Die italienische Insel der Sehnsucht

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Ein Einbrecher? Alarmiert fährt der smarte Unternehmer Ric Moretti zu der Villa, die er von seinem Onkel geerbt hat. Aber der vermeintliche Einbrecher ist eine bezaubernde junge Frau - auf einer schwierigen Mission! Denn Gia Bartolinis Welt ist zerbrochen: Sie hat erfahren, dass sie keine echte Bartolini ist. Die Suche nach ihrem leiblichen Vater hat sie auf die italienische Mittelmeerinsel geführt. Direkt zu Ric! Stürmisch verlieben sie sich ineinander. Doch ihre Liebe gerät in Gefahr, als klar wird, was Rics Familie mit Gias zerstörtem Traum zu tun hat …


  • Erscheinungstag 09.02.2021
  • Bandnummer 032021
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718541
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Das war der Augenblick. Der Augenblick, auf den Gia Bartolini und ihre Geschwister Enzo und Bianca gewartet hatten.

Doch gleichzeitig fürchtete sie sich davor. An diesem sonnigen Junitag stand ihr Leben kurz vor einer großen Veränderung. Und das Schlimmste war, es konnte jeden von ihnen treffen. Einer von ihnen würde die schreckliche Nachricht bekommen, kein Bartolini zu sein.

Seit ihre Eltern vor einigen Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, stand das Leben der Geschwister auf dem Kopf. Gias ältere Schwester Bianca hatte das Tagebuch ihrer Mutter gefunden und ein altes Geheimnis entdeckt. Ein großes Geheimnis. Ein riesiges Geheimnis.

Vor Jahren hatte ihre Mutter eine Affäre gehabt – mit Folgen: Eins der Geschwisterkinder war kein echter Bartolini. Als wäre das nicht genug, hatten die Eltern im Testament festgelegt, dass nur einer von ihnen das Familienanwesen erben würde.

Die beiden anderen bekamen ein gleichwertiges Erbe in Form von Vermögen und Wertanlagen. Dabei hatten sich alle drei gewünscht, das Zuhause ihrer Kindheit zu behalten. Bis jetzt. Denn Bianca hatte vor Kurzem im wahrsten Sinne des Wortes ihren Traumprinzen gefunden. Und stand kurz davor, Prinzessin zu werden.

Es blieben also nur Enzo und Gia übrig. Einer von ihnen würde die Villa und das Weingut erben. Was für eine komplizierte Situation.

Nervös rieb Gia ihre Hände und schaute sich um. Früher war der Raum das Büro ihres Vaters gewesen. Auch wenn sie die Villa in ein Boutique-Hotel verwandelt hatte, sah dieses Zimmer noch genauso aus, wie zu Zeiten ihres Vaters – warm und gemütlich.

An diesem Ort hatte sie unzählige Stunden ihrer Kindheit verbracht. Unzählige Male hatte ihr Vater ihr an seinem Schreibtisch bei den Hausaufgaben geholfen. Inzwischen benutzte sie den Raum als Büro für das Hotel.

Seit einigen Wochen beschäftigte sie sogar zwei Angestellte. Ihr Manager Michael war mit seiner jungen Familie aus Florenz hergezogen, und ihre Betriebsassistentin Rosa, eine ältere Dame aus dem Ort, besaß fast magische Fähigkeiten für Ordnung und Organisation. Gemeinsam sorgten sie jeden Tag für einen reibungslosen Ablauf in der Villa Bartolini.

Als Bianca den Heiratsantrag vom Prinzen von Patazonien angenommen hatte, wussten die Geschwister, dass sich ihr Leben noch einmal ändern würde. Bianca musste ihr Geschäft als Hochzeitsplanerin aufgeben und sich um ihre neuen Pflichten und Verantwortungen als Prinzessin und bald als Königin kümmern.

Damit sie ihr Unternehmen aber nicht komplett schließen musste, hatte sie die Verantwortung ihrer Assistentin Sylvie übertragen. Jetzt pendelte sie regelmäßig zwischen dem Palast und dem Weingut hin und her, um nach dem Rechten zu schauen.

Dann gab es noch Enzo. Er hatte in den letzten Jahren in Frankreich die besten Trauben der Welt in köstlichen Wein verwandelt. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte er seine Karriere in Frankreich aufgegeben und war zurückgekehrt, um das Weingut zu übernehmen. Würde er die Entscheidung bereuen, falls er kein Bartolini war?

Gias Blick glitt durch den Raum. Als hätten sie es abgesprochen, setzten sich die drei Geschwister jeder an eine andere Seite des Raums. Der Tod ihrer Eltern und das Testament hatten einen Keil zwischen sie getrieben. Gia wusste nicht, ob sie sich jemals wieder nah sein würden.

Trotz des warmen Sommermorgens lag eine seltsame Kälte im Raum. Noch nie hatte sie so große Sorge, so viel Angst vor etwas gehabt. Ja, sie fürchtete sich vor dem Ergebnis des DNA-Tests.

Würde ihre kleine Familie diesen Tag überstehen? Sie wusste es nicht.

Im Kopf wälzte sie alle Varianten hin und her. Keine gefiel ihr. Jede Einzelne bedeutete Verlust und Schmerz. Daran waren ganz allein ihre Eltern schuld. Was für Eltern verheimlichten jahrelang so ein großes Geheimnis vor ihren Kindern?

Was, wenn sie selbst keine echte Bartolini war? Schnell schob sie den Gedanken zur Seite. Sogar Bianca gab zu, dass Gia das Lieblingskind ihres Vaters gewesen war. Ihr Vater hatte viel mehr Zeit mit ihr verbracht als mit den anderen Kindern, hatte ihr das Reiten beigebracht und wie man Weintrauben genau zum richtigen Zeitpunkt erntete.

Wie oft er sie auf den Schultern über das Weingut getragen hatte. Egal, wie viel Arbeit anstand, für Gia hatte er sich Zeit genommen.

Aber das machte diesen Moment auch nicht leichter. Heute würde sich ihr Leben ändern. Und Gia mochte keine Veränderungen. Am liebsten wusste sie genau, was auf sie zukam. Aber heute konnte sie nicht einmal die nächsten drei Minuten vorhersagen.

Würde es Bianca treffen? Oder Enzo?

Ihr Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen. Wie furchtbar musste es sich anfühlen, vor dieser Ungewissheit zu stehen. Aber sie würde die beiden immer unterstützen, mit aller Kraft. Schließlich liebte sie ihre Geschwister von ganzem Herzen.

Aber wer war der Vater des Kindes aus der Affäre? Weshalb hatten ihre Eltern dieses dunkle Geheimnis jahrelang verschwiegen?

Gia verschränkte ihre zitternden Finger. Am liebsten würde sie aufspringen und dem Anwalt die Unterlagen aus der Hand nehmen und verbrennen. Damit alles wieder wurde wie früher.

Wie damals, als kein Junge ein Date mit ihr haben durfte, ohne dass Enzo ihn warnte, seiner kleinen Schwester ja nicht wehzutun. Damals, als Bianca und sie noch stundenlang am Telefon über alles und nichts redeten.

„Schön, dass Sie alle gekommen sind“, begann der Familienanwalt Mr. Lando Caruso. Der ältere Herr saß hinter dem Schreibtisch wie früher ihr Vater. „Ich weiß, wie schwer es Ihnen gefallen ist, so lange auf die Ergebnisse zu warten. Deshalb verzichte ich auf lange Vorträge und möchte nur anmerken, dass die DNA-Ergebnisse in keiner Weise Einfluss auf den letzten Willen Ihrer Eltern haben.“

Ein Schauer lief über Gias Rücken. Der Moment war gekommen. Das hier war ihr letzter Augenblick als echte Bartolini-Geschwister. Quälend langsam öffnete der Anwalt den weißen Umschlag.

Es kam ihr vor, als bewegte sich die Welt in Zeitlupe. Sie konnte nicht einmal sagen, welches Ergebnis sie sich wünschte. Weder Bianca noch Enzo sollten sich fühlen, als wären sie keine echten Bartolini.

Gebannt schaute sie zu, wie der Anwalt seine Brille zurechtrückte und das Papier auseinanderfaltete.

Er schwieg für einige Sekunden. „Ich erspare Ihnen die wissenschaftlichen Ausführungen, das interessiert Sie im Moment bestimmt nicht. Ah, hier steht es. Das Labor bestätigt, dass zwei von Ihnen in der Tat die leiblichen Kinder von …“

„Wer von uns ist es?“, unterbrach Bianca ihn.

Gia blieb still. Schließlich ging es hier nicht um sie. Nicht wirklich. Sie war nur eine Zuschauerin.

Der Anwalt nahm seine Brille ab und legte sie zusammen mit dem Papier zur Seite. Nacheinander schaute er ihnen ihn die Augen. In seinem Blick sah Gia Betroffenheit und Mitgefühl.

„Es tut mir leid, Ihnen mitzuteilen“, er räusperte sich, „Aldo Bartolini ist nicht der leibliche Vater von … Gia.“

Sie schnappte nach Luft. Das konnte nicht stimmen. Irgendjemand hatte einen Fehler gemacht. Nein. Nein. Nein. Das war nur ein böser Traum.

Und doch war es Realität.

Sie sprang auf, der Stuhl fiel hinter ihr zu Boden.

Ich bin die Außenseiterin.

Die ganze Welt schien stillzustehen.

Ich bin keine Bartolini. Die Worte flogen in ihrem Kopf umher, bis ihr schwindelig wurde. Ihr Magen zog sich zusammen, und sie brachte kein Wort heraus.

Konnte das vielleicht ein Alptraum sein? Alle Augen waren auf sie gerichtet, und sie konnte das Mitgefühl in ihnen sehen.

Also stimmte es. Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Schluchzen. Ich bin die Außenseiterin. Der Gedanke stach wie ein Messer in ihr Herz. Vor ihren Augen schien das Zimmer zu verschwimmen. Wie konnte das passieren? Warum gerade sie?

Natürlich wünschte sie es genauso wenig ihrem Bruder oder ihrer Schwester. Warum musste es überhaupt einen von ihnen treffen?

Im nächsten Moment standen Enzo und Bianca neben ihr, und Bianca nahm sie in die Arme. Wie durch einen Nebel hörte Gia Enzos dunkle Stimme. Doch sie verstand nicht, was er sagte.

Ich bin keine Bartolini.

Die Welt um sie herum schien zu schrumpfen bis nur noch diese Worte übrig blieben.

Ich bin keine Bartolini.

Sie war keine Bartolini. Nicht wirklich. Weniger als ihr Bruder und ihre Schwester.

Jedes Mal, wenn sie daran dachte, schoss Schmerz durch ihre Brust wie ein Messerstich. Sie fühlte sich betrogen. Wie konnten ihre Eltern all die Jahre ihre Herkunft vor ihr verheimlichen?

Und wenn sie keine Bartolini war, wer war sie dann? Vielleicht war ihr leiblicher Vater sogar ein Verbrecher? Alles war möglich. Der Gedanke verstärkte ihren Schmerz nur noch.

Obwohl ihre Geschwister für sie da waren, fühlte Gia sich allein. Die beiden begriffen nicht, welcher dunkle Abgrund sich vor ihr aufgetan hatte. Ein schwarzes Loch aus Ungewissheit über ihre Identität, über die Vergangenheit und die Zukunft.

Die zwei Menschen, denen sie am meisten auf der Welt vertraut hatte, hatten sie ihr ganzes Leben lang belogen – ihre Eltern.

Seit sie das DNA-Ergebnis erfahren hatte, schlief Gia jede Nacht nur wenige Stunden und rührte kaum etwas zu essen an. Mit jedem Tag schienen die Mauern der Villa enger um sie zusammenzurücken. Als gehörte sie nicht hierher.

Wenigstens kümmerten sich ihre Angestellten um den reibungslosen Ablauf des Boutique-Hotels. Sie brauchte ihre ganze Willensstärke, um sich überhaupt auf den Beinen zu halten.

Es kam ihr vor, als wäre sie eine Hochstaplerin. Ein Eindringling in diesem Haus. Plötzlich war sie nicht mehr Gia Bartolini. Aber wer war sie dann?

Hilflose Wut erfasste sie. Wie unfair, dass ihre Eltern sie ihr Leben lang belogen hatten und jetzt nicht einmal hier waren, um ihr alles zu erklären!

Bianca war einige Tage länger geblieben, um ihr Gesellschaft zu leisten, aber gestern musste sie zurück nach Patazonien fliegen. Prinz Leo wartete auf sie, um die Verlobung formell zu vollziehen und das Datum der Hochzeit zu verkünden.

Natürlich verstand Gia, dass Biancas Besuche durch die Pflichten in Patazonien seltener wurden, doch es machte sie auch traurig.

Ihr ganzes Leben war aus dem Gleichgewicht geraten, und sie versuchte, sich an irgendetwas festzuhalten. Doch es gab nichts. Sie hatte nicht die geringste Idee, wer ihr leiblicher Vater sein mochte oder wie sie Kontakt zu ihm aufnehmen konnte.

Frustriert stöhnte sie auf. Heute war schon der dritte Tag, an dem sie nichts als ihren Schmerz fühlte. Langsam wurde es Zeit, die Dinge in die Hand zu nehmen. Irgendetwas Gutes musste doch aus dieser Katastrophe kommen. Vielleicht war es ein Weg, den sie im Leben gehen musste.

Genau! Vielleicht war es ihr Schicksal, ihren leiblichen Vater zu finden! Vielleicht war es ein Abenteuer für sie und für ihn. Bestimmt hatte er keine Ahnung, dass es sie gab. Sonst hätte er dafür gekämpft, Teil ihres Lebens zu sein.

Sie musste ihn finden. Jetzt. Es war schon zu viel Zeit vergangen.

Zum ersten Mal seit zwei Tagen lief sie ins Bad, um zu duschen. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass dieses Geheimnis ihr ganzes Leben ruinierte. Sie würde die Antworten finden, die sie brauchte!

Nachdem sie sich angezogen hatte, fuhr sie noch einmal mit den Fingern durch ihr kurzes Haar. Dann ging sie von dem kleinen Gästehaus hinüber zum Haupthaus und vermied erfolgreich, auf dem Weg jemanden zu treffen.

Über die Hintertreppe lief sie in den zweiten Stock in das ehemalige Schlafzimmer ihrer Eltern. Es war der einzige Raum, den sie noch nicht in ein Gästezimmer verwandelt hatte.

Natürlich hatte sie hier zusammen mit ihren Geschwistern schon längst nach Hinweisen gesucht, aber vielleicht hatten sie etwas übersehen. Auf keinen Fall gab sie auf, bevor sie etwas fand.

Systematisch durchsuchte sie noch einmal jede kleine Ecke, jedes Möbelstück, jede Schublade. Irgendwann verlor sie das Gefühl für die Zeit. Obwohl sie erst das halbe Zimmer durchsucht hatte, kam es ihr vor wie Stunden. Bisher ohne Erfolg.

Hinter ihr erklang ein Quietschen.

Innerlich stöhnte Gia auf. Sie hatte vergessen, hinter sich abzuschließen.

„Gia?“ Sie erkannte die Stimme ihres Bruders. „Was hast du denn hier angestellt?“ In seiner Stimme lagen Verwunderung, Ungläubigkeit und Missbilligung.

Mit welchem Recht verurteilte er sie? Immerhin hatte sich sein Leben nicht so verändert wie ihres. Im Gegensatz zu ihr wusste er genau, wer seine Mutter und sein Vater waren. Niemand hatte ihn über seine Geburt und Herkunft angelogen.

Aber was blieb ihr? Nur tausend unbeantwortete Fragen. Ein namenloser Vater. Nein, Enzo besaß kein Recht über sie zu urteilen.

Sie stand auf und drehte sich um. „Ich suche Antworten.“

„Aber so?“ Mit einer Handbewegung deutete er durch den Raum.

Na und? Dann hatte sie eben ein bisschen Unordnung angerichtet. Immerhin räumte sie hinterher selbst wieder auf.

Doch als ihr Blick seiner Hand folgte, schaute sie sich zum ersten Mal seit Stunden wieder richtig um. Sie hatte mehr als nur ein bisschen Unordnung gemacht.

Jede einzelne Schublade lag umgedreht auf dem Boden, weil sie darunter nach Hinweisen gesucht hatte. Jedes Möbelstück stand an einem anderen Ort im Zimmer. Trotzdem hatte sie noch nichts erreicht, außer, völliges Chaos anzurichten.

Aber davon ließ sie sich nicht aufhalten. Egal, ob sie jede einzelne Holzbodendiele hochnehmen und hinter jedes Bild an der Wand schauen musste. Dann war es eben so. Auf keinen Fall würde sie das Zimmer verlassen, ohne einen Hinweis auf ihre Herkunft zu finden.

„Wenn du gekommen bist, um mich zu stoppen, kannst du einfach wieder gehen.“

Enzo schwieg für einen Moment. „Ich bin nicht gekommen, um dich zu stoppen. Ich bin gekommen, um dir zu helfen.“

Ungläubig starrte sie ihn an. Dankbarkeit und Freude durchfluteten jede Zelle ihres Körpers. „Meinst du das ernst?“

Er nickte. „An deiner Stelle würde ich genau dasselbe tun. Sag mir einfach, wo ich anfangen soll.“

Sie drehte sich herum und überlegte einen Moment, dann zeigte sie auf den Schminktisch. Dort hatte sich ihre Mutter jeden Morgen die Nase gepudert und ihren Lidschatten aufgetragen.

„Versuch’s mal damit.“

Enzo nickte und machte sich an die Arbeit.

Gia fragte sich, ob sie für ihn noch genauso seine kleine Schwester war wie vor den Testergebnissen. Doch sie hatte nicht den Mut zu fragen. Manche Dinge sprach man besser nicht aus.

Eine Weile arbeiteten sie schweigend nebeneinander.

Plötzlich sprang Enzo auf. „Ich habe etwas gefunden!“ Er hielt ein schwarzes ledernes Notizbuch in die Höhe.

„Wo war das?“

„Ich habe ein Geheimfach hinter den Schubladen im Frisiertisch gefunden!“

Gia stürmte zu ihm und riss ihm das kleine Buch aus der Hand. Ungeduldig öffnete sie es an einer beliebigen Stelle. Sofort erkannte sie die Handschrift ihrer Mutter. Endlich würde sie die Wahrheit erfahren! Aber würde ihr auch gefallen, was sie erfuhr?

2. KAPITEL

In seinem Büro auf der kleinen italienischen Insel Lapri, drückte Riccardo Moretti die Eingabetaste auf seiner Tastatur.

Dann machte er die letzten Änderungen an dem Computerprogramm, das er in den letzten Monaten entwickelt hatte. Dieses Programm machte es möglich, Transportwege zu verkürzen, Schwächen in der Güterverteilung zu entdecken und konnte sogar Verbesserungsmöglichkeiten finden.

Er lächelte. Wenn alles nach Plan verlief, machte er damit nicht nur einen ordentlichen Gewinn, sondern konnte dabei helfen, Lebensmittel und Hilfsgüter auf schnellstem Wege an ihren Zielort zu bringen. Zum Beispiel für die Versorgung von Drittweltländern.

Dadurch wurden Versandkosten günstiger und konnten von den Transportgesellschaften gedeckt werden, statt durch Spenden von privaten Sponsoren.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch summte.

Er presste eine Taste. „Ja, Marta?“

„Sir, eine Dame fragt am Telefon nach Ihnen, es geht um das Haus Ihres Onkels“, teilte ihm seine Sekretärin mit.

„Meines Onkels?“ Nach Onkel Giuseppes Tod hatte er dessen Anwesen geerbt.

„Ja, Sir. Es klingt dringend.“

Alarmglocken schrillten in seinem Kopf. Ihm war bewusst, dass ein leer stehendes Haus immer auch ein Sicherheitsrisiko darstellte. Aber bisher konnte er sich einfach noch nicht davon trennen. Aus einem Grund, über den er nicht näher nachdenken wollte, spürte er eine Verbindung zu dem Ort.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Ihm fehlte die Zeit, sich um Probleme zu kümmern. In wenigen Stunden stand ein extrem wichtiges Geschäftsessen an – ein Meeting, das er seit Wochen vorbereitete. Aber er konnte diesen Anruf nicht einfach ignorieren. „Stellen Sie die Anruferin zu mir durch.“

Er würde kurz mit der Frau sprechen. Sicher handelte es sich nicht um etwas Wichtiges. Danach konnte er sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren.

„Ric, bist du das?“

Er lächelte, als er die Stimme erkannte. „Mrs. Abate?“ Die ältere Dame war die Nachbarin seines Onkels gewesen und hatte ihm als Kind oft selbst gebackene Kekse geschenkt.

„Ja, ich bin es. Bitte entschuldige, dass ich dich auf der Arbeit störe. Aber eine junge Frau schnüffelt auf dem Grundstück deines Onkels herum.“

„Versucht sie, ins Haus einzubrechen?“

„Ich denke nicht. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Sie ist in den Garten gelaufen, und ich sehe sie nicht mehr.“

„Ich komme sofort.“ Er legte auf und machte sich auf den Weg zu seinem Auto.

Zum Glück lag das Büro in der Nähe des Anwesens. Einen Moment lang überlegte er, die Polizei zu rufen. Dann zögerte er. Damit zog er nur die Aufmerksamkeit der Presse auf sich, und davon brauchte er nicht noch mehr. Am besten beurteilte er die Situation erst einmal selbst und entschied dann, ob er die Polizei brauchte.

Mit seinem mitternachtsblauen Sportwagen brauchte er nur wenige Minuten. Auf den ersten Blick wirkte alles verlassen.

Als er aus dem Auto stieg, stürmte Mrs. Abate aus ihrer Haustür und lief auf ihn zu. Er signalisierte ihr mit der Hand, sie sollte wieder zurück ins Haus gehen. Erst einmal musste er die Situation unter Kontrolle bekommen.

Vielleicht handelte es sich bei der fremden Person ganz einfach um eine Versicherungsvertreterin. Aber warum würde sie ums Haus herumlaufen? Ric bewegte sich langsam und vorsichtig, falls die Einbrecherin bewaffnet war.

Plötzlich bemerkte er im Garten eine junge Frau in einem blau-weißen Seidentop und weißer Caprihose. Eine passende Handtasche rundete das Bild ab.

Die Frau drehte ihm den Rücken zu und balancierte auf einem Bein. Als sein Blick an ihr herunterglitt, bemerkte er, dass sie nur einen Schuh trug. Der zweite steckte mit dem hohen Absatz zwischen zwei Pflastersteinen fest.

Falls sie eine Einbrecherin war, dann eine verdammt schlechte. Erstens fiel ihm ihre helle Sommerkleidung sofort ins Auge. Zweitens waren Stilettos wohl kaum dazu geeignet, um sich in fremde Häuser zu schleichen. Wer konnte darin schon laufen? Sie offensichtlich nicht.

Was auch immer sie hier vorhatte, diese Frau wirkte ziemlich harmlos.

Er ging einige Schritte auf sie zu. „Was machen Sie hier?“

Sie drehte sich um und starrte ihn aus großen Augen an. „Ich … äh … habe hier hinten etwas gehört.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Was denn?“

Solche Situationen hatte er schon oft genug erlebt. Wunderschöne Frauen überlegten sich unsinnige Ausreden, um Zugang zu seinem Haus oder seinem Büro zu bekommen. Vor einiger Zeit hatte sogar eine von ihnen versucht, seine Sekretärin davon zu überzeugen, sie sei seine Schwester. Allerdings hatte er gar keine Schwester.

Seit vor einer Woche der Film in allen Kinos lief, verschlimmerte sich das Ganze nur. Auch wenn sein Schauspieldebüt nur durch eine verlorene Wette an den Hauptdarsteller, einen Schulfreund von ihm, zustande gekommen war, schrieben sämtliche Zeitschriften über seinen kurzen Auftritt.

Wenn das so weiterging, musste er Sicherheitspersonal einstellen. Die Idee gefiel ihm gar nicht. Die Freiheit, kommen und gehen zu können wie es ihm passte, war ihm wichtig.

Wenn seine Privatsphäre bedroht wurde, machte ihn das unglaublich wütend. Falls diese Frau dachte, er würde auf eine weitere ausgedachte Geschichte hereinfallen, würde sie ihr blaues Wunder erleben.

Gerade als er den Mund öffnete, ertönte ein jammervolles Heulen.

„Bitte helfen Sie ihm.“ Die junge Frau schaute ihn bittend aus ihren blauen Augen an.

Ein Stich der Reue durchfuhr ihn. Offensichtlich hatte er die Situation falsch eingeschätzt. Wahrscheinlich hatte sich ihr Hund von der Leine losgerissen, und sie war ihm in den Garten gefolgt, der sich in den letzten Jahren in einen Dschungel verwandelt hatte.

Durch seine Krankheit hatte Onkel Giuseppe sich irgendwann nicht mehr um den Garten kümmern können. Ric hatte angeboten, einen Gärtner einzustellen, aber sein Onkel wollte kein Wort davon hören. Bis zuletzt hatte er nie die Hoffnung verloren, den Kampf gegen den Krebs zu gewinnen und wieder selbst im Garten für Ordnung zu sorgen. Aber der Tag war nie gekommen.

Die junge Frau bückte sich und zog verzweifelt an ihrem zweiten Schuh.

Er trat vor, um ihr zu helfen.

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das schaffe ich schon. Helfen Sie lieber dem Hund.“

Überrascht sah er sie an. Diese Frau sorgte sich offensichtlich mehr um ihr Haustier, als um sich selbst. So etwas kannte er nicht von Frauen. Er schaute sich um, aber sah nirgendwo einen Hund. Zumindest konnte das Tier nicht besonders groß sein, sonst würde er es längst sehen.

Wahrscheinlich war es weiter in den Garten hineingelaufen, aber zuerst wollte Ric der Frau helfen. Es würde nur einen kurzen Moment dauern. Mit einer geschmeidigen Bewegung bückte er sich und zog an dem Schuh. Zu seiner Überraschung steckte der Absatz gründlich fest.

Mit einer Hand hob er einen Pflasterstein an, während er mit der anderen an dem Schuh rüttelte. Nach einigen Sekunden hatte er den Schuh befreit und hielt ihn der Frau entgegen. Er rechnete damit, dass sie sich über den ruinierten Absatz beschweren würde. Stattdessen schlüpfte sie ohne ein Wort hinein.

Trotzdem fühlte er den Drang, etwas zu sagen. „Tut mir leid für den Schuh.“

„Schon okay. So läuft mein Leben in letzter Zeit einfach.“ Als sie den Fuß auf den Boden stellte, verzog sie schmerzerfüllt das Gesicht.

„Was ist passiert?“, fragte er.

„Ich habe meinen Knöchel verdreht, als ich mit dem Absatz stecken geblieben bin. Aber das ist halb so schlimm. Helfen Sie lieber dem Hund.“

„Sind Sie sicher?“

„Ja.“

Leider waren seine grauen Slipper auch nicht das richtige Schuhwerk, um damit durch diesen Dschungel zu laufen. Dornige Ranken zerrten an seinem Hemd, als er sich einen Weg durch das Dickicht schlug. Da hörte er wieder das helle Winseln.

„Sehen Sie ihn schon?“, rief die junge Frau.

Ohne sich umzudrehen, hob er eine Hand um sie zum Schweigen zu bringen.

Ein leises Scharren kam aus der hinteren Ecke im Garten, doch Unkraut und Hecken verdeckten seine Sicht.

Entschlossen bahnte er sich einen Weg durch die Ranken. Wieder hörte er das Winseln. Ganz egal, ob er dabei seine gesamte Kleidung ruinierte, er würde den Kleinen finden.

Endlich entdeckte er das Hündchen. Das kleine Tier hatte sich hoffnungslos in rostigem altem Draht verfangen. Als Ric näher kam, schaute es ihn aus ängstlichen braunen Augen an und versuchte noch verzweifelter, sich zu befreien.

„Alles wird gut.“ Ric bemühte sich um einen sanften beruhigenden Ton.

Jedes Mal, wenn der kleine Hund sich bewegte, schnitt der Draht tiefer in sein Fell.

Ric beugte sich zu ihm hinunter. „Ich helfe dir.“

Für einen Moment hielt das Hündchen ganz still und schaute ihn an. Aufmerksam verfolgte es mit den Augen jede Bewegung von Ric, ohne sich zu rühren. Entweder lag es an der Erleichterung, weil endlich Hilfe gekommen war, oder der Kleine war einfach zu erschöpft, um sich zu wehren.

Nach einigen Minuten hatte Ric ihn befreit. Innerlich machte er sich eine Notiz, einen Gärtner zu bestellen.

Besorgt bemerkte er das Blut auf dem rotbraunen Fell des Hündchens. Ohne einen Gedanken an sein Hemd zu verschwenden, nahm er den Hund auf den Arm und hielt ihn sicher an seiner Brust.

„Alles ist gut“, murmelte er. „Jetzt bist du in Sicherheit.“

Mit großen Schritten lief er zurück zu der jungen Frau. Als er vor ihr stand, hielt er ihr mit ausgestreckten Armen ihren Hund entgegen. „Hier haben Sie ihn zurück.“

Sie musterte das Hündchen besorgt, machte aber keine Anstalten, ihn entgegenzunehmen. Seltsam.

„Er gehört mir nicht.“ Ihre Augen weiteten sich besorgt. „Er hat sich verletzt.“

„Ich weiß. Er hatte sich in altem Draht verfangen.“ Das Hündchen zappelte auf seinem Arm und schmierte Dreck und Blut über sein Hemd. „Könnten Sie ihn nehmen?“

„Natürlich.“

Behutsam reichte er ihr das verletzte Hündchen. Dann streifte er sein ruiniertes Hemd über den Kopf. An jedem anderen Tag hätte ihn der überraschte Gesichtsausdruck der jungen Frau zum Lachen gebracht. Aber nicht unter diesen Umständen.

„Für den Hund“, erklärte er. „Um die Blutung zu stoppen. Im Auto habe ich noch ein frisches Shirt.“

Nachdem Ric den Stoff um die Wunde gewickelt hatte, entspannte sich das Hündchen sichtlich in den Armen der Frau.

„Gehört der Hund Ihren Nachbarn?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht. Das Haus gehört …“ Fast hätte er gesagt, es gehörte nicht ihm. Aber das stimmte nicht mehr. Inzwischen besaß er das große, leer stehende Haus. Und er hatte nicht die geringste Idee, was er damit anfangen sollte.

Für ihn alleine war es viel zu groß, aber er brachte es nicht über sich, es zu verkaufen. An diesem Ort hatte er so viele Stunden seiner Kindheit mit seiner Tante und seinem Onkel verbracht. Es war das einzige richtige Zuhause, das er je gekannt hatte.

In den wenigen Jahren, die er bei seiner Mutter gelebt hatte, waren sie von einem Haus ins nächste gezogen. Er biss die Zähne zusammen und schob die unangenehmen Erinnerungen beiseite.

Autor

Jennifer Faye
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