Die kleine Tierarztpraxis im Paradies (4-teilige Serie)

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

IM BANN EINES BETRÜGERS?
Jillian verfällt sofort dem Charme des attraktiven Nic Caruso, als der mit seinem Hund in ihrer Tierklinik auf Paradise Island auftaucht. Doch kaum hofft sie nach einem märchenhaften Date mit Nic auf mehr, muss sie annehmen, auf einen Betrüger hereingefallen zu sein ...

EMMAS KLEINER PLAN VOM GLÜCK
"Lieber Daddy ...". Die Valentinskarte ihrer kleinen Tochter Emma bricht Cassie fast das Herz. Denn einen Daddy gibt es nicht, und wenn es nach ihr geht, wird es ihn auch nicht geben. Aber Emma hat einen Plan - und der neue Sheriff Alex Santiago auch ...

WENN DICH DIE LIEBE ENDLICH FINDET
Wenn Mollie einen ausgesetzten Hund findet, nimmt sie ihn mit. Solch traurigen Blicken kann sie nicht widerstehen - und entdeckt sie überraschend auch bei dem Künstler Noah James! Mollie sucht bestimmt nicht nach Liebe. Aber wenn die Liebe sie findet ..?

AUF KLEINEN PFOTEN INS WINTERMÄRCHEN
June ist empört! Wie kann man so süße Hundebabys einfach aussetzen? Natürlich wird sie die Welpen retten. Sie weiß, in der Tierklinik findet sie Hilfe. Aber als ein Schneesturm sie zwingt, dort zu übernachten, bringt das umwerfende Lächeln von Dr. Ethan Singh plötzlich sie in Gefahr ...


  • Erscheinungstag 23.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733739997
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Katie Meyer, Amy Woods

Die kleine Tierarztpraxis im Paradies (4-teilige Serie)

IMPRESSUM

Im Bann eines Betrügers? erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2015 by Katie Meyer
Originaltitel: „The Puppy Proposal“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA
Band 60 - 2018 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Anna-Pia Kerber

Umschlagsmotive: "Gartmanart / Shutterstock"

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733746858

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

 

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

1. KAPITEL

Beinahe hätte er den Hund übersehen. Geblendet vom Licht der untergehenden Sonne und mit der monotonen Ansage seines Navigationsgerätes im Ohr hatte er für einen Augenblick nicht auf den Straßenrand geachtet.

Doch jetzt sah er ihn. Wenn man das traurige, nasse und dreckige Bündel, das sich dort entlangschleppte, überhaupt noch als Hund bezeichnen konnte. Das arme Tier steckte offensichtlich ganz schön in Schwierigkeiten. Zum Glück herrschte auf diesem Abschnitt des Highways nicht allzu viel Verkehr, doch laut der blechernen Stimme war es jetzt nicht mehr weit bis zur Paradise Isle Bridge. Mit dem Auto bedeutete das nur wenige weitere Minuten zur Insel, doch zu Fuß – oder vielmehr zu Pfoten – würde sich der Weg über diese lange Brücke bestimmt endlos dahinziehen. Außerdem schien der Hund ein Bein nachzuziehen.

Ob hinkend oder nicht, es war nicht sein Hund. Also auch nicht sein Problem. Obendrein steckte er gerade in einem teuren Anzug und in einem teuren Leihwagen. Wenn er Glück hatte, standen ihm nun einige ruhige Tage bevor. Zwar kein offizieller Urlaub, aber wenn er arbeitsbedingt an so einen verheißungsvollen und idyllischen Ort wie Paradise Island reisen musste, wollte er zumindest das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

Ein herrenloser Hund würde diesen müßigen Plan allerdings nur durcheinanderbringen.

In der Hoffnung, dass irgendein Einheimischer das Tier erkennen und dem rechtmäßigen Besitzer zurückbringen würde, fuhr er langsam an dem Hund vorbei.

Nicht, dass er in der vergangenen Stunde auch nur ein Anzeichen menschlichen Lebens bemerkt hätte. Mal abgesehen von dem kuriosen Straßenstand, dessen Aushangschild die zweifelhafte Auswahl zwischen Alligator-Trockenfleisch und gekochten Erdnüssen verkündet hatte.

Nic Caruso schloss die Hände fest um das Lenkrad und richtete den Blick wieder geradeaus. Dies hielt er genau drei Sekunden durch, bevor er im Rückspiegel erneut nach dem Hund suchte. Ein Wagen näherte sich jetzt von hinten. Dieser fuhr an dem Tier vorbei, ohne langsamer zu werden, und eine Fontäne aus Schlamm und Schmutz ergoss sich über den Hund.

„Verdammt!“

Nic brachte den SUV daraufhin auf dem Seitenstreifen zum Stehen und überflog das ungewohnte Armaturenbrett. Innerhalb kürzester Zeit hatte er den Knopf für die Warnblinkanlage gefunden. Daraufhin löste er die Krawatte und legte sie behutsam auf das Jackett, das er bereits sorgfältig über dem Beifahrersitz drapiert hatte.

Während er um den Wagen herumging, rief er: „Hierher, Junge! Komm!“ Er legte dabei sämtliche Autorität, die er besaß, in seine Stimme. Doch das, was in den Sitzungssälen rund um den gesamten Globus Eindruck machte, schien auf den Hund überhaupt keinen Effekt zu haben. Stoisch trottete dieser weiter den Straßenrand entlang.

Nic seufzte, öffnete die Beifahrertür und griff nach seiner Krawatte. Mit wenigen Handgriffen hatte er sie neu geknotet und so eine improvisierte Leine geschaffen.

Na, großartig, dachte er, Hermès würde das ganz sicher nicht gefallen.

„Sachte, Junge. Keine Angst.“ Vorsichtig näherte er sich dem Hund, um das Tier nicht noch weiter auf den Highway zu scheuchen. Der Hund hielt daraufhin inne und spitzte die Ohren. Offensichtlich hatte man bei ihm mehr Erfolg, wenn man sanftere Töne anschlug.

Nic ging nun in die Knie, um dem ängstlichen Vierbeiner auf Augenhöhe begegnen zu können. Zentimeter um Zentimeter näherte er sich jetzt dem Hund und redete dabei beruhigend auf ihn ein.

Anschließend streckte er die Arme aus und wand dem Hund mit einer geschmeidigen Geste die Krawatte um den Hals. „Hab ich dich!“

Entgegen seiner Befürchtung wehrte sich das Tier aber gar nicht, sondern begann stattdessen fröhlich mit dem Schwanz zu wedeln. Es versuchte sogar, Nic über das Gesicht zu lecken. „Schon gut.“ Nic musterte den Hund genauer. Allem Anschein nach handelte es sich um einen Border Collie. Er hatte treue braune Augen und mochte so um die fünfundzwanzig Kilo auf die Waage bringen, aber nach der Größe seiner Pfoten zu schließen befand er sich noch im Wachstum.

„Was machen wir denn jetzt mit dir? Irgendwelche Vorschläge?“ Zur Antwort leckte der Hund hingebungsvoll Nics Handrücken.

Nic erhob sich wieder. Hinter ihm lag eine geschäftige Woche im Herzen Orlandos, ein Verkehrsstau-Albtraum auf dem Highway 1-4, endlose Meilen jenseits aller menschlichen Zivilisation und jetzt – ein schlammverkrusteter, herrenloser Hund.

Wann genau hatte er eigentlich die Kontrolle über sein Leben verloren?

Ihm blieb offenbar nichts anderes übrig, als den Hund mit auf die Insel zu nehmen und zu hoffen, dass er dort ein Heim oder eine Tierklinik fand.

Er wandte sich daraufhin in Richtung Wagen, doch ein klägliches Winseln ließ ihn zögern. Der Hund sah ihn mit großen Augen an. „Na schön.“ Er nahm das Tier kurzerhand auf die Arme und versuchte dabei zu ignorieren, wie sein Hemd vom Schlamm durchweicht wurde.

Ohne den geringsten Widerstand ließ sich der Hund tragen und sprang anschließend vertrauensvoll auf den Rücksitz des Leihautos.

Nic umrundete den Wagen, ließ den Motor an und befand sich nun wieder auf dem Highway. Sobald er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte, ließ er die vorderen Fenster herunter. Der intensive Geruch nach nassem Hund würde dem Autoverleiher ganz bestimmt nicht gefallen.

Allerdings entpuppte sich das als ein großer Fehler, denn gleich darauf wand sich der Hund nach vorn und kroch auf den Beifahrersitz. Ganz begeistert reckte er den Kopf aus dem offenen Fenster und ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen.

Nic grinste … bis sein Blick auf die Anzugjacke fiel, die nun von den schlammigen Pfotenabdrücken ganz ruiniert war.

Er belegte daraufhin den Hund, die Straße und den Schlamm im Allgemeinen mit einer Vielzahl farbenfroher Flüche, bis er schließlich den Scheitelpunkt der Brücke erreichte.

Die Aussicht verschlug ihm buchstäblich den Atem.

Jenseits der Brücke erstreckte sich die Küste schier endlos, und die Abendsonne malte glitzernde Spitzen auf die Wellenkronen. Einige Fischerboote tanzten ruhig auf dem Wasser, und gegen das warme, orangefarbene Licht wirkten sie beinahe wie Scherenschnitte aus einer verzauberten Welt.

Am Horizont war der Himmel in einem leuchtenden Fuchsiapink entflammt. Die Insel hingegen strahlte mit ihrer üppigen, grünen Vegetation reine Fruchtbarkeit und Fülle aus.

Der Anblick war so überwältigend, dass er am liebsten mitten auf der Straße angehalten hätte. Es kam ihm so vor, als würde sämtliche Anspannung aus seinem Körper fließen. Zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit fühlte er sich beinahe … frei.

Nun, er würde frei sein … sobald er sich dieses Tiers entledigt hatte.

„Ich verstehe, Mrs. Ellington. Das ist aber wirklich ärgerlich.“ Die Tierarzthelferin Jillian Everett rieb sich mit der freien Hand die Schläfe, während sie mit der anderen den Hörer des altmodischen Schnurtelefons festhielt. „Aber vergessen Sie nicht: Tinker Bell ist schließlich erst neun Wochen alt. So schnell wird kein Hund stubenrein … Wie? Oh nein. Leider weiß ich auch nicht, wie man die Flecken aus der Lederhandtasche herausbekommt.“

Hinter Jillians Rücken brach Dr. Cassie Marshall in Gelächter aus.

„Richtig. Eine neue Handtasche wäre sicherlich das Beste. Bitte warten Sie aber trotzdem, bis Tinker Bell ein wenig älter ist, wenn Sie sie so lange mit sich herumtragen wollen. Dann kann sie sich, nun ja, auch besser kontrollieren. Bis dahin halten Sie sich einfach an die Futter- und Pflegetipps, die wir Ihnen geschickt haben, und wenn Sie weitere Fragen haben, wenden Sie sich bitte an Dr. Marshall.“

Jillian wandte sich um und grinste Cassie an. Diese hob in einer abwehrenden Geste die Hände und formte ein lautloses Oh nein mit den Lippen.

„Gut, Mrs. Ellington, wir sehen uns dann nächste Woche. Gute Nacht, und geben Sie der kleinen Tinker Bell ein Küsschen von uns.“ Mit diesen Worten legte sie den Hörer auf.

„Du liebe Zeit“, sagte Jillian seufzend. „Was glaubt diese Frau denn, wer wir sind? Ein Tierkrankenhaus – oder ein Ratgeber für Drama Queens?“ Sie schüttelte den Kopf.

„Trotzdem hast du wirklich viel Geduld bewiesen“, lobte ihre Chefin sie mit einem Grinsen. „Meine Hochachtung, und das noch dazu zu dieser späten Stunde.“

Jillian warf einen Blick auf die Uhr. Der Abend war bereits vorangeschritten, aber im Grunde spielte das für sie auch keine Rolle, schließlich gab es niemanden, der sie vermisste.

Ganz im Gegensatz zu Cassie, auf die zu Hause ihre vierjährige Tochter Emma wartete.

Jillian hatte keine Familie. Ihre Eltern waren schon vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und Jillian konnte sich kaum noch an sie erinnern. Das letzte Paar in einer langen Reihe von Pflegefamilien hatte auf Paradise Island gelebt, und nachdem die beiden irgendwann weggezogen waren, hatte Jillian das Jugendamt davon überzeugen können, hierbleiben zu dürfen.

Paradise Island kam dem, was sie sich unter Heimat vorstellte, noch am nächsten. Sie fühlte sich hier gut aufgehoben und akzeptiert und hatte sogar Freunde gefunden, auf die sie sich verlassen konnte.

Die Klinik war inzwischen ihr zweites Zuhause geworden. Nur an Abenden wie diesen, an denen sie nichts Besseres zu tun hatte, als Akten zu sortieren und überempfindliche Haustierbesitzer zu besänftigen, träumte sie davon, zu ihrer eigenen Familie heimgehen zu können.

„Du siehst, ich habe alles im Griff“, erwiderte Jillian betont unbeschwert. „Geh ruhig. Emma wird sich freuen.“

„Bis morgen.“ Auf dem Weg zur Tür griff Cassie nach ihrer Tasche und einem Aktenordner. Jillian wusste, dass Cassie noch einige Stunden arbeiten würde, nachdem sie Emma ins Bett gebracht hatte.

Als alleinerziehende Mutter hatte sie kaum eine freie Minute für sich. Die Tierklinik hatte sie von ihrem Vater übernommen, nachdem dieser vor einigen Jahren bei einem Unfall schwer verletzt worden war und nicht mehr arbeiten konnte.

Im Gegenzug behielten er und seine Frau tagsüber die kleine Emma bei sich, und die stolzen Großeltern waren mit dem Arrangement mehr als nur zufrieden. Die Familie hielt unerschütterlich zusammen – ein Umstand, um den Jillian sie bisweilen sehr beneidete.

In den folgenden fünfzehn Minuten vergrub sich Jillian in Büroarbeit. Es war nichts zu hören außer dem leisen Blubbern des Aquariums und dem Ächzen des altersschwachen Deckenventilators, der vergeblich gegen die drückende Florida-Hitze ankämpfte.

Nach einem langen, lauten Arbeitstag voller bellender Hunde, kreischender Vögel und plappernden Haustierbesitzern war Jillian die Stille sogar sehr willkommen.

Allerdings hielt die Stille nicht an, denn ein energisches Klopfen aus Richtung des Haupteingangs ließ sie hochschrecken.

Nur für eine Sekunde erwog Jillian die Option, sich einfach hinter ihren Aktenschränken zu verstecken und abzuwarten. Denn zu dieser Uhrzeit schauten doch nur noch Kunden vorbei, die eine Dose Leckerlis oder Einmal-Handschuhe besorgen oder einfach nur plaudern wollten, und danach stand ihr gerade überhaupt nicht der Sinn. Doch ihr Verantwortungsbewusstsein war letzten Endes doch stärker.

Seufzend erhob sie sich und fasste ihre unbändigen braunen Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen, dann zwang sie sich ein Lächeln in das Gesicht und näherte sich der Eingangstür. Durch die Milchglasscheibe konnte sie nur die Silhouette eines sehr großen, breitschultrigen Mannes erkennen. Er trug etwas auf den Armen, wobei es sich allem Anschein nach um einen zappelnden Hund handelte.

Jillians Helfersyndrom gewann schließlich die Oberhand und ließ sie die letzten Schritte zur Glastür rennen. Sie öffnete und fand sich einer Mauer aus Muskeln gegenüber.

Mit einem Mal beschleunigte sich ihr Herzschlag.

In dem Versuch, den fremden Mann vorerst zu ignorieren, konzentrierte sie sich ganz auf den tierischen Patienten. Ein Hund, der ihr augenblicklich bekannt vorkam.

„Oh nein! Ist das etwa Murphy? Was ist denn passiert? Ist er verletzt?“ Ihr Ton war unerwartet heftig und überraschte sie selbst, doch der Anblick ihres Lieblingspatienten in den Armen eines vollkommen Fremden hatte ihr einen tiefen Schrecken eingejagt.

Sie versuchte, den Hund genauer zu betrachten, doch der Fremde hielt ihn schützend an seine Brust gedrückt.

„Ich habe keine Ahnung, wer oder was Murphy ist, aber ich habe diesen Burschen hier auf dem Highway gefunden, kurz vor der Brücke.“ Er versuchte, das Gewicht des Hundes zu verlagern, und dabei konnte Jillian einen guten Blick auf die Frontseite seines Hemdes werfen. Es mochte einmal weiß gewesen sein, doch jetzt war es vom Kragen bis zum Saum mit schlammig-braunen Flecken übersät.

„Ich glaube nicht, dass er schwer verletzt ist, aber er hat das Bein nachgezogen. Außerdem braucht er dringend ein Bad.“

Gegen ihren Willen musste Jillian lächeln. Der Fremde bot wirklich einen interessanten Anblick. Er war ziemlich groß, hatte dunkles Haar und dunkle Augen und einen Körperbau wie ein professioneller Athlet – obwohl er in einem schicken Business-Anzug steckte. Der dunkle Schatten um sein Kinn verlieh ihm noch dazu einen absolut männlichen, willensstarken Ausdruck.

Dass er den strampelnden Hund ohne erkennbare Kraftanstrengung tragen konnte, war beeindruckend. Doch noch beeindruckender war für Jillian die Tatsache, dass er das verdreckte Tier überhaupt mitgenommen hatte.

„Also … werden Sie ihm helfen?“ Er hob die Braue.

Offenbar hatte Jillian ihn eine Sekunde zu lange wortlos angestarrt.

„Oh. Sicher! Bringen Sie ihn ins Untersuchungszimmer. Womöglich muss ich auch die Tierärztin benachrichtigen.“

Jillian hätte sich ohrfeigen können. Jetzt war wohl kaum der richtige Zeitpunkt dafür, einen Mann anzuhimmeln. Da war ein Tier in Not und sie würde ihm helfen.

Ganz gleich, wie verlockend die Rückansicht des Fremden auch war, der nun mit selbstbewussten Schritten vorausging.

Nic trug den Hund in das Untersuchungszimmer und legte ihn dort behutsam auf den glatten Metalltisch. Sobald seine Pfoten auf dem Metall aufkamen, versuchte der Hund, vom Tisch zu springen, doch Nic hielt ihn zurück. „Das wirst du schön sein lassen. Bleib hier“, befahl er und packte den Hund an der Krawatte.

„Gute Reflexe“, kommentierte sie seine Geste, und präsentierte ihm noch einmal dieses hübsche Lächeln, das man einfach nicht übersehen konnte.

„Jahrelanges Rangeln mit meinem kleinen Bruder“, erklärte er ihr. „Wieso wollen Sie die Tierärztin denn rufen? Ich dachte, Sie sind die Tierärztin?“ Er betrachtete ihren Kittel, der zwar nicht gerade modisch, aber doch so geschnitten war, dass er ihre hübschen Kurven erkennen konnte.

„Ich? Nein, ich bin Tierarzthelferin. Jillian Everett ist mein Name“, stellte sie sich vor. „Cassie – das heißt Dr. Marshall – ist bereits nach Hause gegangen. Lassen Sie mich zuerst einmal einen Blick auf Murphy werfen, dann werde ich entscheiden, ob ich sie anrufen muss oder nicht.“

Jillians Hand glitt sanft über das schwarz-weiße Fell des Hundes. Unbewusst streichelte sie ihm über den Rücken, während sie mit der freien Hand eine seiner Pfoten anhob.

Nic ertappte sich dabei, wie er sie genau beobachtete. Der Pferdeschwanz mit ihren langen Locken fiel ihr über die Schulter, doch sie schien es gar nicht zu bemerken. Sie war vollkommen auf den Hund konzentriert, und ihre schönen, zierlichen Hände strichen voller Hingabe über das Fell des Tiers. Offensichtlich mochte sie Murphy sehr gerne, und nicht nur das: Sie war so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie Nic nicht auch nur eines Blickes würdigte. Ein Umstand, der ihm unerwartet gut gefiel. Denn von Frauen, die ihm berechnend schöne Augen machten, hatte er vorerst genug.

„Ja. Das ist definitiv Murphy“, stellte sie schließlich fest.

Zur Antwort wedelte der Hund fröhlich mit dem Schwanz.

„Da wir gerade von Namen sprechen: Ich bin Nic“, erwiderte er und hoffte, sie würde das Du akzeptieren.

„Freut mich, Nic. Dieser Bursche hier trägt seinen Namen übrigens wirklich nicht umsonst.“

„Wieso? Wie meinst du das?“

„Murphy. Wie Murphys Gesetz.“ Sie hob die zweite Pfote an.

„Ich verstehe. Das ist also nicht sein erstes Missgeschick“, meinte Nic mitfühlend. Erwachsen zu werden war nicht immer leicht, und auch in seiner eigenen Jugend hatte er so einige Fehltritte begangen.

„Nun, eigentlich kann er nie etwas dafür“, verteidigte Jillian den Hund. „Er ist ein wirklich kluges Tier, er bräuchte nur mehr Herausforderung. Border Collies sind Hütehunde und haben äußerst viel Energie und Ausdauer. Sie brauchen eine Aufgabe. Murphys Besitzerin, Mrs. Rosenberg, ist bereits über siebzig, und sie kann ihm leider einfach nicht die Beschäftigung bieten, die er dringend bräuchte. Ich mag sie sehr, aber eigentlich ist Murphy nicht der richtige Hund für sie. Deshalb reißt er immer wieder aus und rennt dann durch die Gegend, um die überschüssige Energie loszuwerden. Allerdings ist er noch nie bis über die Brücke gekommen. Selbst für ihn ist das ein ungewöhnlich weiter Weg.“

„Warum hat sie sich denn dann überhaupt einen Border Collie angeschafft?“, fragte Nic. Es ärgerte ihn, wenn Menschen keinerlei Gedanken an die Zukunft verschwendeten. In seinem ganzen Leben drehte sich alles um Verantwortung, und er konnte es nicht leiden, wenn jemand derart verantwortungslos handelte.

„Das hat sie gar nicht. Murphy war ein Geschenk von ihrem Sohn, und der erkennt leider nicht einmal den Unterschied zwischen einem Schäferhund und einem Pekinesen. Er war wohl der Ansicht, dass seine Mutter unbedingt Gesellschaft braucht. Als ob! Mrs. Rosenberg ist Mitglied in sämtlichen Komitees und Wohltätigkeitsvereinen der Stadt. Sie wollte mir den Hund sogar schon schenken, aber mein Vermieter erlaubt leider keine Haustiere.“

Sie hielt kurz inne und versuchte dann, die angehobene Hundepfote von unten zu untersuchen. „Nic, könntest du ihn bitte auf die Seite legen und festhalten? Ich glaube ich weiß jetzt, warum er hinkt.“

Nic tat sein Bestes, ihrer Bitte nachzukommen. Vorhin auf der Straße hatte er überhaupt nicht daran gedacht, sich die Pfoten des Tieres anzusehen. Seine einzige Sorge hatte darin bestanden, den Hund so schnell wie möglich wieder loszuwerden.

Als er dann das Schild Tierklinik gleich jenseits der Brücke gesehen hatte, war es ihm wie ein gutes Zeichen vorgekommen.

„Ah!“ Jillian nickte. „Siehst du? Seine Pfoten sind wund. Er hat sich die schützende Schicht wundgelaufen. Der raue, heiße Asphalt ist wie Schmirgelpapier für die Pfoten eines Hundes. Armes Ding … das muss wirklich wehtun.“

Sie hob den Blick. Ihre Augen waren groß und so blau wie der wolkenlose Himmel im Sommer. Nic las Mitgefühl in diesen Augen, aber auch eine wilde Entschlossenheit und Stärke. „Ich werde Dr. Marshall anrufen, denn Murphy braucht Schmerzmittel und eventuell auch Antibiotika.“ Sie wandte sich ab und griff nach einem altmodischen Telefon, um die Ärztin anzurufen.

Während sie sprach, musterte Nic unauffällig ihr Profil. Die Sorge in ihrem Gesicht konnte ihre Schönheit nicht verschleiern. Sie hatte helle, reine Haut, die einen starken Kontrast zu ihren dunklen Locken bildete. Die Wangenknochen waren ausgeprägt, und ihre fein geschwungenen Lippen hatten einen zarten Rosaton.

Ein Mann müsste schon blind sein, um bei diesen Lippen nicht sofort ans Küssen denken zu müssen.

Hoffentlich würde diese Ärztin bald auftauchen, denn wenn Nic noch länger mit der sexy Arzthelferin alleine blieb, würde er am Ende garantiert genauso unbeholfen japsen wie der Hund.

Jillian war erleichtert, als Cassie versprach, sich sofort auf den Weg zu machen.

Nicht, dass sie vor dem Fremden Angst hatte. Wer herrenlose Hunde vom Highway klaubte und sich von ihnen den Anzug ruinieren ließ, konnte nicht wirklich gefährlich sein.

Zumindest nicht im gewöhnlichen Sinn. Aber die Art, wie er sie ansah – mit diesen tiefbraunen, forschenden Augen –, machte sie mehr als nur nervös. Sie hob das Kinn und versuchte, wieder das Selbstbewusstsein auszustrahlen, das ihre gerade so gründlich abhandengekommen war. „Hilfst du mir bitte, Murphy nach nebenan zu bringen? Dort kann ich ihn besser saubermachen.“

Mit derselben Leichtigkeit wie vorhin nahm Nic den Hund auf die Arme. „Los geht’s.“

Während sie die blitzenden Chromoberflächen, die Messgeräte und Untersuchungsinstrumente hinter sich ließen und einen Waschraum betraten, fragte Jillian sich unwillkürlich, wie diese Umgebung wohl auf Nic wirkte.

Ihr war der Geruch nach Desinfektionsmitteln angenehm vertraut, und die penibel glänzenden Oberflächen waren wie eine zweite Heimat, aber auf andere wirkten die sterilen Räumlichkeiten oft einschüchternd und ungemütlich.

Nic schien sich allerdings nichts daraus zu machen. Er bewegte sich so selbstverständlich durch die Zimmer, als ob er hier jeden Tag ein und aus gehen würde.

Ebenso selbstverständlich half er ihr, den verdreckten Hund vom Schmutz zu befreien. Während sie Murphy abbrauste und mit Hundeshampoo einseifte, hielt Nic, der die Ärmel hochgekrempelt hatte, das Tier am Halsband fest.

Seine Arme waren muskulös und gebräunt und definitiv einen zweiten Blick wert. Jillian war froh, dass sie alle Handgriffe wie im Schlaf beherrschte, sonst wäre sie womöglich zu abgelenkt gewesen, um Murphy zu bändigen.

Dieser benahm sich aber zum Glück absolut tadellos und ließ die ganze Prozedur tapfer über sich ergehen. Zum Schluss nahm Jillian ein sauberes Handtuch aus dem Schrank und hüllte den triefnassen Hund darin ein, froh darüber, den Blick endlich wieder von Nics Armen abwenden zu können.

Dieser machte es ihr allerdings nicht gerade leicht. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus“, begann er und knöpfte plötzlich das Hemd auf. „Aber das Hemd riecht wie – nun, wie nasser Hund.“

Er streifte das fleckige Hemd ab und enthüllte daraufhin ein ärmelloses – kaum weniger durchweichtes – Unterhemd.

Jillian schüttelte den Kopf. Sie musterte seine Schultern und die nackten Oberarme, und den beeindruckenden Bizeps, der Murphy so mühelos getragen hatte.

Die bronzefarbene Haut erinnerte an eine mediterrane Herkunft. Vielleicht stammte seine Familie ja aus Europa.

Das ganz gewiss teure Unterhemd saß wie angegossen und ließ keinen Zweifel an seinen perfekten Proportionen. Die Brustmuskeln zeichneten sich so sehr darunter ab, als seien sie eingemeißelt, und der flache Bauch verriet ebenfalls regelmäßiges hartes Training.

Für einen Augenblick verlor sich Jillian vollkommen in dem Anblick von so viel männlicher Schönheit, bis sie auf einmal das Klappern von Schlüsseln im Eingangsbereich hörte. Anschließend war das Trippeln von Kinderschritten zu vernehmen.

„Jillian! Wo ist denn das Hündchen? Ist es verletzt? Darf ich es gesund küssen? Wer ist das?“ Emma Marshall, stolze vier Jahre alt und bereits das Ebenbild ihrer Mutter, stürmte in den Raum und blieb bei Nics Anblick erstaunt stehen. Der blonde Pferdeschwanz fegte um ihr Gesicht, als sie zu ihm aufblickte, und dann blinzelte sie.

„Emma, du sollst doch hier nicht so rennen. Ich habe dir doch gesagt, dass das die Tiere erschreckt.“ Cassie betrat nun ebenfalls das Zimmer und legte ihrer wilden Tochter die Hände auf die Schultern. „Hi, ich bin Dr. Marshall. Ich nehme mal an, Sie sind der Mann, der Murphy gerettet hat. Vielen Dank.“

„Kein Problem. Ich bin Nic.“ Plötzlich wirkte er zum ersten Mal genau so müde, wie sich ein Mann nach einem so endlosen Tag auf dem Highway fühlen musste.

Cassie trat nun zu Murphy und untersuchte gründlich seine Pfoten. „Das sieht schlimmer aus, als es ist. Ich werde ihm aber dennoch eine Spritze geben, damit sich die Wunden nicht entzünden. In wenigen Tagen ist er wieder ganz der Alte.“

Nic hob die Braue. „Seine Besitzerin hat Glück, dass Sie sich immer so ausgiebig um ihn kümmern. Aber sollten wir sie nicht benachrichtigen?“

„Mrs. Rosenberg ist gar nicht zu Hause“, meinte Jillian daraufhin. „Sie hat erwähnt, dass sie mit ihrer Seniorengruppe die Nacht in Orlando verbringt. Ich fürchte, Murphy muss wohl bis morgen hierbleiben.“

„Wir werden ihn in einem der Käfige unterbringen müssen“, meinte Cassie bedauernd. „Hoffentlich kratzt er mit seinen verletzten Pfoten nicht an der Käfigtür. Aber ich kann ihn leider nicht mitnehmen, ich habe nämlich bereits einen Patienten zu Hause, und dieser Hund versteht sich nicht mit anderen.“

„Hier ist er wenigstens sicherer aufgehoben als draußen auf dem Highway. Dank dir“, fügte Jillian hinzu und warf Nic einen dankbaren Blick zu.

Doch diesem schien diese Idee überhaupt nicht zu gefallen. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Er muss nicht allein bleiben. Ich kann ihn auch mitnehmen.“

Die beiden Frauen sahen ihn überrascht an.

„Im Sandpiper Inn sind Tiere erlaubt. Morgen früh bringe ich ihn dann einfach wieder zurück.“ Plötzlich wirkte er sehr entschlossen, und sein Tonfall duldete keinerlei Widerspruch. „Ich habe mir doch nicht all die Mühe gemacht, um ihn am Ende allein in einem Käfig zu lassen.“

„Aber … das geht doch nicht. Wir kennen dich doch gar nicht. Mrs. Rosenberg kennt dich auch nicht.“ Ungläubig schüttelte Jillian den Kopf. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass Nic auf einen so ungestümen jungen Hund aufpassen wollen würde.

Ritter in goldglänzender Rüstung gab es doch schließlich nur im Märchen.

„Ich werde Mrs. Rosenberg einfach anrufen“, entschied Cassie. „Sie soll dann entscheiden. Ich werde allerdings Ihre Kontaktdaten brauchen, Nic. Einverstanden?“

Zur Bestätigung nickte er lediglich. Sein Körper war wieder voller Spannung, und er schien offensichtlich dazu bereit zu sein, seinen neuen tierischen Freund gegen die gesamte Welt zu verteidigen.

Während Nic und Cassie die Formalitäten erledigten, drückte Jillian den jungen Hund fest an sich und vergrub die Hände in seinem Fell. Es war, als würde sie Halt suchen, denn ihre Welt schien mit einem Mal ins Wanken geraten zu sein.

Etwas, das sie für gewöhnlich nicht zuließ.

Der Hund spürte ihren Konflikt offenbar, denn er seufzte leise. Aber dann wandte er den Kopf und behielt den großen Mann im Blick, als hätte er Angst, Nic könnte verschwinden.

Jillian nickte unbewusst. „Ich weiß genau, wie du dich gerade fühlst“, murmelte sie in das weiche Fell hinein. „Ich weiß es ganz genau.“

2. KAPITEL

Nic lenkte den Wagen auf den Parkplatz des Sandpiper Inns und stellte den Motor ab. Er stieg nicht sofort aus, sondern verharrte erst einmal eine Minute auf dem Fahrersitz, um neue Kraft zu sammeln – für das Gepäck und für den Hund.

Im Nachhinein begann er sich zu fragen, warum um alles in der Welt er sich mit diesem Hund eine weitere Verantwortung aufgebürdet hatte.

Der Grund war allerdings ganz einfach: Er konnte das Tier ebenso wenig verletzt und ängstlich in einem Käfig zurücklassen, wie er es auf dem Highway hatte zurücklassen können.

Schon in seiner Jugend hatte er gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Er war stets derjenige gewesen, der eingesprungen war, wenn sein kleiner Bruder in Schwierigkeiten gesteckt hatte. Selbst wenn das bedeutete, dass er dadurch selbst in Schwierigkeiten geriet.

Später hatte er sich seiner kleinen Schwester angenommen. Stunde um Stunde hatte er mit ihr Mathematik gebüffelt, damit sie nicht durch die Prüfung fiel.

Nach seinem Abschluss war es ihm schließlich unmöglich gewesen, Nein zu dem Jobangebot seines Vaters zu sagen, dessen größter Wunsch es war, Nic im Familienunternehmen zu sehen.

Deshalb war er heute stellvertretender Bereichsleiter Grundstückserwerb bei Caruso Hotels. Die international bekannte Hotelkette war allerdings der Traum seines Vaters – und nicht seiner.

Es bereitete ihm nur wenig Vergnügen, immer aus dem Koffer zu leben, von einer Stadt zur nächsten zu hetzen und stets auf der Jagd nach lukrativen Bauplätzen für neue Hotels zu sein.

Immer öfter träumte er davon, sich irgendwo niederzulassen und jemanden zu finden, der ihn für das mochte, was er war, und nicht für den klangvollen Namen, der Geld und Ansehen versprach.

Ein leises Wuff riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich habe dich nicht vergessen“, erwiderte Nic und kraulte den Hund sanft hinter den Ohren. „Los geht’s.“

Es herrschte bereits Dunkelheit, doch im Licht des Mondes konnte Nic die Konturen des Sandpiper Inns dennoch ausmachen. Es handelte sich dabei um ein zweistöckiges Gebäude im typischen Florida-Stil. Die gelbbraune Verkleidung würde sich im Tageslicht perfekt in die Sanddünen einfügen, die sich jenseits des Hauses erhoben.

Auf jedem Stockwerk gab es überdachte Balkone mit einem weißlackierten Geländer, in deren Schatten man sich ausruhen und die Sicht auf das Meer genießen konnte.

Zu dieser Nachtzeit lagen die Balkone allerdings im Dunkeln, und Nic musste sich auf sein Gedächtnis und die Bilder verlassen, die er von dem Haus gesehen hatte.

Nur der Eingangsbereich mit der breiten Treppe und den danebenliegenden Fenstern war erleuchtet.

Doch bevor er das Sandpiper Inn betrat, schlug er zunächst den sandigen Weg in die Dünen ein, um dem Hund die Gelegenheit zu geben, sein Geschäft zu erledigen.

Selbst im Dunkeln konnte man die enorme Größe des Geländes erahnen. Nic bewunderte die tropischen Pflanzen entlang des Weges und lehnte sich schließlich an den glatten Stamm einer Palme. Einen Augenblick lang schloss er die Augen und atmete die schwere, süße Nachtluft ein, die wunderbar intensiv nach Jasmin roch.

Der Duft erinnerte ihn unwillkürlich an die Tierarzthelferin Jillian. Selbst durch den stechenden Geruch der Desinfektionsmittel und den Geruch nach nassem Fell hindurch war ihm aufgefallen, dass sie einen betörend süßen und blumigen Duft verströmte, womöglich ein Parfum oder ein Shampoo.

Abrupt straffte er sich und nahm die Leine kürzer. Schließlich war er nicht nach Paradise Isle gekommen, um von einer hübschen Brünetten zu schwärmen und sich von der süßen Tropennachtluft die Sinne vernebeln zu lassen.

Er war hierhergekommen, weil Caruso Hotels großes Interesse an diesem Fleckchen Erde hatte. Seine Aufgabe bestand darin, das Gelände zu sondieren und die Möglichkeiten eines Erwerbs auszuloten.

Falls sich die gegenwärtigen Besitzer mit dem Verkauf einverstanden zeigen würden, würden sich hier bestimmt unendliche Möglichkeiten auftun. Man würde das alte Gebäude garantiert abreißen und stattdessen ein modernes Strandressort bauen. Das Gelände war noch größtenteils ungenutzt – wie ein ungeschliffener Rohdiamant.

Ein Hotel würde nicht nur den Tourismus in dieser Gegend ankurbeln, sondern auch eine Anzahl von Veränderungen und Modernisierungen mit sich bringen, die das verschlafene Paradise Isle aus der Vergangenheit in die Zukunft katapultieren würde.

Nic trat durch die hölzerne Eingangstür und betrat die Lobby. Die Einrichtung wies zwar verschiedene Stile auf, wirkte aber dennoch unerwartet elegant und einladend. Die hölzernen Dielen glänzten im Schein des altmodischen Kronleuchters und spiegelten sich auf dem polierten Geländer der Holztreppe wider, die in die oberen Stockwerke führte.

Zur Rechten befand sich ein schwerer, antiker Schreibtisch, der als Empfangstresen diente. Zur Linken gab es eine Vielzahl plüschiger Möbelstücke, die zum Plaudern oder Lesen einluden, und jenseits davon einen mächtigen, aus Muschelkalk erbauten Kamin.

Genau gegenüber im hinteren Bereich der Lobby waren große Fenster eingelassen, die einen Blick auf das nachtschwarze, vom Mondlicht mit silbernen Tupfern bedeckte Meer boten.

In einem Regal standen Dutzende Bücher, vom ledergebundenen Klassiker bis hin zum modernen Taschenbuch, und dazwischen fanden sich überall dekorative Muschelschalen und blank gespülte Kieselsteinchen.

Diese Lobby hatte nichts mit dem ultramodernen, durchgeplanten Stil eines Caruso-Hotels gemein, doch sie strahlte dafür eine ungewohnte Wärme und Herzlichkeit aus.

Zum ersten Mal im Leben überkam Nic das Gefühl, ein echtes Heim zu betreten – ein Zuhause weit weg von seinem eigentlichen Zuhause.

Ein junges Mädchen erschien nun hinter dem Empfangstresen und begrüßte ihn freundlich. Noch freundlicher begrüßte sie allerdings Murphy, und Nic war erleichtert, dass er den Hund mit auf sein Zimmer nehmen durfte, obwohl er bei der Reservierung natürlich keine Tiere erwähnt hatte.

Sein Zimmer befand sich im ersten Stock, und Nic registrierte mit Freude, dass man hier noch echte, bronzefarbene Schlüssel benutzte, anstelle der Plastikkarten in modernen Hotels.

In der ersten Etage herrschte gedämpftes Licht und eine himmlische Ruhe, die Nic nach dem langen Tag mehr als willkommen war. Er sah sich flüchtig in seinem Zimmer um und ging dann direkt ins Badezimmer, um sich den Schmutz, Schweiß und Stress abzuwaschen.

Mehrere Minuten lang ließ er den heißen Schauer einfach nur auf seinen Rücken rieseln und versuchte, dabei an nichts zu denken. Nur Jillians Gesicht blieb irgendwie vor seinem inneren Auge bestehen. Ihre blassblauen Augen, die dunklen Locken und diese perfekten, vollen Lippen.

Wenn die Dinge anders gelegen hätten, wäre er vielleicht sogar versucht gewesen, sie wiederzusehen, aber er war nun einmal hier, um einen Job zu erledigen.

Wenn er es genau nahm, hatte er eigentlich immer einen Job zu erledigen und gar keine Zeit für Dates, und im Gegensatz zu Dates war er wenigstens in seinem Job gut.

Denn die letzten Jahre hatten sich in dieser Hinsicht als eine Reihe kleinerer und größerer Katastrophen erwiesen. Sobald der Name Caruso ins Spiel kam, konnte man förmlich sehen, wie in den Augen der Frauen die Dollarzeichen aufleuchteten.

Aber vielleicht war er auch einfach immer nur an die falschen Frauen geraten.

Nics jüngerer Bruder genoss den Effekt in vollen Zügen, aber Nic war es unfassbar leid, immer nur benutzt zu werden.

Ärgerlich trat er aus der Dusche heraus und trocknete sich ab, dann ließ er sich auf das breite Bett fallen.

Vielleicht lag es an dem leisen Schnarchen, das der Hund am Fußende des Bettes von sich gab, oder vielleicht auch an dem sanften Rauschen der Wellen am Strand, aber Nic wurde augenblicklich in den Schlaf getragen.

In dieser Nacht schlief er traumlos und tief; einen guten, erholsamen Schlaf, den er sonst nur in seinem eigenen Bett fand.

Jillians Vormittag verging wie im Flug, denn es gab eine lückenlose Aneinanderreihung von Klienten, die bellende, maunzende und fiepende kleine Patienten in die Klinik brachten.

Dabei wurde Jillian allerdings nicht nur beschnuppert und liebevoll abgeleckt, sondern auch gekratzt, gebissen und angefaucht.

Für gewöhnlich schloss die Klinik an Samstagen um die Mittagszeit herum, aber als Jillian endlich dazu kam, einen Blick auf die Uhr zu werfen, war es bereits nach eins. Trotzdem gab es immer noch eine Menge Arbeit zu erledigen. Sie musste Tabellen ausfüllen und Patientenakten aktualisieren. Zum Schreiben zog sie sich wie immer in das Büro zurück, während aus dem Behandlungsraum noch immer aufgeregtes Gebell drang.

Doch heute fiel es ihr irgendwie schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Murphy ab, und zu dem Mann, der ihn von der Straße gerettet hatte.

Viele Männer gingen täglich in der Klinik ein und aus, aber keiner von ihnen sah aus wie ein römischer Gott, und als ob das noch nicht genug sei, hatte sich dieser Mann auch noch benommen wie ein barmherziger Samariter.

Jillian bezweifelte, dass der Fremde ein neuer Bewohner der Insel war, denn davon hätte sie bestimmt gehört. Vermutlich war er bloß auf der Durchreise. Paradise Isle war zwar nicht gerade eine Touristenhochburg, aber es zog dennoch jedes Jahr einige Urlauber an.

Immerhin waren die Strände makellos, und die Hälfte der Insel war zum Naturschutzgebiet erklärt worden. Vereinzelte Naturliebhaber oder Vogelbeobachter konnte man jederzeit irgendwo auf der Insel entdecken.

Nicht, dass Nic in seinem teuren Anzug wie ein Vogelkundler gewirkt hätte.

Jillian seufzte. Da sie ihre Gedanken ohnehin nicht abstellen konnte, könnte sie ebenso gut aktiv werden. Mrs. Rosenberg sollte inzwischen wieder zu Hause sein. Jillian würde gerade genug Zeit dafür haben, Murphy bei Nic abzuholen, ihn bei seiner Besitzerin abzuliefern und etwas zu essen, bevor sie zur Bibliothek aufbrechen musste, wo um drei Uhr das Treffen zur Erhaltung von Paradise Isle stattfand.

Doch wie sich herausstellte, hatten sich Mrs. Rosenbergs Pläne mittlerweile geändert. Jillian erreichte sie irgendwann auf ihrem Handy, und die ältere Dame hörte sich so aufgeregt und quietschvergnügt an, als habe sie gerade eine Woche Urlaub hinter sich. „Wir haben auf dem Rückweg noch eine spontane Weintour gebucht“, ließ sie Jillian nun wissen. „Ich fürchte, ich komme leider erst gegen Nachmittag nach Hause. Aber dann kann ich dich zur Entschädigung auf einen wirklich köstlichen Wein einladen, Kindchen.“

„Mal sehen, Mrs. Rosenberg. Zunächst einmal muss ich Murphys Retter Bescheid geben.“

„Aber natürlich! Ich bin ja so froh, dass mein kleiner Liebling in guten Händen ist. Jillian, ich würde mich wirklich freuen, wenn Murphy eines Tages bei dir wohnen könnte. Du bist jung und hast genug Energie. Zu dir würde er viel besser passen.“

Die Worte der alten Dame versetzten Jillian einen schmerzhaften Stich in die Brust. Natürlich hätte sie Murphy gerne zu sich genommen. Schon beim ersten Treffen hatte sie eine Verbindung zu dem hübschen Welpen gespürt, aber ihr Vermieter war nun einmal strikt gegen Haustiere, und bei Jillians Gehalt war in nächster Zeit leider keine größere Wohnung in Aussicht, ganz zu schweigen von einem eigenen Haus.

Seltsam, wie das Leben so spielte. Sie, das Mädchen, das jahrelang von einer eigenen Familie geträumt hatte, und von einem eigenen Haus voller Kindern und Haustieren, war schließlich in einer winzigen haustierfreien Wohnung gelandet – mit nicht einmal einem Goldfisch zur Gesellschaft.

Vielleicht war das ja der Grund, warum sie sich so vehement für die Erhaltung der Insel einsetzte. Wenn sie schon nicht die Bilderbuchfamilie führen konnte, die sie sich immer gewünscht hatte, dann wollte sie sich zumindest um die Bewahrung ihrer Wahlheimat bemühen.

Paradise Isle wurde seinem Namen in jeder Hinsicht gerecht. Es war ein paradiesischer Ort, ein friedliches Fleckchen Erde, und Jillian hatte seine Einwohner ins Herz geschlossen. Daher fiel es ihr jetzt auch so schwer, Mrs. Rosenberg diesen Gefallen abzuschlagen. „Machen Sie sich keine Sorgen um Murphy, Mrs. Rosenberg. Ich melde mich später wieder bei Ihnen. Viel Spaß bei Ihrer Weintour.“

„Danke, Liebes. Bis später.“

Nachdem Jillian das Gespräch beendet hatte, suchte sie das Kontaktformular heraus, das Nic gestern Abend ausgefüllt hatte. Sein voller Name lautete Dominic Caruso. Ihr kam es so vor, als hätte sie diesen Namen schon einmal gehört, doch sie konnte sich nicht erinnern in welchem Zusammenhang.

Er hatte sowohl die Nummer des Sandpiper Inns als auch seine eigene Mobiltelefonnummer angegeben, und unter dieser gelang es Jillian schließlich, ihn zu erreichen.

„Hallo?“ Er klang ein wenig atemlos, und im Hintergrund war das Geräusch von Wind und Wellen zu hören.

„Hi, Nic, hier ist Jillian. Es geht um Murphy.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Warte einen Augenblick, ich suche eben Windschatten, dann rauscht es nicht so in der Leitung.“

„Bist du gerade am Strand?“

„Ja, ich war eine Runde joggen.“

„Wie bitte? Du hast Murphy zum Joggen mitgenommen, obwohl seine Pfoten noch nicht geheilt sind? Das ist aber nicht …“

„Murphy ist noch im Hotelzimmer“, unterbrach er sie sofort, „und wahrscheinlich macht er es sich gerade auf meinem Bett gemütlich. Ich habe ihn vorhin kurz rausgelassen, und danach sogar seine Pfoten abgewaschen.“

Jillian errötete und war froh, dass Nic sie gerade nicht sehen konnte. „Entschuldige bitte. Ich glaube, ich bin bloß ein wenig angespannt. Mrs. Rosenberg hat ihre Pläne geändert, aber ich habe nachher leider schon einen Termin und kann mich deshalb nicht um Murphy kümmern.“

Nachdem sie Nic die ganze Situation geschildert hatte, bestand er darauf, den Hund bis zum Nachmittag zu behalten und ihn danach persönlich bei Mrs. Rosenberg abzuliefern.

Schließlich war Jillian einverstanden und nannte ihm die genaue Adresse. „Das ist wirklich nett von dir. Aber es tut mir unglaublich leid, dass wir dir so viele Umstände bereiten.“

„Das tut ihr nicht. Aber wenn du dich dadurch besser fühlst, kannst du mir ja später auch einen Gefallen tun.“

Oh oh. Vielleicht war Nic ja doch nicht so selbstlos, wie sie zuerst angenommen hatte.

„Welchen Gefallen denn?“

„Begleite mich zum Abendessen.“

Jillian öffnete den Mund, doch vor lauter Erstaunen konnte sie keinen vernünftigen Satz bilden. „Abendessen?“

„Genau. Ich nehme mal an, bis heute Abend hast du deinen Termin erledigt. Zeig mir doch etwas Typisches vor Ort. Ein Restaurant, wo nur die Einheimischen hingehen.“

„Nun … die Leute hier essen meistens bei Pete’s. Es ist zwar nicht besonders schick, aber sie machen dort wirklich gute Burger, und es gibt jeden Tag frischen Fisch.“

Allerdings fiel es Jillian schwer, sich Nic und seinen eleganten Anzug mitten in Pete’s rustikaler Einrichtung vorzustellen. „Wir können aber auch zum Festland hinüberfahren“, schlug sie vor, „da gibt es viel mehr Auswahl, und schönere Restaurants …“

„Das Pete’s hört sich großartig an, genau danach steht mir gerade der Sinn. Wo darf ich dich denn abholen?“

„Ich hole einfach dich im Sandpiper Inn ab“, schlug Jillian vor. Immerhin wussten auch Kleinstadtmädchen, dass man nicht einfach zu Fremden ins Auto steigen sollte. „Um halb sieben? Samstagabends ist die Terrasse nämlich immer schnell besetzt.“

„Schön. Unser Date steht also. Dann bis später.“ Schon hatte er aufgelegt.

Jillian starrte das Telefon an. Ein Date? Seit wann ließ sie sich denn mit wildfremden Männern auf ein Date ein? Wildfremd, aber – zugegebenermaßen – unglaublich sexy …

3. KAPITEL

Als Nic um kurz nach drei vor Mrs. Rosenbergs kleinem Häuschen parkte, wurde Murphy augenblicklich unruhig.

Offenbar war er jetzt genauso wild darauf, ins Haus hineinzukommen, wie er es gestern gewesen war, es zu verlassen. Die pinkfarbene Fassade war mit Stuck versehen, und genauso exzentrisch wie das Haus wirkte auch seine Bewohnerin, die Nic mit einem strahlenden Lächeln die Tür öffnete.

Mrs. Rosenberg trug einen türkisfarbenen Hausanzug und eine Brille, die mit Dutzenden Glitzersteinchen besetzt war. Ihr kurzgeschnittenes Haar wies einen Rotton auf, der so in der Natur bestimmt nicht vorkam, und bildete damit einen scharfen Kontrast zu dem blaugrünen Jäckchen.

Nic war so geblendet von der gesamten Kombination, dass er ihre überschwängliche Begrüßung gar nicht kommen sah. Doch noch bevor er auch nur ein einziges Wort sagen konnte, fiel sie ihm bereits um den Hals – dank ihrer geringen Größe allerdings vielmehr um seinen Bauch.

„Vielen, vielen, vielen Dank“, rief sie, wobei jedes Wort von einem erstaunlich festen Griff um seine Mitte begleitet wurde. „Sie haben meinen Liebling gerettet! Mein kleines Baby! So ein süßes, unartiges kleines Ding!“ Mit diesen Worten wandte sie sich dem Hund zu und schien ihn nun ebenso fest zu drücken. „Stellen Sie sich mal vor, was alles hätte passieren können! Er hätte von einem Auto erwischt werden können … oder von einem Alligator. Die gibt es hier nämlich auch“, fügte sie mit einem Schaudern hinzu.

Nic konnte nun selbst einen Schauer kaum unterdrücken.

„Kommen Sie doch herein und trinken Sie einen Wein mit mir“, befahl sie schließlich.

Nic war von dem zierlichen Energiebündel so überwältigt, dass er ihr ohne Widerspruch ins Haus folgte.

Ihr ganzes Haus war vollgestopft mit Möbeln, kitschigen Bildern von exotischen Blumen und einer mächtigen Seekuh aus Messing, die mitten auf einem Glastisch thronte.

Mrs. Rosenberg entkorkte nun mit geübter Hand eine Weinflasche, schenkte ihnen großzügig ein und hob dann ihr Glas zu einem Toast. „Auf Murphy“, verkündete sie.

„Apropos“, fiel es Nic plötzlich ein, „würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich mal kurz im Haus umsehe? Vielleicht finden wir dann ja heraus, wie Murphy entkommen konnte.“

Seine Idee fand sofort großen Zuspruch bei ihr, und kurz darauf untersuchte Nic jede Tür und jedes Fenster – dicht gefolgt von Murphy, der sein Verhalten für ein lustiges Spiel zu halten schien.

Für ein Spiel hielt er offenbar auch den Trick, an der hinteren Küchentür hinauf zu springen und die Türklinke hinunterzudrücken. „Sie haben einen wirklich cleveren Hund“, rief Nic daraufhin der älteren Dame zu, die nun ebenfalls mit ihrem Weinglas die Küche betrat.

„Du liebe Zeit“, sagte sie stöhnend, und es klang zugleich dramatisch, belustigt und stolz. „Murphy hat die Tür selbst geöffnet! Dieser Schlingel. So kann das aber nicht weitergehen.“

Sie legte den Zeigefinger an die Lippen und dachte einen Moment lang nach. „Ob ich wohl jetzt am Wochenende einen Handwerker finde, der das in Ordnung bringt? Ich fürchte, ich kann den Türgriff leider nicht alleine austauschen.“

„Aber ich kann es“, entfuhr es Nic, ohne dass er groß darüber nachdachte.

„Das würden Sie wirklich für mich tun? Ach, Sie sind ja ein Schatz“, flötete Mrs. Rosenberg.

Eine halbe Stunde später war die Klinke durch einen altmodischen Drehknauf ersetzt, Mrs. Rosenberg überglücklich und das Problem mit Murphys Fluchtversuchen vorerst gelöst.

Nic war seltsam zufrieden.

Es tat nicht nur gut, einer alten Dame einen Gefallen zu tun, es war auch höchst befriedigend, etwas mit den eigenen Händen zu reparieren, anstatt einen Handwerker dafür zu rufen.

„Ich bin so froh, dass Sie hergekommen sind“, erklärte Mrs. Rosenberg zum wiederholten Male. „Und ich bin froh, dass ich Jillian nicht bitten musste, die Tür zu reparieren. Außerdem hätte ich sie nur sehr ungern von ihrem Treffen abgehalten.“

Seine Neugier siegte letzten Endes über seinen Willen. „Was denn für ein Treffen?“

„Von der Gesellschaft zur Erhaltung von Paradise Isle. Jillian ist dort Gründungsmitglied“, erklärte Mrs. Rosenberg stolz.

Ein ungutes Gefühl begann sich auf einmal in Nics Magen auszubreiten. „Was genau tut diese Gesellschaft denn?“

„Oh, hauptsächlich arbeiten sie an der Erhaltung unserer historischen Bauwerke. Sie setzen sich für den Schutz der Küste ein und sammeln noch dazu Spendengelder. Wissen Sie …“

Bei diesen Worten beugte sie sich vor, und ein frischer Glanz trat in ihre von Fältchen umgebenen Augen. „Unsere kleine Stadt ist vielleicht nicht so berühmt wie Daytona oder Miami, aber uns gefällt es hier. Unseretwegen darf die Insel gerne so verschlafen und paradiesisch bleiben, wie sie zurzeit ist. Verstehen Sie?“

Unglücklicherweise verstand Nic das nur allzu gut, und noch etwas wurde ihm in diesem Augenblick bewusst: Er würde es bald mit einigen wild entschlossenen Gegnern aufnehmen müssen – und eine davon war Jillian.

Jillian hastete über den Parkplatz. Ihr Shirt klebte unangenehm an ihrer Haut, und kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrem Rücken. Der heiße Asphalt flimmerte in der schwülen Hitze, und die Spätsommersonne schien noch einmal sämtliche Register zu ziehen.

Daher kam Jillian die Bibliothek mit ihren verheißungsvoll klimatisierten Räumen fast wie eine Fata Morgana vor. Sie beeilte sich, um in den Schatten der überdachten Eingangstür zu gelangen, und betrat dann wohlig seufzend die Halle.

Augenblicklich wurde sie von ruhiger Kühle und dem Geruch nach Büchern eingehüllt. Mit frischer Kraft stieg sie die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sich der Konferenzsaal befand. Hier warteten bereits ihre Freundinnen Cassie und Mollie auf sie.

„Wir haben dir einen Stuhl reserviert.“ Mollies rundes Gesicht leuchtete erfreut auf, als sie Jillian heranwinkte. Sie arbeitete als Empfangsdame in der Tierklinik und war eine wirklich liebe und loyale Freundin.

Jillian umarmte die kleine, zierliche Frau daraufhin. „Danke. Mir liegt sehr viel an diesen Treffen. Vor allem jetzt, wo es um das Sandpiper Inn geht. Angeblich soll es verkauft werden.“

Cassie sah sie mit großen Augen an. „Wirklich? Das wäre ja schrecklich! Das Sandpiper Inn ist eine richtige Institution. Ich weiß noch, wie mich Dad als Kind dorthin mitgenommen hat. Beim Sommerfest gab es immer gegrillten Fisch, und im Winter wurde dort traditionell als Erstes im Ort die Weihnachtsbeleuchtung eingeweiht. Erst vor ein paar Jahren haben Mom und Dad dort ihren fünfundzwanzigjährigen Hochzeitstag gefeiert.“

Sie hob die Augenbrauen. „Schlimm genug, dass es dort keine Veranstaltungen mehr gibt, aber das Hotel verkaufen? An wen denn?“

„Ich weiß es nicht.“ Jillian hob die Schultern. „Es wurde noch nicht einmal offiziell zum Verkauf angeboten. Aber ich fürchte, ab dem kommenden Montag wird es auf dem Markt sein. Edward Post, ein weiteres Gründungsmitglied zur Erhaltung von Paradise Isle, hat mir vorhin im Supermarkt davon erzählt. Er ist schon seit vielen Jahren mit der Familie Landry befreundet, der das Sandpiper Inn gehört. Wir haben gehofft, dass die Tochter dem Haus wieder zu seinem alten Glanz verhelfen würde, sobald sie es erbt, aber sie besitzt inzwischen leider ihren eigenen Laden in Orlando und hat deshalb kein Interesse daran, eine Hotelbesitzerin zu werden. Edward glaubt, sie wird einfach das erstbeste Angebot annehmen, das ihr für das Haus gemacht wird.“

Allein der Gedanke daran bereitete Jillian schon Magenschmerzen. Die Vorstellung, dass Fremde dieses würdevolle alte Haus übernehmen oder vielleicht sogar abreißen könnten, war ihr unerträglich. Seit über hundert Jahren ruhte das prachtvolle Gebäude am Strand von Paradise Isle wie eine wunderschöne Perle an der Küste.

Von jeher hatten die großzügigen Räume auch als Versammlungsort gedient. Es war eine Art inoffizielles Bürgerhaus, wo in der Vergangenheit Gemeindefragen geklärt, Feste gefeiert und Hochzeiten abgehalten worden waren.

Die geselligen Besitzer hatten sich stets etwas Besonderes einfallen lassen, um eine Geburtstagsfeier aufzupeppen oder eine spontane Sommernachtsparty zu organisieren. Beinahe jeder in Paradise Isle konnte sich an das ein oder andere rauschende Fest dort erinnern.

Jillian hatte sich bereits beim ersten Besuch in das Haus verliebt und davon geträumt, eines Tages mit ihrer eigenen Familie dort zu feiern.

Aber jetzt sah es so aus, als könne das Sandpiper Inn zerstört werden, bevor sie diese Chance bekam. Es war weder richtig noch fair, das Gebäude einfach kampflos aufzugeben.

Das Treffen wurde eröffnet, und zunächst einmal drehte sich die Diskussion um den Bau eines Fahrradweges in der Island Avenue.

Jillians Gedanken schweiften irgendwann ab. Neben ihrer Angst um das Sandpiper Inn ließ ihr auch das bevorstehende Date mit Nic keine Ruhe.

Natürlich war dies nicht ihr erstes Date, mit siebenundzwanzig Jahren hatte sie bereits ihre Erfahrungen gesammelt. Allerdings nur mit einheimischen und vertrauten Männern, und es war noch dazu nie etwas Ernstes daraus geworden.

Nach einigen Dates waren nur Freundschaften entstanden – keine wilde, zügellose Leidenschaft. Manchmal begann sich Jillian zu fragen, ob sie zu derartigen Gefühlen überhaupt fähig war.

Aber mit Nic war das irgendwie etwas ganz anderes. Mit seinem selbstbewussten Auftreten und seinem guten Aussehen stellte er alle anderen Männer hier in den Schatten. Er war so anders als die Männer, die sie bisher getroffen hatte.

Seinetwegen war sie so nervös, dass sie sich beinahe wünschte, er würde das Date absagen.

Allerdings nur beinahe.

Ihre Gedanken wurden plötzlich jäh unterbrochen, als Edward Post auf dem Podium das Wort ergriff. „Wie ihr vielleicht gehört habt, gehen Gerüchte um, dass das Sandpiper Inn verkauft werden soll“, begann er. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich in seiner Haut und rückte nervös seine Brille zurecht. „Nun, leider haben sich diese Gerüchte nun bewahrheitet. Ms. Roberta Landry, die rechtmäßige Erbin und derzeitige Besitzerin der Pension, hat sich leider dazu entschlossen, das Gebäude zu verkaufen.“

Ein erschreckter Ausruf war nun zu hören, dann folgte aufgeregtes Gemurmel. Edward räusperte sich kurz und fuhr dann fort: „Als Vertretung unserer Gesellschaft zur Bewahrung von Paradise Isle habe ich natürlich mit Ms. Landry gesprochen. Immerhin denkt sie jetzt auch darüber nach, das Haus an die Stadt zu verkaufen, um es für allgemeine Zwecke zur Verfügung zu stellen.“

„Kann die Stadt sich das denn überhaupt leisten?“, fragte daraufhin jemand aus einer der vorderen Reihen.

Edwards Blick suchte den Sprecher. „Nein. Zumindest nicht ohne Hilfe. Deshalb arbeiten wir gerade bereits an einer Bewerbung beim Staatlichen Register Historischer Stätten. Wenn es uns gelingt, dass das Sandpiper Inn als historisches Bauwerk anerkannt wird, bekommen wir einen Zuschuss. Damit könnten wir dann das Haus erwerben und es sogar renovieren. Ich denke, unsere Chancen stehen gar nicht so schlecht, aber es handelt sich leider um einen sehr langwierigen Prozess. Das Bewerbungsverfahren kann unter Umständen Monate dauern, und wenn Ms. Landry bis dahin ein besseres Angebot bekommt, ist es natürlich ihr gutes Recht, dieses anzunehmen.“

Damit war ausreichend Diskussionsstoff gegeben, und jeder wollte nun gleichzeitig seine Meinung äußern. Doch der grundlegende Tenor war immer derselbe: Die Tage des Sandpiper Inns waren offenbar gezählt.

Jillian wollte nichts mehr davon hören. Niedergeschlagen verabschiedete sie sich von ihren Freundinnen und ging hinaus. Allerdings hatte sie bereits auf der Treppe einen Plan gefasst. Gleich morgen würde sie Edward anrufen und ihn bitten, die Bewerbung selbst schreiben zu dürfen.

Diese Aufgabe klang zwar nach viel Arbeit und würde bestimmt auch einige Zeit für Recherchen verschlingen, doch sie musste es zumindest versuchen.

Es ging hier schließlich um ihre Heimat, und wer nicht kämpfte, der hatte bereits verloren.

Nic wartete im Schatten der überdachten Veranda, wo ein altertümlicher Deckenventilator erstaunlich effiziente Arbeit leistete, um die Moskitos zurückzuhalten.

Palmen und tropische Gewächse, die er nicht kannte, rankten sich um die Veranda und versuchten, das weiß lackierte Geländer einzunehmen. In der Ferne war das Klopfen eines Spechtes zu hören, unterlegt von dem beruhigenden Rauschen des Ozeans.

Im Laufe seines Lebens hatte Nic schon viel von der Welt gesehen und hatte in den luxuriösesten Ferienressorts übernachtet. Aber nirgendwo hatte er sich bisher so geborgen gefühlt wie hier.

In der Zurückgezogenheit und Stille dieses Ortes lag eine große Kraft. Da die Hälfte der Insel ein Naturschutzgebiet war, hatte man genau die Ruhe und den Frieden, den man sich in den überbevölkerten Luxushotels oft wünschte.

Plötzlich wurde Nic bewusst, wie befreit er sich hier bewegen konnte. Es kam ihm so vor, als habe er eine Fessel abgelegt, von der er gar nicht gewusst hatte, dass er sie überhaupt trug.

Außerdem hatte er heute viele nette Begegnungen gehabt. Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Insulaner war schier überwältigend.

Während er die Lighthouse Avenue hinauf- und hinabgeschlendert war, hatten ihn alle Menschen freundlich gegrüßt. Jeder hatte ein Lächeln oder ein nettes Wort für ihn übriggehabt, und fast jeder war bereit gewesen, ihm etwas über seine Stadt, sein Geschäft oder seine Familie zu erzählen.

Nic hatte auf diese Weise erfahren, dass der Bürgermeister von Paradise Isle sein Amt bereits seit vierzig Jahren bekleidete – und sich auch zur nächsten Wahl wieder aufstellen ließ.

All das war Lichtjahre von dem Leben entfernt, das Nic gewohnt war.

Doch jetzt, hier im Schutz der Hollywoodschaukel und mit dem Rufen der exotischen Vögel im Ohr, konnte Nic sich nichts Entspannenderes als dieses Leben vorstellen.

Erst als er das Knirschen von Autoreifen auf dem Kiesweg hörte, erhob er sich und ging um das Haus herum zum Parkplatz.

Ein hellblauer Kleinwagen stand mit laufendem Motor am Eingang des Sandwegs. Die Fahrertür wurde geöffnet, dann erschien ein langes, wohlgeformtes Bein in einer eng anliegenden Jeans.

Nic hielt unwillkürlich inne.

In seiner Erinnerung war Jillian eine hübsche Frau gewesen – aber jetzt im Licht des Tages war sie einfach nur umwerfend.

Fort war der formlose Klinikkittel. Stattdessen trug sie ein marineblaues, ärmelloses Top, das ihre vollen und wohlgeformten Brüste zur Geltung brachte.

Das Haar fiel frei und wunderschön in langen Locken auf ihren Rücken. Ihre blauen Augen glitzerten im Licht der Abendsonne, eingerahmt von langen, dunklen Wimpern, für die Nics Schwestern vermutlich getötet hätten.

Doch es war ihr Lächeln – unschuldig und verführerisch zugleich –, das Nic komplett aus der Fassung brachte.

„Hi“, begrüßte sie ihn sanft. „Ich hoffe, ich bin nicht zu spät.“

Nic straffte sich und trat nun näher. „Überhaupt nicht.“

„Gut. Wollen wir gleich losfahren?“

„Sicher, ich bin schon am Verhungern. Ich glaube, das liegt an der frischen Meeresluft.“

„Schön.“ Schon wieder dieses Lächeln.

Nic faltete seine große Gestalt auf den Beifahrersitz zusammen. „Ist es weit?“

„Nichts ist weit in Paradise Isle.“

„Stimmt ja.“ Er grinste. „Hier am Strand könnte man meinen, die Insel wäre endlos. Man vergisst, dass die eigentliche Stadt sehr klein ist.“

„Der größte Teil der Insel ist Naturschutzgebiet. Es gibt zwar auch einige Badestrände, aber weite Gebiete sind vollkommen unerschlossen.“ Ihrem Ton nach zu urteilen, gefiel es ihr so, wie es war.

Nic versuchte, nicht daran zu denken, was der Bau eines Caruso Hotels hier alles nach sich ziehen würde.

Stattdessen konzentrierte er sich lieber darauf, die Fahrt zu genießen. Die Straße führte an der Küste entlang. Draußen auf dem Wasser flogen Pelikane herum und tauchten elegant nach ihrem Abendessen. Fremdartige Pflanzen behaupteten sich in dem heißen Sand der Dünen, und auf Nics Nachfrage hin sagte Jillian ihm die Namen, die Bestimmung und die Aufgaben der einzelnen Gewächse.

„Sehr eindrucksvoll“, meinte Nic ehrlich beeindruckt.

Doch sie hob bloß die Schultern. „Es ist halt meine Heimat. Ich musste sie einfach studieren, um sie verstehen und schützen zu können.“

Das schlechte Gewissen meldete sich nun mit einem unangenehmen Stechen in der Magengegend wieder. Nic bezweifelte, dass er auch nur einen Bissen herunterbekommen würde, wenn sie weiterhin so voller Hingabe über ihre Heimat sprach.

Im Grunde hätte er das allerdings verdient.

4. KAPITEL

Jillian wählte einen Tisch auf dem Außendeck mit Blick auf das Meer.

Pete’s Crab Shack und Burger Bar war wirklich sehr rustikal, beinahe heruntergekommen, aber dafür umso gemütlicher. Nic schien sich allerdings nicht daran zu stören.

Er studierte die Karte ungefähr fünf Sekunden lang und entschied sich dann für ein Fischsandwich.

„Ein Mann, der weiß, was er will“, kommentierte sie seine spontane Bestellung lächelnd.

Erst bei dem Blick, den er ihr daraufhin zuwarf, wurde ihr bewusst, wie zweideutig ihre Bemerkung gewesen war.

Dieser Blick war zugleich verlockend, herausfordernd und intensiv. Es kam ihr so vor, als würden Funken fliegen.

Nein. Dieses Date war definitiv wie kein anderes zuvor.

Schließlich senkte Jillian den Blick auf die Karte, um sich zu sammeln. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch waren inzwischen ausgewachsene Flugdinosaurier geworden.

Sie war unglaublich froh, dass in diesem Augenblick die junge Serviererin an ihren Tisch trat, um die Bestellung aufzunehmen. Diese maß Nic mit einem unverhohlenen Blick von Kopf bis Fuß und drehte sich anschließend ein wenig auf den Absätzen, um ihre knappen Shorts noch besser zur Geltung zu bringen.

Jillian konnte es ihr nicht einmal verübeln. In Jeans und T-Shirt wirkte Nic ebenso souverän und sexy wie im Maßanzug.

Aber musste sie sich deshalb gleich so sehr zur Schau stellen? Verärgert stellte Jillian fest, dass sie sich über die Jüngere ärgerte.

Immerhin blieben Nics Augen weiterhin unbeirrt auf sie gerichtet, anstatt die süße Serviererin zu betrachten, die nun zum Glück an einen anderen Tisch gerufen wurde.

Nachdem das Essen serviert worden war, fühlte Jillian sich ein wenig entspannter. Nic erwies sich als ein sehr angenehmer Gesprächspartner.

Er berichtete ihr von seinem Besuch bei der exzentrischen Mrs. Rosenberg, und so, wie er ihre überschwängliche Art beschrieb, brachte er Jillian so sehr zum Lachen, bis ihr die Tränen in die Augen stiegen.

„Entschuldige“, sagte sie atemlos, „ich sollte dir danken, anstatt dich auszulachen. Es war wirklich sehr lieb von dir, Mrs. Rosenbergs Türgriff auszuwechseln. Auch wenn ich mir sicher bin, dass sie dir im Grunde gar keine andere Wahl gelassen hat.“

„Sie kann tatsächlich sehr überzeugend sein.“ Er nippte an seinem Eistee. „Ich hätte es aber ohnehin getan. Es war schließlich dringend nötig.“

Die schlichte Selbstverständlichkeit, mit der er dies sagte, beeindruckte Jillian mehr als alles andere zuvor. Hier war ein Mann, der zupackte, wenn Hilfe nötig war – ohne dafür Lorbeeren einstreichen zu wollen, oder auch nur einen Dank zu erwarten.

Sie bemühte sich um einen lockeren und zwanglosen Tonfall. „Woher weißt du überhaupt, wie man einen Türgriff auswechselt?“

„Mein Dad hat es mir beigebracht. Zusammen mit einer ganzen Menge anderer nützlicher Dinge. Er hielt nichts davon, Handwerker für etwas zu bezahlen, das man auch ebenso gut selbst machen konnte. Egal ob im Haushalt oder am Auto – wir mussten früh lernen, wie man alles instand hält und es repariert.“

„Wir?“

„Ich habe noch einen Bruder und zwei Schwestern. Aber ich bin der Älteste.“

„Die Mädchen mussten das auch alles lernen?“

„Natürlich. Bei uns gab es keine Diskriminierung. Umgekehrt hat er uns Jungs auch das Kochen beigebracht.“

„Dein Dad hat gekocht?“, fragte Jillian verblüfft. Keiner ihrer Pflegeväter war in all den Jahren auch nur in die Nähe eines Herdes gekommen. Andererseits hatten sich die Ehefrauen am Herd auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. In Jillians Jugend hatte es eine Menge Tiefkühlkost und Käsemakkaroni gegeben.

„Natürlich konnte er kochen. Er ist Italiener. Aber eigentlich haben wir Kinder das Kochen von unserer Nana gelernt. Mom und Dad waren viel zu beschäftigt, und unsere Großmutter hatte einfach mehr Zeit für uns, und auch mehr Geduld. Bis wir auf die Highschool gingen, konnten wir alle ganz gut kochen.“

Er nahm sich nun eine Pommes. „Bis auf meinen Bruder Damian. Der ist viel mehr als ganz gut. Er hat sogar die Kochschule besucht und macht jetzt eine Fortbildung in Italien. Was er auf den Tisch bringt, grenzt schon fast an Magie.“

„Und deine Schwestern … wie sind die so?“

„Smart.“ Die Antwort kam ohne Zögern. „Beide sind ziemlich klug, aber trotzdem vollkommen verschieden. Claire ist ein absoluter Bücherwurm und studiert gerade Englische Literatur an der New York University. Isabella ist viel pragmatischer. Sie hat einen Master-Abschluss in Betriebswirtschaftslehre und arbeitet für eine große Investmentfirma.“

Sein Tonfall verriet, wie stolz er auf seine gesamte Familie war.

Der Neid meldete sich nun für eine Sekunde wie der Stich einer Lanze in ihrem Herzen, doch sie schob das Gefühl rasch wieder beiseite.

In ihrer Kindheit hatte sie sich immer eine Großfamilie, mit Geschwistern, Großeltern und Cousins gewünscht.

Aber jetzt war sie erwachsen. Es war viel Zeit vergangen, in der sie gelernt hatte, dass Wünsche nun einmal nicht immer in Erfüllung gingen.

Nic sprach wirklich sehr gerne über seine Familie, aber das Thema der Berufswahl wäre er am liebsten umgangen.

Es war vielleicht nicht ganz aufrichtig, aber er hoffte, dass sie ihn nicht nach seiner Karriere fragen würde. Denn sobald es um die Caruso Hotels ging, sahen die Frauen unweigerlich nur noch das Familienvermögen.

Allerdings lagen die Dinge hier vollkommen anders. Jillian würde ganz und gar nicht erfreut sein, wenn sie erfuhr, dass sich Caruso Hotels für das Sandpiper Inn interessierte, und sobald sie erkannte, dass er nur hier war, um das Gelände zu sondieren, würde das hübsche Lächeln in ihrem Gesicht schnell verblassen.

Dabei war es genau dieses Lächeln, dem er einfach nicht widerstehen konnte.

Wenn sie lächelte, leuchteten nicht nur ihre Augen, sondern auch ihr Gesicht. Sie zog dann unwillkürlich die süße Nase kraus und gab dem Gegenüber das Gefühl, der wichtigste Mensch auf der ganzen Welt zu sein.

Oder zumindest der Einzige, der gerade zählte.

Diese Frau würde ihn nicht für sein Geld oder seinen luxuriösen Lebensstil mögen. Wofür genau sie ihn allerdings mögen würde, das vermochte Nic noch nicht zu sagen.

Doch am Ende musste er sich sowieso um das Geschäft kümmern. Sein Vater und das gesamte Unternehmen vertrauten schließlich seinem Urteil, und wenn er eines Tages die Firma seines Dad übernehmen wollte, musste er sich jeder Herausforderung als würdig erweisen.

Vermutlich war es deshalb das Beste, vorerst schnell das Thema zu wechseln. „Was ist denn mit deiner Familie?“, fragte er hastig. „Leben sie auch auf der Insel?“

Ihm entging nicht, wie bei seiner Frage alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Für einen kurzen Moment trat ein tieftrauriger Ausdruck in ihre Augen. Sie blinzelte, doch Nic hatte es trotzdem gesehen. Impulsiv griff er nach ihrer Hand und wartete schweigend, bis sie sich wieder gefangen hatte.

Ihr Blick fiel auf ihre Hände, dann sah sie ihm direkt in die Augen. „Ich habe keine Familie.“

Anstelle einer Antwort drückte er nur tröstend ihre Hand. Sie fuhr fort: „Meine Eltern starben bei einem Autounfall, als ich zwei Jahre alt war. Es gab einen fürchterlichen Sturm, und irgendwie hatten sie die Kontrolle über ihren Wagen verloren. Man hat mir später gesagt, dass es ganz schnell ging. Aber mich fand man vollkommen unversehrt auf dem Rücksitz. Ich hatte nicht einmal einen Kratzer.“

Er wünschte sich, er hätte ihr etwas Tröstliches sagen können, doch er wusste instinktiv, dass es keine Worte gab, die ihr diesen Schmerz nehmen konnten. Daher hielt er sich an die einzige Formel, die ihm in diesem Fall angebracht schien. „Das tut mir wirklich unfassbar leid.“

Ein zartes Lächeln umspielte ihren Mund. „Tja, mir auch. Ich hatte keine weiteren Verwandten. Zumindest haben sich keine gemeldet. Deshalb landete ich bei Pflegefamilien. Fast jedes Jahr bei einer anderen, bis ich schließlich irgendwann nach Paradise Isle kam. Während meiner Highschoolzeit nahm ich einen Ferienjob in der Tierklinik an. Damals wurde sie noch von Cassies Dad geleitet. Wenige Jahre später wollten meine Pflegeeltern nach Jacksonville ziehen, aber ich wollte unbedingt hierbleiben. Ich konnte den Sozialarbeiter schließlich davon überzeugen, dass ich auch alleine zurechtkomme. Mithilfe meiner Ersparnisse und ein wenig staatlicher Unterstützung lebte ich während dem Abschlussjahr der Highschool alleine in einem kleinen Pensionszimmer. Danach nahm ich einen Job an und belegte Kurse am hiesigen College, bis ich letztendlich das Zertifikat als Tierarzthelferin in der Tasche hatte.“

„Seit der Highschool warst du vollkommen auf dich allein gestellt?“, hakte er fassungslos nach. „Ganz ohne Hilfe?“

„Nun, ich hatte Freunde. Cassies Vater, Doc Marshall, überredete den Sozialarbeiter, mir weitere Pflegefamilien zu ersparen. Immerhin war ich schon fast achtzehn Jahre und meine Vermittlung wurde dadurch ohnehin immer schwieriger. Ohne ihn und ohne den Job in der Klinik hätte ich es aber bestimmt niemals geschafft.“

Nic fiel es schwer, sich das gesamte Ausmaß dieser Eigenständigkeit vorzustellen. Seine Familie war stets in sein Leben involviert gewesen – manchmal sogar ein bisschen zu involviert. Ihre Erwartungen und Wünsche hatten ihm bisweilen bleischwer auf dem Herzen gelegen. Andererseits waren sie immer für ihn da gewesen, wenn er Hilfe gebraucht hatte, und sie waren die Einzigen, auf die er sich immer hundertprozentig verlassen konnte.

Es war also kaum verwunderlich, dass Jillian sich so leidenschaftlich für ihre Heimat und ihre Gemeinde einsetzte – denn es war alles, was sie hatte.

Erneut meldete sich das schlechte Gewissen bei ihm. Wenn er das Projekt Sandpiper Inn wirklich durchsetzen würde, dann würde sich auf der Insel so einiges ändern.

Anfangs hatte er geglaubt, es wäre ein Wandel zum Besseren. Aber jetzt begann er langsam zu zweifeln, ob Jillian das genauso sehen würde.

Zumindest konnte er sich ja mal vorsichtig an die Frage herantasten: „Warum wolltest du denn ausgerechnet in Paradise Isle bleiben? Warum an keinem anderen Ort?“

Jetzt war ihr Lächeln wieder ganz und gar leuchtend. „Weil es sich hier wie ein Zuhause anfühlt. An keinem anderen Ort auf der Welt habe ich jemals dieses Gefühl gehabt. Hier leben Menschen, die sich wirklich für mich interessieren. Hier war ich zum ersten Mal kein Außenseiter. Kein armes Waisenmädchen, kein aussichtsloser Fall. Ich wurde mit offenen Armen aufgenommen und sofort integriert. Hier achten die Menschen noch aufeinander. Es ist das, was einer Familie am nächsten kommt.“

Bei den letzten Worten war ihre Stimme ins Zittern geraten. Kein Zweifel: ihre Loyalität der Gemeinschaft gegenüber war offenbar grenzenlos.

Im ersten Moment wollte Nic ihr widersprechen, doch es fiel ihm einfach kein Gegenargument ein. Was ihm während seiner kurzen Zeit hier auf der Insel widerfahren war, entsprach genau dem, was sie gerade beschrieben hatte.

Auf der Karte hatte Paradise Isle wie ein verlassenes, verschlafenes Fleckchen Erde gewirkt, das förmlich nur darauf wartete, ins einundzwanzigste Jahrhundert katapultiert zu werden.

Für gewöhnlich interessierte sich Caruso Hotels gar nicht für derart unerschlossene Gebiete, sondern setzte viel lieber auf Bekanntheitsgrad und regen Tourismus. Aber Nic hatte sich erhofft, bei einer so abgelegenen Region viel Geld an Baugrund zu sparen und diesen kleinen Rohdiamanten zu schleifen, bis er irgendwann ein funkelnder Stein in der langen Kette der Caruso-Hotels war.

Jetzt wurde ihm plötzlich bewusst, mit welcher Arroganz er vorgegangen war. Paradise Isle war nicht einfach nur ein Fleck auf der Landkarte. Es war eine Heimat.

Allerdings kam diese Erkenntnis reichlich spät. Denn wie sollte er seinem Vater erklären, dass er seine Meinung auf einmal geändert hatte? Einem Hotelmanager, der sich an die Spitze der Luxusferienressorts gekämpft hatte, sollte er sagen, dass er auf ein brillantes Stück Land verzichten wollte, weil die Leute hier so nett waren?

Das war doch lächerlich.

Er würde sich wohl oder übel etwas einfallen lassen müssen.

Ob er sich danach allerdings noch im Spiegel ansehen könnte, war eine andere Frage.

Jillian hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, so viel über ihre Kindheit zu erzählen, denn sie hasste es, wenn die Menschen Mitleid mit ihr hatten. Aber Nic wirkte nicht im Geringsten, als würde er sie bemitleiden. Wenn überhaupt wirkte er nachdenklich, als sie von Paradise Isle sprach.

Sie fragte sich unwillkürlich, wie er wohl lebte, und versuchte sich vorzustellen, wie er normalerweise einen Samstagabend verbracht hätte.

Doch sie hatte keine Gelegenheit, ihn danach zu fragen, weil die Serviererin zum wiederholten Mal fragte, ob sie vielleicht noch einen Wunsch hätten.

Nic verlangte daraufhin die Rechnung und zückte seine Kreditkarte, ohne auch nur auf den Betrag zu achten.

Jillian wurde auf einmal bewusst, wie sehr sie die Zeit mit ihm genossen hatte. Nic war ein wirklich aufmerksamer Zuhörer. Er konnte im richtigen Moment witzig sein, einnehmend und höflich und blieb dabei immer angenehm.

Daher störte es sie auch nicht, als er zärtlich ihren Ellenbogen umfasste, um sie die steile Treppe der Strandbar hinunter zu geleiten. Anschließend hielt er ihr sogar noch die Wagentür auf, und Jillian fand es umwerfend, mit so viel altmodischem Charme behandelt zu werden.

Im Auto schaltete sie sofort die Klimaanlage ein. Mit einem Mal spürte sie die Hitze wie in kleinen Wellen in Wangen und Dekolleté pulsieren. Das Auto kam ihr plötzlich viel zu eng vor.

Es war erfüllt von Nics Duft, irgendeinem Aftershave oder Parfum, das gleichzeitig frisch, würzig und verlockend war.

Als er die Hand auf ihre legte, zog sie sie nicht zurück.

Ihr Herz schlug so heftig, dass sie Angst hatte, er könne es in ihrer Hand schlagen spüren, und der Weg zurück zum Sandpiper Inn war wie eine süße Qual, von der sie nicht sicher war, ob sie irgendwann enden oder für immer anhalten sollte.

Auf dem stillen Parkplatz hinter dem Gebäude stellte sie den Motor ab und sah ihn intensiv an.

Was sollte sie jetzt tun? Ihm die Hand entziehen? Ihn küssen? Sich von ihm küssen lassen? Oder hatte sie die Situation vielleicht ganz falsch gedeutet, und er hatte in Wirklichkeit gar kein Interesse daran, sie zu küssen …

Ihre Verwirrung stieg noch mehr, als sie seinen Blick bemerkte. Es lag etwas Dunkles darin. Etwas, das sich direkt in ihrem Bauch bemerkbar machte.

Wie erstarrt hielt sie den Atem an, als er die Hand hob, um ihr eine Locke aus ihrem Gesicht zu streichen. Er drehte sie langsam um den Finger, dann ließ er sie wieder los.

Als sein Blick schließlich zu ihrem Mund glitt, befeuchtete sie unwillkürlich die Lippen. Sehr sanft berührten seine Fingerspitzen ihren Mund, der vor Verlangen zu prickeln begonnen hatten. Sie schloss erwartungsvoll die Augen.

Dann hörte sie, wie er sich zu ihr beugte, und spürte seine Lippen auf ihren.

Zunächst war der Kuss sehr sanft. Mehr eine Bitte als eine Aufforderung.

Aber als sie die Lippen öffnete, zögerte er nicht mehr länger. Der Kuss wurde schnell intensiver. Mit der Zunge berührte er ihre Zungenspitze.

Unwillkürlich tastete sie nach ihm, umschloss mit geschlossenen Augen seine breiten Schultern und zog ihn noch enger an sich.

Noch nie zuvor hatte sie eine so starke Verbindung zu jemandem empfunden. Eine Anziehungskraft, die sie wie ein Magnet reagieren ließ und der sie sich einfach nicht entziehen konnte.

Das hier war viel mehr als nur ein Kuss. Es war Magie.

Sie wollte, dass es niemals endete.

In dem Versuch, sich noch näher an ihn zu schmiegen, beugte sie sich vor. Der Sicherheitsgurt schnitt in ihre Schulter und hielt sie zurück. Ein leiser Laut der Enttäuschung kam über ihre Lippen.

Augenblicklich wich er zurück. Offenbar hatte er die falschen Schlüsse daraus gezogen. „Habe ich dir wehgetan?“ Voller Sorge musterte er ihr Gesicht.

„Nein“, brachte sie atemlos hervor. „Das hast du nicht. Das … hat definitiv nicht wehgetan.“ Sie rang um Fassung. Er wirkte aufrichtig besorgt, sodass sie sich gezwungen sah, das dumme Missverständnis aufzuklären. „Es ist nur … der Sicherheitsgurt war im Weg.“

„Oh.“

Beim genaueren Hinsehen fiel ihr auf, dass er ebenso atemlos war wie sie selbst. Also hatte der Kuss auf ihn eine ähnliche Wirkung gehabt.

Eine kleine, heiße Welle voller albernem weiblichem Stolz durchfloss auf einmal ihren Körper.

„Morgen“, sagte er unerwartet entschlossen. „Was hast du morgen vor?“ Es klang weniger nach einer Frage als vielmehr nach einer Herausforderung.

„Ähm. Für gewöhnlich gehe ich Sonntagmorgens in die Kirche. In den Frühgottesdienst. Ansonsten habe ich eigentlich nichts Besonderes geplant.“ Fingernägel lackieren und alle verpassten Serienhighlights nachholen waren normalerweise die Highlights ihrer Wochenenden.

„Verbring den Tag mit mir!“ Als sie zögerte, sagte er: „Zeig mir deine Insel. Ich möchte das volle Programm erleben.“

Jillian überlegte. Natürlich wollte sie unheimlich gerne Zeit mit ihm verbringen, und seine Bitte klang absolut harmlos. Zunächst zumindest.

Denn dieser Mann war gefährlich. Wenn er imstande war, sie nach einem Abendessen und einer kurzen Autofahrt schon derart aus der Fassung zu bringen – was würde dann erst nach einem gemeinsam verbrachten Tag passieren?

Er schien Mauern einzureißen, die sie nicht einmal bewusst gebaut hatte, und sie war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel, und ob sie überhaupt bereit dafür war.

Als habe er ihre Gedanken erraten, lehnte er sich so weit von ihr zurück, wie es das kleine Auto zuließ. „Ich werde mich auch wie ein perfekter Gentleman benehmen. Versprochen.“ Bei diesen Worten sah er unfassbar süß aus.

Jillian gab schließlich nach. „Na gut. Wann soll ich dich denn abholen?“

„Was hältst du von zehn Uhr dreißig? Und sei mir nicht böse, aber ich würde wirklich lieber mein Mietauto fahren. Da habe ich nämlich mehr Bewegungsfreiheit.“

Damit hatte er zwar recht, aber sie war noch nicht bereit dazu, ihm ihre Adresse zu verraten. „In Ordnung. Treffen wir uns doch bei The Grind, das ist ein Coffee Shop auf der Lighthouse Avenue. Es gibt dort guten Kaffee, und auch leckere Teilchen, wenn du es süß magst.“

„Ich hatte gerade eben erst etwas Süßes.“ Der Blick, mit dem er sie jetzt ansah, sandte sofort Hitzewellen in ihre Wangen.

Er schenkte ihr ein unglaubliches Abschiedslächeln und stieg dann aus dem Auto. Mit ruhigem, selbstbewusstem Gang näherte er sich schließlich der Pension.

Von ruhig und selbstbewusst war sie allerdings gerade meilenweit entfernt.

Du liebe Zeit, in was war sie da bloß hineingeraten?

5. KAPITEL

Nic hatte es sich im Schatten eines ausladenden Sonnenschirms vor dem Coffeeshop bequem gemacht und beobachtete die Sonntagsspaziergänger.

Familien flanierten die Lighthouse Avenue entlang in Richtung Strand, und viele von ihnen legten auf ihrem Weg eine Pause in dem altmodischen Eiscafé gegenüber ein oder betraten den Strandladen, wo man Postkarten, Gummitiere und allerlei lokale Kunst- und Dekorgegenstände erwerben konnte.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und die Hitze lag in Ringen um die Kaffeehaustische, doch eine sanfte Brise aus Richtung des Meeres durchbrach die drückende Schwere.

Entlang der Lighthouse Avenue gab es außerdem einen Buchladen, eine Apotheke und ein Fotostudio. Mit dem professionellen Blick eines Gelände-Scouts hatte sich Nic am Morgen bereits die gesamte Gegend angesehen.

In Richtung Zentrum lagen die Restaurants und Bekleidungsgeschäfte. Auf der gesamten Insel schien es weder Shopping-Malls noch Tanzclubs zu geben. Was das Nachtleben anging, existierte außer dem Pete’s nur noch eine weitere Bar.

Trotz der abgeschiedenen Lage hatte Paradise Isle wohl nie gelitten. Die Geschäfte wurden von Einheimischen geführt und machten nicht den Eindruck, als hätten sie unter einer Flaute zu leiden.

Morgen würde sich Nic mit einem Mitglied des Stadtrats treffen. Er wollte sich nach den wirtschaftlichen und infrastrukturellen Möglichkeiten erkundigen und touristische Angebote ausloten. Am darauffolgenden Tag würde er dann einen Inlandsflug nach Las Vegas nehmen.

Doch vorerst wollte er an all das nicht denken. Den heutigen Tag würde er genießen. Wegen einiger freier Stunden brauchte er schließlich kein schlechtes Gewissen zu haben.

Er streckte die Beine unter dem Tisch aus und lehnte sich zurück. Wegen des heißen Wetters trug er khakifarbene Shorts und ein Golfshirt.

Aufgrund ihrer Kleidung hätte er Jillian im ersten Augenblick fast nicht erkannt, als sie sich ihm nun näherte – ein Fahrrad vor sich herschiebend, das eigentümlich große, breite Räder aufwies.

Sie trug eine kurze, eng anliegende Sporthose und ein leuchtend weißes Top mit Spaghettiträgern. Das Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und durch die Öffnung eines weißen Baseballcaps gezwängt.

„Was ist denn das?“, wollte er neugierig wissen und deutete auf das Rad.

„Das ist ein Fatbike. Es ist zum Fahren am Strand konstruiert, und für heute gehört es dir. Hier.“ Sie schob es ihm entgegen. „Halt das. Ich hole nur rasch mein eigenes.“

Amüsiert lehnte er das metallisch-grüne Fahrrad gegen einen Stuhl und sah ihr hinterher. Zwei Minuten später kehrte sie mit einem weiteren Fahrrad zurück, eine kleinere Version in Himmelblau.

„Glaub mir, es ist viel einfacher, sie zu fahren, als sie zu schieben“, erklärte sie, als sie Nics zweifelnden Blick bemerkte. Sie setzte sich ihm jetzt gegenüber und langte in die Tüte Donuts, die er gekauft hatte.

„Gehst du jeden Sonntag zur Kirche?“, wollte er nun von ihr wissen.

Sie nahm einen Schluck Kaffee und nickte. „Ja. Vermutlich liegt das an meiner Mutter. Ich weiß zwar nicht mehr viel über sie, aber immerhin hat sie mich taufen lassen. Es tut gut zu wissen, dass sie an etwas glaubte. Die Lieder zu singen, die sie gesungen hat, und die Gebete zu sprechen, die auch sie gesprochen hat – das gibt mir irgendwie das Gefühl, ihr näher zu sein. Das klingt albern, oder nicht?“

„Überhaupt nicht. Ich bin mir sicher, sie wäre sehr stolz auf dich.“

Jillian hob die Schultern, doch in ihren Augen lag ein dankbarer Ausdruck.

„Ich habe gestern Abend übrigens mit meiner Mutter telefoniert.“ Nic bemühte sich um einen unverfänglichen Tonfall. „Sie war vollkommen davon angetan, dass ich mich mit einem Mädchen treffe, das sonntags zur Kirche geht. Bestimmt hat sie sich gewünscht, dass ich das auch tue.“

Sie sah ihn ungläubig an. „Warst du überhaupt jemals in der Kirche?“

„Na, hör mal! In meiner Kindheit war ich sogar Messdiener“, erwiderte er empört.

Die Zweifel in ihren Augen wurden noch größer.

„Vergiss nicht, ich habe italienische Eltern. Die legen großen Wert auf so was“, erklärte er grinsend. „Aber jetzt würde ich gerne wissen, was du dir für heute ausgedacht hast.“

„Zuerst einmal muss ich noch einen dieser köstlichen Donuts essen“, verkündete sie gut gelaunt. „Anschließend bekommst du von mir Sonnencreme. Mach nicht so ein Gesicht. Wir fahren an den Strand, und die Sonne hier ist wirklich brutal. Selbst die ganz harten Jungs benutzen hier Sonnencreme. Danach radeln wir über Palmetto und die Rampe hinunter ans Meer, und dann den Strand entlang bis zum Sandpiper Inn. Wenn du dich geschickt anstellst, können wir zwischendurch sogar noch einen kleinen Snack einschieben.“

„Ich werde mein Bestes geben.“

Nachdem sie ihr Frühstück aus Kaffee und Donuts beendet hatten, befestigte Jillian eine Wasserflasche an Nics Rad. An ihrem eigenen prangte bereits eine geräumige Tasche, und er fragte sich unwillkürlich, welche Überraschungen sie wohl noch für ihn vorbereitet hatte.

Er hatte sich etwas Außergewöhnliches gewünscht, etwas abseits seines gewohnten Tagesablaufs, und genau das schien er nun zu bekommen.

Jillian stieg schwungvoll auf ihr Fahrrad. „Folge mir einfach, überfahre möglichst keine Spaziergänger und rufe, wenn du nicht hinterherkommst“, rief sie und trat bereits in die Pedale.

Im ersten Augenblick meldete sich sein Ego zu Wort, und er wäre am liebsten neben ihr, statt hinter ihr hergefahren.

Doch sehr schnell wurde ihm der Vorteil dieser Fahrweise bewusst.

Auf diese Weise hatte er nämlich einen wundervollen Ausblick auf ihr Hinterteil.

Das lenkte ihn allerdings so sehr ab, dass ihm erst nach zwei Blocks einfiel, weswegen sie die Tour mit den Rädern überhaupt machten. Er wollte die Schönheit von Paradise Isle kennenlernen.

Nicht, dass echte Schönheit nicht gerade genau vor ihm her geradelt wäre.

Als der Strand in Sicht kam, war Jillian bereits verschwitzt, aber ausgelassen.

Schon lange hatte sie sich nicht mehr so unbeschwert gefühlt. Sie hatte eine unruhige Nacht durchlebt, in der sie in Gedanken immer wieder den Kuss in ihrem Auto durchgespielt hatte.

Aber jetzt, beim Anblick der rauschenden Wellen, die an den Strand gespült wurden, waren ihre Sorgen und Zweifel plötzlich wie weggefegt.

Obwohl sie schon so lange auf der Insel wohnte, versetzte sie der Anblick des Meeres noch immer in Entzücken.

An der hölzernen Rampe, die von der Küstenstraße zum Strand hinunterführte, hielt sie kurz inne und löste die Wasserflasche aus ihrer Halterung.

Kurz darauf hielt Nic neben ihr und tat es ihr gleich. „Das ist definitiv besser als das Radeln im Fitnessstudio“, meinte er.

„Ich bin gespannt, ob du noch derselben Meinung bist, wenn wir erst einmal über den Sand fahren“, entgegnete sie mit einem breiten Grinsen.

„Bereit, wenn Sie es sind“, neckte er sie und schoss die Rampe hinunter.

Jillian lachte übermütig und trat ebenfalls in die Pedale, um ihn einzuholen.

Unten am Wasser wurde er schließlich langsamer, um auf sie zu warten. Auf dem nassen und harten Sand wurde es tatsächlich weitaus schwieriger, das Tempo zu halten, also radelten sie nun gemächlich die Küste entlang.

Wie an jedem anderen Wochenende war der Strand gut besucht, aber nicht überfüllt. Teenager rekelten sich in der Sonne, Kinder bauten Sandburgen und draußen auf dem Wasser ritten ein paar Surfer die Wellen.

Eigentlich sah alles aus wie immer.

Trotzdem fühlte Jillian sich verändert. Denn sie fühlte sich seltsam … glücklich.

Zeit mit Nic zu verbringen machte sie auf eine Weise glücklich, die sie bisher gar nicht gekannt hatte. Es kam ihr so vor, als würde die Sonne plötzlich ihre Haut durchdringen und sie bis ins Innerste wärmen, bis hin zu ihrem Herzen.

In dieser kurzen Zeit hatte Nic eine Leere in ihrem Leben gefüllt … eine Leere in ihrem Herzen … die sie jahrelang einfach verdrängt hatte.

Doch so schön der Gedanke auch war, so beängstigend war er gleichzeitig, denn was würde passieren, wenn er die Stadt wieder verließ?

Im Laufe der Zeit war sie schon so oft enttäuscht worden, dass sie ihr Herz nicht noch einmal einfach so verschenken wollte. Denn bisher hatte sie noch jeder am Ende auf die eine oder andere Weise verlassen. Ihre Eltern, Pflegeeltern, Pflegegeschwister … Sie alle waren irgendwann gegangen und hatten dabei tiefe Wunden in ihrem Herzen hinterlassen.

Natürlich träumte sie aber dennoch von einer eigenen Familie. Aber sich mit einem Touristen einzulassen, der sich nur auf der Durchreise befand, war eine ausgesprochen dumme Idee.

Dennoch konnten sie ja einen schönen Tag miteinander verbringen. Sie würden gut essen, Spaß haben und sich am Ende einfach freundschaftlich verabschieden.

Bestärkt von diesem Gedanken richtete sie sich auf dem Fahrrad auf und trat noch fester in die Pedale.

Sie verließen jetzt den als offiziellen Badestrand ausgezeichneten Teil der Küste und näherten sich dem Naturschutzgebiet. Es war der letzte Strandabschnitt vor dem Sandpiper Inn, und hier war es himmlisch ruhig und friedlich.

Denn an diesen Ort verirrten sich nur selten Badeurlauber, und selbst die Wellen waren hier friedlicher, sodass auch kein Surfer zu sehen war.

„Es ist unglaublich“, stellte Nic mit Blick auf den schneeweißen Strand fest. „Man könnte meinen, man sei gerade auf einer einsamen Insel gelandet, dabei ist die Stadt nur wenige Kilometer entfernt.“

„Nicht wahr? Ich liebe diesen Abschnitt, und gleich hinter der nächsten Düne befindet sich das Sandpiper Inn.“ Jillian stieg vom Rad, streifte die Schuhe ab und zog die Socken aus. „Komm, wir laufen am Strand entlang. Ein bisschen Abkühlung kann uns nicht schaden.“

Nic zögerte nur eine Sekunde, dann streifte er ebenfalls die Schuhe und Strümpfe ab. Offensichtlich war er genauso fröhlich und unbeschwert wie sie selbst. Es kam ihr so vor, als habe er heute nichts zu beweisen und könne sich einfach nur gehen lassen, und das war eine erfrischende Abwechslung zu Jillians bisherigen Dates, die oft ein wenig steif verlaufen waren.

Mit einem fröhlichen Aufschrei rannte Jillian jetzt dem Wasser entgegen. Es war herrlich, sich von dem Meerwasser die Beine umspülen zu lassen. Sonne, Strand, Meer … eigentlich brauchte es nichts weiter, um glücklich zu sein.

Sie drehte den Kopf herum. Nic war ihr hinterhergegangen und watete ebenfalls durch die sanften Wellen. Sie musste ihm wieder entgegengehen, wenn sie nicht noch weiter in das Meer hineinlaufen wollte.

Doch noch bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, kam er zu ihr und ergriff ihre Hand. Nun gab es kein Entkommen mehr. Das Wasser leckte bereits an ihren Oberschenkeln. Aber sie hatte andererseits auch gar nicht das Bedürfnis zu fliehen.

Autor

Amy Woods

Amy Woods' Credo ist: Für die wahre Liebe lohnt es sich zu kämpfen, denn sie ist es absolut wert. In ihren Romanen schreibt die Autorin am liebsten über Personen mit liebenswerten kleinen Macken, die sie zu etwas Besonderem machen. Wenn Amy...

Mehr erfahren
Katie Meyer

Katie Meyer kommt aus Florida und glaubt felsenfest an Happy Ends. Sie hat Englisch und Religion studiert und einen Abschluss in Veterinärmedizin gemacht. Ihre Karriere als Veterinärtechnikerin und Hundetrainerin hat sie zugunsten ihrer Kinder und des Homeschoolings aufgegeben. Sie genießt ihre Tage gerne mit der Familie, ihren vielen Haustieren,...

Mehr erfahren