie vor wirkte sie wie der Inbegriff einer Geschäftsfrau. Trotzdem juckte es Ethan noch immer in den Fingern, die Nadeln aus ihrem Knoten zu ziehen und über ihre schimmernden schwarzen Haare zu streicheln. Der schwache Duft nach Zimt, der sie umgab, reizte …

Es war echt lästig.

Vermutlich spürte auch Ruby diese Spannung. Ethan war nicht entgangen, wie sie ihn ab und zu verstohlen ansah. Verdammt, warum hatte er sie eingestellt?

Die Stimmung im Wagen war ein Problem – Ethan konnte sie nicht einordnen, und der leise Verdacht, es könnte um mehr als physische Anziehung gehen, bereitete ihm Kopfschmerzen.

Es war unklug, jemanden aus der Vergangenheit einzustellen. Ruby weckte Erinnerungen, die er lieber vergessen hätte. Erinnerungen an den Ethan vor einem Jahrzehnt, der auf der Straße gelandet war, um der harten Realität zu entkommen: der bitteren Erkenntnis, dass seine Mutter ihn loswerden wollte und er es ihr nicht einmal verübeln konnte.

Resolut schob er diese Gedanken beiseite, entspannte bewusst seinen Unterkiefer und sagte sich, dass Ruby die richtige Kandidatin für den Job war.

Aber es ging nicht nur darum.

Das Beben in ihrer Stimme hatte bei ihm einen Nerv getroffen, denn es zeigte ihm, dass sie Angst hatte. Bei Rubys Anblick waren Bilder von Tanya vor ihm aufgestiegen … Bilder von der schönen, sanften Schwester, die er nicht hatte schützen können.

Bilder von Ruby vor zehn Jahren.

Eine schmächtige Ruby stand in einem heruntergekommenen Park und versuchte, sich gegen drei Typen zu wehren. Ethan sah es aus der Ferne und brauchte einen Moment, um zu begreifen, was vor sich ging. Da stürzte sich einer der Jungs auf Ruby, und Ethan rannte los.

Wenigstens lernte man das Kämpfen, wenn man in einer Sozialbausiedlung mit etlichen Gangs aufwuchs. Schlimmstenfalls würden die Typen ihn umbringen, aber das Mädchen könnte weglaufen. Darauf kam es an. Er konnte … würde nicht noch eine Tragödie miterleben.

„Renn!“, schrie er dem Mädchen zu.

Doch sie rannte nicht. Sie erstarrte, und gleich darauf beteiligte sie sich an der Schlägerei.

Zehn Minuten später war es vorbei. Die drei Kerle machten sich aus dem Staub, und Ethan drehte sich zu dem großen Mädchen um, dessen schwarze Haare aussahen, als hätte sie sie selbst geschnitten. Ihr Gesicht war schmutzig, und auf ihrer Stirn klebte etwas Blut. Ihre großen saphirblauen Augen mit den unglaublich langen Wimpern waren faszinierend. Ethan und Ruby keuchten, und eine Sekunde sah er nicht dieses Mädchen im Park – sondern seine Schwester. Jenes Mädchen, das er nicht hatte retten können.

Er streckte seine Hand aus. „Lass uns abhauen, bevor sie mit Verstärkung wiederkommen. Oder mit Messern.“

„Abhauen wohin?“, fragte sie mit zittriger Stimme.

„Ins Wohnheim. Du kannst heute Nacht bei mir pennen. Bei mir bist du sicher. Versprochen.“

Sie starrte auf seine Hand, und ohne zu zögern legte sie ihre hinein. In ihren Augen glänzte diese verdammte Heldenverehrung.

Heute hatte Ethan ihr einen Job angeboten. Weil er ahnte, dass Farlane ihr übel mitgespielt hatte. Weil er nicht wollte, dass sie den Feiglingen in den sozialen Netzwerken zum Opfer fiel. Weil der Schutzinstinkt von damals wiedererwacht war.

Die zweispurige Straße verengte sich zu einer einzigen Spur. In der Dämmerung konnte man Windräder und Felder erkennen, schließlich ein winziges Dorf. Ethan fuhr einen Hügel hinauf, und dann …

„Wir sind da“, sagte er. Ruby hörte den Stolz in seiner Stimme, als er den Wagen über die breite, von Bäumen gesäumte Auffahrt lenkte und auf dem Parkplatz stoppte.

Er sah Ruby an, weil er ihre Reaktion miterleben wollte und hoffte, sie möge in diesem Schloss dasselbe sehen wie er.

Ruby schaute aus dem Fenster, die blauen Augen auf das Schloss geheftet, das sich am Horizont erhob. „Es ist … wundervoll. Richtig Ehrfurcht gebietend.“

Ethan wusste, was sie meinte. Manchmal kam es ihm unwirklich vor, dass diese mächtigen Steinwände ihm gehörten, diese jahrhundertealten Türme, die an vergangene Generationen erinnerten.

Sie seufzte. „Wenn ich die Augen schließe, kann ich förmlich sehen, wie die Cavaliers im Bürgerkrieg gegen die Roundheads kämpfen. Das Blut, die Schreie, der Mut. Kämpfer, die auf das Fallgatter zugaloppieren …“ Ruby lächelte verlegen. „Entschuldige. Wie bist du an die Genehmigung für das Hotel gekommen? Steht das Schloss nicht unter Denkmalschutz?“

„Die Genehmigung wurde schon vor Jahrzehnten erteilt. Keine Ahnung, wieso. Die Firma, die das Projekt initiiert hat, musste Konkurs anmelden, danach hat sich niemand um das Schloss gekümmert. Ich habe mit dem Stadtrat und Denkmalstiftungen verhandelt und es gekauft. Und jetzt …“

„Jetzt hast du es verwandelt“, beendete Ruby den Satz leise.

Sie war so versunken in die Aussicht, dass sie unbewusst näher an Ethan heranrückte.

Plötzlich kam ihm der Wagen zu eng vor. Er musste dem Zimtduft entkommen, auch der Wärme in Rubys Stimme und ihrem Blick, als sie ihn nun ansah.

„Ich zeige dir, was ich alles verändert habe. Das liefert dir hoffentlich Inspirationen für deine Arbeit.“

Auf dem Weg zum restaurierten Fallgitter knirschte der Kies unter ihren Füßen. Tief atmete Ethan die frische Luft ein, die nach dem nahen Meer roch. Er bemerkte, wie auch Ruby tief durchatmete und die kühle Brise ihre Wangen rosig färbte.

Als sie in den warmen Empfangsbereich kamen, betrachtete Ethan zufrieden die Mischung von Alt und Neu. Antike Teppiche schmückten die Steinwände, gemütliche rote Sessel gruppierten sich um Mahagonitische. Der gesamte Bereich war mit Wi-Fi ausgestattet.

„Wahnsinn“, staunte Ruby.

Ethan führte sie durch einen Korridor in das künftige Restaurant mit seinen imposanten Steinwänden. „Wir vermuten, dass hier früher die Bankette stattfanden.“

„Wow.“ Ruby blieb in der Saalmitte stehen und schloss die Augen.

Ethan atmete auf – Ruby kapierte es. Sie spürte den Reiz dieses Ortes, und deshalb würde sie ihr Bestes geben.

Jetzt öffnete sie die Augen wieder. „Ich kann mir gut vorstellen, wie es hier im Mittelalter war. Gaukler, Sänger, Geschichtenerzähler, eine lange Tafel voller Speisen …“

„Sieh dir noch die anderen Räume an.“

Ruby stoppte vor einem großen Zimmer, das an das Restaurant grenzte. „Was ist dies hier?“

„Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen.“

Ethan wich bewusst aus, denn er wollte Ruby nicht in alle Einzelheiten einweihen. Das konnte er immer noch tun, falls es sich als nötig erweisen sollte. Vorläufig war sie in der Probezeit.

„Es ist wie geschaffen für ein Café. Deine Gäste werden nicht immer vornehm dinieren wollen – manchmal soll es vielleicht nur ein Sandwich oder eine Suppe sein. Ich könnte …“

„Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen, sagte ich.“

Er sah ihr an, dass er sie gekränkt hatte, und hob versöhnlich lächelnd eine Hand. „Heute will ich dir zeigen, was schon renoviert wurde. Lass uns weitergehen.“

Sie kamen zu einer Bar. „Das Schloss soll alle Epochen widerspiegeln“, erklärte Ethan. „Dieser Raum repräsentiert die viktorianische Ära.“

„Wunderbar.“ Entzückt schaute sich Ruby um, bevor sie mit den Fingerspitzen über den Tresen aus englischer Eiche strich.

Ethan schluckte. Er starrte auf ihre schlanken Finger, die über das polierte Holz glitten. Schnell versuchte er, das Geräusch, das seiner Kehle entschlüpfte, als Husten zu tarnen, doch selbst er hörte, wie unecht das klang. „Möchtest du etwas trinken?“

„Das wäre hilfreich.“

„Hilfreich?“

„Ja. Viele deiner Gäste werden hier sitzen, bevor sie im Restaurant essen. Ich möchte einen schönen, selbstverständlichen Übergang schaffen. Das fällt mir leichter, wenn ich in die Atmosphäre eintauchen kann.“

„Verstehe. Was darf es sein?“

„Tomatensaft mit Tabasco.“

Ethan ging hinter den Tresen. Ihm war bewusst, dass Rubys Blick ihm folgte. Zügig öffnete er die Flasche Tomatensaft, schnappte sich ein paar Eiswürfel und würzte den Drink.

Ruby blinzelte. Dann trat sie einen Schritt vom Tresen zurück. „Du bist ein Naturtalent“, meinte sie mit rauer Stimme.

„Ich sorge dafür, dass ich im Notfall für jeden meiner Mitarbeiter einspringen kann.“ Ethan stellte ihr Glas auf den Tresen, weil er nicht riskieren wollte, bei der Übergabe Rubys Hand zu berühren. Er zeigte auf zwei opulente Sessel vor dem Kamin.

Ruby setzte sich. „Du hast bemerkenswerte Arbeit geleistet. Ich war noch in keinem anderen Caversham-Anwesen, habe aber im Internet recherchiert, und …“ Sie zuckte die schmalen Schultern. „Dieses hier wirkt anders. Persönlicher. Hört sich das dumm an?“

Nein. Im Gegenteil, es sprach Bände über ihre Intuition. Ethans Vision für das Schloss war persönlich. So sollte es auch bleiben. Sobald er ins Detail ging, würde Ruby ihn vermutlich loben. Schon bei der Vorstellung fühlte er sich unwohl in seiner Haut. Noch schlimmer: Es könnte ein Gespräch über seine Motivation und gemeinsame Erinnerungen folgen. Bei dieser Aussicht wurde ihm eiskalt. Er spürte, wie er die Lippen grimmig aufeinanderpresste.

Ruby zwirbelte eine lose Strähne um den Zeigefinger. „Ich will nicht indiskret sein, aber falls du eine bestimmte Idee für das Restaurant hast, sollte ich die kennen, damit ich das richtige Design vorschlagen kann.“

Jetzt musste er etwas sagen. „Ich bin sicher, dass wir gemeinsam ein Konzept entwickeln können, das zum Schloss passt.“

Sie blickte sich noch einmal um, dann lächelte sie Ethan an. Es war ein Lächeln, bei dem ihm warm wurde, obwohl er kühle Distanz wahren wollte.

„Du hast allen Grund, stolz zu sein, Ethan. Vor zehn Jahren hast du ja prophezeit, du würdest groß rauskommen, aber das hier ist gigantisch.“

Da loderte sie wieder hoch – die Vergangenheit. Ja, er hatte geschworen, erfolgreich zu sein. Wie sonst konnte er seiner Mutter und der ganzen Welt beweisen, dass er zu etwas taugte? Dass er nicht wie sein Vater war?

„Ich fühle mich geehrt, weil ich mitmachen darf. Wenn ich also noch etwas wissen muss, teile es mir bitte mit.“

Teilen. Das Wort war ihm fremd. Ethan fand, dass man am besten allein zurechtkam. Vor zehn Jahren war ihm Ruby so nahegekommen, dass er seinen Traum vom Erfolg mit ihr geteilt hatte. Gleich darauf hatte er es bereut. Jetzt forderte sie ihn schon wieder auf, etwas mit ihr zu teilen. Und wieder blickte sie ihn so verheißungsvoll an, dass er versucht war, etwas zu offenbaren.

Diesmal würde er sich nicht in ihren Bann ziehen lassen. „Ich hänge in der Tat an dem Schloss. Vermutlich, weil es so geschichtsträchtig ist. Darum liegt mir auch viel an den Details. Dieser Raum ist in Rubinrot und Dunkelgrün gehalten, weil früher nur eine begrenzte Farbpalette verfügbar war.“

Ruby nickte. „Mit den Tiermotiven und den Marmoreffekten im Anstrich hast du die Ära genau getroffen, und der Kamin ist prachtvoll. Die Messingleuchter gefallen mir auch sehr gut, genau wie die kleinen Ornamente. Dafür hatten die Menschen der Viktorianischen Zeit ja eine Schwäche.“ Sie hockte sich vor einen Porzellanhund, der neben dem Kamin stand und ein Gegenstück auf der anderen Seite hatte. „Was für ein Glücksfund. Ein Originalpaar.“

„Stimmt. Woher weißt du so viel darüber?“

„Im Forsythe’s haben wir mit dem Gedanken gespielt, dem Lokal einen viktorianischen Touch zu geben.“

Plötzlich schien das Thema erschöpft und die Atmosphäre angespannt zu sein.

Ruby richtete sich auf, trank ihr Glas leer und blickte auf die Uhr. „Ist es okay, wenn ich für heute aufhöre? Ich muss mir noch eine Unterkunft suchen.“

Wieder bemerkte Ethan, wie sich ihre Augen kurz verschatteten. Gleich darauf war die kaum wahrnehmbare Verletzlichkeit verschwunden. Ruby straffte die Schultern und lächelte ihn an. „Ich frage bei ein paar Hotels nach und rufe mir ein Taxi.“

Die Erkenntnis traf ihn wie aus heiterem Himmel: Ruby fürchtete sich – und wer konnte es ihr verdenken? Die Aussicht, sich in die Öffentlichkeit zu wagen, hätte auch den abgebrühtesten Prominenten verunsichert.

Sein Beschützerinstinkt meldete sich. „Oder du könntest hierbleiben“, hörte Ethan sich sagen.

3. KAPITEL

„Hier?“, wiederholte Ruby erleichtert, doch bevor sie zustimmen konnte, zwang sie sich, nachzudenken. „Warum?“

Er zuckte die Schultern. „Es wäre vernünftig. Wir haben reichlich Platz. Du musst dein Bett zwar selbst beziehen, kannst aber eine Suite haben und effizienter arbeiten als im Hotel. Ich bleibe auch im Schloss, also bist du nicht allein.“

Hier würde sie sich tatsächlich sicherer fühlen. Wegen Ethan. Sie verdrängte den Gedanken. Dies hatte nichts mit Ethan zu tun – es machte Sinn, im Schloss zu bleiben. Unabhängig von Ethans Ausstrahlung oder dem Knistern zwischen ihnen.

„Vielen Dank. Bist du wirklich sicher?“

„Bin ich. Lass uns ein Zimmer für dich suchen.“

„Äh … Okay.“ Super. Jetzt lief sie auch noch rot an wie ein Teenager. Lächerlich. Genauso albern wie das Herzklopfen, mit dem sie Ethan die breite Treppe in den zweiten Stock folgte. Dort öffnete er eine Tür mit dem Schild „Elizabethan Suite“ und trat zur Seite, um Ruby vorgehen zu lassen.

Die Suite war umwerfend, doch trotz der eleganten Brokatvorhänge und der Wandteppiche mit Naturmotiven wanderte Rubys Blick geradewegs zum Himmelbett.

Einen verrückten Moment lang ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf, weil ihr Körper – dummerweise – einem uralten Instinkt nachgeben wollte. Gleichzeitig weiteten sich Ethans Pupillen, bis seine Augen ganz dunkel aussahen und Ruby glaubte, sie hätte ihn mit ihrer geistigen Umnachtung angesteckt … Glaubte, er würde einen Schritt nach vorn machen und die Lücke zwischen ihnen schließen.

Stattdessen wich er zurück, und die Stimmung verflüchtigte sich. Ruby hatte den Eindruck, die Luft würde leicht vibrieren. Ethan drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Tür.

„Morgen früh zeige ich dir den Rest. In der Küche stehen Lebensmittel, falls du hungrig bist.“

„Okay.“ Ihr Appetit war weg – verdrängt von der Achterbahn der Gefühle, auf der sie in Ethans Nähe fuhr.

„Solltest du etwas brauchen, hast du ja meine Handynummer. Meine Suite ist eine Etage höher. Niemand weiß, dass du hier bist, also kannst du beruhigt schlafen.“

Zum ersten Mal, seit Ruby Hugh mit der Prostituierten erwischt hatte, fühlte sie sich … sicher.

„Danke. Und … Ethan?“

„Ja?“

„Ich möchte dir auch für heute danken. Dafür … Nun ja, dass du mich wieder gerettet hast.“

Erst reagierte er gar nicht. Dann nickte er mit undurchdringlicher Miene.

„Ethan?“

„Ja.“

„Darf ich dich etwas fragen?“

Er sah sie argwöhnisch an. „Fragen kannst du …“

„Warum hast du mich zum Bewerbungsgespräch eingeladen?“

Schweigen. Ruby hielt die Luft an. Die törichte Hoffnung, er könnte etwas aus der Vergangenheit wiedergutmachen wollen, keimte in ihr auf.

„Jeder hat das Recht auf eine Chance“, antwortete er schließlich. „Und jeder verdient eine zweite Chance.“

Seine Stimme klang tief, mit einem Unterton, aus dem Ruby nicht schlau wurde.

„Schlaf gut, Ruby. Vor uns liegt eine Menge Arbeit.“

Ethan zog die Tür hinter sich ins Schloss, und sie sank auf das Bett.

Genug. Nicht analysieren. Fühl dich nicht zu ihm hingezogen. Mit anderen Worten: Wiederhol nicht die Fehler von früher.

Sie würde nicht zulassen, dass irgendeine dämliche Anziehungskraft alles ruinierte. Würde sich nicht vormachen, es könnte mehr sein – etwas wie ein Band zwischen ihnen beiden. Ruby schüttelte den Kopf. Es war bloß ein Echo ihrer Schwärmerei aus Teenagertagen.

Nur musste es diesmal anders laufen. Statt sich törichte Gefühle zu erlauben und emotionale Nähe einzubilden, würde sie sich auf die Arbeit konzentrieren und eine Festanstellung ergattern. Dann würde sie wieder auf Kurs sein. Auf dem Weg zu ihrem Ziel, einer Familie.

Eine Woche später

Ethan klopfte kurz an und öffnete die Tür. Ruby blickte von ihrem mit Papieren übersäten behelfsmäßigen Schreibtisch hoch. Als Ethan ihr blasses Gesicht und die Schatten unter ihren Augen sah, bekam er ein schlechtes Gewissen. In den letzten Tagen hatte sie fast rund um die Uhr geackert, und er hatte sie gelassen. Mehr noch – er hatte sie dazu ermuntert.

Krieg dich wieder ein, Ethan.

Schließlich bezahlte er sie genau dafür – um hart zu arbeiten. Er stellte hohe Erwartungen an alle Angestellten. Ruby war da keine Ausnahme.

Klar. Rede dir das ruhig weiter ein.

„Gerade wollte ich dich anrufen“, meinte Ruby. „Wegen den Lieferterminen für die Möbel für den Bankettsaal. Außerdem habe ich einen Kunstmaler für die Wände gefunden. Und ich möchte dir ein paar Muster für Uniformen in Schwarz und Rot zeigen, und …“

„Klingt gut, aber deswegen bin ich nicht hier. Du musst etwas für mich erledigen.“

„Schieß los.“

„Rafael Martinez kommt zum Abendessen her.“

Ruby stutzte. „Rafael Martinez – der Milliardär und Weinguru, Besitzer des Weingutes aller Weingüter – kommt zum Abendessen? Wieso sagst du das erst jetzt?“

„Weil ich es vorher nicht wusste. Eigentlich wollten wir uns am Monatsende treffen, aber jetzt ist er gerade in der Nähe und hat Zeit. Das Timing ist nicht ideal, doch Rafael und ich sind …“

Alte Freunde? Nein. Bekannte? Mehr. Schulkameraden? Ethan und Rafael hatten mehr Unterricht geschwänzt als besucht. „Wir kennen uns schon lange.“

„Führst du ihn nicht lieber zum Essen aus?“

„Geschäftliches bespreche ich gern unter vier Augen. Aber wenn es dich überfordert …?“

Ethan gab sich keine Mühe, den provokativen Unterton zu verbergen, und Ruby tat nicht so, als würde er ihr entgehen. Halb entschlossen, halb trotzig reckte sie das Kinn vor. „Ich kümmere mich darum.“

„Sicher?“

„Sicher.“

„Betrachte es als Bewährungsprobe für deine Fähigkeit, eine Krise im Restaurant zu managen.“

„Yippie. Ich darf mich bewähren!“

Er lachte. „Das ist die richtige Einstellung. Dann lasse ich dich mal weiterarbeiten.“ Währenddessen würde er überlegen, wie er Rafael seinen Vorschlag unterbreiten sollte. Rafael Martinez war eher als Playboy und skrupelloser Geschäftsmann bekannt denn als Wohltäter.

Ethan war schon auf dem Weg zur Tür, da sagte Ruby: „Ich habe eine Idee.“

„Lass hören.“

„Also, ich schlage vor, ihr esst in der Bar. Das ist ein beeindruckendes Ambiente. Wir sollten sie ein bisschen weihnachtlich dekorieren.“

„Ich glaube nicht, Ruby. Rafael ist vermutlich noch weniger für Weihnachtskitsch zu haben als ich.“

Sie seufzte übertrieben. „Ich rede nicht von Kitsch. Hätten wir bereits geöffnet, würden wir das Weihnachtsthema doch auch aufgreifen.“ Ihre Miene wurde wehmütig. „Ein riesiger Tannenbaum. Girlanden. Lichterketten.“ Sie zog die Stirn kraus. „In deinen anderen Hotels gibt es doch bestimmt Weihnachtsspecials und Weihnachtsdeko?“

„Ja, aber ich habe nichts damit am Hut.“ Ein traditionelles Weihnachtsfest hatte Ethan zuletzt gefeiert, als … Als Tanya noch gelebt hatte.

Bilder aus seiner Kindheit stiegen vor ihm auf. Seine Schwester hatte Weihnachten geliebt, mit Ethan Papiergirlanden gebastelt und den Baum geschmückt. Tanya hatte sogar Mum mit der Festtagsstimmung angesteckt. Aber nachdem sie … Nun, darüber dachte er besser nicht nach. „Um ehrlich zu sein: Ich habe mit Weihnachten nichts am Hut. Und ich bin ziemlich sicher, dass es Rafael ebenso geht.“

„Tja, du hast Glück, denn ich habe damit viel am Hut. Rafael Martinez soll eine Vorstellung davon bekommen, wie wir seine Weine in Caversham Castle präsentieren könnten. Wenn wir es richtig anstellen, stimmt ihn die weihnachtliche Note vielleicht zugänglich.“

Schwer vorstellbar, aber da Ethan an Rafaels karitative Seite appellieren wollte, war es einen Versuch wert. Außerdem fand er, dass man Angestellte ermutigen sollte, die Initiative zeigten. „Nur zu“, sagte er also.

„Fein. Ich fahre gleich zum Einkaufen.“

Ruby hockte sich vor den Kamin und schob den Topf ein paar Zentimeter nach links. Sie atmete den Duft von Tanne und Erde ein und spürte jene Zufriedenheit, die sich einstellt, wenn man gute Arbeit geleistet hat. Wenigstens hielt sie es für gute Arbeit. Ethan hatte offenkundig Bedenken wegen der Weihnachtsdeko, und Rubys Recherche über Rafael Martinez erklärte, warum.

Wie Ethan hatte auch Rafael den Ruf, rücksichtslos zu sein. Internetfotos zeigten einen großen Mann mit düsterer Ausstrahlung: dunkle Haare, markante Nase und pechschwarze Augen. Anders als Ethan hatte Rafael etliche Freundinnen verschlissen. Ruby hätte allzu gern Näheres über Ethans Liebesleben gewusst. Aber das ging sie ja nichts an.

Er ist dein Boss, mehr nicht.

„Hey.“

Sie sprang auf. Ruhig, Ruby. Ethan mochte vielseitig sein, doch Gedanken lesen konnte er nicht. „Hey. Entschuldige. Du hast mich erschreckt.“ Sie zeigte auf ihr Werk. „Was sagst du? Ich habe gerade dafür gesorgt, dass die Bäume Dash und Nero nicht verdecken.“

„Dash und Nero?“

Verlegen biss sie sich auf die Unterlippe.

Ethan lächelte leicht, und Rubys Herz klopfte schneller. Jetzt sah er viel jünger aus. Sie wusste noch, wie dankbar sie vor zehn Jahren gewesen war, wenn sie ihm dieses seltene Lächeln entlockt hatte.

„Du hast die Porzellanhunde getauft?“, fragte Ethan.

„Nur in meinem Kopf. Königin Victorias Lieblingshund war der Spaniel Dash, und dann hatte sie noch einen Windhund namens Nero. Egal. Was meinst du?“

„Ausgezeichnete Namen.“ Ethan verzog keine Miene, doch seine Augen funkelten belustigt.

Ruby musste lachen. „Ich rede von der Dekoration.“

Sie hoffte auf Zustimmung, gleichzeitig ärgerte sie sich, dass ihr Lob so wichtig war. Ein Überbleibsel aus ihrer Kindheit, in der sie sehnlichst Bestätigung gesucht und nur so wenig davon erfahren hatte.

Das hier musste Ethan doch gefallen, oder? Ruby betrachtete die Tannenbäumchen auf beiden Seiten des Kamins, den Kranz darüber, die Duftkerzen auf dem Kaminsims und die Lichterkette.

„Wirklich gut“, sagte er anerkennend.

„Du brauchst gar nicht so überrascht zu klingen. Gib es zu: Du dachtest, ich würde mit scheußlichem Kitsch ankommen.“

„Ich hätte mehr Vertrauen in dich setzen sollen.“

„Unbedingt.“

Ethan musterte sie. „Du bist eine Frau mit vielen Talenten. Und welche Art Weihnachten magst du?“

„Ich? Äh … Na ja … In den letzten zehn Jahren habe ich Weihnachten gearbeitet und bin auf der Welle meines jeweiligen Arbeitgebers mitgeschwommen.“

„Dann ist es für dich bloß ein beliebiger Tag? Du hast doch behauptet, du hättest viel mit Weihnachten am Hut.“

„Das stimmt auch.“ Ruby sah ihn an. „Ich bin nicht besonders religiös, aber ich glaube, dass es viel mehr als ein beliebiger Tag ist. Ein Anlass, um zu geben – ein zauberhaftes Fest.“

Ethans Lippen bildeten eine strenge Linie. „Geben: Ja. Zauberhaft: Nein. Das ist idealistisch gedacht. Weihnachten beendet nicht automatisch Armut, Krankheit oder Kriminalität.“

„Stimmt. Aber es ist eine Gelegenheit, für einen Waffenstillstand zu werben, Menschen zu trösten und ein bisschen Freude zu verbreiten. Findest du nicht?“

Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schließlich sagte er: „Doch. Das finde ich auch.“

„Es geht ja auch darum, mit den Menschen zusammen zu sein, die einem wichtig sind, und …“

Ruby spürte das vertraute Ziehen in ihrer Herzgegend, den Verlust. Sie fragte sich, wo ihre Geschwister sein mochten, und hoffte, dass sie ein frohes Fest verlebten. Natürlich würden sie das, schließlich hatten sie eine liebevolle Adoptivfamilie. Dieser Gedanke erfüllte Ruby mit Freude.

Sie war sich bewusst, dass Ethan sie aus seinen blaugrauen Augen beobachtete, als sie fortfuhr: „Und wenn man das nicht kann, dann ist es immer noch wundervoll, das Glück anderer Menschen mitzuerleben. Vorläufig habe ich allerdings genug anderen Familien beim Feiern zugeguckt.“

„Vorläufig?“

„Klar.“ Geh nicht ins Detail. „Eines Tages werde ich selbst eine Familie haben, und dann …“

„Dann wird alles gut sein auf der Welt?“ Ethans scharfer Unterton verletzte sie.

„Ja“, bestätigte sie unnötig vehement. „Ich kann dir genau sagen, wie mein Weihnachten aussehen wird: ein riesiger Christbaum, Tannenduft, Stechpalmen, Efeu und Weihnachtsstrümpfe, aus denen Zuckerstangen herauslugen. Ein Tisch, auf dem das Besteck im Schein der Lichterketten glänzt. In der Mitte ein goldbraun gebratener Truthahn mit allen Schikanen. Würstchen im Speckmantel, Röstkartoffeln, Pastinaken und Soße. Aber vor allem werden Kinder da sein. Meine Familie. Denn das ist es, worum es Weihnachten geht. Und das ist zauberhaft.“

Ruby holte Luft, wurde sich bewusst, dass sie wild drauflos geredet hatte. „Wie auch immer, das ist noch lange hin.“ Es würde dauern, bis sie genügend Ersparnisse hatte, um eine Familie zu finanzieren – und bis das langwierige Adoptionsverfahren abgeschlossen war.

„Richtig.“ Ethan klang gleichmütig. „Jetzt ist auch nicht der richtige Zeitpunkt, um von künftigen Weihnachtsfesten zu träumen.“

„Es ist kein Traum, sondern ein Ziel.“

Träume waren törichte Hoffnungen, die man vielleicht nie verwirklichte. Mit Zielen verhielt es sich anders. Ruby wusste genau, dass sie eine Familie haben würde. „Aber du hast recht“, lenkte sie ein. „Ich gehe in die Küche, sonst müsst du und Rafael Kerzenwachs knabbern.“

„Warte.“ Ethan runzelte die Stirn. „Ich meinte, dass man heute über dieses Weihnachtsfest nachdenken sollte. Hast du dieses Jahr etwas vor?“

Er klang ein wenig besorgt. Mitleid war das Letzte, was sie von Ethan wollte. „Ja.“

Genau. Sie wollte in ihrem Apartment rührselige Filme gucken und eine Tonne Eis verdrücken. Nicht, weil sie um Hugh trauerte – vielmehr hatte sie einen Traum verloren. Hugh hatte ihn zerstört. Noch ein Beweis dafür, dass nur alberne Dummköpfe träumten. Lektion gelernt. Diesmal für immer.

„Trotzdem danke, dass du fragst“, meinte Ruby.

Ethan sah ihr forschend in die Augen.

Damit er sie nicht nach Einzelheiten fragte, drehte sie den Spieß um: „Und du?“

„Das steht noch nicht fest.“

Die Tatsache, dass er ihr seine Pläne nicht mitteilen wollte, versetzte ihr einen Stich. Lächerlich! Schließlich ging sie selbst ja auch nicht ins Detail. „Na, dann hoffe ich, dass es sich bald klärt. Jetzt muss ich aber in die Küche. Du wirst beeindruckt sein!“

4. KAPITEL

Ethan reichte Rafael ein Whiskyglas und setzte sich seinem Gast gegenüber in einen Sessel.

Rafael schwenkte das Kristallglas. „Also, Kumpel, sag, was du von mir willst.“

„Ein Geschäft. Du stattest meine Restaurants mit deinem Wein aus, zu einem Preis, den wir noch verhandeln. Alle Restaurants bis auf Caversham Castle – ich möchte, dass du den Wein hier spendest.“

„Warum sollte ich das tun?“ Rafael lächelte amüsiert. „Weil Weihnachten vor der Tür steht?“

„Ja. Vorausgesetzt, du meinst damit, dass die Zeit gekommen ist, um zu geben und sich um andere Menschen zu kümmern. Ich werde Caversham Castle anders führen als meine übrigen Restaurants. Als karitatives Unternehmen. Neun Monate pro Jahr ist es für Urlauber geöffnet, während der restlichen Zeit wird hier benachteiligten Jugendlichen geholfen.“

Ethan sah sich selbst und Rafael, wie sie einer Bande entgegengetreten waren, die ihre Siedlung terrorisiert hatte. Sie beide waren Einzelgänger gewesen, aber als Ethan bedroht wurde, hatte Rafael ihm geholfen.

„Ich will Sportferien und Praktika anbieten. Spendenaktionen organisieren, bei denen die Jugendlichen mitmachen können. Sie sollen sich beteiligen. Etwas bewirken.“ Ethan sah Rafael in die Augen. „Eine Chance kriegen, um das zu erreichen, was du und ich erreicht haben.“

Schließlich waren sie beide Experten für Bagatelldelikte gewesen und auf Schlimmeres zugesteuert, hatten aber noch rechtzeitig die Kurve gekriegt.

„Wir haben es aus eigener Kraft geschafft“, wandte Rafael ein.

„Was nicht bedeutet, dass wir anderen nicht helfen sollten.“

Die Tür schwang auf, und Ruby kam herein.

Wow. Sie sah atemberaubend aus. Ethan verschluckte sich fast am Whisky. Ihre dunklen Haare hatte sie mit einer roten Spange zu einem eleganten Knoten hochgesteckt. Sie trug ein kurzes schwarzes Kleid. Um ihre Taille lag eine breite rote Schärpe, und ihre Füße steckten in schwarzen Peeptoes mit kecken roten Schleifchen an den Absätzen. Offenbar führte sie die neue Uniform vor.

Ruby näherte sich lächelnd und stellte ein Tablett auf den Tisch. „Parmaschinken mit Mozzarella und Räucherlachs auf Kartoffelpuffern.“

„Danke, Ruby.“ Ethan stand auf und versuchte, sich zu fangen. Auch Rafael erhob sich. Aus seinen dunklen Augen sprach eindeutig Interesse.

„Rafael, darf ich vorstellen: Ruby Hampton – meine Restaurantmanagerin.“

„Entzückt, Sie kennenzulernen.“ Rafael lächelte charmant. „Die Dame, die mich aus den Klatschspalten verdrängt hat.“

Ruby wurde blass. Ethan machte einen Schritt auf sie zu.

„Ich … Ich hoffe, Sie haben die Schonzeit genossen“, erwiderte Ruby, noch immer lächelnd, was Ethan Bewunderung abnötigte. „Ich habe nicht vor, Ihnen noch einmal Konkurrenz zu machen.“

Rafael lachte kurz auf. „Das haben Sie schön ausgedrückt.“ Er nahm ein Canapé und kostete. „Exzellent.“

„Danke. In einer Viertelstunde komme ich mit den Vorspeisen wieder.“

„Also“, begann Rafael, als sie wieder allein waren. „Du hast Ruby Hampton eingestellt?“

„Ja.“

„Um ihr eine zweite Chance zu geben? Darum geht es doch, oder? Du möchtest, dass Menschen eine Chance kriegen?“

„Ja. Junge Leute, die eine harte Zeit hinter sich haben, sollen erkennen, dass sie etwas anderes wählen können als Schuleschwänzen und eine Laufbahn als Kleinkriminelle. Und die Gesellschaft soll erkennen, dass diese Leute eine Chance verdienen.“

Rafael lehnte sich zurück. „Ich finde, jeder sollte seine eigenen Entscheidungen treffen und beweisen, dass er oder sie eine Chance verdient. Lass uns über das Geschäft reden, mein Freund, damit ich über den karitativen Ansatz nachdenken kann.“

Ethan stellte sein Glas ab. Jetzt musste er Rafael zeigen, dass er zwar eine menschenfreundliche Seite besaß, am Verhandlungstisch aber trotzdem hart blieb. Dabei kam ihm zugute, dass das Essen auf jenem Tisch delikat war und diskret serviert wurde.

Wann immer sich Ruby in der Nähe aufhielt, schienen seine Antenennen auf Empfang gestellt. Sonst hätte er die Anwesenheit seiner Mitarbeiterin wohl gar nicht bemerkt.

Nach dem Dessert notierte Ethan ein paar Zahlen auf einem Zettel und gab ihn Rafael. „Dann sind wir uns einig?“

„Sind wir. Ich lasse meine Anwälte den Vertrag aufsetzen und schicke ihn dir morgen.“

„Und der Wein für Caversham Castle?“

Rafael legte die Fingerspitzen aneinander und blickte Ruby an, die mit dem Kaffee hereinkam.

„Ruby, ich möchte Ihnen danken. Das Dinner war ausgezeichnet. Warum leisten Sie uns nicht Gesellschaft?“ Rafael lächelte breit. Ruby zögerte, doch er stand auf und zog einen Stuhl für sie heran. „Ich bestehe darauf. Bestimmt haben Sie und ich in Zukunft öfter miteinander zu tun.“

Eine halbe Stunde später war Ethan drauf und dran, Beifall zu klatschen. Die Unterhaltung lief bestens. In der kurzen Zeit hatte Ruby genug über Rafael herausgefunden, um Themen ansprechen zu können, die ihn interessierten.

Schließlich stand sie auf. „Es war mir ein Vergnügen – jetzt überlasse ich Sie beide wieder Ihren Geschäften.“

Ruby werkelte in der hochmodernen, chromglänzenden Küche und erlaubte sich einen Seufzer der Erschöpfung, während sie die letzte Oberfläche abwischte.

Sie fühlte sich unendlich erschöpft, aber dieser Zustand gefiel ihr. Ethan war ein fordernder Chef, und sein Elan verlieh ihr Energie. Manchmal glaubte sie fast, das Debakel mit Hugh wäre ein schlechter Traum gewesen. Sie befürchtete nur, dass nicht die Arbeit ihre Wunden heilte, sondern das Zusammensein mit Ethan.

Wie aufs Stichwort ging die Küchentür auf, und da stand er. Noch immer in dem anthrazitfarbenen Anzug, der wie angegossen saß. Die Krawatte hatte er abgelegt und den obersten Knopf seines weißen Hemdes geöffnet. Rubys Blick heftete sich auf das Dreieck goldfarbener Haut, und als Ethan auf sie zukam, stockte ihr der Atem.

Bleib cool, Ruby.

„Na, ist der Vertrag in trockenen Tüchern?“, erkundigte sie sich.

„Ja.“ Ethans Augen leuchteten zufrieden, und Ruby spürte förmlich die Energie, die er ausstrahlte. „Rafael ist gerade abgefahren. Ich möchte dir danken.“

„Kein Problem. Ich habe bloß meinen Job gemacht.“

„Nein. Du hast weit mehr gemacht. Das Essen, die Dekoration … Und dann du selbst – du hast Rafael regelrecht um den Finger gewickelt.“

Sie fuhr zusammen. Rasch versuchte sie, es zu kaschieren, indem sie noch einmal über die Arbeitsplatte wischte.

„Was ist denn?“, fragte Ethan.

Ruby richtete sich auf. „Hoffentlich hatte Rafael nicht den Eindruck, das wäre mein Ziel gewesen.“

Jetzt dämmerte es Ethan. „Sicher nicht. Du hast eine Kundenbeziehung gepflegt, das gehört zu deinem Job.“

Seine sachliche Sichtweise tat ihr gut. „Danke. Das Problem ist nur: Ich bezweifle, dass jeder es so sehen wird. Alle Welt glaubt, ich hätte Hugh bezirzt, während ich als Restaurantmanagerin die Beziehung zu ihm als Gast gepflegt habe.“

Ethan machte noch einen Schritt auf sie zu. „Dann weise die Vorwürfe zurück.“

„Ich kann nicht.“

„Warum nicht? Es sei denn, du fühlst dich tatsächlich schuldig?“ Er sah ihr tief in die Augen. „Falls Hugh Farlane dich mit seinem Reichtum und Charme geblendet hat, bist du deswegen noch lange nicht geldgierig. Wenn man mit nichts anfängt, lässt man sich leicht vom Überfluss beeindrucken. Deswegen muss man sich nicht schuldig fühlen.“

„Es lag nicht an seinem Reichtum. Ich war nicht hinter Hughs Geld her. Im Nachhinein glaube ich, dass mich die Vorstellung von einer Familie geblendet hat. Er hat gesagt, er wünscht sich Kinder, und …“

Ja, ihr Ziel war Ruby zum Greifen nahe erschienen – endlich ein Mann, der eine Familie gründen wollte. Keiner wie Steve oder Gary, sondern einer, der gutes Geld verdiente, Ruby brauchte und mit ihrer Hilfe ein besserer Mensch werden wollte. Wie leichtgläubig sie doch gewesen war.

„Ich vermute, er hat dich belogen? So, wie er jetzt lügt? Dann wehr dich. Ich dachte immer, du wärst eine Kämpferin.“

„Diesen Kampf kann ich nicht gewinnen. Hugh ist zu mächtig. Er hat genug Geld und PR-Leute, um Tatsachen zu verdrehen.“

„Was ist mit dem Unterschied zwischen Recht und Unrecht?“

„Recht und Unrecht sind subjektive Begriffe.“ Diese Einsicht hatte Ruby viele Tränen gekostet. Sie war für das Gute eingetreten und hatte dennoch ihre Geschwister verloren.

So viele Träume … Von Eltern, die mit Alkohol und Drogen Schluss machten und sich in fürsorgliche, liebevolle Erwachsenen verwandelten. Nachdem dieser Traum geplatzt war, hatte Ruby einen neuen gewoben. Von einer Adoptivfamilie, die alle vier Geschwister aufnahm und ihnen ein normales Leben bot. Sie hatte für beide Träume gekämpft und war beide Male unterlegen. Die Narben blieben.

„Ja, sind sie“, sagte Ethan entschieden. „Trotzdem solltest du gegen Ungerechtigkeit angehen. Das schuldest du dir selbst.“

„Nein! Ich habe hart gearbeitet, um dahin zu kommen, wo ich heute bin, und das werfe ich nicht weg.“

„Warum wirfst du dein Leben weg, wenn du die Vorwürfe abstreitest? Es sei denn … Hat er dich zum Schweigen gezwungen? Dir gedroht?“

Ethan ging auf und ab, vom polierten Grill bis zum Herd, vor dem Ruby stand, und wieder zurück. „Widersprichst du dem Müll, der in den Zeitungen steht, deshalb nicht? Weiß Farlane, dass er dich ungestraft durch den Dreck ziehen kann und dennoch als Unschuldslamm dastehen wird?“

Na super – er hatte es erraten. „Lass es, Ethan. Es ist unwichtig. Ich habe mich entschieden, kein Öl ins Feuer zu gießen.“

„Das ist aber eine ziemlich lausige Entscheidung“, schnaubte er.

„Du hast leicht reden. Du bist Multimillionär, Geschäftsführer eines Weltkonzerns, eng befreundet mit Leuten wie Rafael Martinez.“

„Egal, wie viel Geld ich auf dem Konto habe und wen ich kenne: Ich würde Farlane die Stirn bieten, weil er ein Tyrann ist. Die Art Mann, der seine Macht missbraucht, um andere Menschen zu verletzen und einzuschüchtern.“

Ethan klang so eisig, dass sich die Härchen auf Rubys Armen aufstellten.

„Wenn du dich nicht gegen ihn wehrst, wird er mit anderen Leuten genauso umspringen“, legte er nach. „Sie mobben, drangsalieren, verängstigen.“

„Nein, wird er nicht.“

„Das kannst du nicht wissen.“

„Doch.“ Ruby zögerte. Wenn du auch nur ein bisschen gesunden Menschenverstand besitzt, beendest du den Wortwechsel sofort, ermahnte sie sich. Aber sie brachte es nicht fertig. Ethan sah so enttäuscht aus und klang so geringschätzig, dass sich ihr buchstäblich der Magen umdrehte.

„Die Verlobung war ein abgekartetes Spiel“, platzte es aus ihr heraus. Ruby spürte die Demütigung wie einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

„Ihr habt eure Beziehung nur gespielt?“

„Nicht wir. Hugh. Es war eine PR-Geschichte – er brauchte dringend ein neues Image. Den Fans wurden seine Affären und seine Sexsucht langsam zu viel. Außerdem wollte Hugh ernstere Rollen spielen und die Forsythe-Schwestern beeindrucken, die ja für ihre moralischen Grundsätze bekannt sind. Also dachte er, am besten verlobt er sich mit einer ‚normalen‘ Frau. Ich bin drauf reingefallen.“

„Dann war es Betrug?“

Ruby nickte. „Ich dachte, er würde mich lieben – dabei hat er mich ausgenutzt. Ich habe gekündigt, weil er es so wollte. Damit würde ich ihm helfen, hat er gesagt. Ihn davon abhalten, der Versuchung nachzugeben und untreu zu werden. Aber es ging nur um die Medien. Unglaublich, dass ich es nicht durchschaut habe. Hugh Farlane, reich und berühmt … Ein Mann, der jede Frau haben kann … Entscheidet sich ausgerechnet für mich. Er sagte, wir würden bis ans Ende unserer Tage zusammen glücklich sein. Ich hätte wissen müssen, dass er es nicht ernst meinte.“

„Wie bist du dahintergekommen?“

„Er hat gestanden, als ich ihn mit einer Frau im Bett erwischt habe. Einer Prostituierten. Wie sich herausstellte, war er mir die ganze Zeit untreu. Mir hatte er gesagt, er wolle erst nach der Hochzeit mit mir schlafen. Um zu beweisen, dass ich ‚anders‘ bin.“

Ruby wurde rot. Sie hatte Hughs Ausrede als Beweis seiner tiefen Gefühle für sie verstanden.

„Dabei wollte er die Nächte ohne mich verbringen, um mit anderen Frauen Sex zu haben. Nach dem ersten Schock habe ich ihm den Verlobungsring vor die Füße geworfen und ihm geraten, die Prostituierte damit zu bezahlen. Dann bin ich gegangen. Daraufhin ist seine PR-Maschinerie angelaufen. Erst hat Hugh sich bei mir entschuldigt. Als Nächstes bot er mir Geld dafür, dass ich die Rolle seiner Verlobten spiele. Als ich nicht wollte, ist es ziemlich hässlich geworden.“

Ethan blieb stehen, die Lippen aufeinandergepresst und die Hände zu Fäusten geballt. „Soll ich ihn herschleifen, damit er um Vergebung winselt?“

„Nein!“ Ruby musste lachen, als sie sich vorstellte, wie Hugh sich vor ihr in den Staub warf. Ein sehr befriedigendes Bild.

„Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber nein danke. Er hat mir gesagt, dass er sich nie wieder die Mühe machen wird, so eine PR-Sache durchzuziehen. Also muss ich mich nicht für das große Ganze einsetzen. Ich will nur, dass Gras drüberwächst, damit die Drohungen und der Hass aufhören.“

Ethan trommelte mit den Fingerspitzen auf die Arbeitsplatte. Ruby bekam eine Gänsehaut, weil er so dicht neben ihr stand und sie seinen Zorn spürte. Einen derart intensiven Zorn, dass sie sich danach sehnte, Ethan zu besänftigen. Er war nicht nur ihretwegen wütend, das wusste sie instinktiv. Ihre Hand hob sich wie von selbst und legte sich auf seinen Unterarm.

Die Muskeln unter ihren Fingern spannten sich an, und Ethan senkte den Blick auf die Stelle, an der Ruby ihn berührte. Dann legte er seine Hand auf ihre, und die Hitze, die von ihm ausstrahlte, machte sie ganz schwindlig.

„Tut mir leid, dass du all das durchgemacht hast, Ruby. Ich würde den Mistkerl gern dafür zahlen lassen.“

„Schon okay. Es geht mir gut. Dank dir. Du hast mir eine Chance gegeben und an mich geglaubt. Das bedeutet mir viel.“

Hell die Stimmung auf. Bevor du etwas Verrücktes tust und ihn auf die Wange küsst.

„Ohne dich würde ich noch unter meiner Bettdecke hocken und Eis futtern. Stattdessen bin ich hier und helfe, ein Schloss zu renovieren. Ich will nach vorn blicken.“

„Dann lass uns genau das tun. Lass uns essen gehen.“

„Bitte?“, fragte sie verdutzt und ein wenig misstrauisch, weil plötzlich etwas in Ethans Augen aufblitzte, was sie nicht definieren konnte. „Jetzt? Du hast schon gegessen, weißt du noch?“

„Morgen. Im Pugliano’s. Ein Städtchen weiter.“

„Du machst Witze. So kurzfristig kriegen wir im Pugliano’s nie einen Tisch.“

„Keine Sorge, das klappt.“

„Warum willst du auswärts essen?“ Rubys Herz schlug schneller. Womöglich meinte Ethan ein Date!

„Um deine Festanstellung zu feiern. Deine Probezeit ist zu Ende.“

„Ist sie das?“ Ruby beschloss, nicht enttäuscht zu sein, weil es kein Date war. „Wieso?“

Halt den Mund, halt den Mund, halt den Mund.

Sie hatte doch eben eine gute Nachricht bekommen, oder? Die Art Nachricht, bei der man einen Freudentanz aufführte. Aber … „Ich will diesen Job nicht aus Mitleid.“

„Sieh mich an.“ Ethans Blick hielt ihren fest. „Hältst du mich für einen Mann, der jemanden aus Mitleid für eine wichtige Position einstellt?“

„Na gut. Nein. Aber dein Timing macht mich misstrauisch.“

„Dafür gibt es keinen Anlass. Du hast dich bewährt, dich meinem Tempo klaglos und motiviert angepasst. Heute Abend warst du mehr als pflichtbewusst, und jetzt hast du mir die Wahrheit erzählt. Mitleid hat nichts damit zu tun. Also … Dinner?“

„Dinner.“

Trotz ihrer guten Vorsätze fand Ruby die Aussicht aufregend – genauso wie Ethans Berührung. Er bedeckte ihre Hand noch immer mit seiner, und sie wollte mehr.

Abrupt ließ er los und trat zurück. „Außerdem ist es lehrreich für dich. Du kannst dir angucken, wie das Pugliano’s geführt wird.“

„Warum lehrreich?“, fragte sie gekränkt. „Ich habe mit den Managern deiner Restaurants in Spanien, Frankreich und New York telefoniert. Und wie ein erstklassiges Restaurant funktioniert, weiß ich bereits.“

„Klar – als Manager, doch nicht als Gast. Mit Hugh warst du zwar ständig in schicken Lokalen, aber du hast selbst gesagt, dass du es nicht genießen konntest. Ich möchte, dass du dich aus der Perspektive eines Gastes umschaust.“

Der kleine Teil von ihr, der noch immer hartnäckig an ein Date glauben wollte, war begeistert. Mit Ethan konnte es im Pugliano’s nur himmlisch werden.

Ruhig, Ruby. Denk es zu Ende.

Dies war kein Rendezvous, und im Grunde … „Ich weiß nicht. Was, wenn sich die Medien wieder auf mich stürzen? Wenn die Leute glauben, dass ich jetzt ein Auge auf dein Geld geworfen habe?“

Gleichgültig zuckte Ethan die breiten Schultern. „Spielt es eine Rolle, was die Leute glauben?“

„Ja, wenn es einen Sturm der Entrüstung auslöst.“

„Den überstehen wir. Es ist ein Geschäftsessen, kein Date, das kann ich gern öffentlich klarstellen.“

„Und die schlechte Publicity?“

„Du bist meine Restaurantmanagerin. Du machst deine Arbeit, und ich kümmere mich um eventuelle schlechte Publicity. Ich halte zu meinen Angestellten. Sieh mal, ich verstehe, dass es schwer sein wird, aber wenn du nach vorn blicken willst, musst du da durch. Ich werde direkt neben dir sein.“

Wie vor zehn Jahren – damals hatte er etwas Ähnliches gesagt.

Seine graublauen Augen hatten Ruby geradezu hypnotisiert, und seine Stimme, seine bloße Gegenwart hatten ihre Panikattacken verscheucht. Ruby verdankte es Ethan, dass sie sich aus dem Wohnheim wagte und wieder durch die Straßen ging. Selbstbewusster, wie sie es im Selbstverteidigungskurs lernte, zu dem Ethan sie angemeldet hatte.

Wochenlang war er an ihrer Seite gewesen. Dann hatte sie eine Grenze überschritten. Ethan war verschwunden, ohne eine Adresse zu hinterlassen.

Ruby sah ihn an. Dachte auch er gerade an die Vergangenheit? Sie sagte sich, dass es heute anders war – sie war anders. Um keinen Preis würde sie sich noch einmal derart verletzen lassen. Diese Tür war für alle Zeiten geschlossen und verriegelt.

Deshalb hatte Ethan recht: Wenn sie nach vorn blicken wollte, musste sie sich der Welt stellen.

„Abgemacht.“

5. KAPITEL

Ethan wartete vor dem imposanten Haupteingang des Schlosses neben der Limousine und widerstand der Versuchung, seinen Krawattenknoten zu lockern. Diese merkwürdige Vorfreude war unakzeptabel – er kannte das Gefühl nicht und wollte es auch nie wieder erleben.

Fakt Nummer eins: Dies war kein Date. Er fluchte leise, weil er es nötig hatte, sich das Offensichtliche in Erinnerung zu rufen. Das Wort Date existierte nicht in seinem Wortschatz.

Fakt Nummer zwei: Ruby war eine Angestellte, und es handelte sich um ein Geschäftsessen. Damit wollte er ihr ermöglichen, das Pugliano’s als Gast kennenzulernen, und ihr – einer Angestellten – seine Wertschätzung für gute Leistungen zeigen. Vielleicht begriff sein Körper es, wenn er das Wort Angestellte oft genug wiederholte.

Fakt Nummer drei: Ja, sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, doch diese kurze Episode spielte für die Gegenwart keine Rolle.

So weit die Tatsachen. Jetzt sah er die Situation klar. Unaufgeregt. Ethan Caversham war wieder Herr der Lage.

Eine Minute später öffnete sich die Eingangstür, und es war um seine Selbstbeherrschung geschehen. Er spürte, wie ihm im Nacken der Schweiß ausbrach, und er vergrub beide Hände in den Hosentaschen.

Ruby sah sensationell aus, ihr Anblick ging ihm unter die Haut. Die dichten dunklen Haare fielen Ruby in glänzenden Wellen über ihre nackten Schultern. Er starrte auf die verführerische schwarze Spitzencorsage ihres Kleids. Eine schwarze Schärpe betonte Rubys schmale Taille. Darunter war der Stoff gerüscht und ging in einen Rock über, der ihre langen Beine bestens zur Geltung brachte.

Doch was Ethan vollends den Atem verschlug, war die kaum wahrnehmbare Frage in ihren saphirblauen Augen. Diese Verletzlichkeit, die Ruby verbergen wollte, traf ihn wie ein heftiger Schlag gegen die Brust.

„Du siehst großartig aus“, brachte er rau hervor.

„Danke. Ich dachte, wenn die Leute schon starren, lege ich mich besser ins Zeug.“

„Das ist dir gelungen.“

Nur mit Mühe schaffte er es, gelassen zu klingen und gegen die Sehnsucht anzukämpfen, Ruby in seine Arme zu ziehen.

„Deine Limousine steht bereit.“

„Du hättest keine Limousine mieten müssen.“

„Wir feiern, und das möchte ich richtig tun. Heute sollst du es genießen, Gast zu sein.“

Er wollte einen kleinen Beitrag leisten, um das gutzumachen, was Hugh ihr zugemutet hatte. Heute Abend sollte sich alles um Ruby drehen. Als seine Angestellte. Seine rechte Schläfe pochte – Ethan fasste es als Warnsignal auf, Abstand zu halten.

„Die Erfahrung wird dir bei deiner Arbeit in Caversham Castle nützen. Übrigens habe ich eine Presseerklärung veröffentlicht.“

„Gute Idee“, sagte Ruby mit einer Heiterkeit, die sie nicht empfand, als sie in der Limousine Platz nahm. Sie wartete, bis Ethan neben ihr auf der eleganten Lederbank saß. „Was steht denn drin?“

„‚Ethan Caversham teilt mit, dass er eine Restaurantmanagerin für sein neues Projekt Caversham Castle in Cornwall eingestellt hat. Ruby Hampton übernimmt diese Position. Ethan und Ruby freuen sich darauf, ein Restaurant mit jenem außergewöhnlichen Flair zu erschaffen, das sämtliche Caversham-Häuser auszeichnet.‘“

„Klingt gut.“

Sie schwiegen. Ethan zwang sich, nicht länger seine schöne Begleiterin anzusehen, sondern aus dem Fenster zu schauen. Ein verstohlener Blick zeigte ihm, dass Ruby dasselbe machte. An ihrer Körperhaltung und den im Schoß verschränkten Fingern konnte er ablesen, wie angespannt sie war.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

„Klar.“ Die Antwort kam zu rasch und wurde von einem zu fröhlichen Lächeln begleitet.

„Es ist okay, nervös zu sein. Schließlich warst du die letzten Wochen untergetaucht.“

„Ich schaffe es schon.“ Sie zog die nackten Schultern ein wenig hoch. „Ich kann es bloß nicht leiden, angestarrt zu werden, weißt du? Dir ist hoffentlich klar, dass die Leute möglicherweise mit Brötchen oder Schlimmerem nach mir werfen werden?“

„Nicht, wenn ich bei dir bin“, meinte Ethan, als die Limousine parkte. „Und falls doch, stehen wir es gemeinsam durch.“ Sobald er die Worte ausgesprochen hatte, kamen sie ihm unangebracht vor. „Als Chef und Mitarbeiterin – Kollegen … Profis.“ Okay, jetzt übertrieb er es. „Du kriegst das hin, Ruby.“

Sie nickte knapp, aber entschlossen. Der Chauffeur öffnete die Tür. Ethan stieg aus und wartete auf Ruby. Kaum hatte sie den Wagen verlassen, scharten sich Reporter um sie. Ethan mahnte sich, nicht zu dicht neben seine Begleiterin zu rücken. Stattdessen drehte er sich zu den Reportern um und stellte sich schützend vor Ruby.

„Ruby, werden Sie Ihr Schweigen über Hugh brechen?“, rief ein Reporter.

„Ethan, haben Sie Ruby eingestellt, oder ist das hier etwas Persönlicheres?“

Ethan hob beide Hände. „Immer mit der Ruhe. Lassen Sie Ruby bitte ein bisschen Platz. Es ist ja nett, dass Sie sich freuen, sie zu sehen, aber sie muss atmen können. Ich brauche meine neue Restaurantmanagerin in guter Verfassung.“

Er spürte, wie ein Beben durch Rubys Körper lief. Dann holte sie Luft und machte einen Schritt nach vorn.

„Guten Abend allerseits. Ich spreche gern über meine neue Aufgabe, denn ich freue mich sehr über diesen beruflichen Schritt – doch über Hugh habe ich nichts zu sagen.“

Ihre selbstbewussten Worte und das sichere Auftreten nötigten Ethan Respekt ab.

„Alte Geschichten sind unwichtig“, ergänzte er. „Uns geht es um die Zukunft und um Caversham’s neues Projekt. Ruby macht bereits einen hervorragenden Job, und ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit mit ihr.“

„Behalten Sie besser Ihren Geldbeutel im Auge, Ethan!“

„Und Sie, Ruby? Ist das eine neue Taktik? Um Ethan und das Caversham-Konto in ihre Finger zu kriegen?“

Sie fuhr zusammen. Schnell drehte sich Ethan zu dem Reporter um. Statt dem Mann eine runterzuhauen, sagte er eisig: „Mein Konto ist völlig sicher, aber danke, dass Sie sich darum sorgen. Rubys Taktik entspricht meiner eigenen: Ich konzentriere mich auf die große Eröffnung von Caversham Castle. Die Gästeliste ist vielversprechend. Ich habe vor, eine Zeitschrift exklusiv über die Eröffnung berichten zu lassen – noch habe ich mich allerdings für keine entschieden. Vielleicht besprechen wir das während des Essens.“

Die Botschaft war deutlich: Stellt Ruby nicht als geldgierig dar, dann könntet ihr in die engere Wahl kommen.

Zufrieden registrierte Ethan, dass sich die Reporter zurückzogen. Selbstbeherrschung war der Schlüssel. Man musste Gefühle kontrollieren und gezielt einsetzen. Ließ man sich von ihnen leiten, verlor man die Kontrolle, und das würde Ethan nie wieder passieren.

Unwillkürlich legte er Ruby die Hand auf den Rücken, um sie ins Restaurant zu führen. Gleich darauf wünschte er sich, er hätte es nicht getan. Zu nah, zu viel – eine Mahnung, dass sein Körper noch immer intensiv auf diese Frau reagierte.

Im Lokal machte Ruby einen Schritt zur Seite. Sie wich seinem Blick aus und schaute sich um, wobei ihr das Blut in die Wangen schoss. „Wow!“

„Tony Pugliano ist ein Weihnachtsfan“, stellte Ethan fest.

Lichterketten hingen wie Eiszapfen von der Decke. Eine erhöht stehende Eisskulptur zog alle Blicke auf sich, Fensterscheiben und Spiegel wirkten wie mit Raureif bedeckt. Sternförmige Kerzen schmückten sämtliche Tische und verbreiteten einen weihnachtlichen Duft.

„Wunderschön“, murmelte Ruby.

„Gefällt es Ihnen?“, ertönte eine laute Stimme.

Ethan riss den Blick von Ruby los und sah Tony Pugliano auf sich zusteuern.

Tony umarmte ihn und schlug ihm kameradschaftlich auf den Rücken. „Ethan. Fabelhaft, nicht? Willkommen in meinem Winterpalast. Schön, Sie zu sehen, Ruby.“

„Gleichfalls. Es ist wirklich prächtig, Tony.“

Der grauhaarige Italiener strahlte. „Für Sie beide habe ich den besten Tisch reserviert. Was Sie auch wünschen – ein Wort, und Sie bekommen es, meine Freunde.“

„Danke, Tony“, sagte Ethan. „Sehr freundlich von Ihnen.“

Ruby folgte ihrem korpulenten Gastgeber zu einem Tisch, der besonders festlich gedeckt war. Kristallgläser funkelten im Licht. Etliche sternförmige Kerzen waren auf der blütenweißen Damasttischdecke arrangiert. Auf der Champagnerflasche, die in einem Kübel auf Eis lag, perlten Wassertröpfchen.

„Ich habe für Sie das Beste – das Allerbeste – ausgewählt“, versicherte Tony. „Sie brauchen nicht zu überlegen, können einfach genießen.“

Ruby schaute Tony hinterher. Sie wollte etwas sagen, klappte den Mund jedoch wieder zu, weil ein Kellner an ihren Tisch trat, Champagner einschenkte und feierlich Canapés servierte.

„Von Signor Pugliano persönlich zubereitet. Reisbällchen mit geräuchertem Mozzarella, Ravioli mit Radicchio, Crostini mit Bresaola, Pecorino und Trüffelöl, außerdem Jerusalem-Artischocken mit Maronenvelouté und weißem Trüffelöl.“

„Klingt wundervoll“, brachte Ruby heraus.

Als der Kellner fort war, sah sie Ethan an. Er lächelte, und sie musste sich sagen, dass es einfach nur freundlich gemeint war, mehr nicht.

„Die Vorspeisen sind fast so unglaublich wie die Szene eben. Tony Pugliano ist einer der barschesten, launischsten Chefköche im ganzen Land, und in deiner Gegenwart wird er zum Schmusekater. Warum?“

Jetzt verwandelte sich Ethans Lächeln in ein Grinsen. „Das liegt an meinem berüchtigten Charme.“

„Unsinn. Im Übrigen weiß ich, dass Hugh manchmal herkommt. Deshalb begreife ich nicht, warum Tony so erfreut zu sein scheint, mich zu sehen.“

„Du unterschätzt die Wirkung meines Charmes.“

Sie nahm ein Canapé. Nein, das kaufte sie Ethan nicht ab, aber offenbar wollte er nicht mit der Sprache herausrücken. Wie immer.

„Wenn ich bedenke, wie unfreundlich er war, als ich mich nach der Trennung von Hugh hier beworben habe“, überlegte Ruby laut. „Mit dir als Fürsprecher würde er mir jetzt wahrscheinlich jeden Job geben, den ich will.“ Ethan zog die Brauen hoch, und Ruby schüttelte den Kopf. „Nicht, dass du es ansprechen sollst.“

„Sicher?“, neckte er sie, doch sie bemerkte die leichte Anspannung in seiner Stimme.

Ruby war gekränkt. Ethan konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass sie einen anderen Job in Betracht zog. „Vollkommen. Du hast mir eine Chance gegeben, obwohl niemand anders mich auch nur als Tellerwäscherin wollte. Also kriegst du hundert Prozent Loyalität.“

„Das weiß ich zu schätzen.“

Er klang so unbeteiligt. „Es ist mein Ernst, Ethan.“

„Hundertprozentige Loyalität gibt es nicht. Jeder Mensch hat einen Preis. Eine Grenze, wo sich Loyalität in nichts auflöst.“

Sein bitterer Unterton machte Ruby hellhörig. Hatte ihn jemand enttäuscht? Plötzlich war es ihr ungeheuer wichtig, dass er an sie glaubte. „Nun, ich nicht. Ich bleibe dir erhalten.“

Ethan nahm sein Glas und schwenkte den Champagner im Kreis herum. „Wenn sich dir die Möglichkeit bieten würde, eine Familie zu gründen, könnte deine Loyalität um ein paar Prozent sinken. Und wenn ich dir keinen Lohn zahlen würde, wäre es mit deiner Treue auch vorbei.“ Er spießte eine Ravioli auf die Gabel. „So ist das Leben, Ruby. Keine große Sache.“

„Es ist eine riesige Sache – und ich muss wohl etwas klarstellen. Ich will Kinder, aber das hat keinen Vorrang vor diesem Job. Meine Toppriorität ist es, dein Schloss als Leitstern von Caversham Holiday Adventures zu etablieren. Ich werde erst eine Familie gründen, wenn ich finanziell abgesichert bin. Aber selbst, falls ich im Lotto gewinne, lasse ich dich nicht hängen. Nicht bezahlen würdest du mich nur in einer Krise. Und ich würde immer darauf vertrauen, dass du die Krise lösen kannst, also täte es meiner Loyalität keinen Abbruch.“

Er sah kein bisschen so aus, als hätten ihre Worte ihn berührt. Sie schienen an seiner Mauer aus Zynismus abzuprallen.

Ruby dippte ein Stück Artischocke in die Maronenvelouté, ließ den köstlichen Geschmack auf der Zunge zergehen und fragte sich, wie sie Ethan überzeugen konnte.

„Vergiss den Lottogewinn“, meinte er mit einem ironischen Glitzern in den Augen. „Was, wenn Mr. Perfekt auftaucht und auf der Stelle eine Familie gründen will? Dann würde ich von dir nur noch eine Staubwolke sehen.“

Der Vorwurf traf sie. „Das wird nicht passieren, weil ich nicht vorhabe, Mr. Perfekt zu begegnen. Ich brauche Mr. Perfekt nicht – und auch keinen Mr. Sonstwie. Ich will alleinerziehend sein.“

Jäh wurde Ethans Blick hart. Ruby konnte nur noch Eiseskälte darin lesen. In dem Moment trat der Kellner an ihren Tisch, und sie war erleichtert, dass sie nun nicht mehr reden mussten. Als spürte der Mann die gespannte Atmosphäre, räumte er zügig die Vorspeisenteller ab und stellte neue Teller vor die Gäste.

„Dieser Kaiserhummer wurde auf dreierlei Art zubereitet. Gebraten, mit einem Hauch Chili, dazu Linsen. Gegrillt, mit Avocado und Manuka-Honig. Schließlich als Hummermousseline mit Sherry.“ Mit einem „Buon appetito“ zog er sich zurück.

Ruby hielt Ethans Blick stand, obwohl sie ihre Worte bereute. Von allen Themen hatte sie das unpassendste ausgesucht, um ihm zu beweisen, dass er auf sie zählen konnte. Sie hatte ihn beruhigen wollen, dabei war Ethan Milliardär. Er brauchte nicht von einer kleinen Restaurantmanagerin beruhigt zu werden.

„Sieht lecker aus“, wagte sie sich vor.

„Genieß es, solange du kannst. Alleinerziehende haben nicht oft Gelegenheit, in diesem Rahmen zu speisen.“

Ärger kochte in ihr hoch. „Das ist ein Pauschalurteil, findest du nicht?“

Er schnaubte verächtlich, und Ruby hätte ihn am liebsten gegen das Schienbein getreten.

„Nein. Hast du eine Vorstellung davon, wie Alleinerziehende leben? Wie schwer sie es haben?“

Statt bitter aufzulachen, strich sie Hummermousseline aufs Brot und versuchte, sich auf den delikaten Geschmack zu konzentrieren anstatt auf ihre Erinnerungen an jene Kinderjahre, in denen sie sich um ihre Geschwister gekümmert hatte. Um den dunkelhaarigen Tom, Philippa mit den blauen Augen und Baby Edie …

Ja! wollte sie schreien. Ja, sie wusste, wie schwer es war. Und auch, dass es sich lohnte.

„Mir ist klar, welch enorme Verantwortung man hat, wenn man Kinder erzieht. Ich weiß, es wird schwierig werden. Aber ich weiß auch, dass es die Mühe wert ist.“

Seit sie ihre Geschwister verloren hatte, wünschte sie sich sehnlich eine Familie.

Jetzt versuchte sie verzweifelt, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. Zu spät. Ethan beobachtete sie und blickte nicht mehr ganz so finster drein.

„Das sind Worte, Ruby. Wenn man wirklich allein für eine Familie sorgen muss, sieht es ganz anders aus.“ Er klang weniger schroff, so, als wüsste er, wovon er redete. „Es geht nicht nur um niedliche Babys.“

„Das ist mir bewusst.“ Ruby biss die Zähne so fest zusammen, dass ihr Kiefer wehtat. „Ich bin kein Narr, der solch eine weitreichende Entscheidung trifft, nur weil ein Baby niedlich aussieht.“

„Babys wachsen heran – zu Kleinkindern, Schulkindern und Teenagern. Wenn du auf dich allein gestellt bist, kann es schiefgehen.“ Ethans Miene verschattete sich. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

Einen Herzschlag lang kamen Ruby Zweifel. Das älteste ihrer Geschwister war fünf gewesen, als das Jugendamt alle Hampton-Kinder mitgenommen hatte. Wären sie ohne dieses Ereignis auf die schiefe Bahn geraten? Vielleicht – weil Ruby damals selbst noch ein Kind gewesen war. Diesmal hatte sie alles geplant.

„Wie gesagt, eine Familie kommt für mich erst infrage, wenn alle Voraussetzungen stimmen. Ich werde Teilzeit arbeiten und die beste Kinderbetreuung haben, die es auf der Welt gibt, und …“ Sie brach ab, nahm ihre Gabel und zog den Teller zu sich heran. „Keine Ahnung, warum ich mich vor dir rechtfertige. Seit wann bist du Fachmann für die Probleme Alleinerziehender?“

„Bin ich nicht. Aber ich mache mir Sorgen, dass du die Dinge überstürzt. Nur, weil Farlane ein Mistkerl ist, musst du doch nicht Hals über Kopf alleinerziehende Mutter werden. Ich finde, du solltest nichts übereilen. Es ist ein riesiger Schritt.“

Ruby hörte ihm die aufrichtige Sorge an, und das war noch schlimmer, als Verachtung es gewesen wäre. Verachtung hätte sie an sich abperlen lassen oder mit schneidenden Worten kontern können. Doch Ethans Fürsorglichkeit weckte den Impuls, ihm zu erklären, dass ihre Sehnsucht nach einer Familie viel mehr war als eine Laune.

Schlechte Idee. Dennoch musste sie irgendetwas sagen. „Ich weiß.“ Das stimmte. „Aber es hat nichts mit Hugh zu tun. Ehrlich. Es fühlt sich richtig an.“

„Warum?“

Ruby nippte an ihrem Champagner und bemerkte erleichtert den Kellner auf ihren Tisch zusteuern. Während sie fieberhaft überlegte, servierte er knusprige Hühnchenbrust mit schwarzen Trüffeln, Spinat und weißer Portweinsauce.

Der neue Gang wäre ein guter Anlass gewesen, das Thema zu wechseln. Aber was hatte sie schon zu verlieren, wenn sie Ethans Frage beantwortete? Vielleicht sollte sie sich ihre Ziele und Beweggründe noch einmal in Erinnerung rufen, indem sie sie aussprach.

Eine warnende Stimme meldete sich in ihrem Hinterkopf. Dies sollte ein Geschäftsessen sein, und die derzeitige Unterhaltung war ausschließlich privat. Die Stimme wurde lauter. Rubys Drang, sich Ethan anzuvertrauen, hatte schon einmal katastrophal geendet.

Aber heute lag der Fall anders, und … Sie wollte ihm beweisen, dass sie erwachsen war. Kein naives Mädchen, das nicht richtig durchdacht hatte, was es bedeutete, alleinerziehende Mutter zu sein. Also beschloss sie, sich auf eine kurze Erklärung zu beschränken und dann nur noch über die Arbeit zu reden.

6. KAPITEL

Ethan wusste, dass die Unterhaltung entgleist war und er das Thema wechseln sollte, doch er tat es nicht. Zu groß waren seine Neugierde und sein Unverständnis, warum sich Ruby ohne Not in das chaotische Leben einer alleinerziehenden Mutter stürzen wollte.

Reg dich ab, Ethan.

Es gab viele vorbildliche Alleinerziehende. Trotzdem war es ein steiniger Weg, das hatte er bei seiner Mutter erlebt.

„Warum?“, wiederholte er.

Ruby schnitt ein Stückchen Huhn ab. Dann legte sie das Besteck hin. „Weil ich nicht gerade gut darin bin, einen Vater für meine Kinder zu finden.“

„Nur, weil es mit Hugh nicht geklappt hat …“

„‚Nicht geklappt‘ ist untertrieben, aber es geht nicht nur um Hugh. Er war nicht der Erste, der mir etwas vorgemacht hat. Ich bin Expertin darin, Männern auf den Leim zu gehen. Mit neunzehn traf ich Gary. Der entpuppte sich als trinkfreudiger Faulpelz. Ein paar Jahre später lernte ich Steve kennen. Er war spielsüchtig und schwor Stein und Bein, sich zu bessern. Dabei wollte er mir nur möglichst viel Geld aus der Tasche ziehen und ins Wettbüro tragen.“

Sie holte Luft. „Über Hugh weißt du ja Bescheid, also entdeckst du bestimmt ein Muster. Ich besitze keine besonders gute Menschenkenntnis. Deshalb macht es Sinn, das mit der Familie allein anzugehen.“

„Wieso musst du es überhaupt jetzt angehen? Du bist erst sechsundzwanzig.“

„Und du dreißig. Die meisten Dreißigjährigen sind keine milliardenschweren Geschäftsführer ihrer eigenen Konzerne. Vor zehn Jahren wollte ich eine Familie, und du wolltest groß rauskommen. Du hast es mit harter Arbeit und Zielstrebigkeit geschafft. Genauso will ich meinen Traum von einer Familie verwirklichen.“

Ethan runzelte die Stirn. „Kinder sind keine Firmen, die man übernimmt.“

„Das behaupte ich auch nicht.“ Genervt verdrehte Ruby die Augen. „Was ist falsch daran, sich Kinder zu wünschen?“

„Nichts“, murmelte er und hielt die Worte zurück, die ihm ungewohnt locker auf der Zunge lagen. Er wollte Ruby nicht erklären, dass Kinder zu Verzweiflung statt Freude führen konnten.

Seine Mutter hatte die Tochter verloren. Ihren ganzen Stolz. Ethan sah Tanyas leblosen Körper vor sich. Seine Schwester – in den Selbstmord getrieben. Und er hatte nichts geahnt, sie nicht schützen können.

Nur er war seiner Mutter geblieben. Das Ebenbild ihres gewalttätigen, kriminellen Mannes. Der Sohn, den sie nicht lieben konnte, um den sie sich jedoch pflichtgemäß kümmerte. Bis er sie so weit trieb, dass sie ihn verstieß.

Er musste an den gepackten Koffer denken, mit dem seine Mutter ihn dem Jugendamt übergeben hatte. Sie traf keine Schuld. In ihren Augen war er auf dem besten Weg gewesen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Auch seine leidenschaftlichen Bitten um Verzeihung und seine Versprechungen hatten seine Mutter wohl nur an den verhassten Ehemann erinnert.

Resolut schob er die Erinnerungen beiseite und konzentrierte sich auf Ruby. Diese saphirblauen Augen, das entschlossene Kinn … Die Herausforderung in ihrem Blick war Sorge gewichen, deshalb setzte Ethan bewusst eine neutrale Miene auf.

„Nichts ist falsch daran, sich Kinder zu wünschen. Ich finde bloß, man sollte gründlich darüber nachdenken, was es bedeutet, sie allein zu erziehen.“

Thema beendet. Ethan nahm Messer und Gabel und begann zu essen.

Ruby zwirbelte eine Haarsträhne um den Zeigefinger. „Möchtest du nicht auch eines Tages Familie haben?“

„Nein.“ Familie hatte ihm nichts gebracht außer Verlust, Kummer und Zurückweisung. Was sollte das Ganze?

„Nie?“, fragte Ruby erstaunt.

„Nein.“ Er wollte nicht weiter darüber reden, begriff sie das denn nicht?

„Wieso nicht?“

Offenbar musste er deutlicher werden. „Das ist meine persönliche Entscheidung.“

Ruby sah gekränkt und gleichzeitig verärgert aus. Mit gutem Grund, Ethan. Er hatte schließlich nichts dagegen gehabt, über persönliche Entscheidungen zu sprechen, solange es um ihr Privatleben gegangen war.

„Kurz und bündig: Es ist nicht das, was ich will“, erklärte Ethan. „Ich habe geschuftet, um dort hinzukommen, wo ich heute bin, und will nichts ändern. Stell dir vor, du sitzt in einem Boot, und es geht dir blendend. Da willst du doch auch nicht, dass jemand zu dir ins Boot springt und es zum Kentern bringt. Ich lebe so, wie es mir gefällt.“

„Ist das nicht langweilig? Ich meine, willst du immer so weitermachen? Noch eine Immobilie kaufen? Noch ein Projekt anpacken?“

Er blinzelte irritiert. „Langweilig? Ich leite einen großen Konzern, reise, habe mehr als genug Geld und führe ein ziemlich cooles Leben. Also: Nein.“

„Aber …“ Ruby blickte wieder auf ihren Teller.

Ethan folgte ihrem Beispiel. Er versuchte, den Trüffeln, dem Portwein und zarten Fleisch die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Zu seinem Ärger schaffte er es nicht. „Aber was?“ Sein Blick wurde geradezu magnetisch von ihrer seidigen Haut und dem verführerischen Ausschnitt angezogen.

„Deine Welt, deine Abneigung gegen Veränderungen – dabei geht es nur um dich, und das hört sich einsam an. Es sei denn, du hast eine Beziehung?“

„Nein. Ich sitze in einem Einmannboot, und das ist mir sehr recht.“

„Dann willst du weder eine langfristige Beziehung noch Kinder?“

„Ich will überhaupt keine Beziehung. Basta. Deshalb stelle ich sicher, dass meine … Affären kurz sind.“ Eine Nacht, höchstens ein Wochenende.

Rubys Augen weiteten sich. Ethans Verstimmung nahm zu, als er Mitgefühl in ihren Blick entdeckte. „Aber du hast so hart gearbeitet, um deine Firma aufzubauen. Wofür, wenn du niemanden hast, an den du sie weitergeben kannst?“

„Das ist ja wohl kaum ein Grund, um ein Kind in die Welt zu setzen.“

„Sicher nicht der einzige Grund, aber der Wunsch, Werte oder Überzeugungen zu vermitteln, spielt mit hinein. Man möchte etwas von sich selbst weitergeben.“

„Das finde ich egozentrisch. Man kriegt doch keine Kinder, um ihnen die eigenen Standpunkte einzuimpfen.“

„Nein!“ Ungeduldig schüttelte sie den Kopf. „Du drehst mir das Wort im Mund herum. Ich glaube einfach nur, dass wir ein angeborenes Bedürfnis haben, zu lieben und geliebt zu werden.“

„Nun, dann bin ich die Ausnahme von der Regel.“

Herausfordernd reckte sie das Kinn vor. „Oder mit deinen Bedürfnissen stimmt etwas nicht.“

Ethan trank einen Schluck Champagner. „Selbst, wenn du recht hast, wäre es falsch, jemandem so eine Last aufzubürden. Du solltest kein Kind bekommen, nur, weil du lieben und zurückgeliebt werden willst. Es gibt schon genügend Menschen auf der Welt.“

„Genau genommen …“ Ruby zögerte.

„Ja?“

„Nichts.“

Bevor Ethan etwas erwidern konnte, ertönte Tony Puglianos Stimme: „Also, meine Freunde. Hat es Ihnen geschmeckt?“

Unzählige Gedanken schwirrten Ruby durch den Kopf, während sie automatisch lächelte. Vielleicht war die Unterbrechung ein Wink des Schicksals – eine Mahnung, dass sie nichts Persönliches mehr preisgeben sollte.

„Es war unglaublich lecker, Tony“, antwortete sie.

„Wie könnte es auch anders sein? Und nun folgt der perfekte Abschluss für ein perfektes Mahl. Kostproben der weltbesten Desserts.“

Er winkte, und der Kellner stellte eine riesige Platte auf die Tischmitte. „Ich, Tony Pugliano, habe dies mit meinen eigenen Händen für Sie zubereitet. Pralinenmousseline mit kandierten Kirschen, Käsekuchen mit Clementinen, Pannacotta mit Mandeln und schwarzem Sesam sowie eine dunkle Schokoladentorte mit Limone und Chili.“ Strahlend gab er Ethan einen Klaps auf die Schulter. „Natürlich alles auf Kosten des Hauses.“

Ruby konnte es kaum fassen. Auf Kosten des Hauses. Sie bezweifelte, dass Tony diese Worte je zuvor über die Lippen gekommen waren.

„Sie sehen überrascht aus“, meinte er. „Dazu besteht kein Anlass. Denn nie, nie kann ich diesem Mann genug danken. Sie haben meinen Carlo gerettet, Ethan – mein einziges Kind. Sie sind ein guter Mann, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen.“

Tony schien gar nicht zu bemerken, wie peinlich berührt Ethan war.

„Dieses Dinner ist ein ausgezeichnetes Dankeschön“, versicherte Ruby. „Das Geheimnis der Trüffelsauce möchten Sie vermutlich nicht lüften?“

Ihr Ablenkungsmanöver funktionierte. Lachend schüttelte Tony den Kopf. „Niemals. Nicht einmal für Sie gebe ich das Geheimnis der Familie Pugliano preis. Jetzt lasse ich Sie die Früchte meines unübertrefflichen Geschicks genießen.“

Sobald er sich hoheitsvoll entfernt hatte, sagte Ethan: „Danke, dass du das Thema gewechselt hast.“

„Kein Problem.“ Ruby wählte eine Kostprobe aus. „Ich wusste, dass mehr als Charme nötig ist, damit Tony dir aus der Hand frisst. Was auch immer du für seinen Sohn getan hast: Es muss wichtig gewesen sein.“

Ethan zuckte die Schultern. Die lässige Geste stand im Gegensatz zu seinen zusammengebissenen Zähnen. „Ich konnte seinem Sohn helfen und habe es getan. Ganz einfach.“

„Hat sich aber nicht einfach angehört.“

„Wie wäre es mit einem weiteren Themawechsel?“ Er steckte ein Stück Käsekuchen in den Mund, und sein abweisender Gesichtsausdruck machte deutlich, dass sie sich besser nicht weiter vorwagen sollte.

„Ich glaube, unsere Unterhaltung ist ein wenig vom eigentlichen Thema abgedriftet“, stellte er fest.

Ruby konnte heilfroh sein, weil er nicht auf ihren Kinderwunsch zurückkam. Sie war drauf und dran gewesen, ihm zu erzählen, dass sie adoptieren wollte. Das brauchte sie ihm nun wirklich nicht auf die Nase zu binden.

Ihre Familienplanung hatte nichts mit Ethan zu tun. Und es gab für sie auch keinen Grund, sich zu fragen, warum er sich nicht binden wollte. Sie arbeiteten gut zusammen, und das würde sie nicht aufs Spiel setzen. Deshalb durfte sie sich von diesem Mann nicht wieder in einen Strudel der Emotionen ziehen lassen.

„Wie findest du das Restaurant?“, wollte Ethan wissen.

Autor

Nina Milne

Nina Milne hat schon immer davon geträumt, für Harlequin zu schreiben – seit sie als Kind Bibliothekarin spielte mit den Stapeln von Harlequin-Liebesromanen, die ihrer Mutter gehörten.

Auf dem Weg zu diesem Traumziel erlangte Nina einen Abschluss im Studium der englischen Sprache und Literatur, einen Helden ganz für sich allein,...

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