Die verbotenen Küsse des Wikingers

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Verkleidet als arme Arbeiterin reist die normannische Lady Gisela durch angelsächsisches Feindesland, um eine Lösegeldzahlung für ihren gefangenen Bruder zu entrichten. Als sie in einen Hinterhalt gerät, wird sie in letzter Sekunde gerettet - ausgerechnet von dem Wikinger Ragnar. Obwohl auch er zu ihren Feinden zählt, wird Gisela in seinen starken Armen jäh von nie gekanntem Verlangen überwältigt. Aufgewühlt reißt sie sich los - und hat doch keine Wahl: Wenn sie sicher an ihr Ziel gelangen und ihren Bruder befreien will, muss sie Ragnars Begleitschutz annehmen! Bald lodert die verbotene Leidenschaft zwischen ihnen immer heißer …


  • Erscheinungstag 05.01.2021
  • Bandnummer 365
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500456
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

September 1069 – der Nordosten von Lincolnshire

Das Sonnenlicht fächerte über das Wasser, ein Film aus gleißendem Gold überzog die blaugrünen Tiefen. Hell glitzernde Flecken zwangen Gisela dazu, die Augen zusammenzukneifen, als sie in ihrer Arbeit innehielt. Mit einer Hand berührte sie die Schließe am Hals und vergewisserte sich, dass die lange Nadel das Leinentuch zusammenhielt, das sie sich um Kopf und Schultern gelegt hatte. Traurig starrte sie über das Wasser zu den Langbooten, die soeben in die Mündung des Flusses bogen. Ihr sank das Herz. Oh nein, nicht das noch. Nicht die Dänen!

Sie ließ die Griffe der Holzeimer los, richtete sich auf und rieb sich die geröteten Hände, die von den Hanfstricken gezeichnet waren. An den Fingern hatten sich Blasen gebildet: weißliche, mit Flüssigkeit gefüllte Wölbungen, die schon bald schmerzen würden. Die Schiffe kamen näher. Rötliche Rundschilde, deren Buckel golden glänzten, zierten die Bordwände auf beiden Seiten. Die Segel hatte man eingeholt, und die Männer saßen an den Ruderriemen, um die schmalen, leichten Schiffe flussaufwärts zu bringen. Aufgezogenen Perlen gleich schimmerten die Wassertropfen in der leicht dunstigen Luft, wann immer die Riemenblätter auftauchten und wieder in den Wellen verschwanden. Ein tiefer, rhythmischer Gesang hallte über das Wasser. Die dröhnenden Laute überlagerten sich eigenartig mit dem leisen Schnattern der Watvögel, die durch das salzige Marschland stakten, das sich bis zu den Flussufern erstreckte. Die Strömung des Flusses war stark, das Wasser von bräunlichen Wirbeln bestimmt. Angst erfasste Gisela, heiß und sengend wie eine Brandwunde. Mit pochendem Herzen benagte sie ihre Unterlippe, zwang sich indes, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Ihnen dreien würde nichts geschehen. Dafür würde sie schon sorgen.

Unweit von ihr brandete Jubel auf. Dann noch einmal. Einer nach dem anderen erblickten die Männer und Frauen, die in ihrer Nähe arbeiteten, die Schiffe und setzten die Eimer ab. Das trübe, salzige Wasser schwappte über die Ränder. Manch einer reckte jubelnd die Faust in die Höhe, viele wandten sich mit einem Lächeln auf den Lippen einander zu, klopften sich auf die Schultern, berührten einander an den Händen. Jemand zupfte an Giselas Ärmel. „Wir sind gerettet!“, rief die Frau, und ihre knochigen Finger bohrten sich in Giselas Unterarm. „Die Dänen werden uns helfen! Die Dänen werden diese Normannen fortjagen, wie Hunde, die den Schwanz einziehen!“

Gisela setzte ein breites Lächeln auf, in der Hoffnung, genauso freudig-aufgeregt zu wirken wie die Frau. Diese Leute konnten ja nicht ahnen, wer sie wirklich war! Sie musste auf der Hut sein. Wie froh all diese Menschen bei der Ankunft der Dänen waren! Sie konnten es nicht erwarten, die Normannen endlich los zu sein. Wie mochten sich die Leute wohl verhalten, wenn sie wüssten, dass eine Normannin unter ihnen war, die wie alle anderen Eimer mit salzigem Wasser schleppte? Man würde sie gewiss umbringen! Mit einem Mal wurde Gisela leicht schwindelig, daher bewegte sie schnell ihre Zehen in den groben Lederstiefeln und versuchte, das Gleichgewicht zu halten.

Die Frau sagte noch etwas zu ihr und stupste sie an, ein verschwörerisches Lächeln auf den Lippen. Doch auf die Schnelle verstand Gisela den Wortlaut nicht und konnte ohnehin im Augenblick keinen klaren Gedanken fassen. Obwohl sie schon längere Zeit auf englischem Boden verbracht hatte, hatte sie Mühe, die fremdartigen angelsächsischen Vokale zu verstehen. Daher sprach sie möglichst wenig, hielt die Stimme bewusst gesenkt und hoffte stets, sich nicht mit ihrem Akzent zu verraten. Sie durfte ihre wahre Identität nicht preisgeben. Ihrer Schwester Marie erging es nicht anders, auch sie verstand nicht viel von dem, was um sie herum gesprochen wurde. Aber ihr Vater war darin besser bewandert, hatte er diese barbarische Sprache doch bereits als Kind gelernt.

„Wie?“, machte die Frau mit einem gackernden Laut und stieß Gisela erneut den Ellenbogen in die Seite, sodass die junge Frau einen halben Schritt zur Seite machen musste. Die Alte hatte die Stirn in Falten gelegt, in denen sich kleine Salzkrusten gebildet hatten. „Siehst du das etwa anders, Mädchen? Heute Nacht wird so mancher seinen Spaß in den Laken haben, das lass dir gesagt sein!“

Die Frau spielte natürlich auf die Dänen an. Diese Männer standen schon immer in dem Ruf, den Frauen nachzustellen, doch nicht immer beruhte das berüchtigte Umwerben auf gegenseitigem Einvernehmen. Gisela war zu Ohren gekommen, dass einige Frauen an ihren Zöpfen zu den Langbooten der Wikinger geschleift worden waren. Manch ein Däne hatte sich eine schreiende und hilflos zappelnde Frau einfach über die pelzbesetzte Schulter geworfen und in seine Heimat in den nordischen Landen entführt, um sie dort zu seiner Braut zu erklären. Ihr schauderte. England war ein heidnisches Land, aber was mochte es mit dem Land auf sich haben, aus dem die Dänen kamen? Dort ging es bestimmt noch viel rauer zu, da war sie sich sicher.

„Eimer nehmen und weitermachen!“ Ein älterer Mann mit grauem Bart war am Ufer aufgetaucht und fuhr die Arbeiter an. „Und bildet euch nicht ein, dass ihr heute früher Schluss machen könnt! Hier geht’s so lange weiter, wie die Sonne am Himmel steht!“ Sein forschender Blick haftete auf Gisela. Missbilligend presste er die Lippen zusammen. Sie ahnte, was dieser Mann dachte: Etwas an dieser Arbeiterin, die zuletzt zu ihnen gestoßen war, kam ihm gewiss seltsam vor – an dieser jungen schlanken Frau, die ihn vor einigen Tagen gefragt hatte, ob er Arbeit für sie habe. Gisela sprach stets leise, hielt den Kopf gesenkt, aber wann immer sie den Aufseher ansah, ahnte sie, dass etwas Herausforderndes in ihren leuchtenden blauen Augen lag. Sie konnte nur hoffen, dass der Mann nicht argwöhnte, sie könnte eine Adlige von höherem Stand sein, nicht eine mittellose Bäuerin, die verzweifelt darauf aus war, ein paar Münzen zu ergattern. Sie wusste, dass sie zu langsam antwortete, sobald er etwas zu ihr sagte. Zudem befürchtete sie, zu viel von ihrer inneren Unruhe preiszugeben, wenn sie wieder einmal an ihrem Kopftuch herumzupfte, das sie wie einen Talisman um den Hals trug. Aber sie war nun einmal aufgeregt. Letzten Endes war sie eine tüchtige Arbeiterin und vertraute darauf, dass der Aufseher sie nicht fortschicken würde.

„Hey, du da!“ Er drohte Gisela mit geballter Faust. „Geh in die Marsch und hilf den Kindern, die Salzsole zu holen, aus den Senken dort! Die müssen geleert werden, bevor die Flut kommt!“

Sie drehte den Kopf und schaute hinüber zu dem zäh zerfließenden Schlick, der sanft zu dem schmalen, schnell fließenden Priel in der Mitte der Flussmündung abfiel. Ein Gefühl von Beklommenheit machte sich in ihrem Bauch bemerkbar. Die Gezeitenströmung war inzwischen träge und würde sich alsbald umkehren. Das Wasser hatte sich fast ganz aus der Flussmündung zurückgezogen und große Flächen der nördlichen See freigelegt, sodass in weitem Umkreis das von Schlick beherrschte Watt zu sehen war. Die feuchte, bläulich-braune Fläche, unterbrochen von borstigem Riedgras, schillerte im Licht des frühen Abends. Gisela sah, wie die Kinder zum Rande des Wassers strömten, zu den rechteckigen Lachen, die mit der kostbaren Salzsole gefüllt waren. Aber wieso schickte der Aufseher sie dorthin? Die Kinder wogen nur halb so viel wie sie und waren imstande, über die sorgsam ausgelegten Holzplanken zu huschen, ohne nach einem Fehltritt in dem trügerischen, stinkenden Schlick zu versinken.

„Aber … gewiss halten mich die Planken nicht …?“ Ihr versagte die Stimme. Eine lange Strähne ihres sandfarbenen Haars entwand sich der Enge des Kopftuchs und tanzte in der frischen Luft. Voller Ungeduld schob Gisela die Strähne zurück unter den Stoff.

Die Augen des bärtigen Sachsen verengten sich. Er war ein großer, stämmiger Mann, der wie selbstverständlich davon ausging, dass man seine Anordnungen befolgte. „Weigerst du dich etwa, dort hinzugehen, Mädchen?“ Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust, wobei das Leder seines Wamses knitterte. „Du bekommst keine einzige Münze von mir, wenn du nicht gehst!“

Einige der anderen Arbeiter bewegten sich langsamer und schauten zu Gisela herüber. Eine flüchtige Röte stieg ihr in die Wangen. Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, war das Letzte, was sie wollte. „Nein, nein, ich werde es tun!“, sagte sie und schloss die Hand um den Hanfstrick ihres Eimers. Bislang war die Arbeit körperlich anstrengend gewesen, denn man musste die vollen Eimer zu den Unterständen schleppen, wo die Sole so lange zum Sieden gebracht wurde, bis das begehrte Salz übrig blieb. Die Arbeit verlangte einem viel ab und war eintönig, aber bislang war alles gefahrlos verlaufen. Doch was nun? Allein bei der Vorstellung, ins Watt hinaus zu müssen, regte sich Furcht in ihr. Aber um diese Furcht zu unterdrücken, machte sich Gisela bewusst, warum sie die harte Arbeit überhaupt angenommen hatte. Sie wollte nämlich genug Geld verdienen, um damit das Fährboot bezahlen zu können, das nach Norden fuhr. Denn dort wollte sie Richard suchen.

Mit geübtem Auge ließ Ragnar Svendson den Blick über den unregelmäßigen Uferverlauf des Flusses schweifen, hielt er doch Ausschau nach einer Stelle, an der die Schiffe anlegen konnten. Er sprang vom Kranbalken, stellte sich auf das sachte Schwanken des Schiffskörpers ein und ging mit langen Schritten vorbei an den Männern, die sich in die Riemen legten. Schließlich gelangte er zu seinem Freund, der am Dollbord lehnte.

„Was denkst du?“, fragte Eirik und schaute kurz auf, als Ragnar zu ihm trat.

Ragnar, dessen schmales Gesicht von der Sonne gebräunt war, blickte hinüber zu dem Gewirr aus Dächern der Siedlung Bertune. „Für heute Nacht dürfte es genügen“, erwiderte er. „Die Männer sind erschöpft. Sie brauchen Ruhe.“ Mit den Fingern strich er über das glatte Holz des Dollbords und straffte die Schultern. Die Überfahrt von Ribe aus war rasch und ohne Schwierigkeiten vonstatten gegangen, da die nördliche See sich endlich einmal von ihrer ruhigen Seite gezeigt hatte. Der leichte, stetige Wind hatte die Schiffe schnell über die Wellen bis zur Nordostküste von England geführt.

„Ein Jammer, dass wir nicht an der nördlichen Seite anlegen können, aber der Wasserstand ist dafür zu niedrig.“ Eirik lächelte. „Glaubst du, diese kleine Siedlung ist bereit für uns?“

Ragnar fuhr sich mit einer Hand durchs Haar; die lebhaften Strähnen flammten weißgolden im Licht der untergehenden Sonne auf. Er lachte. „Wer vermag das schon zu sagen? Immerhin sind wir gekommen, um ihnen unsere Hilfe anzubieten. Daher werden sie uns vermutlich mit offenen Armen empfangen.“ Er schaute zurück, über die gesamte Länge des Schiffes bis zum Steuermann, der auf einer kleinen, mit Fell überzogenen Trommel den Takt für die vierzig Ruderer vorgab. Die Männer saßen auf Kisten: Darin hatten sie die wenigen Habseligkeiten verstaut, die sie für die Überfahrt nach England benötigten. Hinter dem Schiff, auf dem Ragnar neben Erik stand, folgten drei weitere Schiffe derselben Bauart über den schmalen Wasserlauf des Mündungsgebietes.

„Morgen können wir immer noch übersetzen.“ Eirik strich mit der Handfläche über das glänzende Holz am Bug. Der hoch aufragende, gebogene Steven mündete in eine Figur: in ein Drachenhaupt mit hervorstehenden Augen und einer Zunge, die wie eine Flamme aussah. „Mein Bruder wird mit seiner Flotte erst in ein oder zwei Tagen eintreffen.“

„Und dann könnt ihr euch gemeinsam auf den Weg machen, um Edgar Æthling in Jórvik zu treffen. Die Stadt liegt nördlich von hier, auf der anderen Seite der Flussmündung.“ Ragnar blickte hinüber zum anderen Ufer des breiten Mündungsgebiets, wo fahles gelbliches Riedgras zwischen einzelnen zerfließenden Schlickhügeln aufragte. Seevögel kreisten am klaren Himmel und gaben ihre charakteristischen Schreie von sich: einsame, klagende Laute, die vom Wind weit getragen wurden.

Eirik nickte. Er war der älteste Sohn von Sweyn, dem König von Dänemark. Man hatte ihn entsandt, um dem abgesetzten angelsächsischen König in dessen Kampf gegen die normannische Invasion beizustehen. „In diesem Fall ist der Ort hier genau richtig“, sprach er und legte Ragnar eine große Hand auf die Schulter. „Und du und ich, genau wie der Rest der Männer, können ein wenig Spaß haben! Ich habe gehört, dass die jungen Frauen der Angelsachsen recht anmutig sein sollen!“

Ragnar schüttelte den Kopf: eine entschiedene, knappe Bewegung. „Nein, Eirik, deswegen bin ich nicht hier.“ Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen; ein leichtes Zucken lief durch seine Kieferpartie.

„Das hatte ich vergessen.“ Eiriks gute Laune schwand. „Aber bis morgen wirst du doch bei uns bleiben, oder? Bald wird es zu dunkel sein, um sich auf den Weg zu machen. Warum dann nicht etwas Spaß haben, solange es möglich ist?“ Spielerisch setzte er die geballte Faust an Ragnars Kinn. „Außerdem, welche junge Frau könnte diesem glatt rasierten Gesicht widerstehen?“

„Es ist einfach zu heiß für einen Bart“, erwiderte Ragnar trocken. „So gefällt es mir eben besser.“

„Wie du meinst“, entgegnete Eirik, „aber ich könnte schwören, dass deine Mutter etwas damit zu tun hat. Versucht sie etwa, dich in einen Normannen zu verwandeln?“

Ragnar grinste, seine weißen Zähne hoben sich leuchtend von seinem gebräunten Gesicht ab. „Bei Thors Hammer, Eirik, für wen hältst du mich? Natürlich ist das nicht ihre Absicht!“

„Wie du meinst.“ Eirik lachte leise in sich hinein und hob die dunklen Augenbrauen in gespieltem Erstaunen. „Aber ich bin immer noch der Ansicht, dass du die Gastfreundschaft dieser Siedlung genießen solltest.“

„Vielleicht tue ich das auch.“ Ragnar schenkte seinem Freund ein unverbindliches Lächeln, doch Widerwille regte sich in ihm. Während die schmalen, leichten Langschiffe auf den Uferstreifen zuhielten, ließ Ragnar den Blick über die mit Lehm verputzten Behausungen und strohgedeckten Dächer schweifen, die die Siedlung von Bertune bildeten. Dünne Rauchfäden von Holzfeuern stiegen empor und ließen die Luft leicht dunstig erscheinen; Gestalten bewegten sich am Ufergürtel. Leute blieben stehen und zeigten auf die herannahenden Schiffe. Ragnar hatte keine Ahnung, wie lange die Reise in den Norden dauern mochte. Er wusste lediglich, dass er den Mann finden musste, der das Leben seiner Schwester zerstört hatte – jenen Mann, der dafür verantwortlich war, dass die einst so lebensfrohe und zuversichtliche junge Frau zu einem teilnahmslosen, stummen Geschöpf geworden war, das einem Geisterwesen glich. Seitdem sie in Ribe von Bord des Schiffes gegangen war, hatte sie kein Wort mehr gesprochen.

„Wie willst du diesen Mann überhaupt aufspüren?“

Ragnar zuckte mit den kräftigen Schultern. „Ich weiß nur, dass er ein normannischer Herr ist, der von Wilhelm dem Eroberer Ländereien nördlich von Jórvik erhalten hat. Mehr weiß ich im Moment nicht.“

„Wie willst du an ihn herankommen? Diese Normannen wissen sich gut zu schützen, insbesondere in den Landesteilen, die ihnen feindlich gesinnt sind.“

„Ich weiß es nicht, Eirik. Aber sobald ich mehr in Erfahrung gebracht habe, werde ich herausfinden, was Gyda widerfahren ist, nachdem sie entführt wurde.“ Ein Gefühl von Schuld durchströmte ihn. „Wir haben es schon überall versucht.“

Ursprünglich war er es gewesen, der Gyda geraten hatte, mit dem Mann, den sie liebte, nach England überzusetzen. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Bei den Pforten der Hölle, er hatte sie sogar selbst an Bord des Schiffes gehoben! Er hatte noch das fröhliche Lachen seiner Schwester im Ohr, als er ihr über das Dollbord half, in die Arme jenes grinsenden Jünglings, der sie zu heiraten gedachte. Doch inzwischen war Gydas Verlobter ein toter Mann. Und als Gyda schließlich nach Ribe zurückgekehrt war, hatte Ragnar seine Schwester kaum wiedererkannt, so sehr hatte sie sich rein äußerlich verändert.

Eirik musterte ihn, da er spürte, dass sein Freund mit den Gedanken woanders war. „Steht dein Entschluss tatsächlich fest, Ragnar? Ich hoffe, du wirst schnell mit ihm fertig, denn ich werde dich an meiner Seite vermissen, falls es zum Kampf kommen sollte.“ Er grinste, und ein raubtierartiges Glitzern lag in seinen Augen.

„Eirik, wann immer du irgendwo auftauchst, wird es zu Kämpfen kommen.“ Ragnar lachte und schüttelte die Reue ab, die er empfand und die ihm schwer auf den Schultern lastete. Jetzt war nicht die Zeit, um sich in Selbstzerfleischung zu verlieren oder düsteren Gedanken nachzuhängen. Das hatte er hinter sich. Die Zeit zum Handeln war gekommen. Er war es seiner Schwester schuldig, jenen Mann aufzuspüren, der sie von ihrem Geliebten fortgerissen hatte. Dann endlich würde er erfahren, was Gyda geschehen war.

„Das macht mein Leben aus“, antwortete Eirik und verzog den Mund in gespielter Traurigkeit.

„Vergiss Bodil und die Kinder nicht“, fügte Ragnar hinzu, und ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Eirik hatte sich als Krieger einen Namen gemacht, darüber hinaus war er aber ein liebevoller Ehemann und Vater, der nichts lieber tat, als seinen jüngsten Sohn sanft in den Armen zu wiegen und ihm leise die alten nordischen Lieder vorzusingen. Ragnar war des Öfteren über Nacht bei Eirik geblieben, da sein Freund samt Familie näher am Hafen von Ribe wohnte. Daher war er schon mehrfach Zeuge von der weicheren Seite seines Freundes geworden.

„Ja, natürlich, Bodil und die Kinder“, pflichtete Eirik ihm begeistert bei. „Das versteht sich von selbst.“ Er blickte aufs Wasser, als das Schiff den Kurs änderte und sich dem Ufer näherte. „Ah, gut, hier ist es nicht so matschig“, sagte er. „Man kann den Grund sehen. Wir können die Boote ans Ufer ziehen und brauchen uns die Stiefel nicht dreckig zu machen.“

Kaum waren ihm die Worte über die Lippen gekommen, als die Schiffsrümpfe sanft über die kleineren Steine am sandigen Ufer knirschten. Die Ruderriemen wurden durch die Öffnungen entlang der Bordwand eingezogen und für die Nacht sicher verwahrt. Die Männer sprangen behände an Land, stemmten sich mit ihren Schultern gegen Bordwand und Bug und griffen nach den aus Flachs gedrehten Seilen, um die Boote weiter ans Ufer zu ziehen. Die Krieger trugen kurze Schwerter in ihren Ledergürteln, an manchen Griffen leuchteten im abnehmenden Licht des Tages kostbare Steine auf. Kurz darauf eilten die Bewohner der Siedlung herbei, um den Kriegern zu helfen. Es wurde gelacht und gescherzt. Die Angelsachsen klopften den Ankömmlingen auf die Schultern und begrüßten die Dänen wie alte Freunde, denn sie waren froh, dass diese groß gewachsenen Krieger gekommen waren, um ihnen beizustehen, das schwere Joch der unbeliebten Normannen abzuschütteln.

Die schmalen Holzplanken bewegten sich unter Giselas Füßen, neigten sich mal zur einen, dann zur anderen Seite. Bräunliches Wasser gluckerte aus dem Schlickboden, lief über die dünnen Bretter und hinterließ Flecken auf ihren Lederstiefeln. Vorsichtig näherte sie sich der Schar Kinder, die ihre Eimer in die Solelachen tauchten. Seevögel kreisten hoch über ihrem Kopf, mit ausgebreiteten Schwingen, schreiend und schnalzend. Furcht schlängelte sich durch Giselas Leib. Ein Kind, das einen vollen, überschwappenden Eimer schleppte, zwängte sich an ihr vorbei, dann noch eins, und beinahe hätten die Kinder sie aus Versehen von den Planken gestoßen, da sie die Sole möglichst rasch zu dem Siedehaus am Ufer bringen wollten.

Jene Salzebenen waren schlichter als die anderen drüben bei der Siedlung: Es handelte sich um flache, knapp oberhalb der Wasserlinie in den Boden eingelassene Senken. Die Ränder waren mit Steinen gesichert, um zu verhindern, dass die matschigen Seiten wegrutschten. Gisela kniete auf einem Vorsprung aus Stein und tauchte ihren Eimer in das trübe, salzige Nass, ehe sie den Eimer absetzte und den zweiten Eimer auf die gleiche Weise füllte.

Unterdessen nahm das Tageslicht rasch ab, am Horizont ging die Sonne in einem Farbspiel aus rötlichen und orangeroten Tönen unter. Wie dunkle Schatten hoben sich die langen Schiffe der Dänen vom Uferverlauf ab, die Masten ragten wie schwarze Stäbe in den blassroten Himmel. Zwar war es erst September, doch die Abendluft fühlte sich bereits frisch und kühl auf der Haut an; der Herbst kündigte sich an. Gisela fror in ihrem dünnen Kleid. Die Ärmel waren längst feucht vom spritzenden Meerwasser, daher schob sie die grob gesponnene Wolle über die Ellenbogen, damit der Stoff nicht noch mehr Wasser aufsog.

Ehe sie und ihre Schwester Marie ihre Reise in den Norden angetreten hatten, hatte ihr Vater darauf bestanden, dass seine Töchter die edlen Gewänder ablegten und gegen schlichte Reisekleider eintauschten, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Die Bediensteten in der Burg an der Südküste – dieses neue Zuhause auf englischem Boden hatte Wilhelm der Eroberer dem Vater der Mädchen für dessen Verdienste geschenkt – hatten die Schwestern bereitwillig mit Kleidern ausgestattet, die für die bevorstehende Reise angemessen waren. Das helle Unterkleid bestand aus ungefärbter Wolle, der Stoff darüber besaß einen dunkleren Braunton. Der Saum des Kleids war grob geflickt. Die einzigen Habseligkeiten ihres früheren Lebens, die Gisela mit auf die Reise genommen hatte, waren die feinen Wollstrümpfe, die Lederstiefel und die silberne Brosche ihrer Mutter, die das Kopf- und Schultertuch hielt.

„Kommt, Herrin!“, rief ein kleines Mädchen ihr vom Ende der Planke zu. „Die Flut setzt ein! Wir müssen zurück!“ Gisela schaute auf und stellte fest, dass die Kinder längst zurück zum Ufer eilten. Sie warf einen Blick auf den anschwellenden Fluss. Das bräunliche Wasser stieg und bildete hier und da starke Verwirbelungen, während die schäumende Flut durch die Priele lief, die das Watt wie ein Netz durchzogen. Ein Prickeln machte sich in Giselas Zehen bemerkbar; sie kniete schon zu lange an ein und derselben Stelle. Langsam kam sie auf die Beine und verharrte einen Augenblick, um auf der wackligen Holzplanke nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann bückte sie sich, um die Eimer aufzuheben. Ihre Arme schmerzten, als wären sie über Gebühr gedehnt worden.

Nicht weit von ihr entfernt waren einige Kinder stehen geblieben; mit ihren dürren, unterernährten Leibern standen sie dicht gedrängt zusammen. Ein Schrei drang an Giselas Ohren, dann ein weiterer. Sie beschleunigte ihre Schritte, an jeder Hand einen schweren Eimer. Ein Kind – das kleine Mädchen, das ihr eben noch etwas zugerufen hatte – war in den Schlickboden gefallen und steckte nun bis zu den Knien im zähflüssigen Matsch.

„Wie konnte das passieren?“, fragte Gisela in strengem Ton und blickte in die blassen, dreckverkrusteten Gesichter der Kinder.

Die Mädchen und Jungen wirkten einen Moment lang verwirrt, als hätten sie Gisela nicht verstanden. Das war ihr vertraut, denn sosehr sie sich auch bemühte, ihren fremdartigen Akzent zu verbergen, manchmal wollten ihr die angelsächsischen Vokale einfach nicht richtig über die Lippen kommen. Daher wiederholte sie die Frage, langsamer als zuvor, bis ein Junge schließlich antwortete. „Der da war’s, Herrin.“ Er zeigte auf einen anderen Jungen. „Der hat sie geschubst … sie hat ihn geneckt, wisst Ihr …“

„Ich verstehe …“, entgegnete Gisela scharf und sah in das vor Angst bleiche Gesicht des Mädchens, das verzweifelt versuchte, sich aus dem Matsch zu befreien, doch es war zwecklos. Langsam stellte Gisela die beiden Eimer auf den Planken ab, wagte sich zwei lange Schritte hinaus in den Schlick und versuchte, das Kind herauszuziehen.

„Oh Herrin, nein…!“, rief der Junge warnend, als ihre Füße im Schlick versanken. Erschreckend schnell steckte sie bis zu den Knien im matschigen Untergrund und beugte sich Hilfe suchend nach vorn. „Oh Gott, nein!“, entfuhr es Gisela erschrocken, als sie erkannte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Der Saum ihres Kleids wölbte sich um sie herum, und der zähe, kalte Schlamm umgab ihre Knie und Beine.

„Das hättet Ihr nicht tun sollen, Herrin!“, rief ein anderes Kind. „Der Matsch hier ist gefährlich, der zieht Euch runter! Deshalb laufen wir auf den Planken. Damit wir nicht untergehen …“

Gisela atmete lang und zittrig aus, beinahe hätte sie bei all der Aufregung ganz das Atmen vergessen. Schweiß sammelte sich unter ihrem Kopftuch, lief ihr über den Nacken und den Rücken. Am liebsten hätte sie sich das Tuch von Kopf und Schultern gerissen, um die kühle, frische Abendluft auf der Haut zu spüren. Nur keine Angst, redete sie sich ein, doch längst flammte Furcht in ihrem Bauch auf. Nur ruhig Blut. Das kleine Mädchen neben ihr war in Tränen ausgebrochen, die feuchte Spuren in dem verschmierten Gesichtchen hinterließen.

„Ich hole dich raus“, versuchte Gisela die Kleine aufzumuntern. Sie griff unter die dürren, knochigen Arme des Kindes und zog, wobei sie im Augenblick nicht groß darauf achtete, dass sie selbst immer tiefer versank. Plötzlich vernahm sie einen schmatzenden Laut, der Anlass zur Hoffnung gab. Endlich gab der Schlick die Beine des kleinen Mädchens frei. Gisela sackte zur Seite, das Kind im Arm. Erleichterung ergriff sie.

„Kriech flach auf dem Bauch hinüber zur Planke“, sagte sie zu der Kleinen.

Das Kind sah sie mit zerfurchter Stirn an, Zweifel stand in seinem Blick. „Aber was ist mit Euch, Herrin?“

„Sag jemandem Bescheid, dass ich Hilfe brauche, sobald du wieder am Ufer bist, ja?“ Gisela sah die Kleine eindringlich an. „Holt Hilfe!“, rief sie den anderen Kindern zu, die gebannt beobachteten, wie das Mädchen über den trügerischen Untergrund robbte. Die Kinder nickten aufgeregt, zeigten auf sie, steckten erneut nickend die Köpfe zusammen und plapperten durcheinander. Dann eilten sie hintereinander über die Planken in Richtung Ufergürtel.

Während der auffrischende Wind die hohen Stimmen der Kinder fortwehte, machte Gisela sich bewusst, wie verletzlich sie im Augenblick war – ein Gefühl von Hilflosigkeit und Bedrohung bemächtigte sich ihrer. In der windigen, kargen Landschaft war sie vollkommen allein und auf sich gestellt und steckte bis über beide Knie im Schlick. Sie konnte sich kaum noch bewegen. Die Eimer mit der Salzsole standen auf der Laufplanke und schienen sie zu verhöhnen. Wie lange mochte es dauern, bis die Kinder jemanden schickten, der ihr helfen würde? Würde überhaupt jemand kommen? Der Aufseher hatte jedenfalls nicht viel für sie übrig, ahnte er doch, dass es etwas Seltsames mit dieser jungen Frau auf sich hatte. Und das, obwohl sie die immer gleiche Geschichte heruntergerasselt hatte, die ihr Vater ihr und ihrer Schwester mit auf den Weg gegeben hatte, für den Fall, dass sie in Erklärungsnot kamen: Sie waren Angelsächsinnen, die zu Verwandten weiter im Norden wollten, da die Normannen ihnen unten im Süden alles genommen hatten. Gut möglich, dass Gisela sich verraten und den Argwohn des Aufsehers erregt hatte, da sie die angelsächsische Volkssprache nur unzureichend beherrschte.

Noch einmal versuchte sie, den Oberkörper weit nach vorn zu beugen und mit ausgestreckten Armen das Büschel Riedgras zu fassen zu bekommen, denn auf diese Weise hätte sie sich womöglich aus dem Schlamm befreien können. Der zähflüssige Schlick sickerte durch den Stoff ihres Kleids, kalt und nass an Bauch und Brüsten. Sie zupfte an einer kleinen, grasbewachsenen Stelle, suchte Halt und hoffte, ihre Füße und Beine etwas besser bewegen zu können. Verzweifelt achtete sie auf jedes noch so kleine Anzeichen, dass der Schlamm sie endlich freigab. Doch nichts dergleichen geschah.

Rechts von ihr gurgelte das Wasser in der Flussrinne, ein unheilvolles Geräusch. Schon floss das Wasser über die niedrigen Steinmauern der Salzebenen und füllte nach und nach die flachen Becken. Die Flut kam schnell. Voller Angst blickte Gisela auf das Wasser, das unablässig in ihre Richtung strömte. Im Schlamm zu versinken, war nicht ihre einzige Sorge. Denn viel wahrscheinlicher war es, dass sie jämmerlich ertrinken würde. Sie schaute zum Ufer herüber, entdeckte die Gestalten dort, die im Zwielicht wie bleiche Geister aussahen. Bestimmt waren die Kinder längst bei den Erwachsenen angekommen und erzählten, dass sie Hilfe brauchte. Ja, so würde es sein, ganz gewiss. Sie richtete sich wieder auf, und die Aussicht auf baldige Hilfe spendete ihr Trost. Noch konnte sie die verblichenen Holzplanken erkennen, die bis zum Ufergürtel verliefen. Angestrengt spähte sie im abnehmenden Licht hinüber zum Land, suchte nach Anzeichen, dass ihr jemand zu Hilfe kommen würde, ganz gleich, wer.

Doch zu ihrem Entsetzen sah sie, dass sich die kleine Menschenmenge bei den Siedehäusern allmählich auflöste. Die Leute entfernten sich vom Ufer. Niemand schaute zurück über das Watt zu ihr! Kein Zweifel, die Einwohner von Bertune eilten zu den Dänen, die soeben mit ihren langen Schiffen angelegt hatten. Man hieß die Ankömmlinge fröhlich willkommen, Rufe und helle Stimmen hallten weit über die Marsch. Die ganze Aufmerksamkeit der Leute galt den dänischen Kriegern. Man hatte sie, Gisela, vergessen, und vielleicht hatten die Kinder den Erwachsenen gar nicht erzählt, dass noch jemand draußen im Wattenmeer war und im Schlickboden feststeckte. Niemand kam zu ihrer Rettung. Eine dunkle Angst regte sich in ihrer Brust. Voller Entsetzen machte Gisela sich bewusst, dass sie hier draußen sterben würde. Das Wasser würde weiter steigen und ihr bald den Atem rauben, bis sich ihrer Kehle im Todeskampf ein letzter, verzweifelter Schrei entringen würde. Aber noch hatte sie Luft zum Atmen, daher schrie sie aus Leibeskräften, immer und immer wieder, mit schriller, klarer Stimme. Verzweifelt winkte sie mit beiden Armen in Richtung Ufer. Denn davon hing ihr Überleben ab.

2. KAPITEL

Während die Dänen von den Langbooten sprangen und mit den hohen Lederstiefeln durch das flache Wasser liefen, versammelten sich die angelsächsischen Bewohner von Bertune auf dem schmalen, mit Kieselsteinen bedeckten Uferstreifen, klopften den großen, auf See erfahrenen Kriegern auf die Schultern oder versuchten, den Männern die Hände zu schütteln. Lächelnd nahmen die Ankömmlinge die Krüge mit Met in Empfang, die ihnen junge, dunkeläugige Frauen reichten. Auf Holztabletts wurden dampfende Fleischpasteten dargeboten, die die Männer mit Heißhunger und voller Anerkennung verspeisten. Ragnar schaute derweil zurück und vergewisserte sich mit prüfendem Blick, dass die Schiffe hoch genug am Ufer lagen und nicht von der steigenden Flut erfasst würden. Die sechs Schiffe hatten mehr als zweihundert Mann über die nördliche See gebracht; mit Haralds größerer Flotte würden in den folgenden Tagen doppelt so viele Krieger eintreffen. Schon bald hätten die Dänen ein schlagkräftiges Heer, um den Angelsachsen zu helfen, das normannische Joch abzuschütteln.

„Torvald hat eine Schenke für uns ausfindig gemacht, in der wir übernachten können.“ Eirik trat zu Ragnar und reichte einem einheimischen Mädchen den leeren Krug. „Die Männer können in den Schiffen schlafen, aber ich hätte zur Abwechslung nichts einzuwenden gegen ein bequemes Nachtlager, und dir dürfte es nicht anders gehen.“

„Zeigen sich bei dir schon die ersten Anzeichen des Alters, Eirik?“, neckte Ragnar ihn und setzte ein breites Grinsen auf.

Eirik lachte. „Mag sein. Aber da ich die Wahl habe, entscheide ich mich für eine annehmliche Nacht.“ Sein Blick fiel auf eine der jungen Frauen, die sich geschickt in der Menge bewegte und Krüge mit Ale verteilte. Sie errötete, als sie merkte, dass Eirik auf sie aufmerksam geworden war. „In dieser Siedlung werden wir den Abend ebenso gut verbringen wie woanders.“ Seine Mundwinkel deuteten ein reumütiges Lächeln an, während er sich dunkle Haarsträhnen aus der Stirn strich.

„Zu dumm, dass du verheiratet bist“, stellte Ragnar fest und verzog die Lippen zu einem feinen Lächeln.

„Ja, ganz recht“, entgegnete Eirik wehmütig. „Aber du bist ungebunden. Da wirst du doch gewiss annehmen, was dir geboten wird, oder?“ Er stieß Ragnar den Ellenbogen in die Seite.

Die auffrischende Brise fuhr in Ragnars kurzes, dichtes Haar, das golden leuchtete. „Nein, Eirik.“ Schuldgefühle erfassten ihn, schwarz und quälend. Ein Schwarm Wildgänse flog tief über das Marschland, mit weit vorgereckten Hälsen und kurzen Schreien. Schweigend verfolgte Ragnar die Flugbahn der Gänse, vereinnahmt von Bedauern.

„Ein Jammer ist das.“ Eirik verschränkte die mit Lederschienen geschützten Arme vor der Brust. Er blickte hinaus aufs Wasser.

Ich habe es nicht anders verdient, dachte Ragnar, nach allem, was Gyda widerfahren ist. Seiner jüngeren Schwester ging es von Tag zu Tag schlechter, sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst, ein abgemagertes, blasses Abbild der schönen jungen Frau, die sie einst gewesen war. Sie verfiel körperlich, vor Ragnars Augen, vor den Augen ihrer gemeinsamen Eltern. Es wühlte Ragnar innerlich auf, wann immer seine Schwester stumm und teilnahmslos am Ende der Tafel hockte oder ohne ein Wort zu verlieren an ihm vorbeiging, um erneut ziellos wie ein Geist durchs Haus zu streifen. Seit ihrer Rückkehr aus diesem gottverlassenen Land hatte sie kein Wort mehr gesprochen.

„Ich habe nie verstanden“, fuhr Eirik fort, „warum Gyda überhaupt beschlossen hat, mit Magnus nach England zu reisen. Zumal es sich um einen Raubzug handelte.“

Weil ich ihr dazu geraten habe, dachte Ragnar. Bei Thor, ich habe sie noch dazu ermuntert! Ich habe doch gesehen, wie sehr sie in Magnus verliebt war, wusste aber gleichzeitig, dass sich unsere Eltern gegen diese Liebe ausgesprochen hatten. Trotzdem riet ich ihr, fortzugehen, versprach ihr, unseren Eltern alles zu erklären, ihnen alles schonend beizubringen: Gyda und Magnus würden in England heiraten und als Mann und Frau nach Dänemark zurückkehren. Es hatte verheißungsvoll ausgesehen. Doch plötzlich war alles ganz anders gekommen.

Aufgeregte Stimmen rissen Ragnar aus seinen düsteren Erinnerungen. Er war dankbar für die Ablenkung, da er nicht den Wunsch verspürte, länger als nötig über die Not seiner Schwester nachzusinnen. Er blickte sich um, gewahrte die Schemen von Menschen im Abendlicht, hörte ganz in der Nähe aufgebrachte Stimmen. War es zu einem Streit gekommen? Unter der Dachtraufe einer der strohgedeckten Behausungen zog eine Frau aufgeregt am Ärmel eines Mannes. Es war ein beleibter Kerl mit schlaff herabhängenden Wangen, die vom Ale gerötet waren. Die Frau zeigte immer wieder hinaus ins Watt der Flussmündung, ihrer schrillen Stimme wohnte eine ungewöhnliche Dringlichkeit inne. Inzwischen waren nicht mehr viele Leute in der Nähe. Die Menge bei den Langbooten hatte sich weitestgehend zerstreut, denn die Leute wollten ihren dänischen Gästen zeigen, welche Freuden und Vorzüge die Siedlung an der Küste zu bieten hatte. In kleineren Gruppen folgten sie dem Verlauf des schmalen Wegs, der von der Flussmündung weiter oben in die Siedlung führte. Nur Eirik und Ragnar und einige wenige Gefährten standen noch auf dem Kieselstrand.

Plötzlich hob der beleibte Mann die fleischige Hand und schlug der Frau quer durchs Gesicht, sodass sie einen halben Schritt zurücktaumelte. „Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen! Verzieh dich! Ich sag doch, dass ich sie hole, wenn die Flut kommt.“

Die Frau hielt sich die schmerzende Wange und entgegnete schmollend: „Die Flut kommt doch längst, du dämlicher Trottel! Das Mädchen steckt schon bis zu den Knien im Schlamm. Du musst etwas unternehmen, sonst ertrinkt sie noch.“

Der Mann taumelte gegen die lehmverputzte Flechtwand der Behausung und nahm noch einen Schluck aus dem Krug. Das Ale lief ihm über das dicke Kinn. „Dann soll sie doch ersaufen! Was kümmert’s mich?“

„Sie hat die kleine Mary gerettet. Haben dir das die Kinder nicht erzählt? Deshalb steckt sie ja im Schlick. Sie hat die Planken verlassen, um die Kleine zu retten.“

Die Kiesel knirschten unter seinen Sohlen, als Ragnar mit drei langen Schritten den Uferstreifen verließ. Zorn wallte in ihm hoch. Er empfand nichts als Abscheu gegenüber diesem Mann, der soeben die Frau geschlagen hatte. „Geht es dir gut?“, wandte er sich an die Frau und berührte sie besorgt am Ellenbogen. Die Frau hielt sich noch immer die Wange, schaute überrascht zu Ragnar auf und nickte langsam.

Als Eirik zu Ragnar trat, hob der betrunkene Mann den Kopf und bedachte den großen Dänen mit einem griesgrämigen Blick, doch er war auf der Hut. „Geht euch nichts an“, grummelte er. Dann räusperte er sich laut. „Folgt lieber den anderen hinauf in die Siedlung.“

Die Frau schöpfte neue Hoffnung, sah sie doch in Ragnar einen möglichen Verbündeten. Aufgeregt zupfte sie ihn am Ärmel. „Die junge Frau steckt im Schlamm fest!“ Ihre Wangen waren von verkrustetem Salz überzogen. „Und die Flut steigt so schnell, sie wird ertrinken!“ Ragnar schaute in die Richtung, in die die Frau zeigte, und ließ den Blick über das bläulich-braune Watt der Flussmündung schweifen. Er sah das vereinzelt aufragende Riedgras, die tiefen Priele, durch die das schnell strömende Wasser lief. Im Licht der untergehenden Sonne blitzte etwas Metallisches auf, vielleicht eine Brosche oder ein Ring, er vermochte es nicht genau zu sagen. Doch er blickte weiterhin zu dieser Stelle hinüber. Dann sah er sie. Weiter draußen im Watt zeichneten sich im Zwielicht die Umrisse einer Gestalt ab, und ihm war, als hallten Rufe zu ihm herüber, halb verschluckt vom Wind. Die Flut schäumte um die Knie der Frau, trieb den Saum ihres Kleids weiter nach oben. Die Angelsächsin neben ihm hatte recht: Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Flut die hilflose Frau verschlingen würde.

„Hol ein langes Tau von einem der Schiffe!“, rief er einem der Gefährten zu, der Eirik über den Strand gefolgt war.

„Du willst doch jetzt nicht raus ins Watt, oder?“ Eirik runzelte die Stirn. „Überlass das den Leuten von Bertune, sag ich. Wir sollten uns nicht in die Angelegenheiten dieser Siedlung einmischen.“

„Was haben wir hier dann überhaupt verloren, in Odins Namen?“ Ragnar sah seinen Freund fragend an, die rötlichen Brauen wie zwei gebogene Linien unter dem blonden Haar. „Wir sollen den Menschen hier helfen, das normannische Joch abzuschütteln, aber wir können einer jungen Frau nicht zu Hilfe eilen, die im Schlickboden festsitzt? Sie wird dort draußen sterben, wenn wir nichts unternehmen. Willst du damit dein Gewissen belasten?“

„Nein, natürlich nicht.“ Eirik verzog das Gesicht und sah zerknirscht aus, als schämte er sich für das, was er gedacht und ausgesprochen hatte. Vom Rang her stand er zwar über Ragnar, aber die beiden Männer verband eine unverbrüchliche Freundschaft, waren sie doch unweit von Ribe auf zwei benachbarten Gütern aufgewachsen.

„Außerdem verlange ich ja nicht, dass du durch den Matsch stapfst.“ Er lächelte verschmitzt. „Der Sohn des dänischen Königs muss durchs Wattenmeer stapfen? Das würde mir dein Vater ewig vorwerfen.“

„Dann geh, mit Thors Segen“, antwortete Eirik, als ihr Gefährte mit dem Tau zurückkehrte, das er sich um Hals und Schultern gelegt hatte. „Hoffen wir, dass sie noch lebt, wenn du sie erreichst.“

Gisela hatte schon einen ganz trockenen Hals, da sie ununterbrochen geschrien hatte. Ihr tat der Kopf weh, sie war kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Wieder schlang sie die Arme um sich und wünschte, sie hätte sich für diesen Tag für den Umhang entschieden, nicht nur für das dünne Kleid. Ihr war furchtbar kalt, sie zitterte unkontrolliert, der eiskalte Schlamm umklammerte ihre Beine wie eine eiserne Faust. Strudel trügerischen Meerwassers umgaben sie und umspülten ihre Oberschenkel, die schon halb taub vor Kälte waren. Während die Flut weiter stieg, schnürte ihr die Todesangst die Kehle zu – ihre Schreie verstummten. Es hatte ohnehin keinen Zweck mehr, sich die Seele aus dem Leib zu schreien. Niemand würde ihr zu Hilfe eilen. Noch war der Küstenverlauf im Abendlicht zu erahnen, aber am Ufer war niemand mehr zu sehen. Die Leute waren alle zurück in die Siedlung geströmt.

Ängstlich ließ sie den Blick über die silbrig schillernde Marsch huschen. Hier und da waren Lichtpunkte zu erkennen – gewiss handelte es sich um kleinere Feuerstellen zwischen den Behausungen der Siedlung. Es bestand keine Hoffnung mehr. Schwäche erfasste ihre Gliedmaßen und beraubte Gisela ihrer letzten Kraft. Sie hatte kaum etwas im Magen; am Morgen hatte sie im Beisein ihres Vaters und ihrer Schwester auf die Schnelle eine Schale Grütze gegessen. Hunger und Erschöpfung nahmen ihr die Fähigkeit zum klaren Denken. Die Versuchung, sich ganz dem bräunlich wirbelnden Wasser zu überlassen, drohte sie zu überwältigen.

Wie sollte ihr Vater ohne sie zurechtkommen? Und was würde aus ihrer Schwester? Die arme Marie hatte schon so viel durchstehen müssen. Ihre Schönheit war bislang der Fluch ihres Lebens gewesen. Wohin sie auch ging, stets erregte ihre engelsgleiche Schönheit die Aufmerksamkeit der Männer. Heiße Tränen schossen Gisela in die Augen, liefen ihr über die Wangen, verschleierten ihr die Sicht. Bald wäre sie nicht mehr hier, um ihre Schwester zu beschützen. In zitternden Händen barg sie das Gesicht und weinte, da ihre Lage hoffnungslos war. Das kalte, unerbittlich nach ihr greifende Meerwasser ging ihr bereits bis zur Taille, durchfeuchtete den groben Stoff ihres Kleids. Gisela hatte sich nie Selbstmitleid hingegeben, aber in diesem Augenblick, als ihr die Tränen durch die Finger liefen, glaubte sie wirklich, dass sie sterben musste.

Die Umrisse der schlanken Frauengestalt wurden allmählich deutlicher, als Ragnar dem Verlauf der schmalen, überspülten Holzplanken folgte. Das Tau hatte er sich vorsichtshalber um die Taille gebunden, das lose Ende verlief zurück zum Ufer zu den Gefährten. Grasbüschel wuchsen auf den erhabenen Stellen des Watts; Seevögel schwebten über der Weite, schlugen mit den Flügeln und stießen spitze, hohe Schreie aus. Auf halbem Weg zu der Frau umspülte das schäumende Wasser der hereinbrechenden Flut Ragnars wadenlange Stiefel. Er fluchte. Es würde ewig dauern, bis das Leder trocknete.

Als er aufschaute, machte er sich bewusst, dass die junge Frau nicht mehr um Hilfe rief. Hatte sie ihn überhaupt wahrgenommen? In ihrer Verzweiflung hielt sie sich die Hände vors Gesicht und hatte womöglich gar nicht gesehen, dass sich hinter ihr das bräunliche, aufgewühlte Wasser des Flusses sammelte. Um Kopf und Schultern trug sie ein grobes Tuch aus Leinen, das von einer silbernen Fibel zusammengehalten wurde. Eben jene aufblitzende Fibel hatte zuvor seine Aufmerksamkeit erregt.

„Hey!“, rief er der Frau in der Volksprache zu. „Hey! Frau, ich komme zu dir!“ Er rechnete damit, dass sie die Hände vom Gesicht nehmen würde, dass sie aufschauen und ihn bemerken würde. Doch sie blieb stocksteif stehen, bedeckte das Gesicht weiterhin mit beiden Händen und schien ihn nicht gehört zu haben. Was wiederum nicht abwegig war, da die Seevögel am Himmel so viel Lärm machten. Das Kleid der jungen Frau sah schäbig aus, der Stoff war stellenweise eingerissen. Lose Fäden tanzten im frischen Wind. Die erdfarbene Stofffülle bauschte sich um den Leib der Frau, wurde zum Spielball der steigenden, tosenden Flut. Diese Art Kleidungsstück schienen alle Angelsachsen von niederem Stand zu tragen.

Ragnar seufzte. Im Grunde hätte einer der Einheimischen sie retten können. Aber er wusste, was ihn hinaus ins Watt getrieben hatte: jener Übermut, mit dem er sich furchtlos in jedes Gefecht stürzte, immer an der Spitze seiner Gefährten, die Streitaxt fest in der Hand oder drohend über dem Haupt – der Schrecken der Feinde. Darüber hinaus wurde er von einer schwelenden Rastlosigkeit getrieben, von quälenden Schuldgefühlen, da er sich Vorwürfe für all das machte, was seiner armen Schwester widerfahren war. Weder sein Geist noch sein Körper kam je richtig zur Ruhe, stets verspürte er diesen Drang, zur Tat zur schreiten.

Als er endlich bei der Frau ankam, reichte ihm das Wasser bis zu den Knien. Doch die Frau schaute immer noch nicht zu ihm auf. Hatte sie ihn tatsächlich nicht wahrgenommen? Ragnar versuchte, das Gleichgewicht auf den Planken zu halten; die junge Frau war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, das Kleid wölbte sich auf den Wellen, der Saum verwirbelte in der steigenden Flut. „Gib mir deine Hand!“, rief er der jungen Frau zu.

Die Stimme rief ein Stechen in ihrer Brust hervor. Eine barsche, tief tönende Aufforderung auf Angelsächsisch, die sie mühsam zu verstehen versuchte. Sie ließ die Hände sinken, die tiefblauen Augen geweitet vor Schreck. Die große Gestalt eines Mannes stand vor ihr, streckte ihr über die Wasserstrudel hinweg seine Hand entgegen. Das Licht der untergehenden Sonne verfing sich in seinen Haarspitzen und brachte sie zum Leuchten – wie geschmolzene Bronze. Ein goldener Kranz schien sein Haupt zu umgeben. Wie ein Engel, dachte sie töricht, denn ihr Geist war benebelt. War ein Engel zu ihr herabgestiegen, um sie zu erretten? Dem Mann entströmte ein Geruch von Leder und Rauch von Holzfeuern, ein Geruch, der sich mit den salzigen Ausdünstungen der See vermischte. War diese Gestalt nur ein Trugbild, ein Gespinst ihrer Vorstellungskraft, hervorgebracht in einer verzweifelten Notlage?

Gisela zog die Stirn in Falten und sah genauer hin. Nein, das war kein Engel. Der Mann ragte vor ihr auf, stemmte sich breitbeinig gegen die Kräfte des Gezeitenstroms. Mit dem ärmellosen Wams und den quer über dem Brustkorb verlaufenden Lederriemen, die Furcht erregende Nieten aufwiesen, sah er eher wie ein Barbar aus. Er musterte sie mit finsterem Blick, da sie keinerlei Anstalten machte, sich zu rühren, geschweige denn, seine ausgestreckte Hand zu ergreifen. Um die breiten Schultern hatte er sich einen kurzen Umhang gelegt, der vorn von einer verzierten Spange gehalten wurde; seine Beine steckten in einer Tuchhose, unter der sich die kraftvollen Oberschenkel abzeichneten. Die Sonne stand schon tief und hob seine markanten Gesichtszüge hervor – das kräftige Kinn, den entschlossenen Zug um den Mund und die Schatten unter den scharf hervortretenden Wangenknochen.

Ihr sank das Herz. Sie gab sich nicht oft schwärmerischen Vorstellungen hin, doch in diesem Augenblick schien sich ihre Einbildungskraft selbst übertroffen zu haben, wenngleich Gisela wusste, dass die Erschöpfung ihre Wahrnehmung beeinträchtigte. Es war die Todesangst, die in ihrem Geist jenes Abbild vollkommener Männlichkeit hervorgerufen hatte. Sie verschränkte die Arme und reckte halb trotzig das Kinn, in der klaren Absicht, das Trugbild zu verscheuchen. Denn ihr von Angst und Hunger geplagter Geist hatte diese Erscheinung wie in einem Traum erstehen lassen. Wenn sie diese Gestalt nur lange genug anstarrte, würde sie gewiss verschwinden. Gisela neigte den Kopf ein wenig zur Seite und wartete.

„Was ist nur mit dir los?“, herrschte der Mann sie auf Englisch an. „Verstehst du nicht, was ich sage? Gib mir endlich deine Hand!“ Der Wasserpegel berührte bereits den Saum seiner Tunika, die länger war als das lederne Wams. Gisela furchte die Stirn und versuchte, die Herkunft dieses Mannes näher zu ergründen; er trug jedoch keinen Wappenrock wie die angelsächsischen Herren oder die normannischen Ritter. Mit dem golden leuchtenden Haar wirkte er auf sie wie eine nordische Gottheit aus alten Zeiten. Trotz all der Widrigkeiten war ihr mit einem Mal zum Lachen zumute. Mit was würde ihr verwirrter Geist als Nächstes aufwarten?

Plötzlich packte sie etwas an der Schulter, schüttelte Gisela heftig. Dann drückte eine Hand gegen ihre Wange, die schwieligen Finger fühlten sich warm an, der Daumen drückte in Giselas Kinn. Unweigerlich wich sie ein wenig zurück, aber der Griff der Hand lockerte sich nicht. Jemand zog sie. Grüne Augen kamen in Giselas Sichtfeld.

„Sieh mich an!“, forderte der Mann sie barsch auf, wobei er die Vokale der Volkssprache kürzer als gewöhnlich aussprach. „Du musst schon mitmachen, sonst gehst du unter, verstanden? Ist dir das klar? Leg die Arme um meinen Nacken, dann kann ich dich rausziehen.“ Der Mann beugte sich zu ihr herab, kurz darauf spürte sie seine Hände unter ihren Achseln, spürte die warmen Innenflächen durch den feuchten Stoff ihrer Kleidung. Gisela zuckte zusammen, als eine ungeahnte Hitze ihr durch die Adern schoss; die Daumen des Mannes strichen über ihre Brüste.

Aber all dies geschieht ja nicht, redete sie sich benommen ein. Angesichts dieser groben Behandlung kam ihr ein halbherziger Laut des Protests über die Lippen. Derweil wagte sich der Mann im Watt weiter vor, bückte sich und setzte die Sicherheit der Planken aufs Spiel, um Gisela besser zu fassen zu bekommen. Das von der Sonne gebleichte Holz schimmerte im Wasser. Mit einem kräftigen Ruck befreite der Mann sie schließlich aus dem zähfließenden Schlamm. „Schling die Arme um meinen Nacken, sag ich!“, verlangte er erneut mit schroffer Stimme, dicht an Giselas Ohr. Gisela sah sich gezwungen, der Aufforderung Folge zu leisten, streckte die schlanken Arme aus und verschränkte die Finger im Nacken des Mannes. Seine Haut fühlte sich warm an; die Haarspitzen kitzelten in ihrer Hand. Sie zog die Stirn in Falten, während ihr verwirrter Geist verzweifelt versuchte, dieser Situation einen Sinn zu verleihen. Wurde sie tatsächlich aus diesem elenden Schlick gerettet?

Kalte Abendluft strich über Giselas steife Gliedmaßen, als das Watt endlich ihre Beine freigab. Ihre Füße, braun von Matsch, hingen schlaff herab, als sie von kräftigen Armen hochgehoben wurde – ihr schlanker Leib wurde gegen eine harte, männliche Brust gezogen. Der Mann legte ihr einen Arm um die Hüfte und schwang ihre Beine empor. Das völlig durchnässte Kleid klebte ihr an den Oberschenkeln, legte sich wie eine zweite Haut über die Rundungen ihrer Hüften.

Wärme durchströmte sie, eine willkommene Empfindung, die in den traumähnlichen Zustand vordrang, in dem Gisela sich befand – sie war nur halb bei Bewusstsein. Die Nähe ihres Retters wurde ihr beinahe zu viel. Sie wurde in ihrer Empfindsamkeit erschüttert, viel zu rasch erwachte ihr matter, geschwächter Leib zu vollem Bewusstsein. Ihre Lungen füllten sich wieder freier mit Luft. Gisela hatte das Gefühl, die kräftigen Hände hätten ihr die Kleidung vom Leib gerissen, sodass sie vor aller Augen in ihrer Blöße zu sehen war. Sie fühlte sich hilflos, verletzlich, ihre Brüste drückten ungehörig gegen den harten Oberkörper des Mannes. Kraftlos ließ sie die Arme sinken, denn sie wollte sich nicht länger an ihrem Retter festhalten.

„Schling die Arme um mich, Frau, sonst landen wir gleich beide im Wasser!“ Langsam trug er sie zurück zum Ufer und kämpfte gegen den Sog des Gezeitenstroms an. Gisela wurde bei jedem Schritt durchgeschüttelt und musste dem Mann wohl oder übel die Arme um Schultern und Nacken schlingen. Erschöpft hob sie den Kopf und erahnte im Zwielicht die angespannten Gesichtszüge ihres Retters. Halb benommen und verwundert strich sie ihm mit einer Hand über das markante Kinn, eine flüchtige Berührung, so zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.

„Êtes-vous vrai?“, fragte sie auf Französisch. Unbewusst bediente sie sich ihrer Muttersprache. Gibt es Euch wirklich?

Ragnar war so verblüfft, dass er beinahe auf den Planken gestolpert wäre. Die Stimme der jungen Frau war so zart, fast melodisch; ihr betörender französischer Akzent verfehlte seine Wirkung nicht auf ihn. Die Sprache der Normannen hörte er nicht oft, aber er verstand sie, da seine Mutter stets Französisch mit ihm gesprochen hatte, aber nur, wenn sie allein mit ihm gewesen war, da sein Vater das nicht billigte. Sein Vater blickte nämlich mit Widerwillen zurück auf jene Tage, als er seine Frau aus Frankreich entführt hatte. Das war viele Jahre her, und inzwischen führten seine Eltern eine glückliche Ehe. Ragnar schaute in das blasse Gesicht der jungen Frau. Was, in Thors Namen, hatte eine wie sie hier zu suchen?

„Je suis vrai“, antwortete er und bejahte ihre Frage.

Autor

Meriel Fuller
Meriel Fuller verbrachte ihre frühe Kindheit als echte Leseratte. Nach der Schule ging sie stets in die Stadtbücherei, wo ihre Mutter als Bibliothekarin arbeitete und las sich fröhlich durch die historischen Liebesromane. Ihre Liebe zur Vergangenheit hat sie von ihrem Vater, ein eifriger Hobby-Historiker, der Meriel und ihre Schwester auf...
Mehr erfahren