Die Rinucci Brüder - 6-teilige Serie

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Die 6-teilige Miniserie rund um die Rinucci Brüder von Lucy Gordon. Lassen Sie sich von diesen romantischen Italienern verführen.

WENN GOLDEN DIE SONNE IM MEER VERSINKT

Golden versinkt die Sonne im Meer, als die hübsche Evie in ihrem Cottage überraschend Besuch von dem mächtigen Unternehmer Justin Dane bekommt. Seit sie sich in London begegnet sind, herrscht zwischen ihnen eine magische Spannung. Hat Justin jetzt den langen Weg nach Cornwall gemacht, um endlich über seine Gefühle zu reden? Um Evies zärtliche Wünsche zu erfüllen? Aber er bleibt zurückhaltendbis er ihr bei einem romantischen Spaziergang an der Küste sein Herz öffnet und ihr sein dunkles Familiengeheimnis verrät ...

MEIN ZÄRTLICHER VERFÜHRER

Gespannt erwartet Olympia den neuen Konzernchef Primo Rinucci: Von dem mächtigen Italiener hängt die Zukunft des Unternehmens ab, für das sie in London arbeitet! Doch statt Primo reist sein Assistent Jack Cayman an. Ein Glücksfall für Olympia! Denn zwischen ihr und dem attraktiven Jack beginnt eine süße Romanze. Olympia ist überglücklich! Bis sie mit ihm nach Neapel fliegt und entdeckt, dass dieser zärtliche Verführer unter falschem Namen ihr Herz erobert hat ...

UNTER DER GOLDENEN SONNE ROMS

In Rom wartet eine Überraschung auf Luke Cayman: Die streitbare Anwältin, die ihm soviel Ärger bereitete, erweist sich als jung, hübsch und einfach hinreißend. Schon nach einem Blick in ihre blauen Augen hat er alle Auseinandersetzungen mit ihr vergessen. Luke weiß sofort: Minnie Pepino ist seine Traumfrau. Doch um die zurückhaltende Schönheit erobern zu können, muss er die Schatten der Vergangenheit vertreiben. Denn Minnies Herz scheint noch immer ihrem verstorbenen Mann zu gehören ...

LASS DIE SONNE IN DEIN HERZ

Im sonnenverwöhnten Pompeji findet Della Hadley den Mann, den sie gesucht hat. Für ihre TV-Dokumentation über alte Kulturen ist der Archäologe Carlo Rinucci genau der Richtige. Aber nicht nur Geschichte scheint sein Spezialgebiet zu sein: Della erliegt seinem südländischen Charme und verbringt traumhafte Wochen mit ihm auf ihrer gemeinsamen Reise durch Italien. Fast hat sie die Welt um sich herum vergessen, als Carlo sie mit einem spontanen Heiratsantrag überrascht. Zwischen Freude und Glück erwacht plötzlich Angst - Della glaubt: Carlo ist viel zu jung für sie ...

IN NEAPEL VERLOR ICH MEIN HERZ

Schnell nach Neapel fliegen, den kleinen Matti zu seinem Vater bringen und dann wieder zurück nach London. So hat sich Polly Hanson das vorgestellt. Aber in der lebhaften Stadt am Mittelmeer kommt alles anders: Nach einem Motorradunfall braucht Ruggiero Rinucci, Mattis Vater, dringend Hilfe - und seine Familie überredet Polly, zu bleiben. In der sinnlichen Nähe des charmanten Italieners spürt sie schon bald, dass sie von einem Mann wie ihm geträumt hat. Doch Ruggieros Herz scheint für immer ihrer bildschönen Cousine Freda, Mattis verstorbener Mutter, zu gehören ...

NEAPEL SEHEN - UND SICH VERLIEBEN

Wie in einem goldenen Käfig fühlt Celia sich an der Seite von Francesco Rinucci. Ständig versucht der vermögende italienische Unternehmer sie, seine zarte englische Rose, vor den Gefahren der Welt zu bewahren. Dabei möchte Celia doch nur ihr neues Leben am Golf von Neapel in vollen Zügen genießen. Sie will im glitzernden Meer tauchen, mit dem Fallschirm durch die Lüfte schweben. Und auch wenn sie Francesco begehrt wie noch keinen Mann zuvor, weiß sie tief in ihrem Herzen: Das Geschenk der Liebe kann man nur in Freiheit geben und empfangen ...


  • Erscheinungstag 13.10.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733774660
  • Seitenanzahl 960
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Lucy Gordon

Die Rinucci Brüder - 6-teilige Serie

IMPRESSUM

ROMANA erscheint 14-täglich im CORA Verlag GmbH & Co. KG,

20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo

Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)

Cheflektorat:

Ilse Bröhl

Lektorat/Textredaktion:

Ilse Bröhl

Produktion:

Christel Borges, Bettina Schult

Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,

Marina Grothues (Foto)

Vertrieb:

asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg

Telefon 040/347-27013

Anzeigen:

Miran Bilic

Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste.

Originaltitel: „The Mediterranean Rebel’s Bride“

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

in der Reihe: ROMANCE

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe: ROMANA

Band 1743 (14/1) 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Übersetzung: Karin Weiss

Fotos: PICTURE PRESS

Veröffentlicht im ePub Format in 09/2009 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

ISBN: 978-3-86349-740-8

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

ROMANA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Aus Liebe zur Umwelt: Für CORA-Romanhefte wird ausschließlich 100% umweltfreundliches Papier mit einem hohen Anteil Altpapier verwendet.

Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

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TIFFANY SEXY, TIFFANY HOT & SEXY

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Lucy Gordon

In Neapel verlor ich mein Herz

1. KAPITEL

Als Carlo Rinucci an einem warmen Sommertag seiner schönen Braut Della in einer der ältesten Kirchen von Neapel versprach, ihr in guten und schlechten Zeiten treu zu sein und sie sein Leben lang zu lieben und zu ehren, und ihr dabei tief in die Augen sah, waren alle zu Tränen gerührt.

Für seinen Zwillingsbruder Ruggiero, der als Trauzeuge neben ihm stand, bedeutete Carlos Hochzeit eine einschneidende Veränderung, galt es doch, Abschied zu nehmen von den gemeinsamen Unternehmungen. Mit ihren einunddreißig Jahren hatten die beiden attraktiven Junggesellen so gelebt, als wäre das Leben ein einziger großer Spaß.

Nach der Trauung nahm Ruggiero zusammen mit den anderen Gästen an dem Empfang in der Villa Rinucci teil. Er flirtete nach Herzenslust und schien sich glänzend zu unterhalten.

Sein gutes Aussehen und sein Charme bewirkten, dass sich alle nach ihm umdrehten. Man behauptete, er könne jede Frau haben, die er haben wolle. Obwohl er darüber lachte, wusste er, dass es stimmte. Er konnte wirklich jede Frau haben – außer der einen, auf die es ihm ankam.

„Jetzt seid nur noch du und Francesco übrig“, stellte sein Bruder Luke fest. „Wahrscheinlich überlegt deine Mutter schon, mit wem sie dich verkuppeln kann.“

„Keine Chance, ich werde nie heiraten“, antwortete Ruggiero lachend.

„Das sagst du auf jeder Hochzeit.“

Du hast es auf jeder gesagt“, erinnerte Ruggiero ihn. „Und im Gegensatz zu dir bin ich noch ledig.“

Luke winkte seiner Frau Minnie zu, mit der er seit zwei Jahren verheiratet war. Sie hielt ein Glas Champagner in der Hand und winkte zurück.

„Wenn du nicht aufpasst, wachst du eines Tages auf und musst dir eingestehen, dass du ein einsamer alter Mann geworden bist“, entgegnete Luke.

Ruggiero lächelte. Auf solchen Festen wurden immer derartige Bemerkungen gemacht.

Schließlich wurden die Reden gehalten, und Ruggiero war mit den Worten, die er dem Brautpaar mit auf den Weg gab, sehr zufrieden. Von Carlo und Della erntete er dankbare Blicke, während seine Mutter ihn liebevoll anlächelte.

„Du hast deine Sache gut gemacht“, lobte sie ihn später.

„Das hast du mir nicht zugetraut, stimmt’s?“, fragte er scherzhaft.

„Doch, doch. Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass du heute keine Begleiterin mitgebracht hast, irgend so ein junges Ding, das die ganze Zeit wie eine Klette an dir hängt.“

„Ich wollte mich auf meine Aufgabe als Trauzeuge konzentrieren und mich nicht ablenken lassen“, erwiderte er.

„Ah ja, ich verstehe.“

„Sei nicht so zynisch, mamma.“

„Bei sechs Söhnen kann man das leicht werden.“

Schweigend lächelte er sie an und wandte sich dann einer seiner Großtanten zu, während seine Mutter ein Gespräch mit ihrer Schwiegertochter Evie begann, der Frau ihres ältesten Sohns Justin.

„Das war nicht fair“, meinte Evie, die vor ihrer Heirat so etwas wie eine Rebellin und begeisterte Motorradfahrerin gewesen war. Doch die glückliche Ehe mit Justin und die Geburt der Zwillinge hatten sie verändert. Sie war jetzt ruhiger und ausgeglichener. Das humorvolle Glitzern in ihren Augen hatte sie allerdings nicht verloren. „Es ist doch vernünftig, dass er sich auf seine Aufgabe konzentriert.“

„Wann war Ruggiero jemals vernünftig? Er ist arbeitswütig, viel zu trinkfreudig, und dann erst seine zahlreichen Affären mit irgendwelchen leichtfertigen jungen Dingern …“

„Nicht alle seine Begleiterinnen waren so, oder?“

„Doch, davon gehe ich aus, denn er hat mir nur sehr selten einmal eine dieser Damen vorgestellt.“ Hope seufzte. „Du hättest gut zu ihm gepasst. Du bist genauso ein Motorradfreak wie er.“

„Stimmt es, dass er jetzt an einem Unternehmen beteiligt ist, das Motorräder herstellt?“

„Ja.“

„Wie interessant“, meinte Evie und nahm sich vor, mit ihm darüber zu reden.

Die Gelegenheit dazu ergab sich für Evie jedoch erst am Abend. Nachdem die meisten Gäste sich verabschiedet hatten, saßen alle, die in der Villa übernachteten, zusammen. Justin war in ein Gespräch mit seiner Mutter vertieft, und Evie gesellte sich zu Ruggiero, der ganz allein auf der Terrasse stand und den Blick über die Stadt mit den vielen funkelnden Lichtern gleiten ließ. Sie nahm in einem Sessel Platz und seufzte erleichtert, während sie die Schuhe abstreifte.

„Hochzeiten können wirklich anstrengend sein“, stellte sie fest.

Er nickte. „Stimmt. Morgen Abend findet schon wieder eine Party statt. Meine Mutter liebt es über alles, ihre Familie um sich zu haben. Doch am Vormittag teste ich erst einmal den Prototyp unseres neuen Motorrads.“

„Ah ja. Wie bist du eigentlich dazu gekommen, dich an der Firma zu beteiligen?“

Er schenkte ihr ein Glas Wein ein und setzte sich ihr gegenüber auf die niedrige Mauer. „Ich kannte Piero Fantone flüchtig, und als er vor zwei Jahren kurz vor dem Bankrott stand, bin ich als Teilhaber eingestiegen. Seitdem geht es stetig aufwärts. Wir stellen in erster Linie ganz normale Fahrzeuge her, bieten aber auch Rennmaschinen an. Wir haben damit sogar schon Rennen gewonnen. Die neue Maschine, die ich morgen fahre, soll bald auf den Markt kommen.“

„Wahrscheinlich ist es die heißeste und schnellste, die in ganz Italien produziert wird“, zog sie ihn auf.

„Ich bitte dich“, antwortete er genauso scherzhaft, „auf der ganzen Welt.“

„Warum riskierst du Kopf und Kragen? Habt ihr keine Testfahrer? Ach, natürlich …“ Sie unterbrach sich und fasste sich an die Stirn. „Du liebst das Risiko. Wo bliebe sonst der Spaß?“

„Richtig.“ Er lächelte sie an. „Evie, du bist die einzige Frau, die mich versteht. Komm doch morgen mit, und schau zu.“

„Ich hätte schon Lust dazu.“ Sie trank einen Schluck Wein. „Man hat heute viel über dich geredet.“

„Ich weiß. Junggesellen geben immer einen interessanten Gesprächsstoff ab. ‚Er ist der Nächste, ihr werdet sehen‘, so oder so ähnlich wird doch meistens spekuliert.“

„Und deshalb hast du diesmal keine Freundin mitgebracht, oder?“, fragte sie lachend.

„Das war einer der Gründe. Die jungen Damen, die ich meiner Mutter bisher vorgestellt habe, haben ihr nicht gefallen. Bringe ich jedoch keine mit, gefällt ihr das auch nicht.“

„Ich nehme an, deine Bekanntschaften entsprechen nicht ihrem Geschmack“, erwiderte sie belustigt und fügte ernst hinzu: „So eine Frau wie Della zu finden, ist sicher so etwas wie ein Lottogewinn.“

„Da kann ich dir nur zustimmen. Carlo ist genauso ein Glückspilz wie Justin, denn eine Partnerin wie dich zu finden, ist auch nicht leicht.“

Schweigend sah sie ihn an.

„Danke, dass du nicht gesagt hast, früher oder später würde ich auch die Richtige finden.“

Die Traurigkeit, die in seiner Stimme mitschwang, verblüffte Evie. „Glaubst du nicht daran?“

„Ja und nein. Ich war der Meinung, ich hätte sie gefunden, doch sie ist aus meinem Leben verschwunden“, erwiderte er.

Evie war überrascht. Schon immer hatte sie vermutet, dass ihr Schwager nicht so oberflächlich war, wie er sich gab, sondern ein ganz empfindsamer Mensch. Jetzt schien es sich zu bestätigen.

„Bist du sicher, dass sie nicht mehr wiederkommt?“, fragte sie behutsam.

„Ja, absolut. Ich weiß nicht viel über sie, nur dass sie Sapphire heißt und Engländerin ist. Wir waren zwei Wochen zusammen, das ist alles.“

Sie spürte, dass das noch längst nicht alles war. In den vierzehn Tagen musste etwas geschehen sein, das ihm keine Ruhe ließ.

„Möchtest du darüber reden?“

„Vor zweieinhalb Jahren habe ich sie in London kennengelernt, als ich Freunde besuchte“, begann er nach kurzem Zögern. „Sie hatten jedoch eigene Probleme und keine Zeit, deshalb habe ich die Stadt auf eigene Faust erforscht. In der Bar meines Hotels bin ich mit der jungen Frau ins Gespräch gekommen. Sie war mit einem Freund verabredet, der nicht auftauchte. Wir haben geredet und geredet, und so fing es an.“

„Wie war sie?“

„Wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Sie wirkte so zerbrechlich, dass ich beinah Angst hatte, sie zu berühren. Nach zwei Wochen verschwand sie einfach.“

„Ohne dir zu sagen weshalb und wohin?“

„Ja. Ich habe sie nie wiedergesehen. Vielleicht war das alles nur ein wunderschöner Traum.“

So hatte Evie ihren Schwager noch nie reden gehört. Er blickte in die Ferne und schien in seine Gedanken versunken zu sein, und sie wartete atemlos darauf, dass er weitererzählte.

Doch plötzlich lachte er rau auf. „Aber was soll’s? So etwas passiert immer wieder. Man begegnet sich und trennt sich wieder.“

„Ich glaube nicht, dass es so einfach ist“, entgegnete Evie. „Ich spüre doch, dass sie dir viel bedeutet hat.“

Er zuckte die Schultern. „Es war nur eine Urlaubsbekanntschaft. Was bedeuten solche Romanzen schon?“

„Ruggiero …“

„Kommst du morgen mit oder nicht?“, wechselte er unvermittelt das Thema.

„Natürlich.“

„Okay, dann sei bitte ganz früh fertig.“ Schnell wünschte er ihr eine gute Nacht und eilte ins Haus. Er ärgerte sich über sich selbst, denn es war nicht seine Art, feige davonzulaufen. Doch über die Frau zu reden, nach der er sich immer noch sehnte, tat zu weh.

Wenig später stellte er sich unter die Dusche in der Hoffnung, alles, was ihn bedrückte, abwaschen zu können. Aber die Gedanken, mit denen er sich den ganzen Tag herumgequält hatte, ließen sich nicht vertreiben.

Es hatte ihm einen Stich gegeben, seinen Zwillingsbruder Carlo vor Glück und Freude strahlen zu sehen. Der Anblick hatte ihn daran erinnert, dass Sapphire einmal gesagt hatte: „Vergiss den Rest der Welt, wir haben uns. Was brauchen wir sonst noch?“

Als er jetzt die Augen schloss, sah er sie in dem eleganten roten Kleid vor sich, in dem er sie kennengelernt hatte. Der tiefe Ausschnitt ließ ihre wunderschönen Brüste ahnen. Mit ihrer perfekten Figur und den langen Beinen zog sie die Aufmerksamkeit aller Männer auf sich, was sie sichtlich genoss.

Innerhalb weniger Stunden hielt er sie nackt in den Armen. Ihr herrlicher Körper, ihre verführerische Stimme und ihr Lachen hatten ihm beinah den Atem geraubt.

Andere Visionen stiegen vor ihm auf. Auf einem Jahrmarkt hatten sie sich wie Kinder amüsiert und schließlich eng umschlungen vor einem Fotoautomaten posiert, aus dem kurz darauf zwei Bilder herausgekommen waren, für jeden eins.

„Sapphire“, flüsterte er jetzt. Ihren Familiennamen hatte sie ihm nicht verraten.

Er war ihrem Zauber erlegen. Mit ihrer erotischen Ausstrahlung hatte sie ihn betört und zu einem anderen Menschen gemacht. Sie war eine einfallsreiche Geliebte, die nicht geduldig darauf gewartet hatte, dass er zu ihr ins Bett kam. Stattdessen war sie ihm unter die Dusche gefolgt, hatte die Arme um ihn gelegt und ihn verführt.

Eines Abends hatte sie ihn mit dem Versprechen verlassen, am nächsten Morgen zurückzukommen. Er hatte die ganze Nacht nicht schlafen können und sich vorgenommen, am nächsten Tag eine Entscheidung herbeizuführen.

Doch sie war nicht wieder aufgetaucht. Er hatte den ganzen Tag gewartet, dann noch einen weiteren und noch einen – er hatte sie nie wiedergesehen.

Nach seiner Rückkehr aus London war er nicht mehr derselbe Mensch, auch wenn er nach außen hin so tat, als wäre alles in Ordnung. Dass seine Fröhlichkeit oft nur aufgesetzt war, schien niemandem aufzufallen. Über sein Geheimnis sprach er nie und auch nicht über seine Gefühle, die er sowieso nach Möglichkeit verdrängte. Dass er sich Evie anvertraut hatte, war die große Ausnahme.

An diesem Tag hatte er deutlich gespürt, dass sich für Carlo eine Tür geöffnet hatte, die ihm selbst verschlossen war. Damals hatte sie sich auch für ihn halb aufgetan, ehe sie ihm brutal vor der Nase zugeschlagen worden war und ihn in tiefe Verzweiflung gestürzt hatte.

In der Stille um ihn herum fühlte Ruggiero sich jetzt noch einsamer als jemals zuvor, obwohl die Villa voller Menschen war.

Da der Abflug sich verzögerte, musste Polly in London stundenlang warten. Als sie endlich in Neapel landete, war sie völlig erschöpft. Während der Wartezeit und des Flugs hatte sie noch einmal gründlich über alles nachgedacht und bereute jetzt ihren Schritt.

In der Schlange vor der Passkontrolle warf sie einen Blick in den großen Spiegel an der Wand neben ihr und wünschte, sie hätte es nicht getan, denn sie war mit ihrem Aussehen alles andere als zufrieden.

Irgendwie fand sie es ungerecht, dass sie trotz der relativ großen Ähnlichkeit mit ihrer Cousine Freda weniger Aufmerksamkeit erregte. Wie sie war Polly groß und schlank und hatte ebenfalls langes blondes Haar. Fredas Schönheit wurde noch durch ihre geschmeidigen, anmutigen Bewegungen unterstrichen, während sie selbst eher forsch und zielstrebig wirkte.

„Ich bin Krankenschwester und muss ständig hin- und herlaufen, weil ich immer woanders gebraucht werde. Die Patienten, die nach mir klingeln, warten nicht. Und wenn ich müde nach Hause komme, bin ich nicht in der Stimmung, mich dekorativ auf einem Sofa zu rekeln, sondern falle erschöpft ins Bett“, hatte sie einmal zu Freda gesagt, als sie über das Thema sprachen.

Freda hatte belustigt zugehört. „Du kannst das so herrlich beschreiben, Liebes, und bist einfach wunderbar. Was sollte ich ohne dich nur machen?“

So war Freda. Sie fand immer die richtigen Worte, auch wenn es nur Phrasen waren. Mit ihrem verführerischen Lächeln brachte sie die Männer um den Verstand, und sie spielte gern die Rätselhafte, Geheimnisvolle, die sie eigentlich gar nicht war.

Mit allem, was Freda sagte und tat, wollte sie ihre Zuhörer beeindrucken, was ihr auch gelang. Sie hatte zahlreiche Bewunderer und einen reichen Mann gehabt.

Während Polly sich in der Schlange langsam vorwärts bewegte, dachte sie über ihr Äußeres nach und kam zu demselben niederschmetternden Ergebnis wie immer. Ich sehe aus, als hätte mich jemand im Regen stehen lassen, doch das ist nach allem, was ich im letzten Jahr erlebt habe, nicht verwunderlich.

Nachdem sie die Passkontrolle passiert und ihr weniges Gepäck abgeholt hatte, fuhr sie mit einem Taxi zu dem einfachen Hotel, in dem sie online ein Zimmer gebucht hatte. Immerhin war es sauber und ordentlich, und die Leute begegneten ihr freundlich. Da es zu spät war, um mit der Suche zu beginnen, setzte sie sich in das kleine Gartenrestaurant und ließ sich die besten Spaghetti ihres Lebens schmecken. Anschließend duschte sie, streckte sich auf dem Bett aus und betrachtete das Bild, das sie mitgenommen hatte.

Es war ein Automatenfoto, und Freda sah darauf wunderschön aus. Sie lehnte sich an einen jungen Mann von ungefähr Ende zwanzig. Er hatte dunkles, leicht gelocktes Haar, ein schmales Gesicht und einen energischen Zug um den Mund. Besitzergreifend hatte er den Arm um Freda gelegt, während sein Kinn auf ihrem Kopf ruhte.

Er lächelte in die Kamera, wirkte froh und glücklich, und seine entschlossene Miene schien auszudrücken, dass Freda zu ihm gehörte und er seinen Besitzanspruch bis zum letzten Atemzug verteidigen würde.

Als Ruggiero am nächsten Morgen mit Evie auf der Rennstrecke am Stadtrand von Neapel ankam, überreichte er ihr Unterlagen mit technischen Einzelheiten über das Motorrad, das er testen wollte. Dann zeigte er ihr, von welchem Platz aus sie den besten Überblick hatte.

„Falls ich mir jemals das Genick breche, dann da drüben, wo die vielen Leute stehen“, prophezeite er lächelnd und wies auf die Mechaniker am Rand der scharfen Kurve. „Unsere Mitarbeiter befinden sich immer an derselben Stelle – in der Hoffnung, dass etwas Spektakuläres passiert.“ Grinsend drehte er sich um und eilte davon.

Evie blickte hinter ihm her. In dem schwarzen Lederanzug, der seine große, muskulöse Gestalt betonte, sah er ungemein männlich aus.

Schließlich setzte sie sich in die erste Reihe der Tribüne und bemerkte sofort die schlanke junge Frau mit dem langen blonden Haar, die seltsam nervös wirkte und unsicher lächelte, während sie ebenfalls Platz nahm.

„Sind Sie auch eine Mitarbeiterin?“, fragte Evie sie freundlich.

„Nein. Und Sie?“

„Auch nicht. Ruggiero ist mein Schwager.“

Sie wechselten noch einige belanglose Worte, dann schwieg die Fremde, und Evie vertiefte sich in die Unterlagen. Wenig später fiel ihr auf, dass die junge Frau wie versteinert dasaß und die Rennstrecke fixierte, als hätte das Ganze für sie eine besondere Bedeutung.

Unterdessen ging Ruggiero auf die beiden Mechaniker zu, die neben dem Motorrad standen. Sein aufgesetztes Lächeln kam ihm vor wie eine Maske, hinter der er sich versteckte. Die Gedanken an Sapphire hatten ihm die ganze Nacht keine Ruhe gelassen. Nachdem er die Vergangenheit heraufbeschworen hatte, ließen sich die Erinnerungen nicht mehr verdrängen und quälten ihn stundenlang, bis er in einen unruhigen Schlaf fiel, aus dem er immer wieder aufgeschreckt war. Dadurch war er jetzt unausgeschlafen und seltsam deprimiert.

Am besten hätte er die Testfahrt auf einen anderen Tag verschoben. Er wollte sich jedoch nicht eingestehen, dass er nicht fit war. Außerdem hoffte er, die Gedanken an Sapphire loszuwerden, wenn er sich ablenkte und sich auf das Nächstliegende konzentrierte.

Er setzte den schwarzen Helm auf, der Kopf und fast das ganze Gesicht bedeckte und ihn aussehen ließ wie einen Astronauten, und setzte sich auf das Motorrad. Ein Kick genügte, und die Maschine fing an zu dröhnen. Die Fahrt konnte beginnen.

Die erste Runde legte er in mäßigem Tempo zurück. Dann legte er sich so tief in die scharfe Kurve, dass er mit dem Knie beinah den Boden streifte. Er schoss vorwärts und wurde immer schneller, bis er die Höchstgeschwindigkeit erreichte, für die die Maschine ausgelegt war. Er wusste jedoch, dass es immer noch einen gewissen Spielraum gab. Also drehte er weiter auf in der Hoffnung, die Geister der Vergangenheit abschütteln zu können.

Doch Sapphire war noch immer in seinen Gedanken und schien ihm zu sagen, sie würde immer bei ihm bleiben. Plötzlich glaubte er, sie vor sich auf der Strecke zu sehen. Ihr langes blondes Haar wehte ihm Wind.

Instinktiv versuchte er, der Erscheinung, von der nicht wusste, ob sie Wirklichkeit oder Fantasie war, auszuweichen. Dabei verlor er die Gewalt über das Fahrzeug. Er flog durch die Luft und schlug so heftig auf den Boden auf, dass es ihm den Atem raubte und alles um ihn herum schwarz wurde.

2. KAPITEL

Freda hatte nur gewusst, dass Ruggiero und seine Familie in Neapel in der Villa Rinucci lebten. Polly hatte sich vorgenommen, am Morgen nach ihrer Ankunft dorthin zu fahren, doch als sie an der Rezeption ihres Hotels in der aufgeschlagenen Zeitung sein Foto entdeckte, bat sie den Empfangschef, ihr den Artikel zu übersetzen. Er handelte von der Hochzeit seines Bruders Carlo, von den Familienmitgliedern und von ihren beruflichen Aktivitäten. Auch der Name von Ruggieros Firma wurde erwähnt. Kurz entschlossen änderte sie ihre Pläne und nahm ein Taxi, das sie dorthin brachte.

Da sie kein Italienisch sprach, begriff sie erst nach vielen Missverständnissen, dass Ruggiero an diesem Tag auf der Rennstrecke war. Froh über die Chance, ihn unbemerkt beobachten zu können, ließ sie sich dort von einem anderen Fahrer absetzen. Für die Öffentlichkeit war die Anlage natürlich geschlossen, doch Polly schaffte es, mit einigen Mitarbeitern des Unternehmens unbemerkt durch die Absperrung zu gelangen.

Als sie wenig später die Tribüne betrat, entdeckte sie ihn sogleich. Er zeigte einer jungen Frau einen Platz in der ersten Reihe. Polly überlegte, welche Rolle die Unbekannte wohl in seinem Leben spielte. Sein Lächeln wirkte so aufgesetzt, dass sie eine Gänsehaut bekam. Schließlich verschwand er, und Polly setzte sich. Die junge Frau lächelte sie freundlich an und wechselte einige Worte mit ihr. Dadurch erfuhr Polly, dass Ruggiero ihr Schwager war und sie Evie hieß.

„Ist er mit Ihrer Schwester verheiratet?“, fragte Polly alarmiert.

„Nein, ich bin die Frau seines Bruders“, erwiderte Evie lachend. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ruggiero sich jemals fest bindet. Dafür genießt er das Junggesellendasein viel zu sehr.“

Polly atmete erleichtert auf. Die Sache wäre sonst außerordentlich kompliziert geworden. Sie verfolgte, wie er sich auf das Motorrad schwang und einer Rakete gleich davonschoss.

Runde um Runde drehte er auf der Maschine und wurde immer schneller. Polly bewunderte seine Souveränität angesichts der Gefahr, in die er sich begab.

Auf dem Streckenabschnitt kurz vor der Kurve, wo sie auf der Tribüne saß, fuhr er, wie es Polly schien, sekundenlang direkt auf sie zu. Dann wechselte er wieder in die extreme Schräglage und verschwand.

Plötzlich passierte etwas Seltsames und Unerklärliches. Ohne ersichtlichen Grund stieg Angst in ihr auf. Sie war aufs Höchste alarmiert und hatte das Gefühl, irgendetwas sei ganz und gar nicht in Ordnung. Mit Motorrädern kannte sie sich nicht aus, dafür umso besser mit seelischen Problemen. Ihr Instinkt sagte ihr, dass dieser Mann unerträglich litt und die Grenzen dessen, was er ertragen konnte, erreicht hatte.

Polly erhob sich, lehnte sich an das Geländer und runzelte die Stirn, während sie sich fragte, warum sie auf solche Gedanken kam.

Und dann ging alles ganz schnell. Vielleicht hatte er einen winzigen Fehler gemacht, jedenfalls geriet die Maschine ins Schleudern, und Ruggiero flog in hohem Bogen durch die Luft.

Alle um sie herum schrien entsetzt auf und standen wie gelähmt da, nur Polly reagierte, ohne zu zögern. Sie kletterte über die Absperrung, lief auf die Rennstrecke, wich den sich drehenden Rädern des Motorrads aus, das umgekippt war, und kniete sich neben Ruggiero.

„Bleiben Sie ganz ruhig liegen“, forderte sie ihn auf, ohne zu wissen, ob er es hörte.

„Moment mal!“ Ein Mann kam angelaufen und wollte sie wegziehen.

„Ich bin Krankenschwester“, antwortete sie auf Englisch und befreite sich aus seinem Griff. „Rufen Sie sofort einen Krankenwagen!“

Gott sei Dank verstand der Mann sie. „Einen Krankenwagen, schnell!“, rief er seinen Mitarbeitern zu und wandte sich wieder an Polly.

In dem Moment stöhnte Ruggiero auf und bewegte sich. Unter dem dunklen Plastikvisier öffnete er die Augen, sah Polly sekundenlang mit ungläubigem Erstaunen an und schloss dann die Lider wieder.

„Ist er schwer verletzt?“, wollte der Mann wissen. „Ich bin übrigens Piero Fantone. Und wer sind Sie?“

„Polly Hanson“, murmelte sie, während sie Ruggiero flüchtig untersuchte. „Ich glaube nicht“, beantwortete sie dann die Frage. „Das kann ich erst genauer sagen, wenn wir ihm die Lederkluft ausgezogen haben. Wir müssen ihn unbedingt in die Kabine bringen.“

„Ich lasse so schnell wie möglich eine Trage kommen.“

Unter dem Helm sagte Ruggiero etwas, das Polly nicht verstand. Piero hingegen schien es zu begreifen und sprach beruhigend auf den Verunglückten ein. Zum Dank fing Ruggiero an, heftig zu fluchen.

„Es kann ihm so schlecht nicht gehen“, stellte Piero daraufhin lakonisch fest.

„Es ist zumindest ein ziemlich gutes Zeichen“, stimmte sie ihm zu.

Plötzlich ruderte Ruggiero wie wild mit den Armen und stieß dabei Polly um, die immer noch neben ihm kniete. Er schaffte es sogar, sich halb aufzurichten, ehe er umkippte und gegen Polly sank, die rasch aufgestanden war.

„Wir müssen ihm den Helm abnehmen“, erklärte sie und ließ Ruggiero behutsam auf den Boden gleiten.

Nachdem Piero ihn vorsichtig vom Helm befreit hatte, betrachtete sie Ruggieros Gesicht. Er sah etwas anders aus als auf dem Foto, älter und schmaler. Sein dunkles Haar war zerzaust und feucht, und er wirkte sehr verletzlich. Ohne die Augen zu öffnen, bewegte er die Lippen.

„Was sagt er?“, fragte Piero.

„Keine Ahnung.“ Polly beugte sich über Ruggiero, um ihn besser zu verstehen, und spürte seinen warmen Atem an ihrer Wange.

„Sapphire“, flüsterte er.

Sie versteifte sich und blickte ihn scharf an.

„Was hat er gesagt?“, hakte Piero noch einmal nach.

„Leider konnte ich es nicht verstehen. Ah, da ist ja schon die Trage.“ Sie trat einige Schritte zurück, als die Männer ihn hochnahmen, um ihn zu einer Kabine unter der Tribüne zu tragen.

Sie war schockiert und stand wie erstarrt da, bis ihr Evie, die von der Tribüne heruntergekommen war, den Arm um die Schulter legte und fragte: „Ist alles in Ordnung?“

„Ja“, erwiderte Polly leise.

„Dann kommen Sie mit.“

In Ruggieros Kopf drehte sich alles. Immer wieder stieg Sapphires Bild vor ihm auf. Er sah sie vor sich, wie sie ihn auf die Rennstrecke lockte, bis er verunglückte.

Kurz darauf war sie neben ihm, hielt ihn in den Armen und sprach ihm Trost zu. Er hatte gestöhnt und die Hände nach ihr ausgestreckt, aber sie war verschwunden.

Jetzt öffnete er die Augen und stellte fest, dass er auf einem Ledersofa lag und Evie neben ihm saß.

„Bleib ruhig liegen“, forderte sie ihn auf.

„Wo ist sie?“

„Wer?“

„Sie stand da, ich habe sie gesehen. Wo ist sie? Oh …“ Er stöhnte auf.

„Beweg dich nicht“, wiederholte sie bestimmt. „Du bist schwer gestürzt.“

„Es geht mir gut“, behauptete er und versuchte, sich aufzurichten. „Ich muss sie suchen.“

„Ruggiero, wen meinst du?“, fragte sie beunruhigt, weil er offenbar verwirrt war.

„Die Frau. Sie war da …“

„Meinst du die, die Erste Hilfe geleistet hat?“

„Hast du sie auch gesehen?“

„Klar. Sie saß auf der Tribüne und ist nach dem Unfall sofort zu dir gelaufen.“

Er blickte Evie unverwandt an und wagte kaum zu glauben, was er gerade gehört hatte. „Wo ist sie jetzt?“

„Ich hole sie. Sie spricht nur Englisch.“

„Englisch?“, wiederholte er leise. „Hast du gesagt, dass sie Engländerin ist?“

„Ja, Ruggiero. Meinst du, du …?“

„Meine Güte, bring sie zu mir!“, rief er rau aus.

Umgehend eilte Evie aus dem Raum.

Ruggiero versuchte aufzustehen, sackte jedoch sogleich wieder zusammen und verfluchte seine Schwäche. Trotzdem packte ihn eine wilde Hoffnung. Offenbar war es keine Einbildung. Sie war wirklich gekommen und hatte die Arme nach ihm ausgestreckt, wie so oft in seinen Träumen. Jeden Moment würde sie hereinkommen.

„Hier ist sie“, verkündete in diesem Augenblick Evie von der Tür her.

Beim Anblick der großen, schlanken Gestalt mit dem langen blonden Haar bekam er Herzklopfen. Überwältigt von seinen Gefühlen, flüsterte er ihren Namen. Doch dann löste sich der Schleier vor seinen Augen auf. Die junge Frau hatte ein hübsches, freundliches Gesicht, aber sie war nicht die, nach der er sich so sehr sehnte.

„Hallo“, sagte sie. „Ich bin Polly Hanson. Ich habe Ihren Unfall mitbekommen, und da ich Krankenschwester bin, habe ich versucht, Ihnen zu helfen.“

„Danke“, flüsterte er wie betäubt.

Was für ein Chaos! Er hatte geglaubt, Sapphire endlich gefunden zu haben. Stattdessen stand diese sachlich und nüchtern wirkende Fremde vor ihm, die Sapphire so ähnlich sah, dass es ihm beinah das Herz brach. Wieder einmal war alles nur eine Illusion gewesen.

Ihm war klar, dass er Sapphires Namen ausgesprochen hatte. Hatten Evie und die andere Frau es gehört? Er ließ sich zurücksinken und schloss die Augen.

„Danke“, wiederholte er und zwang sich, die Lider wieder zu öffnen.

In dem Moment verkündete Piero: „Der Krankenwagen ist da.“

„Was für ein verdammter Krankenwagen?“, fragte Ruggiero gereizt. „Ich gehe nicht ins Hospital.“

„Das sollten Sie aber“, entgegnete Polly. „Sie sind schwer auf den Kopf gestürzt und müssen sich unbedingt untersuchen lassen.“

„Signorina“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „ich bin Ihnen dankbar für Ihre Hilfe, trotzdem haben Sie mir nichts zu befehlen. Schicken Sie die Sanitäter weg.“

Verärgert über seinen Ton, begann Polly: „Signor Rinucci, ich rate Ihnen dringend …“

„Sie können mir raten, was Sie wollen“, fuhr er sie an. „Ich verbitte mir jede weitere Einmischung.“

„So freundlich und liebenswürdig kann eigentlich nur mein Sohn sein“, ertönte in diesem Augenblick eine weibliche Stimme.

Mamma“, sagte Ruggiero gequält. „Woher weißt du …?“

„Evie hat mich über Handy angerufen“, antwortete Hope auf Englisch, weil sie gehört hatte, dass ihr Sohn und die junge Dame sich in der Sprache unterhalten hatten. „Ich war einkaufen und zufällig in der Nähe.“

„Was für ein seltsamer Zufall!“

„Sei ruhig, und benimm dich“, forderte Hope ihn streng auf. „Du solltest die Leute, die dir helfen wollen, nicht so grob behandeln.“

Da er sich weiterhin hartnäckig weigerte, sich ins Hospital bringen zu lassen, schickte Hope den Krankenwagen weg.

„Ich ruhe mich zu Hause aus“, erklärte Ruggiero. „Rechtzeitig zu der Party heute Abend bin ich wieder fit.“

„Oder Sie brechen völlig zusammen“, erklärte Polly mit einer Spur von Schärfe in der Stimme.

Evie stellte die beiden Frauen einander vor und erklärte ihrer Schwiegermutter kurz, dass Polly Krankenschwester sei und Erste Hilfe geleistet habe.

Ohne zu zögern, umarmte Hope die junge Frau daraufhin liebevoll. „Ganz herzlichen Dank. Bitte, tun Sie mir den Gefallen, und kommen Sie doch heute Abend zu uns.“

Ruggiero hob jedoch die Hand, wie um zu protestieren, und Polly war klar, dass er mit der Einladung nicht einverstanden war. Offenbar wollte er sie so rasch wie möglich loswerden, und sie konnte sich auch denken warum.

Hope ignorierte die Geste. „Heute Abend möchte ich mich noch einmal richtig bei Ihnen bedanken. Vielleicht sind Sie so freundlich und …“ Sie verstummte und warf ihrem Sohn einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Keine Sorge, ich werde ihn im Auge behalten“, versprach Polly.

„Das werden Sie nicht“, fuhr Ruggiero sie an.

„Oh doch“, bekräftigte sie.

„Das lasse ich nicht zu.“

„Versuchen Sie doch, mich daran zu hindern.“

„Sie haben die richtige Einstellung“, sagte Hope erfreut. Dann sorgte sie dafür, dass Ruggiero zu ihrem Wagen gebracht wurde, und überließ es Evie, Polly zum Hotel zurückzufahren.

„Bei der Party heute Abend handelt es sich um eine Familienfeier“, erzählte Evie unterwegs. „Die Rinuccis sind in alle Winde verstreut. Gestern hat jedoch Carlo Rinucci geheiratet, und da waren alle da. Weil Hope solche Treffen liebt, kommen wir nachher noch einmal zusammen, ehe alle wieder nach Hause fahren.“

„War sie wirklich rein zufällig hier?“, fragte Polly.

Evie lachte. „Nein. Bei jeder Testfahrt ist sie in der Nähe und hat immer ihr Handy dabei, damit sie im Notfall sofort informiert werden kann. Das weiß ihr Sohn natürlich und ärgert sich, doch er redet nicht darüber. Es tut mir leid, dass er Ihnen gegenüber so unhöflich war. Normalerweise ist er ganz anders.“

„Es geht ihm nicht gut“, erwiderte Polly. Dass es wahrscheinlich noch einen anderen Grund für seine feindselige Haltung gab, behielt sie lieber für sich.

Als Evie sie vor dem Hotel absetzte, versprach sie Polly, irgendjemand würde sie um sieben abholen.

Jetzt habe ich ein Problem, überlegte Polly, nachdem sie wenig später ihr Zimmer betreten hatte. Sie war mit wenig Gepäck gereist und hatte nur Jeans, einige Blusen und Pullis mitgenommen. Auf eine Party war sie nicht vorbereitet. Kurz entschlossen verließ sie deshalb das Hotel und machte einen Einkaufsbummel.

In einer Boutique entdeckte sie schließlich ein dunkelblaues Seidenkleid, das ihr ausgesprochen gut gefiel und ihre perfekte Figur betonte. Es war relativ preiswert, und die silbernen Sandaletten, die sie in dem Schuhgeschäft neben ihrer Unterkunft erstand, waren noch günstiger.

Ihre glamouröse Cousine Freda, die mit einem Multimillionär verheiratet gewesen war, hätte über das eher bescheidene Outfit die Nase gerümpft, doch Polly fühlte sich wie im siebten Himmel.

Als sie sich jetzt im Spiegel betrachtete, beschloss sie, ihr langes Haar hochzustecken. Vielleicht hätte sie das schon heute Morgen tun sollen, dann hätte Ruggiero sie nicht mit ihrer Cousine verwechselt.

Was, so fragte sie sich jetzt, hatte ihn so sehr abgelenkt, dass er so schwer verunglückte? Es war seltsam gewesen, diesen kräftigen, athletischen Mann so hilflos zu erleben. So ganz anders als in Fredas Beschreibungen.

„Er ist arrogant und überheblich und glaubt, er könne die Welt verändern“, hatte Freda erklärt. „Deshalb war er der Richtige für mich.“

„Du hast deine Meinung aber rasch geändert“, hatte Polly sie ruhig erinnert. „Schon nach zwei Wochen hast du ihn sitzen lassen.“

Freda hatte gleichgültig die Schultern gezuckt. „Er hätte die Affäre sowieso früher oder später beendet, denn von Anfang an war mir klar, dass er die Abwechslung liebt. Das war mir sehr recht, so gab es wenigstens später keinen Ärger.“

„Außerdem hast du ihm deinen Namen verheimlicht.“

„Sapphire klingt doch gut, oder?“

Polly hatte ihre Einstellung zum Verhalten ihrer Cousine für sich behalten.

Zweifellos war er arrogant, davon war Polly überzeugt, hatte aber bereits auch eine andere Seite an ihm entdeckt.

Er hatte Sapphires Namen geflüstert und die Hände nach seiner früheren Geliebten ausgestreckt. Doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle gehabt und die Hände zurückgezogen. Offenbar hatte er Sapphire nie vergessen, und damit hatte Polly nicht gerechnet.

Pünktlich um sieben wurde Polly von einem Chauffeur abgeholt. Sie fuhren durch die Stadt und über die kurvenreiche Straße den Hügel hinauf zur Villa Rinucci. Schon von Weitem sah sie die vielen funkelnden Lichter.

Als der Wagen anhielt, eilte Hope aus dem Haus. Sie wartete, bis Polly ausgestiegen war, und begrüßte sie herzlich. „Ich bin froh, dass Sie da sind. Unser Hausarzt ist auch unter den Gästen, doch er kann nicht lange bleiben.“

„Ich würde gern mit ihm reden“, erwiderte Polly und wurde von Hope mit einem strahlenden Lächeln belohnt.

Im Wohnzimmer angekommen, stellte sie ihr Dr. Rossetti, einen Freund der Familie, vor.

„Ruggiero war schon immer sehr eigensinnig und sagt einem ins Gesicht, wenn ihm etwas nicht passt“, erklärte der Arzt.

Polly lächelte. „Dann hält er ja wohl nichts von Diplomatie und Höflichkeitsfloskeln.“

„Bestimmt nicht. Man beißt bei ihm auf Granit, wenn er etwas nicht glauben oder wahrhaben will. Er hasst es, krank oder nicht ganz fit zu sein. Am besten lassen Sie sich nicht anmerken, dass Sie um ihn besorgt sind.“

„Danke für den Hinweis. Mir ist auch schon aufgefallen, wie sehr es ihm widerstrebt, hilflos zu sein.“ Sie entdeckte Ruggiero am anderen Ende des Raums und fügte hinzu: „Den linken Arm kann er kaum bewegen. Vermutlich hat er sich an der Schulter verletzt.“

„Es wäre gut, wenn er sich damit einreiben würde“, meinte der Arzt und reichte ihr eine Salbe.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass er eine Gehirnerschütterung hat“, fuhr sie fort.

„Aber höchstens eine leichte, denn er kann sich an alles erinnern. Bettruhe wäre für ihn besser. Hier, versuchen Sie, ihn zu überreden, davon zwei zu nehmen.“ Dr. Rossetti drückte ihr Tablettenröhrchen in die Hand.

„Oh ja, die sind gut gegen Kopfschmerzen“, erwiderte Polly, als sie die Packungsaufschrift las.

„Glauben Sie etwa, er würde zugeben, dass er welche hat?“, fragte der Arzt belustigt.

„Warten wir es ab“, entgegnete sie. „Ich kenne mich aus im Umgang mit schwierigen Patienten.“ Dann nickten sie einander verständnisvoll zu, und als Polly sich umdrehte, begegnete sie Ruggieros Blick.

Er verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. Natürlich war ihm klar, dass sie über ihn gesprochen hatte, und er würde bestimmt jede Hilfe ablehnen.

In dem Moment nahm Evie sie mit, um sie der Familie vorzustellen. Das Brautpaar, Carlo und Della, war, wie Polly erfuhr, am Tag zuvor in die Flitterwochen gefahren, aber alle anderen Familienmitglieder waren da. Während Polly sich bemühte, sich die Namen einzuprägen, nahm Hope sie beiseite und sagte: „Kommen Sie, ich mache Sie mit Ruggiero bekannt.“

„Lieber nicht“, antwortete Polly. „Er rechnet wahrscheinlich damit, dass ich ihm gegenüber die Krankenschwester herauskehre, und deshalb werde ich genau das nicht tun.“

Hope nickte. „Eine weise Entscheidung. Warum hören die Männer eigentlich nicht auf intelligente Frauen?“

„Weil sie mit den anderen mehr Spaß haben, nehme ich an“, erwiderte Polly belustigt. „Lassen Sie ihn warten und sich fragen, was los ist. Ich werde ihn einfach nicht beachten.“

Hope stellte sie daraufhin den älteren Mitgliedern der Familie Rinucci vor, und alle begrüßten sie herzlich. Polly war beeindruckt, wie freundlich und aufgeschlossen diese Menschen waren.

Schon bald wurde ihr klar, dass Hope das Sagen im Kreis ihrer Angehörigen hatte. Sie war eine liebenswürdige Frau und setzte ihren Willen so charmant und unauffällig durch, dass man ihren Einfluss und ihre Macht sehr leicht unterschätzte.

Plötzlich drückte ihr jemand ein Glas in die Hand, und Polly sah auf. Ruggiero stand mit finsterer Miene vor ihr.

„Es ist nur Mineralwasser“, erklärte er. „Im Dienst dürfen Sie vermutlich keinen Alkohol trinken, oder?“

„Im Dienst?“

„Stellen Sie sich nicht dumm, das zieht bei mir nicht. Sie sind hier, um ein Auge auf mich zu haben und mir zu helfen, falls ich zusammenbreche. Leider muss ich Sie enttäuschen, denn ich fühle mich ausgesprochen wohl und amüsiere mich großartig.“

„Mit einer Rippenquetschung?“

„Wer behauptet denn so etwas?“

„Sie verraten sich selbst durch Ihre vorsichtigen Bewegungen. Vergessen Sie nicht, ich kenne mich aus.“

„Bilden Sie sich ein, Sie könnten mich ins Krankenhaus einliefern lassen?“

„Das ist nicht nötig. Sie brauchen nur …“

„Ich sage es zum letzten Mal“, erklärte er scharf, „es ist alles in Ordnung, mir ist nichts passiert.“

„Meine Güte, was wollen Sie damit eigentlich beweisen?“

„Dass ich keine Aufpasserin brauche.“

„Es geht Ihnen aber nicht gut, und Sie benötigen sehr wohl so jemanden.“ Sie war nahe daran, wütend zu werden. „Sie ganz besonders. Man sollte Sie rund um die Uhr von einem Leibwächter bewachen lassen und Ihnen Handschellen anlegen. Doch auch dann würden Sie wahrscheinlich immer noch einen Weg finden, irgendeine Dummheit zu machen.“

„Mir ist eben nicht zu helfen, überlassen Sie mich einfach meinem Schicksal.“

„Das wäre in der Tat keine schlechte Idee“, antwortete sie ärgerlich.

Zu ihrer Verblüffung schwieg er, und als sie ihn ansah, wusste sie warum. Er setzte sich langsam hin, lehnte den Kopf an die Wand, und wenn Polly sein Glas nicht aufgefangen hätte, wäre es zu Boden gefallen.

„Hören Sie auf, sich und anderen etwas vorzumachen“, forderte sie ihn sanft auf.

Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und er drehte sich mit schmerzverzerrter Miene langsam zu ihr um.

„Was haben Sie gesagt?“

„Sie müssen sich ausruhen.“

In dem Moment gesellte Hope sich zu ihnen. „Was ist passiert?“, fragte sie besorgt.

„Ihr Sohn möchte sich hinlegen“, antwortete Polly.

Er widersprach ihr nicht, sondern zuckte nur schicksalsergeben die Schultern, ehe er langsam aufstand. Auf einmal schwankte er und stützte sich leise fluchend auf Polly. Hope winkte seine Brüder herbei.

„Sobald Sie im Bett liegen, werde ich mich um Sie kümmern“, erklärte Polly.

Ruggiero stöhnte auf. „Also, ich glaube nicht …“

„Es ist mir egal, was Sie glauben oder nicht glauben“, unterbrach sie ihn ruhig. „Ich komme nachher zu Ihnen, und dabei bleibt es. Und keine Widerrede, das wäre sowieso nur Zeitverschwendung.“

Seine Brüder hörten ziemlich belustigt zu, doch als sie dem vorwurfsvollen Blick ihrer Mutter begegneten, beeilten sie sich, Ruggiero auf sein Zimmer zu bringen.

3. KAPITEL

Ruggiero lag in einem schwarzen Seidenpyjama im Bett, und Hope saß neben ihm, als Polly fünfzehn Minuten später hereinkam.

„Sie haben unerträgliche Kopfschmerzen, stimmt’s?“, fragte sie mitfühlend.

„Das kann man wohl sagen“, antwortete er mit schwacher Stimme.

„Hier ist etwas dagegen.“ Sie reichte ihm zwei Tabletten und ein Glas Wasser.

Erstaunlicherweise widersprach er ihr nicht, sondern richtete sich auf, schluckte die Pillen und ließ sich wieder zurücksinken. Dann schloss er die Augen.

„Morgen wird es ihm schon wieder besser gehen“, versicherte Polly seiner Mutter. „Wollen Sie nicht zu Ihren Gästen zurückkehren?“

„Ich möchte ihn nicht allein lassen.“

„Ich bleibe bei ihm“, versprach Polly.

„Sind Sie sicher, dass …?“ Hope verstummte und überlegte kurz. „Okay, ich verschwinde wieder. Bei Ihnen ist er gut aufgehoben.“ Sie küsste Polly flüchtig auf die Wange und verließ den Raum.

Polly knipste alle Lampen außer der Nachttischlampe aus, stellte sich ans Fenster und blickte hinaus in den Garten. Plötzlich hörte sie Ruggiero leise stöhnen. Außerdem warf er sich hin und her, und sogleich war sie wieder neben ihm.

„Es wird alles gut“, sagte sie sanft. „Ich bin da. Lassen Sie es einfach los.“

Was sie damit meinte, wusste sie selbst nicht genau, doch er schien es zu verstehen, denn er wurde sogleich ruhiger. Sie zog einen Sessel näher ans Bett, setzte sich und beugte sich vor. „Lassen Sie alles los, lassen Sie sie gehen.“

Als Hope später behutsam die Tür öffnete, blieb sie stehen und beobachtete Polly, die den Blick fest auf Ruggiero gerichtet hatte und reglos dasaß. Zufrieden lächelnd zog sie sich unbemerkt zurück.

Kurz darauf kam Evie mit einem Servierwagen voll beladen mit Partysnacks, Wein, Mineralwasser und einer Kanne Tee herein. Polly bedankte sich und schenkte sich eine Tasse ein, nachdem Evie gegangen war.

Ruggiero rührte sich nicht, offenbar hatte er keine Schmerzen mehr. Schließlich stand Polly auf und stellte sich wieder ans Fenster. Die letzten Gäste winkten Hope und ihrem Mann zum Abschied zu.

Gerade als Polly sich zurückziehen wollte, fuhr eine Limousine vor. Der Fahrer stieg aus, holte Gepäck aus dem Kofferraum und ging damit auf Hope zu.

Das sind doch meine Sachen, schoss es Polly durch den Kopf. Plötzlich dämmerte es ihr. Hope hatte veranlasst, dass ihr Gepäck aus dem Hotel geholt wurde.

In dem Moment blickte Ruggieros Mutter auf und entdeckte Polly. Sie lächelte irgendwie schuldbewusst und zuckte die Schultern, als wollte sie sagen: „Was hätte ich denn sonst tun sollen?“

Kurz öffnete Hope die Zimmertür und winkte Polly auf den Flur.

„Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, dass ich eigenmächtig gehandelt habe“, begann sie. „Sie können so gut mit Ruggiero umgehen, dass ich Sie bitten möchte hierzubleiben, bis es ihm besser geht.“

„Und deshalb haben Sie kurz entschlossen vollendete Tatsachen geschaffen“, stellte Polly sanft fest.

„Wir werden Ihnen den Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich gestalten“, versprach Hope. „Natürlich werden Sie dafür bezahlt, und die Hotelrechnung ist auch schon beglichen. Bitte, seien Sie mir nicht böse.“

Dass Hope Rinucci ohne langes Federlesen ihren Willen durchgesetzt hatte, amüsierte Polly irgendwie, doch sie ärgerte sich keineswegs darüber. Im Gegenteil, es würde ihr das, was sie vorhatte, sogar erleichtern.

In dem Moment sah sie den Chauffeur mit ihrem Gepäck die Treppe hinaufkommen und in das Nebenzimmer bringen.

„Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl.“ Hope führte sie in den Raum. „Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es mir.“ Mit einem freundlichen „Gute Nacht“ verabschiedete sie sich.

Polly sah sich in dem geschmackvoll und luxuriös eingerichteten Zimmer um. Das breite Bett wirkte genauso einladend wie das angrenzende Bad.

Rasch zog sie sich um. In Jeans, einer weißen Baumwollbluse und bequemeren Schuhen ging sie zurück zu Ruggiero und bereitete sich darauf vor, die Nacht bei ihm zu verbringen.

Schließlich wurde es still im Haus. Stunde um Stunde verstrich, und Polly fielen immer wieder die Augen zu. Sie hatte einen langen, ereignisreichen Tag hinter sich, und so war es kein Wunder, dass sie einschlummerte.

Plötzlich zuckte sie zusammen und machte erschrocken die Augen auf. Sofort bemerkte sie, dass Ruggiero sie ansah. Täuschte sie sich, oder lag wirklich ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht?

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Habe ich lange geschlafen?“

„Vielleicht zehn Minuten.“

„Das tut mir leid.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.“ Während er sich aufrichtete, verzog er vor Schmerzen das Gesicht. „Ich glaube, ich habe etwas gegessen oder getrunken, was ich nicht vertragen habe. Können Sie mir beim Aufstehen helfen? Ich möchte ins Bad.“

„Natürlich.“

Er legte ihr den Arm um die Schulter, und sie führte ihn durch den Raum. Vor der Badezimmertür fuhr er sich über die Rippen.

„Vielleicht haben Sie mit ihrer Diagnose recht“, sagte er. „So, den Rest schaffe ich allein.“

Als er zurückkam, hatte Polly die Laken glatt gezogen und die Stehlampe angeknipst. Sie wollte ihm ins Bett helfen, doch er winkte ab.

„Es geht schon.“ Er legte sich wieder hin und ließ sich von ihr zudecken.

„Haben die Schmerzen nachgelassen?“, fragte sie sanft.

„Die im Kopf ja, aber die Schulter und die ganze linke Seite tun so weh, als wäre ich in eine Schlägerei geraten.“

„Dann nehmen Sie jetzt wieder zwei Tabletten. Auf Alkohol müssen Sie jedoch verzichten, bis Sie keine Medikamente mehr brauchen.“

„Wann wird das sein?“

„Wenn ich es Ihnen sage“, antwortete sie ruhig und bestimmt, ehe sie ihm die Pillen mit einem Glas Wasser reichte.

Nachdem er sie geschluckt hatte, machte sie die Lampe aus, sodass nur noch das gedämpfte Licht des Mondes den Raum erhellte.

„Sie haben sich umgezogen“, stellte Ruggiero unvermittelt fest.

„Ja. Meine Sachen sind im Nebenzimmer, ich bleibe einige Tage hier.“

„Wie hat meine Mutter es geschafft, Sie dazu zu überreden?“

„Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass sie mich überhaupt gefragt hat, oder?“

Er lachte laut auf, stöhnte jedoch sogleich. „Nein, eigentlich nicht. Ich kenne sie doch. Wann wurde Ihnen klar, dass sie über Sie verfügt hat?“

„Als mein Gepäck gebracht wurde.“

„Das tut mir leid. Ich finde es nicht richtig.“

„Ach, das ist nicht so wichtig“, erwiderte sie rasch. „Schlafen Sie jetzt.“

Eine Zeit lang sah er sie schweigend an. „Waren Sie das an der Rennstrecke?“

„Ja.“

„Sind Sie ganz sicher? Nein, vergessen Sie die dumme Frage. Ich meine …“

„Für wen haben Sie mich gehalten?“

„Wie bitte?“

„Ich teste nur Ihr Erinnerungsvermögen. Erst dann kann ich beurteilen, ob Sie eine schwere oder leichte Gehirnerschütterung haben.“

„Okay. Ich bin mehrere Runden gefahren, und alles war in Ordnung. Auf einmal jedoch …“ Er atmete tief ein. „Warum sind Sie auf die Piste gelaufen?“

„Das bin ich nicht.“

„Doch, Sie sind mir mit wehenden Haaren entgegengerannt. Ich hätte Sie überfahren können, was Sie offenbar gar nicht gemerkt haben. Sie haben genauso gelächelt wie damals …“ Er verstummte und hatte Mühe zu atmen.

Polly versuchte, ihn zu beruhigen. „Das war ich nicht, glauben Sie mir. Wahrscheinlich haben die hohe Geschwindigkeit und das Visier Sie verwirrt und Ihre Sicht beeinträchtigt. Es war bestimmt nur eine Art Vision.“

„Sie war aber da“, flüsterte er. „Ich habe sie gesehen …“

„Das ist ganz unmöglich.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Weil …“ Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich auf gefährlichem Terrain befand. Noch konnte sie ihm nicht sagen, dass er Sapphire nie wiedersehen würde. So belastungsfähig war er noch nicht. „Also, wenn jemand direkt vor Ihnen auf der Strecke gewesen wäre, hätten Sie ihn oder sie unweigerlich überrollt.“

„Einen Geist kann man nicht überfahren“, stellte er erschöpft fest. „Glauben Sie an Geister?“

„Ja“, erwiderte sie leise und beinah gegen ihren Willen. „Ich will es eigentlich nicht, es gibt jedoch Menschen, die einen nicht loslassen; egal, was man macht, sie sind immer da.“

„Dann kennen Sie das auch?“

„Ja“, antwortete sie ruhig. „Sie sollten jetzt schlafen. Es wird alles wieder gut.“ Sie nahm seine Hand und spürte, wie angespannt er war. „Widersprechen Sie mir bitte nicht, es wäre nur Zeitverschwendung“, fügte sie hinzu.

Sie hörte sich an wie seine Mutter, und eigentlich hätte er sich darüber ärgern müssen. Stattdessen verschwand seine Anspannung. Er schloss die Augen und schlief sogleich ein.

Bei Tagesanbruch kam Hope herein. „Wie geht es ihm?“

„Er schläft wie ein Baby“, erwiderte Polly.

„Gut, dann löse ich Sie jetzt ab. Legen Sie sich hin, und ruhen Sie sich einige Stunden aus.“

„Danke.“

Wenig später ließ sich Polly in ihrem Zimmer auf das luxuriöse Bett sinken und war kurz darauf eingeschlafen. Als sie wieder wach wurde, stand die Sonne hoch am Himmel. Nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, stellte sie erschrocken fest, dass es fast Mittag war.

In genau dem Moment schaute Evie zur Tür herein. „Hope hat angeordnet, Sie nicht zu stören“, erklärte sie, als sie Pollys betroffene Miene sah.

„Das war sehr lieb von ihr. Doch jetzt muss ich mich wieder um meinen Patienten kümmern.“

„Ich lasse Ihnen das Frühstück bringen“, verkündete Evie.

Vor Ruggieros Zimmer blieb Polly kurz stehen und fragte sich, ob er sich wohl an ihr Gespräch in der vergangenen Nacht erinnerte.

„Kommen Sie herein“, forderte er sie auf, als sie behutsam die Tür öffnete.

Er schien genauso auf der Hut zu sein wie sie, und sie sahen einander sekundenlang aufmerksam an.

„Ich möchte mich entschuldigen“, sagte er schließlich.

„Wofür?“

„Für alles. Obwohl ich nicht mehr jede Einzelheit im Gedächtnis habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich mich unmöglich benommen habe.“

„Sie haben sich wie ein verdammter Dummkopf verhalten“, erklärte sie unverblümt. „Wie ein Vollidiot. In meinem ganzen Leben ist mir so etwas noch nicht untergekommen.“

„Reden Sie doch nicht um die Sache herum. Sagen Sie mir lieber klar und deutlich, was Sie von mir denken.“

Damit war das Eis gebrochen, und sie lächelten einander an.

„Sie hatten recht, ich hätte nach dem Sturz nicht so tun dürfen, als wäre alles in Ordnung“, gab er zu. „Nur welcher Mann zeigt schon gern Schwäche?“

„Immer den starken Mann zu spielen, ist auch ein Zeichen von Schwäche“, wandte sie ein.

„Ist das eine Psychoanalyse?“, fragte er alarmiert.

„Was auch immer es ist, für heute ist damit Schluss. Sobald es Ihnen besser geht, machen wir mit diesem Thema weiter.“

„Eigentlich fehlt mir nichts – außer Energie“, antwortete er niedergeschlagen.

„Wahrscheinlich haben Sie auch noch einen Kater, deshalb verordne ich Ihnen jetzt strikte Bettruhe. Oder wollen Sie sich mit mir anlegen?“

„Bestimmt nicht. Sie wissen besser als ich, was gut für mich ist.“

„Offenbar geht es Ihnen noch schlechter, als ich dachte“, entgegnete sie spöttisch.

Er wollte die Schultern zucken, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne und verzog das Gesicht vor Schmerzen.

„Lassen Sie mich mal sehen.“ Polly half ihm, die Pyjamajacke auszuziehen, und betrachtete seine gerötete und stark geschwollene Schulter.

„Es ist nichts gebrochen“, erklärte er eigensinnig.

„Würden Sie es bitte mir überlassen, das festzustellen?“, fragte sie betont unbekümmert. „Ich glaube Ihnen sogar, dass Sie recht haben, sonst würden Sie noch viel mehr leiden.“ Behutsam tastete sie ihn ab. „Im Krankenhaus stehe ich in dem Ruf, dominant, energisch und rechthaberisch zu sein. Deshalb gehen alle in Deckung, wenn ich irgendwo auftauche.“

„Wollen Sie mich dazu bringen, vor Ihnen wegzulaufen?“

„Dazu kann Sie momentan nichts und niemand bringen. Sie würden nur durch die Gegend taumeln, und selbst dabei müssten Sie sich noch auf mich stützen.“

Er musste lachen, stöhnte jedoch sogleich auf. „Bringen Sie mich bloß nicht zum Lachen, das tut scheußlich weh“, bat er.

Während sie ihn schweigend massierte, entspannte er sich immer mehr, und schließlich bewegte sie seinen Arm vorsichtig in verschiedene Richtungen. Nichts schien gebrochen oder ausgerenkt zu sein. Schließlich beendete Polly die Untersuchung und trug die Salbe auf, die der Arzt ihr gegeben hatte.

Körperlich war Ruggiero absolut fit. Er war muskulös und so schlank, dass man seine Rippen sehen konnte. Seine Haut war gebräunt. Offenbar hielt er sich oft in der Sonne und im Wasser auf.

„Sie dürften ruhig einige Kilo zunehmen“, meinte sie. „Dann würden Sie bei einem Sturz weicher landen.“

„Ich kann essen wie ein Scheunendrescher, ohne ein einziges Kilo zuzunehmen.“

„Sie Glücklicher.“ Sie drückte ihn sanft in die Kissen zurück, ehe sie seinen Oberkörper abtastete.

„Zwei Rippen sind angeknackst“, stellte sie fest. „Trotzdem sind Sie noch glimpflich davongekommen.“

„Sie werden mich hoffentlich nicht ins Krankenhaus einliefern lassen, oder?“

„Das ist nicht nötig. Wenn Sie vorsichtig sind, heilen die Brüche von selbst.“ Die Ruhe und Autorität, die sie ausstrahlte, schienen Ruggiero ruhiger zu machen. „Jetzt helfe ich Ihnen, die Pyjamajacke wieder anzuziehen, und dann nehmen Sie noch zwei Tabletten.“

Die unheimliche Stille im Haus, selbst Hope und ihr Mann Toni waren nicht da, kam Polly trügerisch und wie eine Warnung vor, und sie ahnte, dass es mit der Ruhe vermutlich schon bald vorbei sein würde.

Sie ging in ihr Zimmer, zog das Foto von Freda und Ruggiero hervor und betrachtete sein Gesicht. Er strahlte vor Freude und hatte wenig gemeinsam mit dem angespannten, widerspenstigen Mann, der er jetzt war. Schließlich schob sie das Bild in die Tasche zurück und ging wieder in sein Zimmer.

Am späten Nachmittag kehrten Hope und Toni, die Justin und Evie zum Flughafen gebracht hatten, zurück und bedankten sich noch einmal bei Polly.

„Gehen Sie zum Abendessen nach unten“, forderte Toni sie auf. „Ich bleibe eine Zeit lang bei meinem Sohn sitzen.“

„Sind alle weg?“, fragte Ruggiero seinen Vater und gähnte.

„Ja. Der Flieger ist mit Evie und Justin pünktlich abgeflogen. Wie geht es dir?“

„Ganz gut. Weißt du übrigens, dass deine Frau Polly praktisch gekidnappt hat?“

„Ja, aber damit habe ich nichts zu tun“, antwortete Toni rasch. „Du kennst ja deine Mutter. Zugegeben, ich bin froh, dass du gut versorgt wirst.“

„Wahrscheinlich wagst du gar nicht, ihr zu widersprechen“, stellte Ruggiero belustigt fest. „Ist dir eigentlich klar, dass du dich von ihr bevormunden lässt?“

„Nein, so ist es wirklich nicht“, widersprach Toni ernsthaft. „Das hat damit gar nichts zu tun. Deine Mutter hat ein gutes Gespür dafür, was ich brauche und was gut für mich ist, und sie handelt, ohne lange zu fackeln.“

„Ist das nicht dasselbe?“

„Nein, keineswegs“, erwiderte Toni schlicht.

Polly war unterdessen nach unten gegangen und wurde dort wie ein Ehrengast behandelt. Im Wohnzimmer schenkte Hope Champagner ein, stieß mit ihr an und überreichte ihr einen Umschlag mit Geld.

„Es ist viel zu viel, das kann ich doch nicht annehmen“, erklärte Polly.

„Sie haben es sich verdient“, entgegnete Hope. „Sie sind uns eine große Hilfe, außerdem verzichten Sie uns zuliebe auf Ihren Urlaub.“

„Das mag ja alles richtig sein“, erwiderte Polly. „In Neapel Urlaub zu machen, hatte ich aber eigentlich nicht vor.“

„Heißt das, Sie müssen in den nächsten Tagen nach England zurückfliegen und wieder arbeiten?“

„Momentan habe ich keinen Job.“

„Fein, dann können Sie frei über Ihre Zeit verfügen und noch länger bei uns bleiben.“

Während des sich anschließenden fürstlichen Essens schenkten Hope und Toni immer wieder Champagner nach und wollten mehr über Polly wissen. Obwohl die beiden mit ihrem unwiderstehlichen Charme ihr Herz eroberten, war sie auf der Hut und brachte bei der erstbesten Gelegenheit das Gespräch wieder auf Ruggiero. „Er wird sich rasch erholen, wenn man ihn dazu überreden kann, einige Tage im Bett zu bleiben.“

„Sie werden ihn davon schon überzeugen. Er macht alles, was Sie wollen“, meinte Hope.

„Ich kann mir kaum vorstellen, dass er jemals etwas tut, was andere wollen“, wandte Polly ein, und die beiden mussten lachen. „Danke für das wunderbare Essen, aber jetzt muss ich mich wieder um den Patienten kümmern und die Peitsche schwingen“, fügte sie scherzhaft hinzu. „Gute Nacht.“

Ruggiero schlief tief und fest, als Polly das Zimmer betrat und sich ans Bett setzte. Schließlich döste sie ein und merkte nicht, dass er wach geworden war und sie beobachtete.

„Polly“, flüsterte er.

Sie schreckte auf. „Was ist?“

„Es tut mir so leid.“

„Sie haben sich doch schon entschuldigt.“

„Nur dafür, dass ich mich so unmöglich benommen habe.“ Er stöhnte leise. „Ich habe Sie umgestoßen, als Sie mir helfen wollten, jedenfalls glaube ich, mich daran zu erinnern.“

„Das stimmt, aber es war ja keine Absicht“, erwiderte sie unbekümmert. „Sie haben einfach wie wild um sich geschlagen.“

„Wahrscheinlich tue ich das viel zu oft.“

„Sie konnten nichts dafür“, bekräftigte sie. „Weshalb wollen Sie sich unbedingt das Leben schwer machen?“

„Vielleicht sollte ich endlich einmal in mich gehen“, meinte er grimmig. „Ich möchte Sie etwas fragen, und weichen Sie mir bitte nicht aus“, fuhr er fort. „Sie waren nicht zufällig an der Rennstrecke, oder?“

„Ja, ich war mit Absicht dort“, gab sie zu und atmete tief durch. „Es ist wohl an der Zeit, dass ich Ihnen die Wahrheit erzähle. Ich wollte viel früher mit Ihnen reden. Leider kam der Unfall dazwischen.“

„Was auch immer es ist, ich muss es wissen.“

Polly zog das Foto aus der Tasche und reichte es ihm. „Das erklärt sicher einiges.“

Seine Miene verfinsterte sich. „Sie haben in meinen Sachen herumgeschnüffelt“, beschuldigte er sie wütend.

Verblüfft sah sie ihn an. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet. „Oh nein!“

„Lügen Sie mich nicht an!“

„Das tue ich nicht. Es ist meins.“

Mühsam richtete er sich auf und verließ das Bett. „Lassen Sie mich in Ruhe“, fuhr er sie an, als sie ihm helfen wollte.

Langsam durchquerte er den Raum, zog die oberste Schublade der Kommode auf und wühlte darin herum. Eigentlich hätte Polly sich über seinen unbeherrschten Ausbruch nicht zu wundern brauchen, denn sie wusste inzwischen, wie aufbrausend er sein konnte.

Schließlich hatte er gefunden, was er suchte, und stand wie erstarrt da. Dann drehte er sich um, kam mit einem Bild in der Hand zurück und ließ sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf das Bett sinken. Schweigend reichte er ihr ihre Aufnahme.

„Woher haben Sie die?“, fragte er rau.

„Sie hat sie mir gegeben.“

„Wer?“

„Meine Cousine Freda. Sie hat mir erzählt, dass Sie beide sich auf dem Jahrmarkt haben fotografieren lassen.“

„Freda?“

„Sie kennen sie unter dem Namen Sapphire.“

Sekundenlang betrachtete er Polly prüfend. „Lösen Sie Ihre Haare – bitte.“

Polly tat ihm den Gefallen.

Er schloss die Augen. „Jetzt ist mir klar, warum ich Sie mit ihr verwechselt habe“, flüsterte er.

„So groß ist die Ähnlichkeit nicht. Freda war die Schönere von uns beiden.“

„Sie ist Ihre Cousine, sagten Sie?“

„Sie war es“, entgegnete sie sanft. „Sie lebt nicht mehr.“

4. KAPITEL

„Sie lebt nicht mehr“, wiederholte Ruggiero leise. „Nein, das haben Sie nicht gesagt, ich habe es mir eingebildet.“

„Es stimmt wirklich“, erwiderte Polly ruhig. „Sie ist vor einigen Wochen gestorben.“

Er wandte sich ab und drehte das Foto in den Fingern so lange hin und her, bis es zerknittert war. „Reden Sie weiter“, bat er sie schließlich ausdruckslos.

„Ihr Mädchenname war Freda Hanson – bis sie vor sechs Jahren George Ranley heiratete.“

„Sie war also schon gebunden, als ich ihr begegnet bin?“, fragte er leise.

„Ja.“

„War sie unglücklich? Oder hat sie ihren Mann nicht mehr gemocht?“

„Ich bezweifle, dass er ihre große Liebe war“, antwortete Polly. „Er war sehr reich und …“

„Moment“, unterbrach er sie. „Behaupten Sie jetzt nicht, sie hätte ihren Mann nur wegen des Geldes geheiratet. Das hätte sie nie getan, nicht die Frau, die ich kennengelernt habe.“

„Sie haben sie nicht richtig gekannt“, wandte Polly behutsam ein. „Sie hat Ihnen noch nicht einmal ihren Namen verraten. Sie hätten sie nie finden können, nachdem sie Sie verlassen hatte.“

„Wo war sie zu Hause?“

„In Yorkshire.“

„Was wissen Sie über unsere Beziehung?“

„Dass Sie und Freda sich in einer Hotelbar kennengelernt haben und zwei Wochen zusammen waren.“

„Okay, so kann man es ausdrücken“, antwortete er langsam. „Es war jedoch viel mehr. Wir waren uns auf den ersten Blick sympathisch. Ich habe sie angesehen und sie so sehr begehrt, dass ich befürchtet habe, sie würde es merken und die Flucht ergreifen. Doch sie war eine mutige Frau, die nichts erschrecken konnte. Sie hat das Leben geliebt und ist sogleich zu mir gekommen.“

Die Sehnsucht, die in seiner Stimme schwang, machte Polly traurig. Sie wusste, was hinter dem vermeintlichen Mut ihrer Cousine steckte. Freda hatte nicht lange gezögert, weil sie nicht viel Zeit gehabt hatte, um Ruggiero für sich zu gewinnen. Das war die harte, grausame Wahrheit. Es schmerzte, dass dieser offene, ehrliche Mann auf Fredas raffinierte Taktik hereingefallen war.

„Ich erinnere mich, wie überrascht ich war, dass sie Engländerin war“, fuhr er fort. „Ich hatte immer angenommen, Engländerinnen seien zurückhaltend und etwas steif. Sie war anders. Sie hat mich geliebt, als wäre ich der einzige Mann auf der Welt.“

„Fanden Sie es nicht seltsam, dass sie Ihnen nicht ihren Familiennamen nennen wollte?“

„Das war zunächst nicht wichtig. Wir hätten später immer noch darüber reden können. Was sie mir gegeben hat, lässt sich nicht mit Worten ausdrücken. Jedenfalls hat sie mich zu einem anderen, einem besseren Menschen gemacht.“

Es klang schockierend einfach. Zögernd fragte Polly: „Was genau meinen Sie damit?“

Er legte sich die Hand auf die Brust. „Ich hatte mein Herz verschlossen, als Mann fühlt man sich dann sicherer.“

„Warum war das für Sie wichtig?“

„Das ist schwer zu sagen. Jedenfalls war ich plötzlich bereit, etwas zu riskieren. Es hat mir sogar gefallen, über mich selbst zu lachen, was ich vorher nicht konnte. Von ihr hätte ich alles angenommen.“

Gegen ihren Willen erinnerte Polly sich daran, dass Freda einmal amüsiert erklärt hatte: „Je härter sich die Männer geben, desto mehr Spaß macht es, sie gefügig zu machen.“

Mit einem Mal wurde Polly klar, dass Ruggiero verzweifelt an seiner Überzeugung festhielt. Wie würde er reagieren, wenn er die ganze Wahrheit erfuhr?

„Was ist geschehen, nachdem sie mich verlassen hat?“, fragte er.

Polly atmete tief ein. „Sie ist zu George zurückgegangen, und neun Monate später kam ihr Kind zur Welt.“

Fassungslos blickte er sie an. „Wollen Sie damit sagen …?“

„Ja, es ist Ihr Kind.“

Er richtete sich auf. „Wie können Sie das so genau wissen?“

„Es kann nicht von George sein.“

„Warum hat sie es mir nicht mitgeteilt? Warum ist sie nicht zu mir gekommen? Sie wusste, wo ich wohne und wie sehr ich sie …“ Er verstummte.

„Sie wollte bei ihrem Mann bleiben. Weil sie aber unbedingt hatte schwanger werden wollen, brauchte sie eine Affäre.“

Fassungslos blickte er sie an. „Nein, seien Sie still!“, forderte er sie dann scharf auf. „Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?“

„Ja“, erwiderte sie mit einer Spur von Traurigkeit in der Stimme. „Sie hatte das alles geplant.“

„Sie unterstellen ihr also, kalt und berechnend gewesen zu sein?“

„Nein, keineswegs. Sie konnte auch warmherzig sein. Damals ist sie jedoch aus einem ganz bestimmten Grund nach London gekommen und hat Sie ganz bewusst ausgewählt.“

„Sie wissen nicht, was Sie da reden“, fuhr er sie an. „Sie haben keine Ahnung, was uns verbunden hat.“

Polly erinnerte sich, wie am Boden zerstört George gewesen war, als er die Wahrheit erfahren hatte. „Ich habe geglaubt, sie würde mich wirklich lieben“, hatte er gesagt. Nachdem er den Schock überwunden hatte, wurde er ausfallend und rachsüchtig. Damals war Polly bewusst geworden, wie viel Unheil Freda anrichtete. Sie hatte es glänzend verstanden, Männern Gefühle vorzuspielen und sie in sich verliebt zu machen.

„Hat ihr Mann geglaubt, es sei sein Kind?“, wollte Ruggiero wissen.

„Zuerst ja. Dann stellte sich jedoch zufällig heraus, dass er zeugungsunfähig war, und ihm kamen Zweifel. Also holte er einen Vaterschaftstest ein, der bewies, dass es nicht sein Kind war. Daraufhin hat er Freda mit dem Baby hinausgeworfen.“

„Wann war das?“

„Vor fast einem Jahr.“

„Warum ist sie nicht zu mir gekommen?“

Weil sie gehofft hat, George umstimmen zu können, dachte Polly. Sie brachte es jedoch nicht übers Herz, Ruggiero noch mehr zu verletzen und ihm die grausame Wahrheit zu sagen.

„Sie war krank und ganz dünn geworden“, erwiderte sie. „Sie hat bei mir gewohnt und wollte nicht, dass jemand sie in dem Zustand sah. Ich habe sie gepflegt, so gut ich konnte, doch es war hoffnungslos. Sie wurde nicht wieder gesund. Ich musste ihr schließlich versprechen, Sie nach ihrem Tod zu suchen und Ihnen zu erzählen, dass Sie einen Sohn haben.“

Schmerzerfüllt flüsterte er: „Sie ist gestorben, und ich war nicht bei ihr. Warum habe ich es nicht gespürt? Wir standen uns doch so nah.“

Polly schwieg. Sie wusste, dass Freda sich ihm nie verbunden gefühlt hatte.

„Sie hätten versuchen müssen, mit mir Kontakt aufzunehmen, als sie noch lebte“, erklärte er.

„Wie denn? Sie wollte mir nicht verraten, wo ich Sie finden konnte. Ich wusste noch nicht einmal, dass Sie in Neapel leben. Es stand in dem Brief, den sie mir hinterlassen hat und der erst nach ihrem Tod geöffnet werden sollte. Darin hat sie die Villa Rinucci erwähnt.“

„Ich hätte mich um sie gekümmert.“

„Sie wollte Sie nicht sehen, weil sie nicht mehr so schön war.“

„Meinen Sie, das hätte mich gestört?“, stieß er ärgerlich hervor. „Ich hätte es noch nicht einmal gemerkt. Ich habe sie …“ Er verstummte und blickte Polly verstört an. „Es ist zu spät, viel zu spät.“

„Es tut mir leid“, wisperte sie und wollte seine Hand nehmen, doch er zog sie hastig zurück.

„Gehen Sie bitte“, bat er gequält.

Polly stand auf und griff nach ihrem Foto, doch er kam ihr zuvor und sagte kurz angebunden: „Lassen Sie es hier.“

An der Tür drehte sie sich noch einmal kurz um. Er schien sie vergessen zu haben und betrachtete die beiden Bilder so aufmerksam, als versuchte er, ein Geheimnis zu ergründen. Sein Gefühlsausbruch hatte sie ebenso überrascht wie die Tatsache, dass seine Gedanken offenbar noch immer um ihre Cousine kreisten.

„Ruggiero war eigentlich der Beste, wenn du verstehst, was ich meine. Nein, das tust du wahrscheinlich nicht“, hatte Freda einmal mit dem Baby auf dem Arm zu ihr gesagt.

„Um Vergleiche anzustellen, fehlt mir deine Erfahrung“, hatte Polly betont gleichgültig erwidert.

„Glaub mir, er war im Bett einsame Klasse.“ Freda hatte laut aufgelacht. „Jede Frau sollte sich einen italienischen Liebhaber zulegen. Sie sind so leidenschaftlich und temperamentvoll wie keine anderen Männer.“ Die Kälte in ihrer Stimme hatte Polly schaudern lassen. Freda hatte sich genommen, was sie hatte haben wollen. Sie hatte Ruggieros Geschick und seine Erfahrung geschätzt, sonst nichts.

Obwohl sie so clever gewesen war, war ihr nicht aufgefallen, was für ein wertvoller und faszinierender Mensch Ruggiero in Wirklichkeit war und dass er seinen wahren Charakter nicht zeigte, so als sollte niemand wissen, wie feinfühlig er war. Und er konnte gerade dann, wenn man es am wenigsten erwartete, über sich selbst lachen. Er steckte voller Widersprüche, und es wäre eine echte Herausforderung für eine Frau zu versuchen, ihn zu verstehen. Das alles war Freda entgangen, vielleicht hatte es sie auch gar nicht interessiert.

Ich habe sofort gespürt, dass er ganz anders ist, als Freda ihn beschrieben hat, doch ich wollte es nicht wahrhaben, dachte Polly. Jetzt war bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt, sich zu verlieben. Sie war hier, um ihn zu pflegen. Das war alles.

Sicher war es ungeschickt gewesen anzudeuten, dass seine Angebetete nicht die Frau gewesen war, für die er sie gehalten hatte. Er war noch nicht bereit, sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen. Er hatte Sapphire geliebt, und möglicherweise war ihm erst jetzt bewusst geworden, wie sehr.

Ich muss ihn trösten, sagte sie sich und wollte zu ihm gehen. Sie überlegte es sich jedoch anders und setzte sich ans Fenster. Ruggiero wollte allein sein in seinem Schmerz. Die Erkenntnis ließ sie schaudern, und sie wünschte, sie könnte ihm helfen. Er sehnte sich jedoch nach einer anderen Frau.

In den frühen Morgenstunden klopfte es zaghaft an ihre Tür – Ruggiero stand im Morgenmantel davor. Sein Ärger war ganz offensichtlich verflogen, er wirkte nur noch müde und erschöpft.

„Kommen Sie herein“, forderte Polly ihn ruhig auf.

Er rührte sich jedoch nicht von der Stelle, sondern blickte sie leicht verzweifelt an.

„Was ist los? Kann ich etwas für Sie tun?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte ich …“

„Warum treten Sie nicht ein und reden darüber?“

Unsicher sah er sie an. Sein Selbstbewusstsein war erschüttert, und damit konnte er nicht umgehen. Schon als er Polly weggeschickt hatte, hatte er geahnt, dass er sie zurückholen würde. Er ärgerte sich über sie, hasste sie sogar manchmal, doch gegen seinen Willen fühlte er sich zu ihr hingezogen.

„Kommen Sie, lassen Sie uns reden.“ Sie packte ihn am Arm und zog Ruggiero in das Zimmer.

Man sah ihm an, wie unbehaglich er sich nun fühlte, als er sich auf das Bett setzte. „Ich muss mich für alles Mögliche entschuldigen.“

„Ach, vergessen Sie es“, antwortete sie. „Sie standen unter Schock.“

„Ja, aber ich hätte es nicht an Ihnen auslassen dürfen.“

„Es ist vorbei und vergessen.“

„Danke, Polly. Habe ich wirklich einen Sohn? Um mir das zu sagen, sind Sie doch hier, nicht wahr? Und es war auch kein Zufall, dass wir uns begegnet sind?“

„So ist es. Ich hatte eigentlich vor, gleich zur Villa Rinucci zu fahren, bis ich in einer Zeitung den Artikel über die Hochzeit Ihres Bruders entdeckte. Darin wurden unter anderem Ihre Firma und die Rennstrecke erwähnt, wo Sie die Motorräder testen. Kurz entschlossen bin ich zuerst dorthin gefahren. Ich wollte in Ihrer Nähe sein, um einen günstigen Augenblick für mein Gespräch mit Ihnen abzupassen. Dann geschah dieser Unfall.“ Sie machte eine hilflose Handbewegung.

Er nickte. „Wenn ich an Ihren prüfenden Blick denke, wird mir noch immer ganz anders.“

„Als Krankenschwester ist es meine Pflicht, Patienten genau zu beobachten.“

„Haben Sie nicht vielmehr daran gedacht, was Ihre Cousine Ihnen über mich erzählt hat, und sich gefragt, wieso ausgerechnet ich der Vater ihres Sohnes sein soll?“ Seine Stimme klang so ironisch, dass es Polly den Atem verschlug.

„Ich war neugierig auf Matthews Vater“, gab sie zu. „Ich habe den Jungen sehr gern und kann es kaum erwarten, ihn zu Ihnen zu bringen.“

„Ich will ihn nicht sehen“, erklärte er zu ihrem Entsetzen.

„Wie bitte?“

„Ich möchte mit ihm nichts zu tun haben. Warum konnten Sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen?“

„Weil Matthew Ihr Sohn ist und er eine Familie braucht.“

„Er hat doch Sie.“

„Ich bin nicht seine Mutter, aber Sie sind sein Vater. Wollen Sie ihn wirklich nicht sehen?“

„Weshalb sollte ich das?“, fragte er scharf.

„Vor wenigen Stunden haben Sie mir noch vorgehalten, ich hätte Sie früher informieren müssen“, erinnerte sie ihn.

„Ja, als Ihre Cousine noch lebte. Dann hätte ich bei ihr sein können. Der Junge ist mir fremd, ich empfinde nichts für ihn.“

„Bedeutet es Ihnen denn nichts, dass Sie sein Vater sind?“

„Vielleicht hätte es mir etwas bedeutet, wenn sie es mir früher mitgeteilt hätte.“

„Matthew ist ein kleines Kind, das Liebe und Fürsorge braucht“, stellte sie ärgerlich fest.

„Wenn er mein Sohn ist, werde ich für ihn sorgen.“

„Sie wollen für ihn bezahlen, oder?“, fuhr sie ihn an. „Glauben Sie wirklich, das sei alles, was ein Vater für sein Kind tun kann?“

„Zu mehr bin ich nicht in der Lage. Ich empfinde keine väterlichen Gefühle für den Jungen. Meinen Sie, man könnte die wie auf Knopfdruck ein- und ausschalten?“, fragte er gereizt.

„Nein, natürlich nicht. Sie könnten aber versuchen, dem Kind etwas Liebe entgegenzubringen. Immerhin haben Sie seine Mutter einmal sehr geliebt.“

„Wenn sie nicht gestorben wäre, hätte ich nie erfahren, dass ich einen Sohn habe.“

„Warum versuchen Sie nicht, sie in guter Erinnerung zu behalten? Sie kann Sie nicht mehr verletzen.“

„Wirklich nicht?“ Ruggiero blickte Polly sekundenlang zornig an, fuhr aber dann ruhiger fort: „Die Toten verletzen einen manchmal mehr als die Lebenden, weil nichts mehr korrigiert werden kann. Man kann nicht hingehen und etwas erklären oder sich entschuldigen. Und auch die Wunden bleiben für immer. Wie soll ich sie in guter Erinnerung behalten nach allem, was sie mir angetan hat?“

„Sie hat Ihr Kind zur Welt gebracht, egal, was sie damit bezweckte“, erwiderte sie. „Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, Sie sind Matthews Vater.“

Einen Moment lang schwieg er. „Wem sieht er ähnlich?“, fragte er dann.

Polly zog ein Foto aus der Tasche und reichte es ihm. Wie kann jemand diesem kleinen achtzehn Monate alten Jungen mit dem dunklen Haar, Ruggieros Augen und dem strahlenden Lächeln widerstehen?, überlegte sie. Nach einem flüchtigen Blick auf das Bild gab er es ihr zurück.

„Ich werde ihn nicht zu mir nehmen“, sagte er, „aber selbstverständlich für ihn sorgen und auch Sie finanziell unterstützen, solange Sie sich um ihn kümmern.“

„An einem Job als Kindermädchen bin ich nicht interessiert.“

„So war es auch nicht gemeint. Sie würden nicht einfach nur ein Gehalt bekommen, sondern hätten ein gutes Einkommen und könnten im Luxus leben.“

„Ach ja? Glauben Sie wirklich, es sei in Ordnung, sich auf diese Weise aus der Verantwortung zu stehlen?“

„Nein, natürlich nicht. Doch er kennt Sie und wünscht sich wahrscheinlich, bei Ihnen zu bleiben.“

„Was ich möchte, ist Ihnen offenbar egal. Ich würde gern wieder in meinem Beruf arbeiten“, entgegnete Polly. Sie hing an Matthew und würde sich nur ungern von ihm trennen. Wenn ihr das, was sie in Neapel vorgefunden hatte, missfallen hätte, wäre sie ohnehin sogleich zurückgeflogen, ohne mit Ruggiero zu reden.

Doch die Rinuccis entsprachen ihrer Vorstellung von einer perfekten Familie. Sie waren lebhaft, aufgeschlossen und gingen liebevoll miteinander um. Sie fand zwar, dass Ruggiero noch etwas an sich zu arbeiten hätte, doch Hope und Toni würden Matthew vermutlich sowieso unter ihre Fittiche nehmen, zumindest in der ersten Zeit. Und bei den vielen Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins würde der Junge sich bestimmt viel wohler fühlen als bei ihr.

„Warum lehnen Sie den Jungen ab?“, fragte sie. „Er ist Ihr Fleisch und Blut.“

„Meine Güte“, fuhr er sie an. „Sie überfallen mich mit der Nachricht, dass ich einen Sohn hätte von einer Frau, die mir noch nicht einmal ihren Namen verraten hat, und erwarten, dass ich auf Anhieb richtig reagiere.“

„Empfinden Sie denn nichts für ihn?“

„Nein“, antwortete er nach kurzem Zögern.

Sie glaubte es ihm nicht.

„Tun Sie mir den Gefallen, und denken Sie darüber nach, ob Sie ihn nicht doch bei sich behalten wollen“, bat er sie. „Zu den Bedingungen, die wir schon besprochen haben.“

„Wir haben nichts besprochen.“ Polly geriet wieder in Zorn. „Sie haben die Bedingungen festgelegt und erwarten, dass ich mich darauf einlasse.“

„Denken Sie wenigstens darüber nach.“

„Nein!“

„Verdammt, warum nicht?“

„Weil mein Verlobter niemals damit einverstanden wäre. Er möchte kein fremdes Kind großziehen“, improvisierte sie.

„Dass Sie in festen Händen sind, haben Sie noch gar nicht erwähnt.“

„Warum auch? Es geht Sie nichts an. Ich bin nach Neapel gekommen, weil Matthew ein Recht darauf hat, seine Familie kennenzulernen. Sobald er bei Ihnen ist und sich hier wohlfühlt, kann ich mich wieder auf mein eigenes Leben konzentrieren.“

Ruggiero stand auf und durchquerte den Raum. „Ich muss nachdenken.“ Er öffnete die Tür und blieb wie erstarrt stehen.

„Guten Morgen“, ertönte nun im gleichen Moment Hopes freundliche Stimme.

„Was willst du denn hier, mamma?“

„Ist alles in Ordnung? Normalerweise bin ich nicht so taktlos, aber ihr wart so laut.“

Mamma!“

„Sei nicht so empört, das passt nicht zu dir. Polly, erzählen Sie mir bitte, was los ist.“

„Ich glaube, das sollte Ihr Sohn Ihnen selbst sagen.“

Hope sah Ruggiero fragend an.

Daraufhin reichte er ihr Matthews Foto. „Vor ungefähr zweieinhalb Jahren hatte ich in England mit seiner Mutter eine Affäre“, begann er emotionslos. „Ich hatte keine Ahnung, dass sie von mir ein Kind bekommen hat. Vor einigen Wochen ist sie gestorben.“

„Sie war meine Cousine und hat bestimmt, dass ich Ruggiero nach ihrem Tod aufsuche“, ergänzte Polly. „Er sollte wissen, dass er einen Sohn hat.“

Zu ihrer Erleichterung stellte Hope keine unangenehmen Fragen, sondern betrachtete fasziniert die Aufnahme.

„Dieses niedliche Kind ist mein Enkel?“, fragte sie schließlich überwältigt.

„Ja.“ Polly nannte Matthews Geburtsdatum.

Ruggiero nickte. „Das kommt hin.“

Wie Polly gehofft hatte, leuchtete es in Hopes Augen auf. „Was für ein süßer Junge. Wo ist er jetzt?“

„In England, bei einer Freundin“, erwiderte Polly.

„Wann können wir ihn holen?“

Mamma!“, protestierte Ruggiero.

„Dein Sohn hat keine Mutter mehr, aber er hat einen Vater. Natürlich gehört er hierher.“

„Das meine ich auch“, stimmte Polly ihr zu. „Ich bin überzeugt, dass er Ihr Enkel ist. Durch einen Vaterschaftstest könnte man sich Gewissheit verschaffen.“

Hope verzog das Gesicht. „Darauf können wir verzichten. Sobald ich ihn im Arm halte, weiß ich, ob er ein Rinucci ist oder nicht. Wir fliegen noch heute nach London. Polly, Sie kommen doch wieder mit zurück nach Neapel, oder? Sie müssen ihm helfen, sich einzugewöhnen.“

„Ihr Verlobter hat vielleicht etwas dagegen“, wandte Ruggiero ein.

„Nein, das hat er nicht“, versicherte Polly rasch. „Und ja, ich kehre mit Ihnen zurück und bleibe noch einige Tage länger hier.“

Hope warf ihr einen rätselhaften Blick zu, schwieg jedoch. Um keine Zeit zu verschwenden, ging sie zum Telefon, rief sogleich am Flughafen an und buchte zwei Plätze für die Nachmittagsmaschine nach London. Dann eilte sie davon, um Toni die Neuigkeit mitzuteilen.

„Meine Mutter hat Sie schon wieder überrumpelt“, stellte Ruggiero spöttisch fest.

„Ach, das macht nichts. Ich bin sogar ganz froh darüber. Sie wird den Kleinen gernhaben.“

„Obwohl ich ihn ablehne?“

„Früher oder später werden Sie ihn auch lieb gewinnen. Doch jetzt sollten Sie wieder in Ihr Zimmer gehen.“

Nachdem Ruggiero verschwunden war, atmete Polly erleichtert auf, denn sie brauchte Zeit, um sich etwas über ihren angeblichen Verlobten zurechtzulegen. Er heißt Brian, ist Arzt, und ich habe ihn im Krankenhaus bei der Arbeit kennengelernt, überlegte sie. Weil er oft Nachtschicht macht, kann man ihn nur schwer erreichen, fügte sie in Gedanken hinzu.

Den Verlobten hatte sie nur erfunden, um Ruggiero den Wind aus den Segeln zu nehmen. Hätte sie jedoch Zeit gehabt, richtig darüber nachzudenken, wäre es wahrscheinlich nicht dazu gekommen.

An diesem Morgen ging Ruggiero zum Frühstück nach unten. Als Polly hereinkam, saß er schon neben Toni, der unbedingt mehr über seinen neuen Enkel wissen wollte.

„Sie kommen doch schnell zurück, oder?“, fragte er besorgt.

„Das hängt ganz von Ihrer Frau ab“, erwiderte sie.

Toni warf Hope einen liebevollen Blick zu. „Sie trifft immer die richtigen Entscheidungen.“

Nach dem Frühstück rief Polly ihre Freundin an und informierte sie, dass sie noch heute zurückkommen würde. Dann gesellte sie sich zu Ruggiero in den Garten. Er saß auf einer Bank und hatte den Blick nachdenklich auf seine gefalteten Hände gerichtet.

„Ich habe Ihnen Tabletten hingelegt. Nehmen Sie die nur, wenn es unbedingt nötig ist“, riet sie ihm.

„Vielleicht brauche ich keine mehr. Es geht mir schon viel besser.“

„Fein. Muten Sie sich aber nicht zu viel zu.“ In einer plötzlichen Eingebung fügte sie hinzu: „Kommen Sie ja nicht auf die Idee, wieder zu arbeiten.“

„Ich fahre nur zur Firma, um kurz mit meinem Partner zu reden.“

„Er kann doch zu Ihnen kommen.“

„Vergessen Sie es. Ich bin doch nicht schwer krank.“

„Wie soll man Sie nur zur Vernunft bringen?“

„Am besten gar nicht“, antwortete er. „Sie verschwenden nur Ihre Zeit.“

Sekundenlang war Stille. Dann verzog er langsam die Lippen zu einem Lächeln. „Es tut mir leid, dass ich es Ihnen so schwer mache.“

„Das tut es gar nicht“, entgegnete sie. „Sie wollen ja bloß, dass ich endlich den Mund halte.“

„Was mir offenbar nicht gelingt. Hat es überhaupt jemals jemand geschafft, Sie zum Schweigen zu bringen?“

„Glauben Sie, das würde ich Ihnen verraten?“

„Nein, dazu sind Sie zu klug.“ Sein Lächeln wirkte jetzt herzlicher als zuvor. „Ich verspreche, während Ihrer Abwesenheit vernünftig zu sein.“ Plötzlich strahlte er übers ganze Gesicht. „Meine Mutter und Sie haben viel gemeinsam. Sie setzen einfach voraus, dass Ihr Verlobter mit Ihrer Entscheidung einverstanden ist. Das hätte meine Mutter auch getan. Wie heißt er übrigens?“

„Brian“, erwiderte sie, ohne zu zögern.

„Freut er sich, dass Sie kommen?“

„Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.“

„Dann holen Sie es rasch nach, sonst kann er Sie nicht am Flughafen abholen.“

„Das wird er sowieso nicht. Er ist Krankenhausarzt und hat momentan Spätdienst“, erklärte sie. „Doch jetzt muss ich mich umziehen.“ Sie wollte sich umdrehen und verschwinden.

In diesem Moment griff Ruggiero nach ihrer Hand und hielt sie fest. „Warten Sie. Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.“ Er zögerte.

„Ja? Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie sanft.

„Haben Sie zu Hause noch mehr Fotos von Ihrer Cousine?“

„Ja, sehr viele. Ich bringe Ihnen einige mit.“

„Alle, die Sie besitzen, bitte. Ich habe die ganze Zeit gehofft, eines Tages mehr über sie zu erfahren. Dass es auf diese Art geschehen würde, konnte ich nicht ahnen.“

„Okay, ich bringe alle mit“, versprach sie. Vielleicht half es ihm, doch eine Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen.

„Jetzt lassen Sie mich aber bitte los“, bat sie und versuchte, ihm die Hand zu entziehen.

Erst da schien ihm bewusst zu werden, dass er sie immer noch festhielt. Er ließ sie los. „Nun muss ich Sie schon wieder um Verzeihung bitten. Das Beste wäre wohl, wenn ich mich ganz generell für alles entschuldige, was ich in der Vergangenheit gemacht habe und demnächst noch tun werde.“

„In zwei Stunden fahre ich zum Flughafen“, erwiderte sie unbekümmert. „Sie haben also nicht mehr viel Zeit, mich zu ärgern.“

„Unterschätzen Sie mich nicht. Kommen Sie, ich begleite Sie ins Haus.“

5. KAPITEL

Während des Flugs wollte Hope alles über Pollys angeblichen Verlobten wissen und war genau wie Ruggiero der Meinung, er würde am Flughafen sein. Polly flüchtete sich erneut in die Ausrede, die sie sich zurechtgelegt hatte, und Hope schien sich damit zufriedenzugeben.

„Weshalb sind Sie eigentlich von Yorkshire nach London gegangen?“, fragte sie dann weiter.

„Vor einigen Jahren war ich schon einmal verlobt und wollte nach der Trennung so weit weg wie möglich. Als meine Cousine Freda krank wurde, ist sie mir gefolgt.“

„Der Kleine kann sicher schon recht gut laufen, oder?“

„Ja. Mit einem Jahr hat er bereits angefangen, die ersten Schritte zu machen.“

„Ruggiero auch“, erklärte Hope begeistert. „Er und Carlo haben miteinander gewetteifert, wer es zuerst konnte, und seitdem haben sie nie aufgehört, sich gegenseitig übertreffen zu wollen.“

Sie hatten beschlossen, Matthew am nächsten Morgen abzuholen, weil sie erst gegen Abend in London sein würden. Nach ihrer Ankunft in Pollys Wohnung, wo sie übernachten wollten, setzten sie sich, nachdem sie sich etwas zu essen hatten kommen lassen, in die winzige Küche.

„Erzählen Sie mir doch das, was Sie in Ruggieros Gegenwart nicht zu sagen wagten“, forderte Hope sie freundlich auf.

Überwältigt von so viel Einfühlungsvermögen, erzählte Polly ihr nun alles, was sie über Freda wusste. Am Ende nickte Hope traurig.

„Ich erinnere mich, dass er sehr schweigsam war, als er damals aus England zurückkam. Er hat etwas von einer Urlaubsromanze gesagt, jedoch so beiläufig, dass ich es für unwichtig hielt. Ich hätte mir denken können, dass mehr dahintersteckte.“ Sie hob resigniert die Hände.

„Er wollte sein Geheimnis wohl nicht preisgeben“, erwiderte Polly. „Freda hat ihn als Frauenhelden beschrieben. Vielleicht war es für ihn …“ Polly suchte nach den richtigen Worten.

„Er konnte wahrscheinlich nicht damit zurechtkommen, dass sie die Affäre beendet hat“, kam Hope ihr zur Hilfe. „Ich frage mich nur, ob da noch mehr war.“

„Das kann nur er selbst beantworten“, erwiderte Polly nachdenklich. „Es war eine einzige Illusion, denn er wusste nichts über sie. Er ahnte nicht, dass sie verheiratet war und ihre eigenen Pläne verfolgte. Nicht einmal ihren richtigen Namen kannte er. Trotz allem möchte ich Sie bitten, sie nicht zu hassen.“

„Wenn sie noch lebte, würde ich sie sicher hassen“, gab Hope zu. „Doch angesichts ihres Schicksals muss ich ihr wohl verzeihen. Haben Sie mit ihr hier in dieser Wohnung gelebt?“

„Ja, bis sie vor einigen Wochen ins Krankenhaus eingeliefert wurde.“

„Sie war sehr schön.“ Hope betrachtete die Fotos, die Polly ihr zeigte.

„Nicht nur das, sie hatte auch das gewisse Etwas, das alle Frauen gern hätten. Früher oder später wäre Ruggiero bestimmt darüber hinweggekommen, wenn ich nicht aufgetaucht wäre. Jetzt muss er sich damit auseinandersetzen, was damals geschehen ist, und das fällt ihm unendlich schwer.“

„Sie werden ihm helfen, nicht wahr?“ Hope sah sie erwartungsvoll an. „Sie sind für ihn etwas Besonderes, weil Sie ihre Cousine sind. Und Sie sind die Einzige, mit der er über die Sache reden kann.“

„Ich werde tun, was ich kann, allein wegen Matthew.“

„Nur seinetwegen? Ach ja, Sie sind verlobt. Das hatte ich vergessen.“

In der Nacht konnte Polly nicht schlafen. Sie hatte das Gefühl, Fredas Geist spuke in der kleinen Wohnung herum, und quälte sich mit Erinnerungen herum.

„Er war so herrlich gebaut“, hatte Freda einmal erzählt, „für die Liebe einfach wie geschaffen.“ Dann hatte sie Polly von der Seite boshaft und gehässig angesehen und gesagt: „Es stört dich doch nicht, dass ich so offen darüber rede, oder?“

„Nein“, hatte Polly wahrheitsgemäß erwidert. Damals hatte sie ja nur nebelhafte Vorstellungen von ihm gehabt.

Das war jetzt anders. Nachdem sie ihn kennengelernt und in den Armen gehalten hatte, bekamen Fredas Worte eine ganz andere Bedeutung: … für die Liebe einfach wie geschaffen.

Plötzlich richtete sie sich auf, atmete tief durch und blickte in die Dunkelheit. „Was für ein Unsinn“, sagte sie laut vor sich hin.

Danach konnte sie erst recht nicht schlafen. Sie stand auf und wanderte ruhelos im Zimmer umher. Es geht mir viel zu nahe, ich muss es beenden, mir einen Job suchen und Ruggiero vergessen, überlegte sie.

Doch Letzteres war unmöglich. Allzu gut erinnerte sie sich daran, wie sie die Finger über seine nackte Haut hatte gleiten lassen, während sie ihn untersucht hatte. Zunächst hatte sie nichts dabei gedacht, doch im Nachhinein fand sie es erregend.

„Sie sind etwas Besonderes für ihn“, hatte Hope gesagt. Zu ihrem eigenen Entsetzen hatte Polly Herzklopfen bekommen, war jedoch sogleich ernüchtert gewesen, als Hope hinzugefügt hatte: „Weil Sie ihre Cousine sind.“

Nur wegen Freda bin ich für Ruggiero interessant, das darf ich nie vergessen, falls ich jemals auf dumme Gedanken komme, ermahnte sich Polly.

Danach konnte sie endlich einschlafen.

Früh am nächsten Morgen rief Pollys Freundin Iris an. Ihre Tochter hatte sich das Bein gebrochen und musste sofort ins Krankenhaus gebracht werden. Da Iris sich deshalb nicht mehr um Matthew kümmern konnte, wollte ihr Mann Joe den Kleinen ganz schnell vorbeibringen.

Eine halbe Stunde später stand dieser mit dem Kind vor der Tür. Der Junge schien die Unruhe zu spüren, denn er brüllte aus Leibeskräften, obwohl Polly ihn zu beruhigen versuchte.

Schließlich griff Hope, die offensichtlich ausgesprochen gut mit Kindern umgehen konnte, ein. Ohne langes Federlesen nahm sie den Kleinen auf den Arm, lächelte ihn an und sprach tröstend auf ihn ein. Unvermittelt hörte er auf zu schreien, und Großmutter und Enkel blickten sich schweigend an.

Plötzlich machte Matthew ein Bäuerchen, und Hope lachte fröhlich auf, während der kleine Kerl übers ganze Gesichtchen strahlte. Liebevoll drückte Hope ihn an sich und senkte dann schnell den Kopf. Als sie wieder aufsah, waren ihre Augen feucht.

„Mein Enkel“, sagte sie heiser. „Oh ja, wir haben einander sogleich erkannt.“

Nachdem Iris’ Mann gegangen war, schlug Hope vor: „Rufen Sie doch Ihren Verlobten an, und laden Sie ihn ein, heute Abend mit uns bei meinem Sohn Justin und seiner Frau Evie zu essen.“

„Ich denke nicht, dass er in der Klinik abkömmlich ist“, erwiderte Polly.

„Fragen Sie ihn doch erst. Oder besuchen Sie ihn jetzt gleich. Da Matthew schon da ist und wir ihn nicht abholen müssen, haben Sie doch genug Zeit.“

Wenn ich mich weiterhin weigere, schöpft Hope Verdacht, überlegte Polly und gab nach. Sie würde einen Einkaufsbummel machen.

„War es schön?“, fragte Hope, als Polly nach einigen Stunden zurückkam.

„Ja, sehr“, antwortete sie betont fröhlich und hoffte, wie eine Frau auszusehen, die gerade ihren Geliebten getroffen hatte. Doch sie war eine schlechte Schauspielerin und befürchtete, Hope würde sie durchschauen. Deshalb wechselte sie rasch das Thema und blickte auf die Uhr.

„Was? So spät ist es schon? Wir müssen uns beeilen!“

Wenig später machten sie sich auf den Weg zu Justin und Evie. Unterwegs berichtete Hope, dass sie mit Ruggiero telefoniert habe.

„Ich habe ihm erzählt, was für einen wunderbaren Sohn er hat und dass der Kleine und ich etwas Zeit hatten, einander kennenzulernen. Ruggiero schien sich zu freuen.“

Wenig später wurden sie herzlich von Hopes Sohn begrüßt. Die friedliche und harmonische Atmosphäre bei Evie und Justin mit ihren Zwillingen und Justins Sohn, der schon im Teenageralter war, empfand Polly als ausgesprochen wohltuend. Evie und Hope spielten voller Begeisterung mit Matthew, der eine Zeit lang Spaß daran hatte, sich dann jedoch mehr für das Hündchen der Familie interessierte. Dem Tierchen passte es jedoch nicht, wie grob der Kleine mit ihm umging, und es lief weg. Prompt schrie der Junge aus Leibeskräften.

„Er ist ganz sein Vater“, stellte Hope fest und nahm ihn auf den Arm. „Ruggiero hat auch gebrüllt wie am Spieß, wenn ihm etwas gegen den Strich ging.“ Sie wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Polly, in dem stillen Einverständnis, dass sich daran wenig geändert hatte.

„Du kommst offenbar sehr gut mit Polly aus“, sagte Evie, als sie mit Hope allein war. „Hast du dich für sie entschieden?“

„Wie meinst du das?“, fragte Hope mit Unschuldsmiene.

„Das weißt du genau“, erwiderte Evie lachend. „Du suchst die Schwiegertochter aus und ziehst dann alle Register, damit sie es auch wird.“

„Ich habe nur das Beste für meine Söhne im Sinn“, entgegnete Hope.

„Du möchtest, dass Ruggiero sie heiratet, gib es zu.“

„Polly wäre sicher die richtige Frau für ihn. Wir müssen jedoch behutsam vorgehen.“

„Ihr Verlobter könnte dir im Weg stehen.“

„Das glaube ich nicht“, antwortete Hope nachdenklich. „Nein, ich halte es für sehr unwahrscheinlich.“

Am nächsten Tag flogen sie nach Italien zurück. Vor der Landung in Neapel wurde Polly immer nervöser. Ruggiero war ihr die ganze Zeit nicht aus dem Kopf gegangen. Jetzt würde sie ihn wiedersehen, und das beunruhigte sie.

Eigentlich bin ich doch ein sachlich und nüchtern denkender Mensch, überlegte sie und hoffte zugleich, dass er sie vom Flughafen abholen würde.

Sie erblickte ihn sofort, als sie durch die Zollkontrolle gingen. Hope trug den Jungen, und Toni kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, um sie und seinen Enkel zu begrüßen.

Ruggiero hingegen bewegte sich nicht von der Stelle.

„Er ist völlig durcheinander, Polly“, flüsterte Toni ihr später zu. „Offenbar weiß er nicht, was er machen soll.“

Doch plötzlich lächelte Ruggiero sie irgendwie erleichtert an, als hätte er auf ihre Rückkehr gewartet. Obwohl sie sich bemühte, jede Regung zu unterdrücken, wallte Freude in ihr auf.

„Du und der Junge fahrt mit papà, und Polly fährt mit mir“, erklärte Ruggiero, als sie den Parkplatz erreichten, an seine Mutter gewandt.

Wieder überkam Polly dieses dumme Glücksgefühl, das sich nicht verdrängen ließ. Er hielt ihr die Beifahrertür auf, damit sie einsteigen konnte. Dann ging er um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. Lächelnd und erwartungsvoll blickte Polly ihn an.

Schließlich drehte Ruggiero sich zu ihr um. „Darf ich Sie etwas fragen, ehe wir losfahren?“

„Nur zu.“

„Sie haben sie nicht vergessen, oder?“

„Wen?“

„Die Fotos. Sie hatten mir versprochen, die Bilder von Sapphire mitzubringen. Sie sind sehr wichtig für mich.“

Nur darum geht es ihm also, nur deshalb hat sich seine Miene aufgehellt, als er mich gesehen hat, schoss es ihr durch den Kopf. Die bittere Enttäuschung, die sie empfand, musste ihr eine Warnung sein. Sie musste einen klaren Kopf bewahren.

„Keine Angst, ich habe daran gedacht.“

Daraufhin startete er energisch den Motor und fuhr in rasantem Tempo hinter seinem Vater her.

Hast du etwa angenommen, fragte Polly sich spöttisch, dass er Freda vergessen würde und nur auf dich gewartet hat? Bleib auf der Erde, Polly!

„Haben Sie während meiner Abwesenheit auch keine Dummheiten gemacht?“, wandte sie sich betont unbekümmert an ihn.

„Nein, bestimmt nicht. Ich war lediglich eine Stunde in der Firma, das ist alles.“

Schon bald hielten sie vor der Villa Rinucci, wo sie von Ruggieros Stiefbruder Primo und seiner Frau Olympia begrüßt wurden, die in Neapel lebten. Alle gingen ins Wohnzimmer, wo Hope und Toni bereits mit dem Kleinen warteten.

Polly blieb zunächst in Matthews Nähe, falls er sich in der ungewohnten Umgebung nicht wohlfühlte. Doch er hatte kein Problem, mit der neuen Situation zurechtzukommen, und schien die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, zu genießen.

Alle waren begeistert, als Ruggiero sich zu seinem Sohn hinunterbeugte und ihn ansah. Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte der Junge seinen Blick.

Buongiorno“, sagte Ruggiero freundlich.

Bon … bon …“, plapperte Matthew zur Belustigung der Umstehenden nach.

Schließlich nahm Ruggiero auf dem Sofa Platz, und Hope half dem Kleinen, sich neben ihn zu setzen. Neugierig betrachtete Matthew seinen Vater und wollte auf seinen Schoß klettern.

„Nein, das ist keine gute Idee“, wies Ruggiero ihn zurecht. „Ich habe noch Schmerzen und kann dich nicht festhalten.“

Es klang plausibel. Polly hatte jedoch das Gefühl, es sei nur eine Ausrede. Er verhielt sich völlig korrekt, schien sich für das Kind zu interessieren und lächelte im richtigen Moment. Später war er dabei, als Polly den Jungen badete, ihn für die Nacht fertig machte und in das Kinderbett legte. Man hatte es vom Dachboden geholt und in ihrem Zimmer aufgestellt, weil Matthew vorerst noch bei ihr schlafen sollte.

Trotzdem wurde Polly den Verdacht nicht los, dass Ruggiero die ganze Sache wie aus weiter Ferne beobachtete und sorgsam darauf bedacht war, sich nicht anmerken zu lassen, wie wenig ihn sein Sohn interessierte.

Nachdem Matthew eingeschlafen war, fragte Ruggiero: „Kann ich jetzt die Bilder haben?“

„Natürlich.“ Sie holte die beiden Fotoalben hervor und reichte sie ihm.

„Danke.“ Ohne noch einen Blick auf das schlafende Kind zu werfen, verließ er dann den Raum.

An dem Abend blieb Polly lange auf und redete sich ein, sie wache über Matthew. In Wahrheit wachte sie jedoch über seinen Vater, wie sie sich insgeheim eingestand. Wenn sie das Fenster öffnete und hinausblickte, konnte sie sehen, dass er noch Licht anhatte. In dieser Nacht würde er keine Ruhe finden, dessen war sie sich sicher.

Beim Betrachten der Aufnahmen empfand er wahrscheinlich von Neuem tiefen Schmerz. Natürlich würde er es abstreiten. Er hatte Sapphire jedoch so leidenschaftlich und innig geliebt, dass er sie überall zu sehen glaubte.

Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie in der Eile vergessen hatte, Fredas Hochzeitsfotos herauszunehmen.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Matthew fest schlief, verließ sie den Raum und klopfte leise an Ruggieros Tür.

„Herein“, antwortete er ruhig.

Er saß auf dem Bett und hatte die Fotos neben sich liegen.

„Ich wollte nur fragen, wie es Ihnen geht.“

„Gut – ja, mir geht es gut.“

Sie setzte sich neben ihn. „Das stimmt nicht“, entgegnete sie sanft. „Ich habe Sie den ganzen Abend beobachtet. Ihre Nerven sind zum Zerreißen gespannt, und Ihre Stimme klingt anders als sonst.“

„Wie denn?“

„Härter und seltsam fremd. Ich habe den Eindruck, als fragten Sie sich, ob Sie die nächsten fünf Minuten überleben werden. Sie lächeln angestrengt und versuchen, das Richtige zu sagen, doch es kostet Sie ungeheure Kraft und Anstrengung.“

„Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen?“, fragte er mit einem angedeuteten Lächeln.

„Nein. Ich glaube auch nicht, dass irgendjemand etwas gemerkt hat.“

„Nur Sie als Krankenschwester, die auf mich als Ihren Patienten ein wachsames Auge hat?“

Am liebsten hätte sie ihm verraten, dass sie in ihm nicht nur den kranken Menschen sah.

Ruggiero seufzte und drückte ihr die Hand. „Nein, es liegt nicht daran, dass Sie Krankenschwester sind. Sie sehen Dinge, die andere einfach nicht bemerken. Wie kommt das?“

Sie widerstand der Versuchung, seinen Händedruck zu erwidern, und antwortete: „In meinem Beruf nimmt man nun mal auch vieles wahr, was über medizinische Dinge hinausgeht.“

„Wie meinen Sie das?“

„Wenn beispielsweise ein Mann seine Frau bei uns einliefert, kann ich sofort sagen, ob die beiden eine gute Beziehung haben oder nicht.“

„Und wieso?“

„Wenn er seine Angetraute in jedem zweiten Satz ‚mein Liebling‘ nennt, weiß ich, dass er seine Geliebte anruft, noch ehe der das Gebäude verlassen hat. Dagegen reden die Männer, die allein zu Hause herumsitzen und sich Sorgen machen, nicht viel.“

„Sie machen sich von jedem Mann ein bestimmtes Bild, stimmt’s?“

„Klar. Männer sind so leicht zu durchschauen, dass es mich schon fast langweilt“, meinte sie scherzhaft.

„Kennt Brian Ihre Meinung über seine Geschlechtsgenossen?“

„So offen rede ich mit ihm nicht darüber. Jede Frau hat schließlich ihre kleinen Geheimnisse.“

„Auch vor dem Mann, den sie liebt?“

„Gerade vor dem“, erwiderte sie bestimmt.

„Und er merkt von alledem nichts?“

„Das versuche ich zu verhindern.“

„Dann machen Sie dem armen Kerl etwas vor. Das scheint bei Ihnen in der Familie zu liegen.“ Er stellte das ganz ruhig fest, doch der verbitterte Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Was für ein Mensch ist Brian? Ist er Ihnen treu?“

„Das kann ich nicht beurteilen. Ich hatte bisher keine Zeit, mich mit dieser Frage zu befassen.“

„Hatten Sie denn in dem vergangenen Jahr, als Sie Ihre kranke Cousine pflegen mussten, keine Angst, er würde Sie mit einer anderen Frau betrügen?“

„Ich hatte dazu keine Veranlassung.“

„Weil Sie Angst vor der Wahrheit hatten? Oder ist er so temperamentlos, dass er keine Lust hat fremdzugehen?“

„Das klingt so, als wäre Untreue eine Tugend“, erwiderte sie und lachte unterdrückt.

„Das wollte ich damit nicht sagen. Ich habe nur den Eindruck, Sie sind sich seiner so sicher, dass man ihn fast für ein … Weichei halten könnte.“

„Das ist er ganz bestimmt nicht. Der Job eines Arztes im Krankenhaus ist ein aufreibender Job. Deshalb ist er oft viel zu müde und erschöpft, um noch für andere Dinge aufnahmebereit zu sein.“

„Und wenn Sie zusammen sind, reden Sie dann über Krankheiten?“

Auf eine solche Diskussion hatte Polly sich eigentlich nicht einlassen wollen, zumal Ruggieros Nähe sie so sehr beunruhigte, dass sie befürchtete, er würde es bemerken. Doch dank Brian konnte sie das Spiel fortsetzen.

„Wenn man die gleichen Interessen hat, sind alle Gespräche anregend“, entgegnete sie.

„Haben Sie gestern auch Fachgespräche mit ihm geführt?“

Sie lachte. „Da haben wir überhaupt nicht viel miteinander gesprochen.“

„Warum hat er Sie nicht überredet, in London zu bleiben?“

„Weil ihm klar war, dass ich hier noch gebraucht werde. Er schätzt nun mal mein Pflichtbewusstsein.“

„Liebt er Sie nun, oder tut er es nicht?“

„Er liebt mich, aber er versteht meine Beweggründe.“

„Ist es Ihnen nicht schwergefallen, sich wieder von ihm zu trennen?“

„Ich lasse meine Patienten nicht im Stich“, erklärte Polly, der die Unterhaltung immer mehr Spaß machte, würdevoll. Andererseits war ihr durchaus bewusst, dass sie das Ganze nicht zu sehr übertreiben durfte. „Ich möchte mit Ihnen nicht länger über Brian reden, das würde ihm nicht gefallen.“

Ruggiero warf ihr einen finsteren Blick zu. Nachdem er die letzten zwei Tage befürchtet hatte, dass er Polly nie wiedersehen würde, waren seine Nerven immer noch zum Zerreißen gespannt.

Er war sich selbst ein Rätsel. Einerseits war seine ganze Sorge gewesen, dass Polly die Fotos vielleicht nicht mitbringen würde, andererseits hatte ihn eine unerklärliche Angst beschlichen, sie könnte vielleicht nicht zurückkommen.

Dann hatte er sich wiederum gesagt, dass eine so zuverlässige, starke Frau wie sie ihr Wort halten und ihn nicht im Stich lassen würde, denn das war nicht ihr Stil. Dabei war ihm durchaus klar, dass sie gute Gründe gehabt hätte, in London zu bleiben. Was war, wenn der Mann, den sie liebte, es leid war, auf sie zu warten, und von ihr verlangte, an erster Stelle zu stehen. Die Fotos hätte sie auch Hope mitgeben können.

Als seine Mutter ihn schließlich angerufen und erklärt hatte, sie würden zusammen zurückkommen, hatte er sich unendlich gefreut. Gänzlich erleichtert war er jedoch erst beim Anblick von Polly am Flughafen gewesen und hatte wieder ganz falsch reagiert, weil er sich seine grenzenlose Erleichterung nicht hatte anmerken lassen wollen.

6. KAPITEL

Sapphire war atemberaubend schön, dachte Ruggiero, als er die Hochzeitsbilder betrachtete, und stöhnte gequält auf.

Polly blätterte weiter. Auf den Fotos der nächsten Seite sah Freda in ihrem überaus eleganten Brautkleid ihren frischgebackenen Ehemann liebevoll an. Sie war wirklich eine perfekte Schauspielerin, fand Polly. Da George ihrer Cousine jeden erdenklichen Luxus bieten konnte, hatte sie ihm vorgemacht, dass sie ihn geradezu anbetete.

„Es tut mir leid, ich hätte die Aufnahmen von der Hochzeit vorher herausnehmen müssen“, sagte Polly leise.

„Warum?“, fragte er scharf. „Ich habe keine Angst davor zu sehen, wie glücklich sie war.“

„Vielleicht belastet es Sie zu sehr. Weshalb tun Sie sich das an?“

„Ich kann die Erinnerung an sie nicht einfach auslöschen, nur weil sie nicht mehr lebt. Ich möchte alles über sie wissen.“

Polly schüttelte den Kopf. Er würde die ganze Wahrheit nicht ertragen, dessen war sie sich sicher. „Lassen Sie die Vergangenheit los, und konzentrieren Sie sich auf die Zukunft und auf Ihren Sohn.“

„Es gibt aber keine Zukunft ohne die Vergangenheit. Ich muss so viel wie möglich über Ihre Cousine erfahren. Möglicherweise beurteile ich dann alles anders. Wenn ich die Orte aufsuchen könnte, wo sie gelebt hat, wäre ich vielleicht in der Lage, mir ein besseres Bild von ihr zu machen. Sie könnten mir dabei helfen und mir alles zeigen.“

„Nein, Ruggiero.“

„Doch. Wir fliegen morgen nach England und bleiben so lange dort, bis ich genug gesehen habe.“

Sie packte ihn an der gesunden Schulter und schüttelte ihn. „Sie kommt trotzdem nicht zurück“, erklärte sie hitzig. „Hören Sie damit auf!“

„Das kann ich nicht“, antwortete er schmerzerfüllt.

Nachdenklich blickte sie ihn an. Offenbar wurde er die Gespenster der Vergangenheit nicht los.

„Lassen Sie sie los“, forderte sie ihn sanft auf.

„Wie denn?“, fragte er gequält. „Sie sind die Einzige, die in der Lage ist, mir zu helfen, Polly. Ich habe sonst niemanden, mit dem ich darüber reden kann.“

Das stimmte. Seine Mutter ahnte nicht, wie tief sein Schmerz war. Außerdem wollte er sie nicht mit seinen Problemen belasten.

„Während Ihrer Abwesenheit habe ich auf ein Wunder gehofft“, fuhr er fort. „Ich habe gehofft, Klarheit zu bekommen. Und dann haben alle von mir erwartet, dass ich auf Anhieb väterliche Gefühle verspüre.“

„Ich bezweifle, dass es so gewesen ist“, sagte sie. „Ich vermute eher, dass Sie beim Anblick des Jungen ‚Ach, du liebe Zeit‘ gedacht haben.“

„Ja, so etwas in der Art“, gab er zu. „Sie können mich für ein Monster halten, aber ich empfinde wirklich nichts für ihn.“

„Sie sind kein Monster. Wahrscheinlich steht noch zu viel zwischen Ihnen und dem Jungen.“

„Vielleicht. Jedenfalls steht seine Mutter zwischen uns, und das in zweifacher Hinsicht.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Einerseits als ein schönes junges Wesen, das mich geliebt und mein Leben verändert hat, andererseits als berechnende, manipulierende Frau, die sich genommen hat, was sie haben wollte, um mich dann kaltblütig zu verlassen. Ich weiß nicht, welche der beiden die Wahrhaftige ist.“

„Vielleicht liegt die Wahrheit in der Mitte“, versuchte Polly, ihn zu trösten.

„Oder ich belüge mich selbst und sehe nur das, was ich wahrnehmen will. Alles, was nicht in das Bild passt, das ich mir von ihr gemacht habe, verdränge ich. Wahrscheinlich bin ich ein Schwächling, der mit unangenehmen Wahrheiten nicht zurechtkommt.“

„Seien Sie nicht so hart mit sich.“

„Ich dachte, ich könnte in dem Gesicht des Jungen so etwas wie eine Antwort finden. Doch es scheint sich ständig zu verändern. Manchmal sehe ich sie darin, manchmal mich.“

„Und manchmal ist es einfach nur sein Gesicht, und so sollte es auch sein. Der arme kleine Kerl kann den Erwartungen, die in ihn gesetzt werden, gar nicht gerecht werden.“

„Das ist mir bewusst. Alle betrachten ihn prüfend, um herauszufinden, ob er wirklich ein Rinucci ist. Und ich werde ständig beobachtet, weil sie herausfinden wollen, ob ich das Richtige empfinde. Also tue ich, was man von mir erwartet, beuge mich zu ihm hinunter, rede mit ihm, um alle zu überzeugen, dass ich nicht herzlos bin. Außer Ihnen ahnt niemand die Wahrheit, und das soll auch so bleiben. Wenn ich Sie nicht hätte, würde ich verrückt. Sie sind mein moralischer Halt.“

Wenn ich vernünftig wäre, würde ich jetzt die Flucht ergreifen, schoss es Polly durch den Kopf. Sie wusste genau, in welcher Gefahr sie schwebte. Doch sie wollte nicht vernünftig sein, sondern ihm helfen, selbst wenn sie am Ende teuer dafür bezahlen musste.

Sie legte die Arme um ihn. „Sie können sich auf mich verlassen. Ich werde Sie, so gut ich kann, unterstützen, aber nicht, indem ich eine Traumwelt für Sie erschaffe.“

„Das möchte ich auch gar nicht“, antwortete er leise. „Ich will lediglich wissen, wie sie wirklich war, und nur Sie können es mir verraten.“

„Was haben Sie davon? Vielleicht wird alles nur noch schlimmer, wenn Sie sich so intensiv mit ihr beschäftigen.“

Das Glitzern in seinen Augen machte ihr Angst. „Ich will sie noch nicht gehen lassen.“ Er sprach wie im Fieber.

„Sie ist aber in Wirklichkeit nicht mehr hier“, wandte sie ein. „Seit zweieinhalb Jahren quälen Sie sich mit den Erinnerungen herum. Sie glauben, sie überall zu sehen, und haben sich so sehr in diese Scheinwelt hineingesteigert, dass es Sie beinah umgebracht hätte. Ist Ihnen das denn nicht klar?“

„Vielleicht war es ja Ihre Schuld, dass ich den Unfall hatte“, antwortete er.

„Nein, mich haben Sie auf der Rennstrecke nicht vor sich gesehen“, protestierte Polly. „Sie haben sie gesehen. Sie ist eifersüchtig und besitzergreifend und will Sie nicht loslassen, obwohl sie Sie eigentlich gar nicht haben will. So war sie schon immer. Wenn sie etwas nicht bekommen konnte, sollte auch kein anderer es haben. Sie hat ihr Leben verloren, und jetzt …“ Entsetzt über sich selbst, verstummte Polly. „Meine Güte, ich rede über sie, als wäre sie noch da.“

„Dasselbe hat sie mit mir auch gemacht“, erklärte Ruggiero. „Begreifen Sie jetzt, dass es kein Entrinnen gibt?“

„Man muss sich nur wehren, dann ist alles in Ordnung.“

„Und wenn ich es nicht will? Soll ich Ihnen verraten, was auf der Rennstrecke wirklich passiert ist? Ich habe mich gefreut, Sapphire zu sehen. Ich wusste genau, dass es in einer Katastrophe enden würde, es war mir jedoch egal. Ich war glücklich, sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich glaube, ich habe sogar ihren Namen gerufen.“

„Ja“, bestätigte Polly.

„Ich bin ihr gefolgt, doch sie ist mir ausgewichen, und plötzlich war sie verschwunden.“

„Meinen Sie etwa, Sie würden sie wiederfinden, wenn ich Sie dorthin führe, wo sie gelebt hat? Glauben Sie mir, damit erreichen Sie gar nichts; im Gegenteil, Sie werden eine Enttäuschung erleben.“

„Wenn ich diese Hoffnung aufgeben müsste, würde ich verrückt.“

„Warum lassen Sie es nicht einfach dabei bewenden, dass sie eine schöne Zeit miteinander hatten und sie Ihnen einen Sohn geschenkt hat?“

„Die schöne Zeit war nur ein Trugbild, sonst nichts“, flüsterte er.

„Ihr Sohn ist keine Illusion. Ruggiero, begreifen Sie es doch endlich, Sie können sie nicht zurückholen.“

Er schien sich zu entspannen, und sekundenlang glaubte Polly, sie sei endlich zu ihm durchgedrungen. Behutsam zog sie das Fotoalbum zu sich heran. „Ich nehme es mit, es belastet Sie zu sehr.“

„Nein, lassen Sie es hier“, stieß er hervor und hielt ihre Hand fest.

In dem Moment hörte sie ihr Handy in ihrem Zimmer läuten und sprang auf. „Ich muss schnell zu meinem Telefon, sonst wird Matthew wach.“ Sie eilte hinaus, ohne jedoch die Tür hinter sich zuzumachen.

„Ich habe versucht, dich zu erreichen, mir aber schon gedacht, dass du im Krankenhaus bist“, hörte Ruggiero sie sagen, ehe er die Tür schloss.

Polly stellte sich ans Fenster, während sie sich leise mit ihrer Freundin unterhielt.

„Bin ich froh, dass es deiner Tochter wieder gut geht. Und danke für alles“, beendete sie schließlich das Gespräch und ging dann über den Flur zu Ruggieros Zimmer und klopfte.

„Kann ich hereinkommen?“

„Nein“, antwortete er. „Ich will Sie nicht länger belästigen. Gute Nacht, Polly.“

„Gute Nacht.“ Schade um die verpasste Gelegenheit, dachte sie, während sie sich bettfertig machte.

Am nächsten Tag eröffnete Ruggiero ihr, dass er wieder arbeiten könne.

„Ist das wirklich so?“, fragte Hope an Polly gewandt.

„Es ist so“, erklärte Ruggiero.

„Es ist so“, wiederholte Polly wie ein Papagei und fügte lachend hinzu: „Sie haben es gehört, Ihr Sohn bestimmt, was ich sagen soll.“

„Als ob Sie sich von ihm etwas vorschreiben ließen!“ Hope warf Polly einen bewundernden Blick zu.

„Wenn er es nicht übertreibt, kann er ruhig wieder arbeiten“, erklärte sie.

„Dann gehen wir einkaufen“, verkündete Hope.

Wenig später fuhren Hope, Toni, Polly und Matteo, wie er jetzt genannt wurde, in die Stadt. Hope fühlte sich ganz in ihrem Element und kleidete den Jungen neu ein. Anschließend bekam er jede Menge Spielzeug.

„Fassen Sie das bitte nicht als Beleidigung auf“, bat sie Polly. „Ich weiß, Sie haben gut für ihn gesorgt und alles für ihn getan …“

„Ich bin nicht beleidigt“, versicherte Polly ihr. „Er wächst sowieso viel zu schnell aus allem heraus und braucht immer wieder etwas Neues. Und welche Frau wäre von einem Einkaufsbummel nicht begeistert?“

Ermutigt durch Pollys positive Reaktion, führte Hope sie in eine Boutique und spendierte ihr mehrere Outfits. „Das müssen Sie annehmen als Dank für alles, was Sie für uns getan haben.“

„Oh nein …“, protestierte Polly.

„Bitte“, mischte Toni sich ein.

„Okay“, gab sie schließlich nach. „Aber nur Ihnen zuliebe“, fügte sie lachend hinzu.

Am Nachmittag bekamen sie Besuch. Alle wollten das neue Familienmitglied kennenlernen. Auch dieses Mal genoss es Matteo, im Mittelpunkt zu stehen, und schon bald wurde er nur noch liebevoll Matti gerufen.

Als Ruggiero zurückkam, scherzte er mit den Gästen und verhielt sich auch seinem Sohn gegenüber tadellos.

Doch Polly wusste, es war alles nur Fassade. Niemand sollte merken, dass er nichts für den Jungen empfand. Warum das so war, hatte sie inzwischen begriffen. Er war zutiefst verletzt, und das Kind erinnerte ihn zu sehr an Fredas Zurückweisung und an ihren Tod.

Als Polly den Kleinen schließlich ins Bett brachte, begleitete Hope sie. Sie beugte sich über ihren Enkel und gab ihm einen Gutenachtkuss.

Den nächsten Tag verbrachte Polly mit Hope und Toni und freute sich darüber, wie wohl Matti sich hier fühlte. Hope hatte natürlich gemerkt, dass Ruggiero sich mit seinem Sohn noch nicht anfreunden konnte, was sie jedoch nicht zu beunruhigen schien.

„Früher oder später wird er sich an den Gedanken gewöhnen“, erklärte sie. „Von mir aus kann er so lange hierbleiben, wie er will, und braucht nicht wieder in sein Apartment zu verschwinden.“

„In sein Apartment?“, wiederholte Polly verblüfft. „Ich dachte, er wohnt hier.“

„Nur manchmal. Er hat eine eigene Wohnung in der Stadt. Alle unsere Söhne haben jedoch ihre Zimmer hier in der Villa behalten.“

„Wie will er denn allein mit dem Kind zurechtkommen?“, fragte Polly erstaunt.

„Gar nicht. Matti bleibt zunächst bei uns. Erst muss Ruggiero erwachsen werden und für sich selbst sorgen können, ehe er den Jungen zu sich nimmt.“

„Aber er hat doch erst vor wenigen Tagen erfahren, dass die Frau, die er geliebt hat, tot ist. Ich finde es jedenfalls ganz normal, dass er um sie trauert“, wandte Polly ein.

„Um einen Menschen, der ihn so schäbig behandelt hat? Polly, haben Sie ihm etwa noch nicht alles erzählt?“

„Nein, er will die ganze Wahrheit bestimmt nicht wissen. Wenn ich ihm sage, wie meine Cousine wirklich war, zerstöre ich ja zugleich auch das Bild, das er sich von Mattis Mutter gemacht hat.“

Eine Zeit lang schwiegen sie. Dann streichelte Hope ihr die Hand. „Sie sind eine kluge Person, Polly, ich vertraue Ihnen. Sie werden schon einen Weg finden.“

„Auch ich vertraue Ihnen rückhaltlos“, stimmte Toni seiner Frau zu.

Beim Abendessen saß Matti wie ein kleiner Lord auf Tonis Schoß. Ruggiero ließ sich nicht blicken. Erst als alle zusammen die Treppe hinaufgingen, um den Kleinen ins Bett zu bringen, meldete er sich per Telefon. Toni nahm den Anruf entgegen und verkündete wenig später: „Ruggiero kommt heute nicht zurück. Er möchte alles aufarbeiten, was während seiner Abwesenheit liegen geblieben ist, und wird in seinem Apartment bleiben.“

Auch am nächsten und übernächsten Tag tauchte er nicht auf. Polly war beunruhigt, denn sie erinnerte sich noch genau daran, was er in der letzten Nacht, die er in der Villa verbracht hatte, gesagt hatte. Ihrer Meinung nach war er eine gequälte Seele, und sie wollte unbedingt mit ihm reden. Vielleicht konnte sie ihm helfen, den Dämonen der Vergangenheit zu entfliehen.

Oder soll er Freda nur deshalb vergessen, damit er nur noch an mich denkt?, fragte sie sich spöttisch.

In der Nacht träumte sie dann von ihrer Cousine. Sie war wieder so schön und elegant wie vor ihrer Krankheit, und ihr langes blondes Haar umrahmte ihr Gesicht wie ein Heiligenschein.

„Ich bin nicht mehr Freda, sondern Sapphire, weil er mich so sieht“, verkündete sie. „Du möchtest, dass er mich vergisst, weil du ihn für dich haben willst. Das wird jedoch nie geschehen, denn er gehört mir. Er liebt mich, und du kannst nichts dagegen tun, nichts, nichts, nichts …“ Dann war sie verschwunden.

Plötzlich wachte Polly auf. Sie saß senkrecht im Bett, und ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken.

„Es war nur ein Traum“, flüsterte sie. Rasch stand sie auf und lief ins Badezimmer, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Nur auf den ersten Blick sehe ich so aus wie Freda; schaut man jedoch genau hin, erkennt man die Unterschiede, dachte sie, während sie ihr Spiegelbild betrachtete.

„Sie ist tot“, sagte sie laut. „Sie kommt nie mehr zurück.“

Für Ruggiero war sie jedoch nicht tot. War er etwa nur deshalb nicht gekommen, um mit seinen Erinnerungen allein zu sein?

Panische Angst erfasste sie. Sie rannte hinaus auf den Flur und in Ruggieros Zimmer. Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich: Er hatte die Fotoalben mitgenommen.

Der sogenannte Palazzo Montelio lag in der Nähe des Hafens von Neapel. Der Name des beeindruckenden Gebäudes war noch ein Relikt aus der Vergangenheit. Ein reicher Händler hatte es vor mehr als zweihundert Jahren errichtet, um das Be- und Entladen seiner Schiffe, denen er seinen Reichtum verdankte, überwachen zu können. Doch der Besitz der Familie war in nichts zerflossen. Der große Komplex musste verkauft werden und wurde zu einem Apartmenthaus umgebaut.

Während Polly langsam die breite Treppe in den zweiten Stock hinaufstieg, kamen ihr Zweifel. War es wirklich eine gute Idee, Ruggiero aufzusuchen? Nachdem Hope in der Firma angerufen und erfahren hatte, dass er dort seit zwei Tagen nicht aufgetaucht war, machte sich Polly auf den Weg in die Höhle des Löwen, darauf gefasst, dass er bei ihrem Erscheinen einen Wutanfall bekommen würde.

Doch als er die Tür öffnete, fragte er nur: „Weshalb tauchen Sie erst jetzt auf?“

Sie hatte damit gerechnet, dass er seinen Kummer im Alkohol ertränkt hätte, und war überrascht, ihn völlig nüchtern zu sehen.

Er bat sie einzutreten und führte sie in eine hochmoderne Küche. Während er Tee machte, betrachtete sie ihn unauffällig. Er hatte sich offenbar nicht rasiert und auch nichts gegessen. Seine dunklen Bartstoppeln ließen sein Gesicht ungewöhnlich blass aussehen. Viel geschlafen hatte er anscheinend ebenfalls nicht, denn er hatte dunkle Ränder unter den Augen.

Das Hemd, das er zu den verwaschenen Jeans trug, hatte er nicht zugeknöpft, sodass Polly die dunklen Härchen auf seiner Brust sehen konnte.

„Wussten Sie, dass ich Sie besuchen würde?“

„Ich hätte darauf wetten können.“

„Sie sind immer noch mein Patient. Wie Sie inzwischen zurechtgekommen sind, brauche ich Sie gar nicht zu fragen. Ich stelle fest, Sie haben sich gut versorgt, haben gut gegessen, genug geschlafen und waren insgesamt sehr vernünftig. Warum ich mir überhaupt Gedanken gemacht habe, verstehe ich selbst nicht.“

Ruggiero musste lachen, verzog jedoch prompt das Gesicht und hielt sich die Seite. „Ich habe wieder stärkere Schmerzen“, gab er zu.

„So rasch klingen die auch nicht ab. Ich habe Ihnen Tabletten mitgebracht, von denen Sie nicht so müde werden wie von den anderen. Hier.“ Polly reichte sie ihm. „Nehmen Sie zwei davon, und dann überlegen wir, was wir essen können.“

„Es ist fast nichts im Kühlschrank.“

„Dann gehen wir ins Restaurant. Ich lade Sie ein.“

„Nein, das kann ich nicht zulassen.“

„Ob Sie das können oder nicht, steht nicht zur Diskussion.“

„Ja, Schwester Hanson.“ Er lachte auf. „Sie ahnen ja nicht, wie schön es ist, wieder von Ihnen herumkommandiert zu werden. Vielleicht hatte mein Vater recht“, fügte er nachdenklich hinzu.

„Womit?“

Er musste daran denken, dass Toni vor Kurzem gesagt hatte, Hope hätte ein gutes Gespür dafür, was er brauche und was gut für ihn sei, und handle, ohne lange zu fackeln. Andere hielten sie für dominant, aber so, wie Toni es geschildert hatte, beurteilte er seine Frau anders. Ruggiero wollte es Polly erzählen, überlegte es sich jedoch anders. Er wollte sich nicht auf unbekanntes Terrain begeben.

Eins war ihm völlig klar: Wenn Polly nicht zu ihm gekommen wäre, wäre er zu ihr gegangen.

„Ach, vergessen Sie es“, antwortete er. „Er macht manchmal so seltsame Bemerkungen.“

„Sie sind nicht umsonst sein Sohn“, versuchte sie zu scherzen, obwohl sein Zustand ihr Sorgen bereitete.

Es wurde schon dunkel, als sie das Haus verließen. In den kleinen Restaurants um den Hafen herum gingen die Lichter an, und auch die Schiffe, die hereinkamen oder ablegten, waren hell erleuchtet.

„Es sind fast alles Fähren“, erklärte Ruggiero. „Sie verbinden uns mit Capri, Ischia und anderen Inseln.“

„Das da sieht ganz gut aus.“ Polly wies auf ein kleines Haus dicht am Wasser.

„Nein, es gibt bessere Lokale“, entgegnete er.

„Ruggiero!“, ertönte in dem Moment eine freundliche Stimme.

Zögernd drehte er sich um. „Leo!“

Der Mann, der an der Tür des kleinen Restaurants stand, strahlte übers ganze Gesicht.

„Das ist Signorina Hanson“, stellte Ruggiero sie vor.

„Herzlich willkommen, Signorina. Wir haben dich lange nicht gesehen, Ruggiero. Kommt herein. Heute gibt es frische Muscheln. Die isst du doch so gern.“

Ruggiero blieb nichts anderes übrig, als Polly in das Restaurant zu führen.

„Sind Sie oft hier?“, fragte sie und sah sich interessiert um.

„Der Laden gehört ihm zur Hälfte“, erklärte Leo. „Die Gewinne, die ihm die Beteiligung einbringt, investiert er in Motorräder, auf denen er dann Kopf und Kragen riskiert. Eines Tages bringt er sich wirklich noch um, und dann lachen wir uns ins Fäustchen.“

Ruggiero grinste belustigt.

Polly fühlte sich in der warmen, herzlichen Atmosphäre wohl und fragte sich, warum er lieber einen Bogen um das Lokal gemacht hätte.

Leo führte sie zu einem Tisch am Fenster, und Ruggiero nahm die Speisekarte in die Hand und studierte sie. Er erklärte Polly die verschiedenen Gerichte, gab schließlich die Bestellung auf und bat Leo, ihnen Kaffee zu bringen. Der Wirt versuchte, ihnen einen Wein schmackhaft zu machen, doch Polly schüttelte den Kopf.

„Keinen Alkohol, das verträgt sich nicht mit den Tabletten“, sagte sie.

„Ja, ich weiß, Sie hatten mich gewarnt“, erwiderte Ruggiero.

„Haben Sie gedacht, ich würde mich zu Tode trinken? Sind Sie deshalb gekommen?“, fragte er, nachdem Leo verschwunden war. „Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe nur Tee getrunken.“

„Das nehme ich Ihnen sogar ab. Eine Ihrer vielen Tugenden ist, sich eisern zu beherrschen.“

„Machen Sie sich über mich lustig?“ Er blickte sie argwöhnisch an.

„Warum nehmen Sie das an?“

„Sie wissen doch, meine vielen Tugenden! Das meinten Sie doch ironisch, oder?“

„Haben Sie etwa nicht viele?“

„Also, ich weiß nicht, ob ich das überhaupt beurteilen kann. Ich denke schon, dass ich kein charakterloser Mensch bin, auch wenn Sie vermutlich anderer Meinung sind.“

„Vielleicht übertreiben Sie vieles mit Ihren guten Eigenschaften.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Im Prinzip ist Selbstbeherrschung eine gute Sache, man kann es damit aber auch auf den Gipfel treiben.“

„Tue ich das?“

„Ja, das haben Sie sogar zugegeben. Als wir über Sapphire geredet haben, sagten Sie, Sie hätten Ihr Herz verschlossen, weil Sie sich dann sicherer fühlten“, erinnerte sie ihn.

„Stimmt. Sie hat es jedoch geschafft, dass ich mich öffnete.“ Er deutete ein Lächeln an. „Ich habe mit ihr über Dinge gesprochen, über die ich noch nie zuvor geredet hatte.“

Polly fielen die Worte ihrer Cousine ein. „Er schwatzt ununterbrochen“, hatte sie sich beschwert. „Nur weil ich ihn einmal aufgefordert habe, er solle mir alles über sich erzählen. Dabei meinte ich das doch nicht so.“

„Dann hat sie Ihnen doch etwas gegeben“, erwiderte Polly sanft. „Halten Sie es fest, und verfallen Sie nicht wieder in Schweigen und Trübsinn.“

„Genau das habe ich getan, bis Sie mich beim Kragen gepackt und zurückgeholt haben.“

Sapphire hat ihn verzaubert, und ich habe ihn beim Kragen gepackt – so sieht er das, dachte Polly. Jetzt wusste sie wenigstens, woran sie war, und konnte die romantischen Vorstellungen vergessen. Sie musste lachen.

„Warum lachen Sie?“, fragte er.

„Ach, vergessen Sie es. Eigentlich ist es gar nicht so lustig. Da kommt unser Essen“, wechselte sie schnell das Thema.

Dann plauderte sie betont lebhaft über alles Mögliche und erzählte ihm schließlich, dass Matti seine Großeltern schon gut im Griff habe.

„Demnach hat er sich gut eingelebt“, stellte Ruggiero lächelnd fest. „Er scheint in der Villa das Zepter zu schwingen.“

„So kann man es ausdrücken. Besonders Toni ist ganz vernarrt in ihn.“

Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Ruggieros Gesicht. „Ah ja. Er hat endlich ein Enkelkind.“

„Er hat doch schon mehrere.“

„Genau genommen sind es die Enkelkinder meiner Mutter. Primo ist ihr Stiefsohn aus ihrer ersten Ehe, Luke ihr Adoptivsohn, Justin und Francesco sind ihre leiblichen Kinder, jedoch nicht die meines Vaters. Natürlich gehören alle zur Familie, und mein Vater liebt sie, weil er ein großherziger Mensch ist, aber nur Carlo und ich sind seine eigenen Söhne. Carlos Frau ist nicht sehr gesund und kann wahrscheinlich keine Babys mehr bekommen, also bleibe nur ich übrig.“ Ruggiero lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Kein Wunder, dass der Junge das Herz meines Vaters im Sturm erobert hat.“

„Es könnte noch einen anderen Grund dafür geben“, meinte Polly lächelnd. „Matti sieht ihm sehr ähnlich. Alle haben den Kleinen immer wieder angeschaut und überlegt, ob er Ihnen oder seiner Mutter gleicht. Doch er ist ganz sein Großvater.“

„Das stimmt. Wieso ist mir das nicht sofort aufgefallen?“

„Manchmal braucht man etwas Abstand, um die Dinge klarer zu sehen“, wandte sie ein.

Er nickte. „Da könnten Sie recht haben.“

„Nun sollten wir uns aber das Essen schmecken lassen, sonst wird es kalt.“

7. KAPITEL

Während des Essens beobachtete Polly ihn unauffällig. Ruggerio verdrückte eine Riesenportion, als hätte er eine ganze Woche gehungert. Was war geschehen in den zwei Tagen, während er in seinem Apartment allein gewesen war, allein mit den Fotos und seinen Erinnerungen?

Plötzlich wusste sie, warum er sie nicht mit hierher hatte nehmen wollen. In den letzten Wochen vor ihrem Tod hatte ihre Cousine erzählt, dass er sie eines Tages in Neapel in ein kleines Restaurant am Hafen hatte führen und seinen Freuden vorstellen wollen. „Als ob ich mich von lauter Fischern begutachten lassen würde! Nein, vielen Dank. Er hat geglaubt, er sei etwas Besonderes, aber er hatte ja keinen Schimmer“, hatte Freda gesagt.

Polly begriff jetzt auch, dass dieser Ort für ihn ausschließlich mit Sapphire verbunden war. Natürlich konnte er nicht ahnen, dass sie ihn nur als guten Liebhaber geschätzt hatte. Als er anfing, romantische Vorstellungen zu bekommen, hatte sie ihn verachtet.

Polly versuchte vergeblich, ihre Cousine aus ihren Gedanken zu verdrängen. Sie schien ihr zuzurufen: „Bildest du dir ein, du könntest ihn mir wegnehmen, indem du ihn bemutterst? Ich weiß, was er sich von einer Frau wünscht, und das kannst du ihm ganz bestimmt nicht bieten.“

Egal, wie schwierig es wird, ich werde ihn von den Dämonen der Vergangenheit befreien, nahm Polly sich vor.

„Was ist denn los?“, fragte Ruggiero. „Sie sind auf einmal so nachdenklich.“

„Das hat keinen besonderen Grund. Ich genieße das Essen, das ist alles. Waren Sie überhaupt in der Firma?“

„Ja, allerdings habe ich schon am ersten Tag gemerkt, dass ich es noch nicht schaffe.“

„Sie hatten gar nicht vor, in die Villa zurückzukommen, sondern wollten in Ihrem Apartment bleiben, um allein zu sein. Deshalb haben Sie die Fotoalben mitgenommen, stimmt’s?“

Er warf ihr einen rätselhaften Blick. „Ich bin kein guter Gesprächspartner“, wechselte er schnell das Thema. „Wenn man mit einer Frau essen geht, sollte man ihr Komplimente machen …“

„Versuchen Sie es erst gar nicht, Sie würden es nur bereuen“, warnte sie ihn.

„Ach ja, Brian hätte etwas dagegen.“

„Nein, ich. Ich bin hier als Krankenschwester und habe auf Sie aufzupassen, dafür werde ich von Ihrer Mutter entlohnt. Ich werde sie nicht enttäuschen.“

„Hope bezahlt Sie?“

„Ja, und dafür stelle ich meine Arbeitskraft zur Verfügung. Ehrlich gesagt, das Gehalt, das ich von ihr bekomme, ist mehr als großzügig. Umso gewissenhafter muss ich meinen Job erledigen.“ Einer Eingebung folgend, fügte sie hinzu: „Brian ist natürlich sehr froh darüber. Da wir beide noch nicht viel verdienen und irgendwann heiraten wollen, können wir das Geld gut gebrauchen.“

„Ich finde es seltsam, dass Ihnen das Geld wichtiger ist als Brian. Er scheint kein sehr leidenschaftlicher Mann zu sein.“

„Ich kann mich nicht beklagen“, erwiderte sie steif.

„Stört es ihn nicht, dass wir so viel Zeit miteinander verbringen? Warum droht er mir nicht mit furchtbarer Rache, falls ich es wage, Ihnen zu nahe zu kommen?“

Ein Lächeln umspielte Pollys Lippen. „Aus drei Gründen. Erstens habe ich ihm versichert, dass Sie in Ihrem Zustand gar keine Gefahr darstellen. Zweitens würde ich Sie in so einem Fall sofort zur Räson bringen, und drittens brauchen wir die Einnahmequelle.“

Ruggiero musste lachen. „Darauf fällt mir nichts mehr ein“, gab er zu. „Ich dränge mich Ihnen also nicht auf, wenn ich Sie um einen weiteren Gefallen bitte?“

„Das kommt darauf an.“

„Okay. Begleiten Sie mich bitte in meine Wohnung, und erzählen Sie mir alles über Ihre Cousine.“

„Ich weiß nicht, ob ich mich an alles erinnern kann“, wandte sie ein.

„Sie haben ein hervorragendes Gedächtnis, davon bin ich überzeugt.“ Er winkte Leo herbei, um zu zahlen.

Da sie ihn eingeladen hatte, wollte Polly ihm zuvorkommen. Doch Ruggiero warf ihr einen so finsteren Blick zu, dass sie ihr Portemonnaie rasch wieder einsteckte.

„Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Ihre Dienste in Anspruch nehme, Schwester Hanson?“, fragte er beim Hinausgehen scherzhaft und legte ihr einen Arm um die Schulter.

„Überhaupt nicht, dafür bin ich ja da“, erwiderte sie betont unbekümmert.

Zurück in seinem Apartment, holte Ruggiero die Alben hervor und legte sie auf den Tisch.

„Haben Sie die beiden letzten Tage etwa nichts anderes getan, als sich die Fotos anzusehen?“, fragte Polly mitfühlend.

„Ich weiß, es ist dumm. Ich habe tatsächlich weder Radio noch Fernseher eingeschaltet, mit niemandem telefoniert und mich praktisch hier eingeschlossen, um mit ihr allein zu sein.“ Er seufzte.

„Ruggiero, wieso nehmen Sie eigentlich an, dass ich Ihnen die Wahrheit erzählen werde?“

„Ich vertraue Ihnen“, antwortete er schlicht. „Ich weiß selbst nicht warum und verlasse mich da ganz auf mein Gefühl. Ich halte Sie für ausgesprochen ehrlich und aufrichtig. Zu Ihnen habe ich genauso viel Vertrauen wie zu meinen Eltern und Brüdern.“

Sekundenlang empfand sie die Verantwortung, die er ihr damit aufbürdete, als schwere Last. Doch wenn sie sich ihm jetzt entzog, konnte sie ihm nicht helfen.

„Gut, ich tue, was ich kann“, versprach sie. „Wahrscheinlich kannte ich meine Cousine besser als sonst jemand.“ Dann öffnete sie eines der Fotoalben und begann zu erzählen. „Das hier sind unsere Eltern, und die beiden kleinen Mädchen sind wir. Sie war damals sieben und ich acht. Zwei Wochen später ist meine Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Mein Vater kam damit nicht zurecht, und so haben ihre Eltern mich zu sich genommen. Es sollte eigentlich nur eine vorübergehende Lösung sein, doch nach zwei Jahren ist mein Vater gestorben, und ich bin bei ihnen geblieben.“

„Was hatte er?“

„Eine Lungenentzündung.“

„Das kann man heutzutage heilen, oder?“

„Ja, in den meisten Fällen. Er hatte sich nach dem Tod meiner Mutter mehr oder weniger selbst aufgegeben und war so geschwächt, dass die Ärzte schließlich nichts mehr für ihn tun konnten.“

„Ich verstehe.“

„Eigentlich war es eine schöne Zeit, auch wenn mein Onkel und meine Tante nicht viel Geld hatten. Alle waren der Meinung, meine Cousine sei sehr schön und ich sehr intelligent. Obwohl sie wirklich nicht besonders klug war, verfügte sie über Scharfsinn und Witz, und ich war stolz, weil sie mich zu ihrer besten Freundin wählte.“ Polly lachte in sich hinein. „Es dauerte ziemlich lange, bis es mir dämmerte warum: Sie wollte, dass ich ihre Hausaufgaben machte.“

Das Lächeln, das über sein Gesicht huschte, machte sie für wenige Sekunden glücklich.

„Ich fühlte mich geschmeichelt und tat alles, was sie wollte. Dafür bekam ich von ihr auch einiges zurück. Ohne sie hätten mich die anderen Kinder gemieden. Man ist nicht besonders beliebt, wenn man intelligent ist.“

„Wie alt waren Sie auf diesen Fotos hier?“

„Ich sechzehn, sie fünfzehn. Damals war sie schon ausgesprochen hübsch, während wir anderen uns noch mit der Pubertät herumquälten. Zu dieser Zeit haben wir sie geradezu gehasst.“

Er runzelte die Stirn. „Heißt das, die anderen Mädchen haben sie gemobbt?“

„Natürlich nicht. Wir haben uns nur ziemlich hilflos gefühlt und uns geärgert, was sie sehr genossen hat. Sie wusste genau, wie viel Macht sie über andere hatte.“

„Ja, das hatte sie“, flüsterte er.

„Sie brauchte nur mit den Fingern zu schnippen, und die jungen Männer lagen ihr zu Füßen. Alle erlagen ihrem Zauber, auch Frauen. Ich konnte sie noch nicht einmal verachten, wenn sie mir die Freunde wegnahm.“

„Freunde?“

„Ja. Ich habe nie einen jungen Mann mit nach Hause gebracht, denn ein Blick auf sie genügte, und ich war vergessen. Irgendwann begriff ich, dass sie alle nur hofften, über mich an meine Cousine heranzukommen.“

„Und Sie waren nie wütend auf sie?“

„Nein. Sie war einfach so, jeder geriet in ihren Bann.“

Ruggiero blätterte weiter, bis er ein Foto entdeckte, auf dem ein junger Mann Polly den Arm um die Schulter gelegt hatte, aber ihre Cousine anblickte.

„Wer ist das?“

„Das war mein Verlobter“, erklärte Polly mit einer Spur von Schärfe in der Stimme. „Wahrscheinlich ist die Aufnahme genau in dem Moment gemacht worden, als ihm erste Zweifel gekommen sind. Ich war hoffnungslos in ihn verliebt, jedenfalls glaubte ich es. Sie hat ihn nur angelächelt, und wenig später gehörte er ihr.“

„Vielleicht war ihr gar nicht bewusst, was sie tat“, meinte er.

Oh doch! Freda wollte ihn gar nicht, denn er hatte, wie sie fand, nicht genug Geld. Für sie war es einfach nur unerträglich, dass er sich statt in sie in eine andere verliebt hatte.

„Kann sein“, erwiderte Polly einsilbig. „Damals war ich sehr verletzt, was sie allerdings nicht bemerkt hat.“

„Dennoch haben Sie sie gepflegt, als sie krank war?“

„In meinem Beruf sollte ich mich nicht von Gefühlen leiten lassen.“

„Das hätte ich mir denken können. Was ist aus dem Mann geworden? Ist er zu Ihnen zurückgekehrt?“

Polly musste lachen. „Du liebe Zeit, warum hätte ich ihn danach noch zurücknehmen sollen?“

„Da war es sicher ein großes Glück, dass Sie Brian begegnet sind. Er scheint ein vernünftiger Mensch zu sein. Haben Sie ihn bei der Arbeit kennengelernt?“

„Ja.“

„War es Liebe auf den ersten Blick?“

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte sie scharf.

„Wäre das schlimm?“

„An dem ganzen Gerede darüber ist doch nichts dran.“

„Vielleicht doch“, antwortete er nachdenklich und sah ihr unvermittelt in die Augen. Sekundenlang herrschte zwischen ihnen eine knisternde Atmosphäre, die sich jedoch rasch wieder auflöste.

Auf einmal kam Polly eine Idee. Wenn eine fromme Lüge ihn glücklich machte, würde sie ihm eine erzählen. Das war unter den Umständen vertretbar.

„Obwohl meine Cousine überaus anziehend wirkte“, fuhr Polly fort, „fehlte ihr etwas. Sie wusste es, und vielleicht hat sie es bei Ihnen gefunden. Ich hoffe es jedenfalls.“

„Hat sie Ihnen anvertraut, ob sie mit mir glücklich war?“

„Sie hat gesagt, Sie seien ganz anders als andere Männer, viel netter und freundlicher.“ In Wahrheit hatte Freda erklärt, er sei so leicht zu haben gewesen, dass es sie gelangweilt habe. Von ihm als heißblütigen Italiener habe sie erwartet, dass er sie zappeln lasse, stattdessen habe er genauso reagiert wie alle anderen Männer.

„Netter und freundlicher“, wiederholte er leise. „Das freut mich. Sie hat so etwas gebraucht.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Oberflächlich gesehen hatte sie alles, was sie sich nur wünschen konnte. Sie war jedoch von einer Aura der Verletzlichkeit umgeben. Und das hat mich fasziniert.“

Wie sehr er sich doch irrte!

In dem Zusammenhang hatte Freda einmal erklärt: „Männer halten eine Frau gern für zerbrechlich. Man braucht nur die Stimme etwas kraftlos klingen zu lassen, und schon glauben sie, was sie glauben wollen. Es funktioniert immer.“

„Findest du es denn fair, sie zu täuschen?“, hatte Polly gefragt.

„Was ist schon fair? Sieh dir doch an, was mit mir geschieht. Meine Schönheit ist verblüht, und ich werde sterben.“

„Polly, hat sie jemals erwähnt, sie hätte bei mir das gefunden, was sie gesucht hat?“, fragte Ruggiero nach längerem Schweigen.

„Sie hatte ihre kleinen Geheimnisse“, erwiderte sie sanft. „Wenn sie von Ihnen gesprochen hat, klang ihre Stimme anders.“ Sie klang verächtlich, doch das braucht er nicht zu wissen, dachte sie.

„Haben Sie noch mehr Aufnahmen? Vielleicht aus dem letzten Jahr?“

„Nein, da wollte sie nicht mehr fotografiert werden. Alle sollten sie als Schönheit in Erinnerung behalten. Das hier ist das letzte Bild.“

Lange betrachtete er die Frau mit dem Baby auf dem Arm. Die Krankheit hatte schon ihre Spuren hinterlassen. Sapphire hatte ziemlich viel Gewicht verloren, war jedoch immer noch attraktiv.

„Ich muss gehen, es ist schon spät“, erklärte Polly schließlich.

„Nein, bleiben Sie“, bat er. „Sie können im Gästezimmer übernachten“, fügte er mit einem angedeuteten Lächeln hinzu.

„Ich kann morgen wiederkommen“, schlug sie vor.

„Nein, ich habe noch zu viele Fragen. Und keine Angst, Sie können sich hier sicher fühlen. Ich werde mich hüten, mir Brians Zorn zuzuziehen.“

Natürlich, ich bin ja auch nicht die Frau, nach der er sich sehnt, schoss es ihr durch den Kopf. Sie war bei ihm sicherer, als ihr lieb war.

Wenig später rief sie Hope an, um Bescheid zu sagen, und erfuhr, dass Matti schon schlief.

„Fein, dann muss ich mir um ihn keine Sorgen machen“, erwiderte Polly erleichtert.

„Nein. Bleiben Sie, wo Sie sind, und passen Sie auf meinen Sohn auf“, forderte Hope sie auf.

„Oh ja, das werde ich.“

Anschließend zeigte Ruggiero ihr das Gästezimmer. „Ich kann Ihnen eines meiner Hemden geben, wenn Sie möchten, Polly“, bot er ihr an.

„Vielen Dank, ich habe alles, was ich brauche“, antwortete sie und wies dabei auf ihre Tasche.

„Und ich dachte …“

„Eine gute Krankenschwester ist immer auf alles vorbereitet“, unterbrach sie ihn. „Ich hätte jedoch nichts gegen eine Tasse Tee.“

„Wird sofort erledigt.“

Als Polly sich wenig später wieder zu Ruggiero gesellte, war der Tee fertig. Während sie ihn tranken, erzählte sie über ihre und Fredas gemeinsame Kindheit. Ruggiero lachte immer wieder über die lustigen Episoden und nickte zuweilen, als hätte er genau das hören wollen.

Weit nach Mitternacht erklärte Polly schließlich gähnend: „So, das reicht für heute.“

„Es tut mir leid, dass ich Sie so lange in Anspruch genommen habe. Und vielen Dank.“ Er legte ihr sanft die Hand auf den Arm, nickte und verließ den Raum.

Nachdem Polly sich im Gästezimmer zu Bett begeben hatte, lag sie noch lange wach und blickte in die Dunkelheit. Ein Gefühl der Enttäuschung beschlich sie, das sie sich nicht erklären konnte.

Wieder waren die Erinnerungen an Freda so lebhaft, dass sie sich nicht verdrängen ließen. Sie glaubte sie vor sich zu sehen, wie sie mit verächtlicher Miene sagte: „Begreifst du es endlich? Er will nur mich, sonst niemanden.“

Früher oder später wird er die Wahrheit erkennen, dachte Polly.

Prompt meinte sie, Fredas Antwort zu vernehmen: „Wie denn, wenn du sie ihm nicht verrätst? Er will sie auch gar nicht hören, dazu hat er keinen Mut.“

Polly wusste, dass es stimmte. Sie brauchte sich nichts vorzumachen, er würde sich von ihrer Cousine nicht lösen können.

Eine Zeit lang lauschte sie dem nächtlichen Treiben um den Hafen herum, dann schlief sie endlich ein.

Irgendwann in der Nacht wurde sie geweckt. Jemand schüttelte sie sanft, und sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. In der Dunkelheit konnte sie Ruggieros Gestalt erkennen.

„Polly, wachen Sie auf!“

Sie richtete sich auf und rieb sich die Augen. „Ich werde Brian auf Sie hetzen“, drohte sie.

„Keine Angst, ich tue Ihnen nichts.“

Es hätte die Chance ihres Lebens sein können. Da kam dieser ungemein attraktive Mann nachts in ihr Zimmer – und sie trug statt eines verführerischen Seidennachthemds einen ganz normalen Pyjama, bei dem noch nicht einmal der oberste Knopf geöffnet war. Sie eignete sich eben nicht zur Verführerin.

„Was ist los, Ruggiero?“

„Ich habe endlich alles begriffen“, antwortete er hart.

„Was genau meinen Sie damit?“

„Müssen Sie das noch fragen? Haben Sie nicht darauf gewartet, dass ich mich nicht mehr in diese verdammten Hirngespinste verrenne und die Dinge so sehe, wie sie wirklich waren?“ Er knipste die Nachttischlampe an, setzte sich neben Polly auf das Bett und schlug das Fotoalbum auf, das er mitgebracht hatte.

„Hier.“ Er wies auf die Vergrößerung eines Hochzeitsfotos, auf dem der Bräutigam im Gegensatz zu allen anderen Bildern klar und deutlich zu erkennen war. Es enthüllte auch, dass der Mann um die dreißig Jahre älter war als Freda, mehrere Kilo Übergewicht hatte und völlig unattraktiv war.

Das war jedoch offensichtlich nicht das Ausschlaggebende für Ruggieros Reaktion, denn das Aussehen hatte ja nichts mit dem Charakter zu tun. George Ranley hingegen war nicht nur hässlich, er wirkte schmierig, selbstzufrieden und durch und durch unsympathisch.

„Sehen Sie sich Ihre Cousine genau an.“ Er wies auf die Braut, die den Bräutigam liebevoll und bewundernd anblickte. „Sie scheint ihn sehr zu lieben.“

„Ja“, erwiderte Polly vorsichtig.

„Diesen schrecklichen Typ?“ Er wies verächtlich auf George. „Er ist einfach widerlich, trotzdem blickt sie ihn an, als wäre er ein Halbgott.“

„Es war ihre Hochzeit. Von der Braut erwartet man doch …“ Polly verstummte.

„Sie war eine perfekte Schauspielerin“, erklärte er. „Zu gern wüsste ich, was sie in dem Moment wirklich gedacht hat und was in ihr vorgegangen ist, als sie auch mich so angesehen hat.“

Polly schwieg. Was hätte sie sagen sollen?

„Dieselbe Miene und dasselbe Lächeln hatte sie auch für mich aufgesetzt, und ebenso diesen strahlenden Blick“, fuhr Ruggiero nach einer Weile mit schmerzerfüllter Stimme fort. „Jeder Mann hätte geglaubt, sie sei völlig vernarrt in ihn, während sie sich wahrscheinlich ins Fäustchen gelacht und sich gesagt hat: ‚Den armen Trottel habe ich genau da, wo ich ihn haben will.‘“

Natürlich hatte Polly sich gewünscht, er würde endlich die Wahrheit erkennen. Jetzt war es so weit, und sie konnte es nicht ertragen, ihn leiden zu sehen.

„Ich nehme an, er hatte sehr viel Geld“, fügte er beinah gleichgültig hinzu.

„Er war Multimillionär.“

„Und der Schmuck, den sie trägt? Alles echte Diamanten?“

„Ja. George hatte sie von seiner dritten Frau zurückverlangt.“

„Von seiner dritten …?“

„Meine Cousine war seine vierte.“

„Erzählen Sie mir den Rest auch noch. Und beschönigen Sie bitte nichts.“

„Er hatte sich verzweifelt einen Sohn gewünscht, und keine seiner Partnerinnen war schwanger geworden. George wollte sich nicht eingestehen, dass es wahrscheinlich an ihm lag, und hat sich jedes Mal scheiden lassen. Freda wollte jedoch keine Trennung. Als er für zwei Wochen geschäftlich unterwegs war, ist sie nach London gefahren in der Absicht, sich einen Mann für eine kurze Affäre zu suchen, um schwanger zu werden und ihrem Mann das Kind unterzuschieben.“

„Dort durchstreifte sie dann die Bars und hielt nach einem geeigneten Kandidaten Ausschau“, stellte er verbittert fest. „Warum ist die Wahl ausgerechnet auf mich gefallen?“

„Weil George, als er noch keine Glatze hatte, beinah genauso schwarzes Haar hatte wie Sie. Ein weiterer Pluspunkt war, dass Sie bald nach Italien zurückfliegen würden.“

Ruggiero zuckte insgeheim zusammen und fragte erst nach längerem Schweigen mit leiser Stimme: „Sie hat sich nie etwas aus mir gemacht, stimmt’s? Sagen Sie mir die Wahrheit, Polly.“

„So ist es vermutlich.“

„Sie hat mich nur benutzt“, stellte er langsam fest. „Nachdem sie erreicht hatte, was sie wollte, war ich für sie uninteressant. All das Rätselhafte, Geheimnisvolle, das so exotisch und romantisch wirkte, diente einem einzigen Zweck: Sie wollte sicherstellen, dass ich ihr das Konzept nicht verdarb und ihr nicht folgen konnte.“

„Es tut mir leid, aber so war es.“

Plötzlich stieß er ein hartes, verbittertes Lachen aus. Dann ließ er sich auf das Bett sinken und hörte nicht mehr auf zu lachen, bis Polly sich ernsthaft Sorgen machte.

„Was ist so lustig an der Sache?“, fragte sie und beugte sich über ihn.

„Alles“, antwortete er. „Was war ich für ein Idiot. Ich habe etwas gesucht, das gar nicht existiert.“

Er packte Polly an den Schultern und sah sie an. „Als sie verschwand, habe ich sie überall gesucht. Ich habe alle möglichen Leute gefragt, sie immer wieder beschrieben, in vielen Hotels habe ich nachgefragt, aber niemand kannte sie. Ich habe mich vernachlässigt, mich nicht mehr rasiert, und am Ende der Woche sah ich sehr heruntergekommen aus. Außerdem habe ich nichts gegessen, denn das hätte bedeutet, wertvolle Zeit zu verlieren.

Irgendwann landete ich dann betrunken in einer Ausnüchterungszelle. Am nächsten Morgen haben die Polizisten mich weggeschickt mit der Aufforderung, in Zukunft keine ‚anständigen Menschen‘ mehr zu belästigen. Am selben Tag bin ich dann nach Hause geflogen. Das Ganze war jedoch damit nicht beendet. In meinen Träumen wollte ich Sapphire immer noch finden. Als ich mir schließlich sagte, dass mir das wohl nie gelingen würde, hatte ich endlich Ruhe. Seltsamerweise habe ich wieder angefangen, von ihr zu träumen, seit ich weiß, dass sie nicht mehr lebt.“

Ohne Polly loszulassen, richtete er sich langsam auf. „Wahrscheinlich habe ich es von Anfang an geahnt, wollte mich aber nicht damit auseinandersetzen. Glücklicherweise habe ich es jetzt endlich getan. Wenn sie wirklich so war, wie ich es jetzt glaube, brauche ich ihr nicht nachzutrauern.“

Er braucht höchstens um den Verlust einer Illusion zu trauern, dachte Polly, sprach es jedoch nicht aus.

„Eins verstehe ich nicht“, begann sie, „Sie haben sich die Fotos tagelang immer wieder angesehen. Wieso ist Ihnen ausgerechnet jetzt, mitten in der Nacht, klar geworden, dass Sie sich in ihr getäuscht haben?“

„Das weiß ich selbst nicht. Ich hätte die Wahrheit längst erkennen können. Stattdessen habe mich an irgendwelche Hoffnungen geklammert und wollte die Wahrheit nicht sehen.“

„Und die ist?“, fragte sie vorsichtig.

„Dass ich Idiot auf eine raffinierte Frau hereingefallen bin. Ich war zu dumm und eingebildet, um ihr Spiel zu durchschauen. Sie hat so getan, als wäre ich der Mann, auf den sie ihr Leben lang gewartet hat, der einzige Liebhaber, der sie glücklich machen konnte, und der einzige Mann, der ihr das Leben lebenswert machte. Natürlich habe ich ihr jedes Wort allzu gern abgenommen.“ In seiner Stimme schwangen jetzt Selbstverachtung und Ironie.

Aus lauter Mitgefühl nahm Polly ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Daraufhin klammerte er sich an sie, als wäre sie seine letzte Rettung. Dabei schien Ruggiero ihren Körper, den er unter dem feinen Material ihres Pyjamas deutlich spüren musste, gar nicht wahrzunehmen. Doch er barg das Gesicht an ihrem Hals, und sie spürte, dass er zitterte.

In einem Anflug von leidenschaftlicher Zärtlichkeit fing sie an, seinen Kopf zu streicheln. Obwohl sie wusste, wie unklug das war, setzte sie sich über alle Bedenken hinweg. Wenn sie für diesen kostbaren Augenblick später teuer bezahlen musste, würde sie es gern tun.

Da Ruggiero sich nicht zurückzog, fühlte sie sich ermutigt und presste die Wange an sein Haar, während sie seinen Körper zaghaft streichelte. Teils sehnte sie sich danach, er würde reagieren, teils fürchtete sie sich davor.

Sekundenlang hielt sie inne. Er rührte sich jedoch nicht. Reglos und entspannt lag er da und schien zufrieden zu sein. Polly senkte den Kopf und ließ die Lippen über sein Haar gleiten.

Als er sich immer noch nicht bewegte, verschloss sich etwas in ihr.

„Das ist nicht gut“, flüsterte sie.

„Was findest du nicht gut?“, fragte er leise.

Dass er sie auf einmal duzte, ließ sie wieder hoffen. „Sei nicht so hart zu dir selbst.“

„Es ist besser so. Viel zu lange habe ich mich gehen lassen. Du liebe Zeit, was war ich für ein Feigling!“

„Nein, das warst du nicht, du brauchtest nur Zeit. Du warst ein Gefangener deiner Illusionen, es hätte dich zerstören können. Endlich hast du dich befreit, du bist frei.“

„Frei?“, wiederholte er skeptisch, und es klang seltsam unbeteiligt. Dann löste er sich von ihr und sah sie sekundenlang an. „Danke. Ich brauchte dich, und du hast mir geholfen.“

Doch er hat mich als Frau nicht wahrgenommen, dachte sie traurig.

Autor

Lucy Gordon

Die populäre Schriftstellerin Lucy Gordon stammt aus Großbritannien, bekannt ist sie für ihre romantischen Liebesromane, von denen bisher über 75 veröffentlicht wurden. In den letzten Jahren gewann die Schriftstellerin zwei RITA Awards unter anderem für ihren Roman “Das Kind des Bruders”, der in Rom spielt.

Mit dem Schreiben...

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Lucy Gordon

Die populäre Schriftstellerin Lucy Gordon stammt aus Großbritannien, bekannt ist sie für ihre romantischen Liebesromane, von denen bisher über 75 veröffentlicht wurden. In den letzten Jahren gewann die Schriftstellerin zwei RITA Awards unter anderem für ihren Roman “Das Kind des Bruders”, der in Rom spielt.

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