Die Freibeuterin des Königs

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Glühend steigt Bethany bei Lord Alsmeeths kühnen Blicken das Blut in die Wangen. Fast, als wisse er um den Kuss des Straßenräubers, der in ihr ungestümes Begehren geweckt hat! Wie kann nur sie, die mutige Freibeuterin, vor ihren Gefühlen so hilflos kapitulieren?


  • Erscheinungstag 20.05.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522403
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Cornwall, 1657

„Winnie, Winnie!“ Drei der vier Lambert-Kinder rannten soeben die leicht ansteigende Rasenfläche zu ihrem Zuhause Mary-Castle hinauf. Sie riefen atemlos nach ihrer Kinderfrau Miss Winifred Mellon.

Diese saß gerade bei einer Tasse Tee und gönnte sich die erste Pause seit dem frühen Morgen, als die Kinder den gesamten Haushalt mit einem lautstark geführten Kampf aufgeweckt hatten. Als Waffen dienten ihnen dabei Schwerter, die sie sich aus Holz selbst geschnitzt hatten.

„Was ist denn los?“, wollte Winnie wissen und sah dem ältesten der Lambert-Kinder, gleichzeitig dem einzigen Jungen, entgegen.

„Bethany ist hingefallen“, sagte James. Er war ein ungestümer, furchtloser und draufgängerischer Bursche, doch seine drei Schwestern standen ihm in nichts nach. Zum Leidwesen ihrer Kinderfrau und auch der Haushälterin Mistress Coffey weigerten sie sich, den Umgang mit Nadel und Faden, das kunstvolle Arrangieren prächtiger Blumensträuße oder sonst irgendeine Tätigkeit zu erlernen, die man gemeinhin als weiblich bezeichnete. Vielmehr zogen es die drei Mädchen vor, ihre Zeit mit Kämpfen und Duellen, wobei sie stets hölzerne Waffen benutzten, zu verbringen sowie Ausflüge mit ihrem kleinen Kahn zu unternehmen.

„Wo ist sie dieses Mal herumgeklettert?“, erkundigte sich Winnie, während sie sich erhob und den Kindern folgte.

„Auf den Klippen.“

„Oh, grundgütiger Himmel“, murmelte sie und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie raffte ihre Röcke und lief so schnell sie konnte. Als sie schließlich die Felsen, die zur See hin schroff abfielen, erreichte, erblickte sie weit unten Bethanys roten Haarschopf.

„Was sollen wir bloß tun?“, rief Miss Winifred verzweifelt aus. Sie rang die Hände und lief ein paar Mal ruhelos hin und her, bevor sie sich schließlich an die neunjährige Ambrosia wandte. „Beeil dich, Kind, und hol Newton Findlay. Er wird wissen, wie wir Bethany retten können.“

Ambrosia tat, wie ihr geheißen, und kehrte nach kurzer Zeit mit dem alten Seemann zurück. Newt hatte vor vielen Jahren bei einem Zusammentreffen mit einem Hai ein Bein verloren. Damit war für ihn die Seefahrerei an Bord der Undaunted, welche dem Vater der Kinder gehörte, beendet gewesen. Seitdem verrichtete er im Dienste der Lamberts alle möglichen Arbeiten, ärgerte mit Vorliebe die Haushälterin und war allen Bewohnern von Mary-Castle ein geliebter und unentbehrlicher Ansprechpartner in allen Lebenslagen geworden.

„Schau nur, Newt.“ Winnie wies mit zitternder Hand nach unten auf die leblose Gestalt auf einem Felsvorsprung. „Es ist Bethany.“

„Ja, das sehe ich.“ Ohne weitere Umstände befestigte er ein dickes Seil an einem Baum und begann dann mit dem gefährlichen Abstieg. Dieser wurde noch erschwert durch die Tatsache, dass Newton als Ersatz für das verlorene Bein einen hölzernen Pflock benutzte.

Unten angekommen, beugte er sich über das kleine Mädchen. „Sie lebt“, rief er schließlich nach oben. „Sie hat wohl nur das Bewusstsein verloren.“

„Dem Himmel sei Dank!“ Die arme Winifred Mellon ließ sich zu Boden sinken und begann herzzerreißend zu schluchzen, während die drei anderen Lambert-Kinder vor Freude über die Rettung ihrer Schwester anfingen, zu tanzen und zu johlen.

Eine kleine Ewigkeit schien vergangen zu sein, bevor Newton und das kleine Mädchen schließlich wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten.

„Winnie!“ Bethany lief zu ihrer Kinderfrau und musterte sie aufmerksam. „Weinst du etwa? Warum denn?“

„Weinen? Nichts liegt mir ferner!“ Winnie trocknete sich die Augen mit einem blütenweißen Tuch. „Aber du wirst in Kürze Tränen vergießen. Sag mir, wieso du dort hinuntergefallen bist.“

„Ich wollte fliegen. Ich hatte die Seevögel dabei beobachtet, wie sie zwischen den Klippen und Felsen auftauchten und verschwanden und immer wieder auftauchten. Ich wollte einfach sehen, ob ich ihnen nicht Gesellschaft leisten kann.“

„Ihnen Gesellschaft leisten“, wiederholte Winnie ungläubig und wechselte einen kurzen Blick mit Newton, der nur die Augen verdrehte. Nachdem ihre Angst abgeklungen war, verspürte Miss Mellon ein noch stärkeres Gefühl, das nur sehr selten bei ihr zum Vorschein kam. Sie wurde in der Tat kaum jemals wirklich wütend. Doch wenn es so weit war, erschienen zwei leuchtend rote Flecken auf ihren Wangen, und ihre sanften blauen Augen schienen Blitze zu versprühen.

„Dieses Mal bist du zu weit gegangen, Bethany“, erklärte sie streng. „Du wirst dich auf der Stelle in deine Kammer begeben und dort all die Gründe niederschreiben, aus denen Menschen nicht fliegen können. Dann wirst du mir das Ergebnis deiner Arbeit zeigen, und ich entscheide sodann, welche weiteren Strafen du zu erwarten hast.“

„Ich soll bestraft werden dafür, dass ich versucht habe zu fliegen?“

„Nein, dafür nicht. Aber für diese wilde, ungebärdige Ader in dir, junge Dame. Wenn deinem ungestümen Wesen nicht in der Jugend Einhalt geboten wird, könnte sich deine Veranlagung als ernstes Entwicklungshindernis auf dem Weg zu einer wahren Lady erweisen.“

Bethany schielte Hilfe suchend zu Newton hinüber, doch dieser zeigte keinerlei Regung. Vielmehr machte er sich daran, das Seil aufzuwickeln und alsdann zum Haus zurückzugehen.

„Newt, das ist nicht fair“, rief sie und lief hinter ihm her. Ihre Stimme war hoch und schrill vor kindlicher Empörung. „Ich habe doch nichts verkehrt gemacht, oder?“

Newton wählte seine Worte mit Bedacht. „Mir scheint, dass Miss Mellon in gewisser Weise durchaus recht hat. Du hast keine Flügel, meine Kleine.“

„Nein, aber ich könnte mir welche basteln aus … Zweigen.“ Hoffnungsvoll schaute Bethany zu einem besonders hohen und schönen Baum hinüber.

„Ja, das könntest du tun. Und wahrscheinlich würdest du wieder abstürzen. Dir müssen doch alle Knochen im Leib wehtun. Das war ein böser Sturz heute.“

„Ja, ich habe Schmerzen“, gab Bethany zu. „Aber Papa sagt immer, wenn wir uns wehgetan haben, sollen wir einfach aufstehen und es noch einmal versuchen.“

„Das mag sein, aber lass dir gesagt sein, Mädchen: So ein Körper ist ein zerbrechliches Ding. Er wurde nicht erschaffen, von felsigen Klippen in die Tiefe zu fallen. Du hättest dir das Genick brechen können.“

„Dann wäre ich jetzt bei Mama im Himmel. Papa sagt, der Himmel ist ein wundervoller Ort.“

„Davon habe ich auch schon gehört“, versetzte der alte Seemann. „Aber nicht viele von uns haben es eilig, dorthin zu kommen. Vielleicht haben die meisten von uns bereits hier unten auf Erden ihren eigenen Himmel gefunden.“

Inzwischen hatten sie den neben dem Haus liegenden Schuppen erreicht, und Newt hängte das Seil dort auf einen Haken. „Und nun, mein Mädchen“, erklärte er, „kannst du aufhören zu versuchen, die Strafe weiter hinauszuschieben. Am vernünftigsten wäre es, wenn du jetzt nach oben gingest und tätest, was Miss Mellon dir aufgetragen hat.“

„Und dann?“

Newton zwinkerte ihr zu. „Und dann versprichst du ihr, dass du keinen weiteren Versuch zu fliegen unternehmen wirst.“

„Aber ich werde es trotzdem wieder versuchen“, versetzte Bethany.

Newt seufzte tief auf. „Geh jetzt, Kleine, und trage deine Strafe wie …“ Beinahe hätte er gesagt: „… wie ein Mann.“ Denn in aller Ehrlichkeit musste man sagen, dass die drei Lambert-Schwestern durchaus nichts gemein hatten mit irgendwelchen weiblichen Wesen, die ihm in seinem langen Leben begegnet waren. Wild und frei waren diese Mädchen, und was Zähigkeit und Ausdauer betraf, so standen sie ihrem Bruder James in nichts nach.

Oh ja, mit ihnen hatte man auf Mary-Castle wirklich alle Hände voll zu tun.

Und Newton war rettungslos in sie alle vernarrt.

1. KAPITEL

Der Atlantik – Vor der Küste von Cornwall, 1665

„Schiff ohne Flagge voraus!“ Bethany Lambert saß hoch oben im Ausguck der Undaunted, dem stolzen Segelschiff der Familie Lambert, und rief die Warnung aus voller Kehle. „Ich kann es erkennen. Es ist das Piratenschiff, die Shark. Sie verfolgt einen kleinen Segler, der die englischen Farben geflaggt hat.“

Jeder Mann der Undaunted-Besatzung wusste, was das bedeutete. In jüngerer Vergangenheit hatten es sich Piraten zur Gewohnheit gemacht, kleine Vergnügungsboote anzugreifen, die sich meist im Besitz wohlhabender, adeliger Gentlemen befanden. Die Räuber machten fast immer leichte Beute, bestehend aus Gold und Schmuck, versenkten das Schiff und schickten ihre unseligen Opfer in ein dunkles, feuchtes Grab.

Die Undaunted war dazu bestimmt, die Sicherheit sämtlicher englischen Schiffe zu erhöhen. Nach dem Tod ihres Vaters und Bruders durch die Hand von Piraten hatten Bethany und ihre Schwestern geschworen, das Erbe ihres Vaters als Freibeuter im Namen von König Charles II. fortzuführen.

Als Reaktion auf die Warnung ordnete Bethanys Großvater Geoffrey Lambert, der am Ruder stand, an, dass mehr Segel gehisst wurden, und schon bald gelang es ihm, ihren Segler zwischen das Piratenschiff und das kleinere Boot zu steuern. Es nahm die Gelegenheit zu entkommen sofort wahr, und es war nun an den Seeleuten an Bord der Undaunted, sich den Piraten in einem Kampf auf Leben und Tod zu stellen.

Das stolze Schiff erzitterte unter dem Einschlag der ersten Kanonenkugel, und durch den dichten Rauch kletterten abenteuerlich maskierte Männer über die Reling. Sie schwangen Schwerter und Messer und stießen in schrillen Tönen übelste Verwünschungen aus, bei denen einem angst und bange werden konnte.

„Hinter dir, Großvater“, rief Bethany und zielte gleichzeitig mit ruhiger Hand auf den Mann, der im Begriff stand, den alten Lambert zu attackieren. Tödlich getroffen von einem Schuss aus Bethanys Pistole, sank der Angreifer zu Boden.

„Newt!“ Der Ruf galt dem alten Seemann, der den Lambert-Schwestern alles über das Meer und die Seefahrt beigebracht hatte, was es zu wissen gab, zusammen mit Geoffrey Lambert.

Er wandte sich um, gerade rechtzeitig, um einen Piraten niederzustrecken, der ihn hatte angreifen wollen. „Danke, Mädchen“, rief er und schwang sein Schwert.

Der Kampf wogte hin und her, doch nach einigen Stunden waren die Piraten endlich besiegt. Von der Besatzung der Undaunted hatte niemand ernsthaften Schaden erlitten, doch das Schiff selber war in einem beklagenswerten Zustand. Die Kanonenkugel hatte ein Loch in den Bug gerissen, durch das unaufhörlich Wasser in den Laderaum strömte. Zwar hatte man das Feuer an Deck löschen können, doch die Planken waren schwer beschädigt.

Aber die Undaunted war ein stolzes, starkes Schiff. Sie würde den Weg zurück in den sicheren Hafen schaffen. Langsam, mühsam bahnte sich der Segler seinen Weg durch die Wellen, vorbei an dem kleineren Boot, das den Piraten entkommen war. Mit lautem Rufen und Triumphschreien wurde der Untergang des Piratenschiffs zur Kenntnis genommen.

In seiner Kabine ließ der Mann, der das Geschehen durch das Bullauge beobachtet hatte, das Fernglas sinken. Der Kampf an sich war schon fesselnd genug gewesen. Doch als er gesehen hatte, dass es sich bei einem der Seeleute an Bord der Undaunted um ein weibliches Wesen handelte, hatte er seinen Augen kaum trauen wollen.

Die Frau war wie die Männer an Bord gekleidet gewesen. Enge, knapp unter dem Knie endende Hosen steckten in hohen Stiefeln. Dazu ein buntes Hemd mit weiten Ärmeln. Die Haare waren unter dem um den Kopf geknoteten Tuch verborgen gewesen. Allerdings waren die Umrisse des weiblichen Körpers unter der Seemannskleidung deutlich zu erkennen gewesen.

Während des Kampfes hatte sich das Tuch um den Kopf gelöst. Die rotgoldene Lockenpracht und die verführerischen Rundungen ergaben zusammen ein unvergessliches Bild. Die junge Frau handhabte ihre Pistole wie ein Mann, hatte sich unerschrocken ins Kampfgetümmel gestürzt und sich so gut wie jeder Mann geschlagen. Sie hatte einen fantastischen Anblick geboten.

Von außen wurde an die Kabinentür geklopft, und sogleich stieß der große Hund, der zu Füßen seines Herrn lag, ein drohendes Knurren aus. „Wir nähern uns der Hafeneinfahrt von Land’s End, Eure Lordschaft“, erklang die Stimme eines Matrosen von draußen.

Der Mann legte dem Hund beruhigend eine Hand auf den Kopf als Zeichen dafür, dass keine Gefahr bestand. „Wie heißt das Schiff, das zu unserer Rettung kam?“

„Das weiß ich nicht, Mylord. Soll ich mich im Hafen danach erkundigen?“

„Nein.“ Das wäre vergebene Mühe gewesen. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, dass mehrere Schiffe, getarnt als Frachtschiffe, die Gewässer für englische Segler sicherten. Nur der König kannte ihre wahre Identität. Die Leute, die in seinem Auftrag fuhren, schützten ihre Privatsphäre genau so entschlossen, wie sie ihre Feinde auf See bekämpften.

Doch der Mann hatte eigene Mittel und Möglichkeiten, den Namen des rettenden Schiffes herauszufinden.

Während er sich anschickte, von Bord zu gehen, schaute der Adelige noch einmal sehnsüchtig auf den Segler, der ihn und seine Mannschaft vor dem sicheren Tod gerettet hatte, bevor dieser eine Landzunge umfuhr und seinen Blicken entschwand.

Was würde er nicht alles geben, wenn er die Freiheit hätte, jenen mutigen Leuten in ihrem unermüdlichen Kampf gegen die brutalen Räuber zur Seite zu stehen und deren brutalem Treiben ein Ende zu setzen.

Ja, und gleichermaßen viel würde er geben, wenn er die junge Frau kennenlernen könnte, die offenkundig in unbändiger Freiheit lebte und so beherzt zu kämpfen verstand.

„Felsen und Untiefen an Backbord!“, erscholl hoch aus der Takelage der Ruf einer unverkennbar weiblichen Stimme. Doch die zu der Stimme gehörende Gestalt, die sich soeben behände nach unten hangelte und leichtfüßig auf Deck sprang, war gekleidet wie jeder gewöhnliche Matrose.

„Ja, Bethany, ich sehe sie auch.“ Geoffrey Lambert hielt mit fester Hand das Ruder, während die Mannschaft Vorbereitungen zum Ankern traf. „Dem Himmel sei Dank, wir sind fast zu Hause“, setzte er noch hinzu.

Für gewöhnlich dauerte die Reise von der kleinen Stadt Port Hellick nach Land’s End höchstens einen halben Tag, doch das Zusammentreffen mit den Piraten hatte die Heimkehr erheblich verzögert.

„Soll ich das Ruder übernehmen, Großvater?“, erkundigte sich Bethany fürsorglich, und dankbar überließ ihr der alte Mann seinen Platz. Wie ihre Schwestern Ambrosia und Darcy, so war auch die mittlere seiner Enkelinnen eine hervorragende Seglerin. Sie kannte sich in den Gewässern vor der Küste Cornwalls besser aus als so mancher Mann.

„Schau nur, Großvater“, rief sie jetzt und deutete mit einer Hand zum Ufer hin. „Dort drüben ist Darcy. Und Winnie und Mistress Coffey sind bei ihr.“ Sie winkte ihrer kleinen Schwester sowie ihrer alten Kinderfrau und der Haushälterin zu, die auf dem so genannten „Widow’s Walk“, standen, einer Balustrade, die sich um das oberste Stockwerk des Gebäudes wand. Mary-Castle, das Anwesen der Lamberts, erhob sich hoch über den Atlantik. Weit und breit gab es kein anderes Haus.

Den Namen hatte es vom Vater der drei Mädchen, Kapitän John Lambert, erhalten, der damit ihre Mutter ehren wollte. Viele Menschen in Land’s End nannten das Haus „Lambert’s Folly“, was so viel wie „Lamberts Torheit“, bedeutet. Damit wollten die Leute ihre Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass kein Haus, das dermaßen nahe am Meer errichtet wurde, den Unbilden des Wetters lange würde trotzen können. Doch Mary-Castle stand nun schon seit vielen, vielen Jahren solide wie eine Festung und war weder durch Stürme noch den von Unwettern aufgepeitschten Atlantik oder schwerste Gewitter zu erschüttern.

Als das Schiff nunmehr die schützende Bucht erreichte, machten sich die Seeleute schnell und behände daran, es sicher zu vertäuen, die Segel einzuholen und das kleine Beiboot so oft hin- und herzurudern, bis alle Matrosen an Land gebracht worden waren.

„Unsere Fracht ist vollständig ruiniert, Großvater“, erklärte Bethany, während sie die Stiege vom größtenteils unter Wasser stehenden Frachtraum hochkam. „Niemand wird uns für nasse Gewürze und aufgeweichten Tee etwas bezahlen.“

„Genau, mein Mädchen. Und als ob das noch nicht ärgerlich genug wäre, müssen wir auch unverzüglich darangehen, den Schaden zu beheben.“ Geoffrey schaute sich um. „Allerdings habe ich keine Ahnung, wie wir das alles bezahlen sollen.“ Erschöpft und mutlos machte er sich daran, die Strickleiter zu dem Beiboot hinunterzuklettern.

„Ich werde schon einen Weg finden.“ Bethany wusste, dass sie gefährlich nahe daran waren, alles zu verlieren, wofür sie so hart gearbeitet hatten. Ohne Schiff war es ihnen unmöglich, ihr Zuhause zu erhalten und für die ältlichen Bediensteten zu sorgen, die völlig abhängig von den Lamberts waren. Aber ohne die erwartete Bezahlung der jetzt verdorbenen Fracht würden sie auch die unumgänglichen Ausbesserungen an der Undaunted nicht bezahlen können.

Wenn nur Ambrosia und ihr Gatte, Kapitän Riordan Spencer, hier wären! Dann gäbe es keine Schwierigkeiten. Riordan war ein vermögender Mann, der ihnen mit Freuden eine Anleihe gewähren würde. Aber das junge Paar befand sich an Bord von Riordans Schiff, der Warrior, deren Rückkehr frühestens in einem Monat erwartet wurde.

Bethany wusste, dass die Sorgen und die Verantwortung ganz allein auf ihren Schultern lasteten.

„Nach dem Zustand der Undaunted zu urteilen, wart ihr in einen Kampf verwickelt“, bemerkte Darcy, die jüngste der Lambert-Schwestern, und Bethany nickte.

„Dann musst du mir alles ganz genau erzählen“, verlangte Darcy.

„Ja, aber erst lass mich mal ein wenig Luft holen. Wo sind Winnie und Mistress Coffey? Ich dachte, ich hätte sie vom Schiff aus hier draußen stehen sehen.“

„Sie sind bereits im Salon und warten. Beeil dich lieber. Die beiden sind schon stundenlang voller Sorge hin und her gelaufen.“ Darcy nahm ihre Schwester an der Hand, hakte sich bei ihrem Großvater ein und zog die beiden mit sich ins Haus.

„Nun schau dich nur mal an.“ Winifred Mellon blickte auf, als die Mädchen mit Geoffrey in den Salon traten. Obwohl ihre Tage als Kindermädchen der drei Schwestern schon lange vorbei waren, hatten die Lamberts darauf bestanden, dass Winnie bei ihnen blieb. Ihnen war nämlich zu Ohren gekommen, dass Winnie niemanden hatte, bei dem sie hätte bleiben können. „Du bist ja verletzt, Bethany!“

„Ach was, das ist nur ein kleiner Kratzer.“ Bethany schaute auf ihren Arm und schien ehrlich überrascht zu sein, als sie Blutspuren auf dem Ärmel entdeckte.

Geoffrey war an der Tür stehen geblieben. „Wenn sie nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt nicht hier“, erklärte er. „Bethanys Umgang mit der Pistole ist überaus fachmännisch und sicher.“

Das Mädchen errötete ein wenig. „Ich habe nicht mehr getan als alle anderen, Großvater.“

„Ach, meinst du?“ Er schüttelte den Kopf. „Dem Himmel sei Dank, dass du über einen so schnellen und scharfen Geist verfügst.“

„Nun müsst ihr uns aber alles von Anfang bis Ende erzählen“, verlangte Winnie, die vor lauter Spannung auf ihrem Stuhl weit nach vorn gerutscht war und nun auf der äußersten Kante saß.

„Allerdings“, bekräftigte Mistress Coffey. Sie reichte mit Ale und Tee gefüllte Gefäße herum und nahm dann auf einer Chaise direkt vor dem offenen Kaminfeuer Platz.

Wie Winnie, so stand auch die Haushälterin seit mehr als zwanzig Jahren in Diensten der Lambert-Familie. Als Witwe trug sie stets Schwarz. Sie hielt sich immer kerzengerade und aufrecht, obwohl das Alter ihr zunehmend zu schaffen machte. Immer mehr der häuslichen Pflichten gab sie an die drei Schwestern ab. „Wir bestehen auf jeder noch so winzigen Einzelheit“, erklärte sie bestimmt. „War euer Erlebnis diesmal genauso aufregend wie unser letztes … nun, sagen wir, Abenteuer?“

Bethany und Darcy wechselten ein Lächeln tiefsten Einverständnisses. Was ursprünglich lediglich das Versprechen gewesen war, die Arbeit des Vaters fortzuführen, war schließlich ein Familienunternehmen geworden, an dem nicht nur ihr Großvater und der alte Newt teilgenommen hatten, sondern auch diese beiden liebenswerten älteren Damen.

Die gemeinsam bestandenen Abenteuer hatten jeden und jede Einzelne von ihnen verändert. Die Schwestern hatten noch mehr Selbstvertrauen entwickelt, und die alten Leute hatten noch einmal das Gefühl von Jugend und Lebenskraft verspürt, das sie lange verloren geglaubt hatten. Alles zusammen stellte einen weiteren unsichtbaren Faden dar, mit dem ihrer aller Schicksal miteinander verbunden war.

„Unser heutiges Abenteuer war nicht annähernd so aufregend und gefährlich wie jenes, das wir alle gemeinsam bestanden“, versicherte Bethany. „In der Tat war unsere Reise völlig ereignislos, bis wir eines der Seeräuberschiffe entdeckten, das gerade eine vornehme Segeljacht angreifen wollte. Wir kümmerten uns um die Piraten, und schon bald konnten wir sie alle in ihr nasses, dunkles Grab schicken.“

„Und das andere Schiff?“, wollte Winnie wissen. „Kanntet ihr es?“

„Nein.“ Bethany schüttelte den Kopf. „Ich habe es in unseren Gewässern noch niemals zuvor gesehen. Aber das ist jetzt unbedeutend, da es mit Sicherheit im Hafen von Land’s End vor Anker gegangen ist und keinerlei Hilfe mehr benötigt.“

Sie trank ihren Tee aus, stellte die Tasse beiseite und bewegte sich in Richtung Tür.

„Und was, bitte schön, glaubst du, was du jetzt tust?“, erkundigte sich Mistress Coffey.

„Ich gehe in meine Kammer, werde ein heißes Bad und ein gemütliches Abendessen genießen und sodann zu Bett gehen, wo ich mindestens eine Woche lang bleiben werde.“

„Nein, junge Dame, daraus wird heute Abend wohl nichts“, versetzte die alte Haushälterin und wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Winnie. „Hatten wir nicht abgemacht, dass deine Pflichten an Bord nicht im Widerstreit zu jenen hier zu Hause stehen würden?“

„Jaaaa?“ Bethany schaute zu ihrer Schwester hin, doch diese starrte angelegentlich auf einen unsichtbaren Punkt an der Wand.

„Im Pfarrhaus findet heute Abend eine Bibellesung statt“, erklärte Mistress Coffey vielsagend. „Und da Ambrosia sich noch auf Hochzeitsreise befindet, bleibt nur du und Darcy übrig.“

„Wieso kann Darcy nicht an meiner Stelle an der Lesung teilnehmen?“ Bethany wollte sich noch nicht geschlagen geben.

„Weil sie sich schon bereit erklärt hat, meinen Platz bei dem Ladys-Nähzirkel einzunehmen, und zwar an der Seite von Miss Winnie.“

Die Schwestern verdrehten theatralisch die Augen. Nähzirkel und Bibelstunden! Es gab nichts Schlimmeres für sie als diese beiden Freizeitbeschäftigungen.

„Ich erwarte einfach, dass du an der Lesung teilnimmst, Bethany.“ Der Tonfall der Haushälterin duldete keinen weiteren Widerspruch. „Und ich werde dich selbstverständlich als Anstandsdame begleiten.“

In einem letzten Versuch, sich doch noch vor der Aufgabe drücken zu können, wandte sich Bethany an Geoffrey Lambert. „Großvater, ich komme gerade erst von einem gefährlichen Seeabenteuer zurück und soll eine Bibellesung besuchen. Was hältst du davon?“

Der alte Mann hob eine Hand ans Ohr, als hätte er nicht verstanden, was seine Enkelin gesagt hatte. Bethany hätte beinahe mit dem Fuß aufgestampft, denn sie durchschaute natürlich seine List.

Der alte Herr hörte grundsätzlich nur das, was er hören wollte. Vor vielen Jahren war bei einer Fehlzündung eine Kanonenkugel unmittelbar neben ihm explodiert. Wegen der daraus entstandenen Taubheit hatte er die Seefahrt aufgeben müssen. Doch seine Familie war fest davon überzeugt, dass sein Hörvermögen im Laufe der Zeit zurückgekehrt war und er seine angebliche Behinderung ganz gezielt immer dann einsetzte, wenn er sich einen Vorteil davon erhoffte.

„Bethany, hast du schon das Neueste gehört?“ Edwina Cannon, die größte Klatschtante des Dorfes, griff nach Bethanys Arm, als sie nebeneinander zu der wartenden Kutsche gingen. Sie hatten die letzte Stunde damit verbracht, im Pfarrhaus dem jungen, attraktiven Diakon Ian Welland bei seiner Lesung aus den Psalmen zuzuhören.

Mistress Coffey machte einen hochzufriedenen Eindruck, und Bethany wusste auch, warum. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sich die Haushälterin in den Kopf gesetzt, dass eine der Lambert-Schwestern einen Geistlichen heiraten sollte. Und da Ambrosia bereits mit ihrem schneidigen Kapitän verheiratet war und Darcy einem Seemann namens Gray Barton zugetan zu sein schien, blieb also nur noch Bethany übrig.

Diese musste zugeben, dass der junge Diakon recht gut aussah. Auch war ihr bekannt, dass so manches Mädchen in Land’s End ihn anhimmelte und jedes Wort, das er von der Kanzel sprach, begierig aufnahm. Doch ihr persönlich war Ian Welland einfach zu sanft und einschmeichelnd.

„Was soll ich gehört haben?“ Bethany wandte sich Edwina zu, während die Haushälterin und Edwinas Mutter in die Kutsche stiegen.

„Der Earl of Alsmeeth hat seine Rundreise durch Cornwall beendet und will sich dauerhaft auf dem Familiensitz niederlassen.“

Bethany seufzte unterdrückt auf. „Ich hatte gehofft, du hättest wirklich aufregende Neuigkeiten. Über ein Piratenschiff in Küstennähe oder ein erneutes Auftauchen des geheimnisvollen Wegelagerers, der sich selbst ‚Lord der Nacht’ nennt. Außerdem war ich der Meinung, der alte Earl sei verstorben.“

„Doch nicht der Alte, du Dummerchen“, versetzte Edwina. „Es handelt sich um seinen Sohn. Er heißt Kane und soll atemberaubend gut aussehen.“ Sie hatte jenen Glanz in den Augen, den sie immer dann bekam, wenn sie an einem Gentleman interessiert war.

Die beiden jungen Frauen stiegen nun ebenfalls in die wartende Kutsche und nahmen gegenüber Mistress Coffey und Mistress Cannon Platz. „Man weiß von ihm nur“, erklärte die Haushälterin, dass er sehr zurückgezogen lebt und äußerst überheblich sein soll. Eines der Hausmädchen dort erzählte einem unserer Mädchen, er habe nicht ein einziges Wort gesprochen, als er eintraf. Das gesamte Hauspersonal sowie die bei ihm in Lohn und Brot stehenden Bauern und ihre Familien waren zu seiner Begrüßung gekommen. Doch er ging einfach ins Haus und gab die Anordnung, die Leute sollten an ihre Arbeit zurückkehren.“

Edwina schürzte die Lippen. „Aber, Mistress Coffey, er ist einer der reichsten Männer Englands. Da ist es doch sein gutes Recht, sich so zu verhalten.“

„Sein Recht?“ Bethany bedachte Edwina mit einem vernichtenden Blick. „Papa hat diese Einstellung immer den Fluch der Reichen genannt. Statt sich verantwortlich zu fühlen für die, die vom Schicksal weniger günstig bedacht wurden, denken diese Leute, die Welt müsse sich jedem ihrer Wünsche beugen.“

„Und wer wollte ihnen dieses Recht streitig machen?“ Edwina stieß einen sehnsüchtigen Seufzer aus. „Ich hoffe inständig, eines Tages so reich wie eine Königin zu sein. Und ich werde von jedem Menschen erwarten, dass er sich vor mir verneigt.“

„Na, das ist ja in der Tat ein sehr nobles Lebensziel.“ Bethany schauderte bei dem Gedanken daran, dass sie die Heimfahrt mit dieser frivolen Person gemeinsam zurücklegen musste. „Es würde mich schon interessieren zu erfahren, warum der Earl nach Cornwall zurückgekehrt ist, wenn er doch nicht die Absicht hat, sich wie ein zivilisierter Gentleman zu benehmen.“

„Nun, er versteckt sich hier auf dem Land, weil er in London nicht mehr erwünscht ist.“ Edwina lächelte geheimnisvoll.

„Aber warum sollte ein vermögender Mann wie er sich verstecken wollen?“

„Vielleicht hat er Spielschulden“, vermutete Mistress Coffey.

„Nein, nein, es ist viel schlimmer. Sein Vater wurde auf grausame Art ermordet, und der Sohn wurde als Täter ins Fleet Prison geworfen.“

Die beiden älteren Frauen schnappten entsetzt nach Luft, während Bethany sich unbeeindruckt gab.

„Nun ist er auf freiem Fuß, aber niemand wurde an seiner Stelle angeklagt. Und wer hat durch den Tod des alten Earl am meisten zu gewinnen?“

„Willst du etwa behaupten, er habe seinen Vater aus Habgier umgebracht?“

„Kann man sich ein besseres Tatmotiv vorstellen?“ Edwina senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen. „Und das ist noch nicht alles. Man munkelt, seine Braut habe sich in der Hochzeitsnacht selbst umgebracht.“

Edwina machte eine Kunstpause. Sie war sicher, die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Mitfahrerinnen zu haben. „Es gibt nicht wenige, die sich so ihre Gedanken darüber machen, was für ein Unhold eine schöne, adelige Dame dazu treiben würde, sich eher einen Dolch ins Herz zu stoßen, als sich ihm hinzugeben.“

Mistress Coffey und Edwinas Mutter tauschten Blicke, in denen sich reines Entsetzen spiegelte. Doch Bethany fragte ungerührt: „Wer hat dir all das erzählt?“

„Leute, die Freunde und Bekannte in London haben“, versetzte Edwina im Flüsterton.

„Mit anderen Worten“, folgerte Bethany, „kannst du dich persönlich nicht dafür verbürgen, dass auch nur ein einziges Wort von der Geschichte, die du uns erzählt hast, wahr ist.“

Edwina wurde ein wenig blass. Es war typisch für Bethany Lambert, alles und jedes infrage zu stellen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog einen Schmollmund. „Nun gut, Bethany, du magst deine Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit haben. Aber es gibt Dutzende anderer Menschen, die meine Geschichte bestätigen könnten. Du musst aber doch zugeben, dass der Earl of Alsmeeth eine fesselnde Gestalt ist.“

„Nicht annähernd so fesselnd wie der Lord of the Night.“

Edwina zitterte kaum merklich. „Ja, der Lord der Nacht. Er ist ein abscheulicher Dieb und ein grausames, gewalttätiges Monster außerdem. Man sagt, er greife reiche Herren an und wende ihren Begleiterinnen gegenüber körperliche Gewalt an.“ Sie zog die Bänder ihres Hütchens fester zusammen und lehnte sich in ihrem Sitz zurück.

Die Kutsche rollte soeben über einen Waldweg, der von dicht nebeneinander stehenden Bäumen gesäumt war. „Ich glaube immer noch“, plapperte Edwina weiter, „dass es mit der Anwesenheit eines Adeligen in unserer Mitte ein vergnügsamer Sommer wird. Auch wenn sich der Gentleman so mysteriös und eingebildet gibt, wie es der Earl of Alsmeeth tut. Bist du denn nicht wenigstens ein kleines bisschen neugierig auf ihn, Bethany?“

„Nein, nicht im Entferntesten“, bekräftigte diese. „Und das ist auch gut so, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass er und ich die Gelegenheit haben werden …“

Bethany vergaß, was sie hatte sagen wollen, denn über die Köpfe von Mistress Coffey und Mistress Cannon hinweg sah sie, wie aus dem Wald ein Reitersmann auftauchte und gleich darauf neben der Kutsche war.

Er saß auf einem schwarzen Hengst, war ganz in Schwarz gekleidet und hatte sich ein ebenfalls schwarzes Tuch vor den Mund gebunden. In einer Hand hielt er eine bedrohlich wirkende schwarze Pistole, aus der er jetzt einen Schuss in die Luft abfeuerte.

Zu Tode erschrocken, versuchte der Kutscher, die scheuenden Pferde zum Stehen zu bringen. Der Reiter lenkte sein Ross direkt neben den Kutschbock. „Bleib, wo du bist, Alter.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Dann wird dir nichts geschehen. Hast du verstanden?“

Der Kutscher nickte nur. Er hatte alle Hände voll zu tun, die Pferde ruhig zu halten.

Der Räuber sprang von seinem Hengst ab und näherte sich den Insassen der Kutsche. Edwina und ihre Mutter begannen zu weinen, und Mistress Coffey umklammerte Bethanys Hand derart krampfhaft, dass sich in den Fingern ein Taubheitsgefühl ausbreitete.

„Was wollen Sie von uns?“, verlangte Bethany von dem Räuber zu wissen.

Überrascht sah er sie einen Moment lang an. Normalerweise verloren die Frauen als Erste die Nerven bei seinem Anblick. Die Herren reagierten ein wenig später. Doch diese junge Dame zeigte nicht das geringste Anzeichen von Angst. Ihre grünen Augen glitzerten eher vor Zorn denn aus Furcht.

Er musterte sie eingehend und befahl dann: „Sie werden auf der Stelle aussteigen.“

„Der Himmel möge uns beistehen“, wimmerte Edwina. „Er wird uns alle töten.“

„Ach, sei doch still.“ Bethany biss die Zähne zusammen und wünschte, sie hätte ihre Pistole dabei. Doch wer hätte das für die kurze Fahrt zum Pfarrhaus für nötig erachtet?

Der Maskierte streckte Bethany eine Hand entgegen. „Erlauben Sie mir, Ihnen zu helfen.“

Sie stieß einen Laut der Entrüstung aus und übersah geflissentlich die galante Geste. Sie stieg aus und wandte sich dann zu ihren Mitreisenden um. „Aussteigen, die Damen.“

Ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch, und so stiegen nacheinander Edwina, ihre Mutter und Mistress Coffey aus. Die Haushälterin blieb neben Bethany stehen, während Edwina und ihre Mutter einander in die Arme fielen.

Bethany wandte sich an die schwarze Gestalt. „Nehmen Sie sich das, weswegen Sie uns überfallen haben, und lassen Sie uns unsere Fahrt fortsetzen.“

„Ah, Sie sind wohl in Eile?“

„In der Tat. Und äußerst bestrebt, so etwas wie Sie schnellstens wieder loszuwerden.“

„Bitte, Bethany, ärgere ihn nicht.“ Edwina hatte angefangen zu weinen.

„Sie sollten die Warnung Ihrer Freundin beherzigen. Es wäre nicht gut für Sie, wenn Sie mich ärgerten.“

„Und warum nicht? Sie ärgern mich ja auch!“

Auf diese wenig feine Antwort hin lachte der Mann leise auf. Doch schon im nächsten Moment wurde er wieder ernst, als sein Blick auf den mit Diamanten und Rubinen besetzten Ring an Edwinas Hand fiel. „Her mit den Wertsachen“, befahl er. Seine Stimme klang eisig.

„Nein, nicht diesen Ring.“ Edwina wich zurück. „Ein Geschenk von meinem geliebten Silas. Er versprach mir, ich würde sämtliche Fenwick-Juwelen bekommen. Wäre er am Leben geblieben, wäre ich heute eine Dame von hohem Rang.“

„Silas Fenwick? Noch ein Grund mehr.“ Der Räuber griff nach Edwinas Hand und zog ihr den Ring vom Finger. Er steckte ihn in eine Tasche seines Rocks und sprach dann Edwinas Mutter an. „Wenn ich auch um Ihren Schmuck bitten dürfte, Madam. Vergessen Sie bitte nicht das Geschmeide um Ihren Hals sowie die Ohrgehänge.“

Mistress Cannon tat, wie ihr geheißen war. Doch der Maskierte war noch nicht zufrieden. „Das Gold in dem Beutel an Ihrer Hand bekomme ich auch.“ Zufrieden schüttelte er die Goldmünzen aus dem Behältnis, verstaute sie ebenfalls in einer Tasche und reichte Edwinas Mutter dann den Beutel zurück.

Dann fiel sein Blick auf Mistress Coffey und die Brosche, die sie an ihrem Kleid trug. Bethany sah seinen begehrlichen Blick.

„Oh nein“, erklärte sie bestimmt und legte eine Hand über das Schmuckstück, das die Haushälterin soeben abnehmen wollte. „Das ist ein Geschenk ihres verstorbenen Mannes und alles, was sie hat. Sie haben kein Recht, ihr dieses Andenken zu nehmen.“

„Kein Recht?“ Unbeeindruckt entriss der Mann ihr die Brosche.

„Sie haben mich richtig verstanden. Sie hat ihr Leben lang für andere gearbeitet. Niemand, am wenigsten ein erbärmlicher kleiner Dieb, wird ihr das Wenige nehmen, was ihr auf ihre alten Tage geblieben ist.“

Nach langem Schweigen, in dem er sie eingehend musterte, sagte der Räuber: „Sie haben recht. Die Brosche hat kaum einen Wert außer für ihre Besitzerin. Aber was werden Sie, meine liebe Dame, als Ersatz bieten?“ Zum Erstaunen aller reichte er Mistress Coffey ihre Brosche zurück.

Bethany hob das Kinn ein wenig. „Erstens bin ich nicht Ihre liebe Dame, und zweitens habe ich nichts von Wert zu bieten.“

„Ach nein?“ Vielsagend ließ der Unbekannte den Blick über ihre Gestalt schweifen. „Ich würde ganz im Gegenteil sagen, dass Sie von den Göttern mit größeren Schätzen ausgestattet wurden als die meisten anderen Frauen.“

„Wie können Sie es wagen …“ Bethanys Wangen waren dunkelrot geworden, und ihre Begleiterinnen schnappten hörbar nach Luft ob dieser mehr als zweideutigen Bemerkung.

Der Mann hielt Bethany am Arm fest, als sie sich plötzlich umdrehte. Ein Fehler, wie er sogleich feststellte, denn die simple Berührung durchfuhr ihn wie ein Blitz. „Nun gut, wenn Sie mir nichts anbieten, werde ich mir nehmen, wonach mich gelüstet. Schließlich bin ich ein Dieb.“

Ehe Bethany wusste, wie ihr geschah, hatte der Fremde eine Hand in ihren Nacken gelegt und sie dicht an sich gezogen. Er schob das Tuch von seinem Mund und bedeckte ihre Lippen mit seinen.

Die anderen Frauen begannen in Erwartung des schrecklichen Geschehens, das Bethany nun widerfahren würde, um Gnade zu flehen. Edwina und ihre Mutter fielen plötzlich in Ohnmacht, während Mistress Coffey in blankem Entsetzen die Hände vors Gesicht schlug.

Für Bethany schien die Zeit stillzustehen. Zwar war sie schon hier und da von einem verliebten Dorfburschen flüchtig geküsst worden, doch in den Armen dieses Unbekannten vergaß sie alles um sich herum. Er küsste sie einfühlsam und gleichzeitig fordernd. Ihre Lippen wurden unter seinen Liebkosungen weich und warm. Je länger der Kuss andauerte, desto mehr schien sich eine nie gekannte Wärme in ihren Gliedern auszubreiten.

Endlich hob er den Kopf, und Bethany atmete begierig die frische Luft ein.

„Ich betrachte das als eine mehr als ausreichende Entschädigung für das mir entgangene Schmuckstück“, erklärte der Mann und zog das Tuch wieder vors Gesicht.

Bethany rang um Haltung. Es kam ihr so vor, als wäre der Boden unter ihren Füßen in Bewegung geraten, und in ihrem Kopf schien sich alles zu drehen. Doch sie würde um nichts auf der Welt diesem Rohling offenbaren, welche ungeheure Wirkung sein Kuss auf sie gehabt hatte. „Sie sind ja wohl das schmutzigste, elendste Geschöpf … Was fällt Ihnen ein, hilflose Frauen derart zu bedrängen!“

„Hilflos?“ Er lachte, und Bethany spürte einen wohligen Schauer. In verlockendem Flüsterton sagte er: „Ich glaube, dass ich, wenn Sie außer Ihren gefährlich glitzernden Augen noch eine andere Waffe hätten, längst schon tot am Wegesrand liegen würde.“

„Allerdings. Und das wäre genau das, was Sie verdient haben.“

„Letzten Endes bekommen wir alle, was wir verdienen“, erwiderte er.

„Dann werden Sie zweifellos für alle Ewigkeit in der Hölle schmoren.“

„Daran zweifle ich nicht.“ Er trat einen Schritt zurück und verneigte sich tief. „Ich danke Ihnen allen dafür, dass Sie Ihre Reichtümer so bereitwillig mit dem Herrn der Nacht teilten. Leider muss ich nun Ihre reizende Gesellschaft verlassen.“ Er schwang sich in den Sattel, und sofort fiel der Hengst in einen leichten Trab. Im nächsten Augenblick waren Ross und Reiter im Schutz des Waldes verschwunden.

Von einem sicheren Aussichtspunkt verfolgte der „Lord der Nacht“, den hastigen Aufbruch der vier Damen. Sowie sie wieder in der Kutsche Platz genommen hatten, trieb der Kutscher die Gäule zu höchster Eile an.

Der Maskierte stieß eine Reihe furchtbarer Flüche aus, in denen er sich selbst mit den schlimmsten Bezeichnungen titulierte. Was war bloß in ihn gefahren, dass er alle seine Grundsätze so bedenkenlos über Bord geworfen hatte! Noch niemals zuvor hatte er sich irgendeinem seiner weiblichen Opfer gegenüber derartige Freiheiten herausgenommen.

Allerdings musste er zu seiner eigenen Entlastung bedenken, dass ihn auch noch nie zuvor ein weibliches Wesen dermaßen gereizt hatte. Irgendetwas an ihrem respektlosen, wütenden Auftritt hatte ihn dazu gebracht, jede selbst auferlegte Regel zu brechen. Vielleicht war es ihr prachtvolles kupferrotes Haar gewesen, das ihr in großzügigen Wellen bis weit über den Rücken fiel. Möglicherweise hatte sein unentschuldbares Benehmen auch zu tun mit dem biegsamen jungen Körper. Doch am meisten hatte ihn der unerschrockene, kampfeslustige Blick aus den wunderschönen grünen Augen beeindruckt.

Er strich seinem Pferd über den Nacken und sah, dass seine Hand noch immer leicht zitterte. In seinem ganzen bisherigen Leben hatte noch keine einzige Frau ihn dermaßen fasziniert. Er musste sie unbedingt wieder sehen.

Bethany! Ihr Name war Bethany. Immerhin ein Anfang.

2. KAPITEL

„Es war so grauenvoll!“

Im selben Moment, in dem sie über die Türschwelle trat, brach Mistress Coffey in lautes Wehklagen aus. Die Tränen strömten ihr wie Sturzbäche über die Wangen, und im Handumdrehen war sie von den Bewohnern von Mary-Castle umringt.

„Was ist geschehen?“ Winnie und Darcy griffen nach den Händen der Haushälterin und schauten alarmiert zwischen ihr und Bethany hin und her.

„Wir wurden …“ Mistress Coffeys Unterlippe bebte, als sie um Worte rang. „Wir wurden … von dem … Wegelagerer angegriffen.“

„Dem Lord of the Night?” Darcy zog die alte Frau in die Arme. „Hat er Ihnen ein Leid zugefügt?“

„Nein, mir nicht. Aber er …“ Sie schluchzte erneut auf und rang um Fassung. „Aber er hat unserer armen Bethany Gewalt angetan!“

„Nein! Den Bastard bringe ich um!“ Geoffrey Lambert kam soeben die Treppe herunter und blieb wie angewurzelt stehen. Halt suchend umklammerte er das Geländer. Wieder einmal zeigte sich, dass der alte Herr sehr gut hören konnte, wenn er wollte.

„Mistress Coffey ist ein wenig außer sich“, ließ sich Bethany vernehmen. „Sie meint nicht wirklich, was sie da sagt. Er hat mich … nur geküsst, Großvater.“

„Das ist alles?“ Geoffrey wartete darauf, dass sich sein rasender Herzschlag wieder beruhigte, bevor er die restlichen Stufen hinunterging und die mittlere seiner drei Enkelinnen in die Arme schloss. „Und mit dir ist alles in Ordnung, meine Kleine? Ganz bestimmt?“

„Ja, Großvater.“ Bethany schmiegte sich eng an ihn und genoss für einen Moment den Geruch nach Salz, See und Tabak, der schon immer von dem alten Herrn ausgegangen war und ihr das Gefühl großer Geborgenheit vermittelte.

„Ich glaube, wir können jetzt alle einen Tee vertragen“, erklärte Miss Mellon und wandte sich an Darcy, die beide Hände in die Hüften gestemmt hatte und aussah, als würde sie den Räuber am liebsten mit ihrem Messer angreifen. In Land’s End gab es weder Mann noch Frau, die sie im Umgang mit einem Messer als Waffe übertrumpfen konnten.

„Darcy, vielleicht bringst du einige von den Biskuits, die wir heute schon probiert haben, und auch einen Topf mit der Fruchtmarmelade. Am besten setzen wir uns alle in den Salon.“

„Gut, ich kümmere mich darum“, willigte Darcy ein. „Aber ihr dürft nichts weiter erzählen, solange ich nicht dabei bin.“

Kurze Zeit später waren alle im Salon vor dem flackernden Kaminfeuer versammelt. Auch Newton, der alte Seebär, hatte sich eingefunden.

„Also, was hat dieser Kerl gestohlen?“, wollte Geoffrey wissen. Er lehnte den angebotenen Tee ab und griff nach einem Becher Ale, um seine Nerven zu beruhigen.

„Edwinas Ring und den Schmuck sowie das Gold ihrer Mutter.“

„Mehr nicht?“ Darcy knabberte an einem Biskuit.

„Er hätte beinahe auch meine Brosche behalten, aber Bethany erklärte ihm, er habe kein Recht dazu.“ Sie legte schützend eine Hand über das Schmuckstück. „Er behauptete, sie hätte keinerlei Wert, aber ich glaube, Bethanys Appell an sein Herz hat dazu geführt, dass er seine Meinung änderte.“

„So, so. Das hört sich ganz so an, als ob dieser mysteriöse Lord der Nacht doch nicht so ein Monster wäre, wie alle behaupten“, bemerkte Darcy.

„Das habe ich nicht gesagt“, protestierte Mistress Coffey. „Wenn ich nur daran denke, wie grob er zu unserer Bethany war …“ Ihre Lippe zuckte wieder verdächtig.

Darcy sah ihre Schwester an, die sich seltsam still verhielt. „Was sagst du denn dazu, Bethany? Hat der Kerl ein weiches Herz, oder ist er so grausam, wie alle seine bisherigen Opfer behaupten?“

„Ich finde, das solltest du Edwina und ihre Mutter fragen.“ Bethany zuckte die Schultern. „Wenn sie gerade nicht in Ohnmacht fielen, haben sie unbeherrscht geheult, weil sie ihre Wertsachen abgeben mussten.“

„Sag nur nicht, dass sie schon wieder ohnmächtig geworden sind“, warf Darcy fröhlich kichernd ein. „Dadurch verpassen sie ständig die aufregendsten Dinge.“

„Genau das liegt vielleicht in ihrer Absicht“, mutmaßte Geoffrey. „Doch zurück zu dir, Bethany. Gibt es irgendetwas, woran man ihn wieder erkennen könnte?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wie Mistress Coffey schon sagte, war er vollständig in Schwarz gekleidet und außerdem maskiert.“

„Was war mit seiner Stimme?“

„Er flüsterte nur.“

„Und seine Augen?“

„Es war zu dunkel, um die Farbe erkennen zu können.“

„Nun, wenigstens hatte er keine Gelegenheit, die Pistole zu benutzen, die er angeblich mit sich herumträgt.“ In Geoffreys Tonfall schwang kaum merklich ein sehnsüchtiger Unterton mit, als ob er gern bei diesem Abenteuer dabei gewesen wäre.

Bethany nickte. „Er feuerte nur ein Mal in die Luft, um den Kutscher dazu zu bringen, das Gespann anzuhalten. Hat er mit der Waffe denn schon auf einen Menschen geschossen?“

„Soweit man weiß, war bisher noch niemand so dumm oder wagemutig, sich ernsthaft gegen ihn zur Wehr zu setzen.“

„Nur unsere Bethany“, erklärte Mistress Coffey und rang die Hände. „Wenn ich nur daran denke, in welche Gefahr sie sich begeben hat …“

„Er hatte kein Recht, Ihre Brosche an sich zu nehmen. Ich konnte doch nicht einfach tatenlos zusehen, wie er Ihnen Ihren kostbarsten Besitz stahl.“ Bethany ballte in der Erinnerung an das Geschehen die Hände zu Fäusten.

Newton warf Geoffrey einen wissenden Blick zu. Er kannte die Lambert-Mädchen seit deren frühester Kindheit. Schon damals hatten sie niemals, unter welchen Umständen auch immer, bei einem Kampf oder einer Auseinandersetzung aufgegeben. Die drei Schwestern waren durch und durch frei von jedweder Furcht.

Bethany unterdrückte ein Gähnen. „Ich muss jetzt endlich schlafen. Und morgen schaue ich mir dann die Undaunted genauer an.“

„Werdet ihr die für Holland bestimmte Fracht ausliefern können?“, wollte Darcy wissen.

Geoffrey setzte seinen Krug mit Ale ab. „Leider nein. Ein anderes Schiff wird die Ladung befördern müssen. Morgen werde ich dem Earl of Alsmeeth einen Besuch abstatten und ihn fragen, ob wir ein paar Bäume schlagen dürfen. Schließlich gehören ihm sämtliche Wälder in Cornwall, und wir brauchen Holz, um die Undaunted instand setzen zu können.“

„Edwina Cannon hat mir ein bisschen über den Gentleman erzählt“, verriet Bethany, doch ihr Großvater winkte ab.

„Bitte, erspare mir Edwinas Bemerkungen, mein Mädchen. Ich werde Newt nach Alsmeeth schicken, um meinen Besuch anzumelden, und dann werde ich mir selbst ein Bild von dem Earl machen.“

Am nächsten Morgen saß die Familie noch beim Frühstück, als Newton bereits von seiner Visite bei dem Earl zurückkehrte.

„Nun, wie ist es dir ergangen?“, erkundigte sich Geoffrey Lambert.

„Es war recht seltsam“, begann Newt. „Zunächst einmal lehnte er es ab, mich überhaupt zu empfangen. Und dann ließ er mir durch seinen Diener ausrichten, er habe keinerlei Interesse daran, Holz zu verkaufen, egal, zu welchem Preis. Und zum Schluss sagte man mir, der gnädige Herr lehne es grundsätzlich ab, Besuch zu empfangen. Tut mir leid.“

Darcy führte den aufgebrachten Newton zu einem Platz an der Frühstückstafel und goss ihm Tee in eine Tasse.

„Dann scheint ja Edwinas Einschätzung von Seiner Lordschaft doch richtig gewesen zu sein“, merkte Mistress Coffey an.

„Wieso? Was hat die dumme Gans denn gesagt?“, wollte Darcy wissen.

„Dass er nach Cornwall gekommen sei, um sich zu verstecken. Man erzählt sich, er habe einige Zeit im Fleet-Gefängnis gesessen wegen des Mordes an seinem Vater. Doch später sei er freigekommen, weil man ihn der Tat nicht habe überführen können. Außerdem hat sich seine Braut kurz vor der Hochzeitsnacht das Leben genommen.“

„Das ist ja entsetzlich!“ Darcy schob ihren Teller zur Seite. „Was bringt eine junge Frau bloß dazu, so etwas zu tun?“

„Vielleicht liebte sie einen anderen“, äußerte Miss Mellon verträumt. Diese Vorstellung entsprach ganz und gar ihrer romantischen Natur. Fast ihr Leben lang war sie dem Großvater der Lambert-Schwestern herzlich zugetan. Seit einiger Zeit trug sie statt ihrer gewöhnlichen langweiligen Kleider Gewänder in hellen Rosa- und Lavendeltönen, die zudem Schnitte nach der neuesten Mode aufwiesen. Das weckte bei den Mädchen den Verdacht, dass sich die beiden älteren Herrschaften auf ihre alten Tage doch noch näher gekommen waren. „Vielleicht war sie gegen ihren Willen zu dieser Verbindung gezwungen worden“, setzte Winifred Mellon noch hinzu.

„Das passiert doch ständig und überall“, murmelte Mistress Coffey vor sich hin. „Deshalb bringen sich Frauen aber doch nicht gleich um.“

Eine Weile herrschte Schweigen. Doch dann kam Bethany wieder auf das nahe liegende Thema zurück. „Wir müssen eben jemanden außerhalb von Land’s End finden, der uns das Holz für die Instandsetzung des Schiffs verkauft.“

Ihr Großvater nickte. „Newt und ich werden unten im Ort einige Erkundigungen einziehen.“ Er erhob sich vom Tisch. „Es ist wirklich schade, dass diese bislang so friedliche Gegend plötzlich gleich von zwei missmutigen Gentlemen heimgesucht wird. Einer ist ein Earl, der andere ein Lord.“ Auf die fragenden Blicke ringsum ergänzte er: „Ein Lord der Nacht.“

Alle lachten erleichtert auf, froh darüber, dass die allgemeine Spannung wenigstens für den Moment aufgehoben wurde.

Autor

Ruth Langan
Ruth Langan (auch als Ruth Ryan Langan bekannt) war eine ausgezeichnete Schülerin an der High School, die auf Grund ihrer Leistungen ein volles College – Stipendium bekam. Sie wollte am College ihren Englisch – Abschluss machen. Ihre Pläne veränderten sich auf Grund finanzieller Probleme und sie ging ins Arbeitsleben. Sie...
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