Dieses ganz verrückte Kribbeln

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Claire hat sich in Trip Osborn verliebt Wie konnte das nur geschehen? Er ist charmant, frech, unwiderstehlich, schlägt sich als Straßenmusikant durch – und ist genau das Gegenteil des strebsamen Karrieremannes, den Claire sich als Zukünftigen vorgestellt hat ...


  • Erscheinungstag 08.04.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522250
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Also, Claire Quinn, wir haben gehört, dass Sie verliebt sind. Stimmt das?“

„Wie?“ Claire presste den Hörer ans Ohr, schielte auf den Wecker neben dem Bett und fragte sich, wer, zum Geier, es wagte, sie morgens um viertel nach sieben über ihr Liebesleben auszufragen. Um diese Uhrzeit konnte sie sich ja kaum an ihren eigenen Namen erinnern.

„Hier sind Frank und Phil von Radio K-BUZ“, fuhr die fröhliche Stimme fort. „Was machen Sie an einem so schönen Morgen? Eine Woche vor dem Valentinstag?“

„Schlafen“, murmelte Claire. „Und Sie?“

„Nun, uns geht es bestens. Aber nicht halb so gut, wie es Ihnen gleich gehen wird.“

„Wie kommen Sie darauf? Und woher haben Sie überhaupt meine Telefonnummer?“ Sie hörte nie Radio K-BUZ, wo ununterbrochen langweilige Fahrstuhlmusik für Hörer über vierzig gespielt wurde. Sie setzte sich ruckartig auf. „Augenblick mal. Bin ich etwa auf Sendung?“

„Darauf können Sie ihren süßen … äh … Kopf verwetten, dass Sie auf Sendung sind. In unserer verrückten Morningshow. Und Sie sind die heutige ‚Ich werde geliebt‘-Gewinnerin.“

„Ich? Ich habe etwas gewonnen?“ Mit einem Mal fiel es ihr ein. Vor etwa zwei Wochen hatte sie ihrer Freundin Kitty beim Mittagessen erzählt, dass sie und Jared nun ein Paar waren. Woraufhin Kitty nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als Claires Visitenkarte in eine Lostrommel zu werfen, die ein Radiosender dort aufgestellt hatte.

Claire war überhaupt nicht der Typ, der bei Gewinnspielen mitmachte, andererseits war sie auch noch nie so richtig verliebt gewesen. Insofern erschien ihr Kittys Geste wie das perfekte Ende dieses gemeinsamen Mittagessens, in dessen Verlauf Claire ununterbrochen geredet hatte. Während sie nacheinander Focacciabrot, Mahi-Mahi-Salat und fettfreien Flan verspeist und dann einen entkoffeinierten Milchkaffee getrunken hatten, hatte sie erläutert, inwiefern Jared der perfekte Mann für ihr künftiges perfektes Leben sei. Nun, vielleicht nicht wirklich perfekt, aber schließlich sollte man sich große Ziele setzten, oder nicht?

„Sie sind also verliebt?“, fragte Frank oder Phil erneut.

„Äh, ja, das bin ich. Keine Frage.“ Sie war sich ziemlich sicher. Andererseits, wer wusste schon so genau, was Liebe war? Aber nun hatte sie vor Tausenden von Hörern verkündet, dass sie verliebt war. Sie fragte sich, wer diese frohe Botschaft wohl alles vernommen hatte. Jared auf jeden Fall nicht, der war bis Samstag in Reno. Danach würde er in ihre wundervolle gemeinsame Wohnung in CityScapes, einem Neubau auf der Central Avenue, einziehen, in der Claire bereits seit fünf Tagen wohnte.

Anfangs wollte Jared drei Tage pro Woche in Phoenix verbringen. Aber Claire war davon überzeugt, dass er sich so schnell wie möglich nach einem anderen Job in der Nähe umsehen oder sich von seiner Firma nach Phoenix versetzen lassen würde.

„Erzählen Sie uns, was Sie an Ihrem Freund lieben“, forderte der Moderator sie auf.

„Was ich an ihm liebe? Äh, alles Mögliche.“ Dass er so romantisch war, sich so auf sie einließ – wirklich einließ – und ihr das Gefühl gab, sie zu brauchen. „Das ist ziemlich persönlich.“

„Okay, wenn Sie uns die spannenden Details vorenthalten wollen …“ Frank/Phil seufzte theatralisch. „Ich schätze, dann müssen wir Ihnen eben gleich verraten, was Sie gewonnen haben.“

Hatte sie nicht bereits den Hauptgewinn an Land gezogen? Die wahre Liebe? Auf der anderen Seite konnte es des Guten nie zu viel sein. „Was ist es denn?“

„Claire Quinn, Sie bekommen ein Valentinstaggeschenk von dem Mann, den sie lieben – gesponsert von K-BUZ Radio.“

„Wirklich?“

„Wirklich. Sagen Sie uns den Namen Ihres Traumprinzen.“

„Jared.“

„Woher wissen Sie, dass Jared Sie liebt, Claire?“

„Nun, er hat es mir gesagt.“ Es war traumhaft gewesen, weil er einfach so damit herausgeplatzt war. Und es hatte sich so gut angefühlt, dass sie es ihm auch gesagt hatte. Und einmal ausgesprochen, schwebten die Worte zwischen ihnen wie eine Seifenblase. Sie liebten einander. Sie war auf Wolke sieben.

„Er hat es Ihnen gesagt … das klingt doch gut. Und was für Beweise haben Sie noch?“ Der Moderator ließ ihr Zeit, etwas Kluges, Witziges, Romantisches oder Tiefgründiges zu entgegnen. Aber ihr fiel nichts ein. Es war viel zu früh, um überhaupt bei Bewusstsein zu sein, geschweige denn klug, witzig, romantisch oder tiefgründig.

„Gut.“ Der Moderator klang ein wenig gereizt angesichts ihres miserablen Showtalents. „Dann geben Sie uns einfach seine Telefonnummer, damit wir ihm mitteilen können, was er für Sie gewonnen hat.“

„Sie wollen ihn anrufen? Aber er ist momentan in Nevada.“

„Kein Problem. Geben Sie uns die Vorwahl. Dann bleiben Sie einfach dran und hören zu. Sagen Sie nichts, damit wir ihn richtig überraschen können.“

Das Telefon klingelte drei Mal, bevor Jared sich meldete. Sie liebte es, wenn er so verschlafen klang.

„Spreche ich mit Jared?“, fragte Frank oder Phil.

„Ja. Wer ist da?“

„Frank und Phil von K-BUZ Radio. Sie sind ein ‚Ich-werde-geliebt‘-Gewinner in unserer verrückten Morningshow.“

„Ich bin ein was …? In welcher Show? Ein Gewinner?“

„Ja, supi, oder?“

„Ist das wahr? Bin ich jetzt auf Sendung?“

„Ja! Und Sie haben gerade ein Dutzend Rosen gewonnen, die der Frau, die sie lieben, geschickt werden.“

„Machen Sie Witze? Wow!“ Er klang begeistert wie ein Kind. Was Claire übrigens gelegentlich störte – diese Kindlichkeit. Er schmollte, wenn etwas nicht nach seiner Vorstellung lief, und vermied ernsthaften Themen. Aber er war süß. Seine heisere Stimme erinnerte sie daran, wie liebevoll er im Bett war. Nicht besonders aufregend zwar, aber das war nicht der springende Punkt. Der springende Punkt war, dass er nur dann gut schlafen konnte, wenn er sie fest im Arm hielt. Sie liebte das. Das war so romantisch.

Sie hielt die Luft an, damit Jared nicht merkte, dass sie in der anderen Leitung war. Wie fantastisch! Sollte sie jemals daran gezweifelt haben, das Richtige zu tun, so war dies der ultimative Beweis. Sie hatte sich verliebt und wurde dafür auch noch belohnt. Und zwar gerade rechtzeitig zum Valentinstag – was sonst immer ein eher unangenehmes Datum für sie gewesen war. Vielleicht hatte ihre Freundin Zoe, die total auf diesen Esoterikkram stand, ja Recht, was das Thema Karma betraf. Und Claires Karma bescherte ihr mit einem Mal Rosen.

„Also, Jared, wem sollen wir die Karte schicken?“, fragte Frank oder Phil. „Wie heißt die Frau, die Sie lieben?“

Nun kam es. Jared würde ihren Namen vor Tausenden von Hörern aussprechen. „Schreiben Sie die Karte für meine Frau Lindi. Lindi mit i.“

Claire schnappte nach Luft. „Deine Frau?!“ Der Boden schien sich unter ihr aufzutun. Ihr wurde ganz schwindlig.

„Wer ist das?“, erkundigte sich Jared.

„Deine Frau?!“, wiederholte Claire, die Worte donnerten durch ihr Hirn. Jared war verheiratet? Er hatte eine Frau? Lag sie womöglich gerade neben ihm im Bett und trug etwas Hauchdünnes in Pink? Vielleicht waren wenigstens ihre Beine nicht rasiert.

„Oje“, murmelte Jared mit Grausen in der Stimme. „Claire?“

„Da hast du verdammt Recht!“, schrie sie. „Du bist verheiratet? Wie kannst du es wagen? Du Scheißkerl!“

Franks und Phils kaum unterdrücktes Gelächter machten ihr klar, dass die beiden zusammen mit Tausenden von Hörern diese Demütigung live verfolgten. Guter Gott!

Claire knallte den Hörer in dem Moment auf, in dem Jared flehend „Ich kann das erklären!“, rief. Ihr Gesicht brannte. Sie fühlte sich wie eine jener Frauen, die von ihrem Mann in einer Fernsehtalkshow damit überrascht wurden, Bigamist zu sein.

Meine Frau Lindi. Lindi mit einem „i“, Himmelherrgott! Sie konnte es nicht fassen. Welche Frau hieß schon Lindi? Irgendein kleines Hausmütterchen, das die Unterhosen ihres Mannes bügelte und ihre Klamotten selbst nähte.

Sie dachte daran, wie Jared ihr erklärt hatte, dass er sie liebte – die Augen glänzend vor Verehrung –, und dann an seinen letzten Satz. Schreiben Sie die Karte für meine Frau Lindi. Er hatte nicht einmal eine Sekunde überlegen müssen, wer die Rosen bekommen sollte. Wie hatte sie nur so dumm sein können?

Aber sie war doch gar nicht dumm gewesen. Sie hatte in der Cosmopolitan den Artikel „Zehn Anzeichen dafür, dass Ihr Freund verheiratet ist“ genauestens gelesen, und Jared war demzufolge völlig unverdächtig gewesen. Sein Ringfinger war genauso gebräunt wie die anderen neun. Gut, er hatte ihr nur seine Handynummer gegeben, aber nachdem er als Außendienstler ständig unterwegs war, hatte sie keinen Verdacht geschöpft.

Die verschiedensten Gefühle brachen über sie herein: Schock, Trauer, Ungläubigkeit, Wut. Sie zuckte erschrocken zusammen, als das Telefon klingelte. Mit zitternden Händen nahm sie ab.

„Lass es mich erklären, Claire.“ Es war Jared.

Eine Sekunde lang schöpfte sie Hoffnung. Vielleicht handelte es sich um ein Missverständnis. Oder einen Aprilscherz im Februar. „Ist es wahr?“, fragte sie. „Bist du verheiratet?“

„Ja, aber …“

Rumms! Sie knallte den Hörer auf. Ihr Blick fiel auf den Blechpinguin, den Jared ihr zum Einzug geschenkt hatte. Sie nahm ihn vom Fernsehtisch, der ihr als Nachttisch diente, und holte aus, um ihn durchs Zimmer zu pfeffern. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass er ein großes Loch in der strahlend weißen neuen Wand ihres wunderschönen Apartments hinterlassen würde, und sie warf ihn stattdessen auf den gemusterten Berberteppich.

Das Telefon klingelte erneut. Sie hob den Hörer ab und ließ ihn wieder fallen. Sie konnte jetzt nicht mit Jared sprechen. Ihr tat alles weh, als ob sie am ganzen Körper Zahnschmerzen hätte. Sie brauchte dringend frische Luft.

Sie eilte zur Fenstertür, riss sie auf und trat auf den winzigen Balkon. Der Lärm der Central Avenue stieg in ihre Ohren, während sie tief Luft holte. Was sollte sie nun mit der Wohnung machen? Ihr Plan war gewesen, nach und nach die handgezimmerten Regale und Sitzkissen durch richtige Möbel zu ersetzen. Jared und sie hatten sich die Miete teilen und am Samstag zusammen ein Sofa kaufen wollen. Okay, ein Futon, aber immerhin. Menschen kauften schließlich nur dann gemeinsam Möbel, wenn sie sich ernsthaft binden wollten. Nur dass Jared bereits gebunden war.

Dank K-BUZ Radio war ihr Traum zerplatzt wie eine Seifenblase. Ohne Jared war sie gar nicht in der Lage, die Miete zu bezahlen. Zumindest nicht, solange sie keine riesige Gehaltserhöhung bekam. Allerdings war sie nur ein kleines Licht bei Biggs & Vega Advertising, hatte nur unwichtige Kunden – Reparaturwerkstätten, einen Reifengroßhändler und chemische Reinigungen –, und es würde noch eine ganze Weile dauern, bis ihre Karriere so richtig in Schwung kam. Vor einer Woche erst hatte sie darüber nachgedacht: Sie war fünfundzwanzig, ein Vierteljahrhundert alt, hatte eine feste Beziehung, und es war höchste Zeit, sich ernsthaft Gedanken über ihre Karriere zu machen. Und deswegen hatte sie Ryan Ames, einen erfahrenen und sehr erfolgreichen Kollegen, gebeten, ihr Mentor zu werden.

Vielleicht schlief sie ja noch, und es handelte sich um einen Albtraum. Sie kniff sich in den Arm – autsch! – und dann noch mal, um sicher zu sein. Wieder autsch! Gut, sie war also wach.

Sie klammerte sich am Balkongeländer fest und atmete tief durch. Sie starrte auf die Straße. Wie viele von den Menschen, die gerade über die Central Avenue spazierten, hatten ihre Demütigung übers Radio mitbekommen? Ihr Blick fiel auf einen Mann, der auf ihr Gebäude zusteuerte. Es war der Musiker, der schon seit einigen Tagen vor ihrem Haus Gitarre spielte. Sie hatte ihn Gitarrenmann getauft. Er zumindest hatte bestimmt nicht K-BUZ Radio gehört, schließlich war er ungefähr in ihrem Alter.

Claire ging zurück ins Schlafzimmer, schloss die Tür und schlug mit dem Kopf ein paar Mal gegen das kalte Glas, bevor sie sich auf den Boden sinken ließ. Dann legte sie das Kinn auf die Knie und weinte. Aber nur zwei Tränen. Mehr Flüssigkeit hatte diese Ratte nicht verdient. Jared, wie kannst du nur verheiratet sein?

Und warum hatte sie sich ausgerechnet in ihn verliebt? Sie hatte sich schließlich Zeit gelassen, sich genauestens umgeschaut und ihn sehr sorgfältig ausgewählt. Na klar. Sie hatte also sehr sorgfältig einen miesen kleinen Betrüger ausgewählt.

Nun, sie konnte hier nicht herumsitzen und in Mitleid versinken. Herzschmerz hin oder her, schließlich hatte sie einen Job. Und eine Karriere vor sich. Ihr würde es besser gehen, sobald sie etwas zu tun hatte. Lass dich nicht unterkriegen, würde ihre beste Freundin Kitty jetzt sagen. Steh auf und kämpfe, Schwester.

Bei dem Gedanken gelang ihr ein Lächeln. Claire stapfte ins Bad, stellte die Dusche an, schnappte sich den Luffahandschuh, den sie von Emily als Einzugsgeschenk bekommen hatte, und schrubbte sich energisch am ganzen Körper ab. Wer schön sein will muss leiden, behauptete ihre Freundin Emily immer. Sie würde das Desaster mit Jared als lehrreiche Erfahrung hinstellen. Zoe hingegen, die ihr eine beruhigende Himbeergesichtsmaske geschenkt hatte, würde ihr wohl eher raten, nett zu sich selbst zu sein.

Claire seufzte. Sie musste mit ihren besten Freundinnen unbedingt über dieses Debakel sprechen. Die vier Mädels nannten sich selbst die Musketiere – eine für alle und alle für eine –, sie teilten jeden Mittwoch bei einem Spieleabend ihre Freuden und Leiden. Sie trafen sich in einer Kneipe namens Talkers, um zu reden, Wein zu trinken und eben verschiedene Spiele zu spielen.

Zum Glück stand heute wieder ein Spieleabend auf dem Programm. Da konnte sie ihr Leid klagen. Die Musketiere würden schon wissen, was zu tun war.

Claire betrachtete ihre krebsrote Haut, hüllte sich in ein dickes, flauschiges Handtuch und eilte zu ihrem großen begehbaren Schrank. Das war auch etwas, was sie an dieser Wohnung liebte und keinesfalls aufgeben wollte.

Was sollte sie nur anziehen? Nachdem sie beschlossen hatte, nun ernsthaft ihre Karriere voranzutreiben, musste sie sich entsprechend kleiden. In der Werbebranche war die äußere Erscheinung das A und O. Sie musste die richtigen Zeichen setzen. Claire zog ein ärmelloses Lycrahemd und einen Minirock aus Wildleder hervor. Zu salopp. Und das heiße, halb durchsichtige Batikteil? Zu sexy. Sie arbeitete sich durch weitere Bügel hindurch. Ganz zum Schluss entdeckte sie den Anzug, den ihre Mutter ihr zum Einstand bei B&V geschenkt hatte. Dunkelblau, tailliert. Sah nach erfolgreicher Geschäftsfrau aus.

Perfekt. Nachdem es Jared nicht mehr gab, konnte sie künftig bis spät abends in der Firma bleiben und sich sogar Arbeit mit nach Hause nehmen. Nicht dass sie für ihre Pillepalle-Kunden, für die sie nur Inserate und Flugblätter entwarf, so viel Zeit brauchte. Sie seufzte.

Ryan Ames musste ihr helfen. Er war neu in der Firma, aber ein sehr guter Werbemann, der einige Topkunden mit in die Agentur gebracht hatte. Offenbar mochte er sie. Als sie ihn gestern bat, ihr Mentor zu werden, glaubte sie, kurz einen Anflug von persönlichem Interesse in seinem Gesicht entdeckt zu haben, aber womöglich hatte sie sich das nur eingebildet. Heute jedenfalls musste sie unbedingt mit ihm sprechen. Alles, was sie von ihrem Herzschmerz ablenken konnte, kam ihr gerade recht.

Als sie sich angezogen hatte, steuerte sie auf ihre strahlend weißen Küchenschränke zu. Irgendetwas musste sie schließlich essen. Aber im Kühlschrank fand sie nur eine Flasche Mineralwasser und Sellerie. Na super.

Am liebsten wäre sie wieder ins Bett gekrochen, hätte die Decke über den Kopf gezogen und einfach geweint.

Auf gar keinen Fall.

Sie durfte jetzt nicht schwach werden und musste den Tag bis zum Spieleabend irgendwie überstehen. Dann würden ihre Freundinnen ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen. Was auch immer geschah, keinesfalls durfte sie Jared anrufen. Egal wie sehr es sie in den Fingern kribbelte, auf die entsprechende Kurzwahltaste zu drücken. Niemals. Sie beschloss, zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Jetzt gleich. Es war besser, das Telefon zu meiden.

Sie fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten, eilte durch die Eingangshalle, drückte die Glastüren auf, bog um die Ecke und hätte beinahe den Gitarrenmann über den Haufen gerannt.

„Oh.“ Claire wich einen Schritt zurück. „Hallo.“

Sie musste gestehen, dass er ein echtes Sahneschnittchen war. Aus nächster Nähe betrachtet, war sofort zu erkennen, dass er kein Drogensüchtiger war. Er hatte kluge dunkelgraue Augen, die kein bisschen wirr oder verschleiert wirkten. Zottiges schwarzes Haar hing ihm in die Stirn, er trug bequem aussehende Cordhosen und ein abgetragenes, aber sauberes graues Muskelshirt. Ein Ying-und-Yang-Tatoo zierte seinen Oberarm, er hatte einen Ohrring und roch nach Seife und Patchouli.

Claire betrachtete seine Finger, die auf den Seiten der blank polierten Gitarre lagen, und spürte ein leichtes Flattern in der Magengegend. Die Musik, die er spielte, klang sehnsüchtig und hätte besser in eine verrauchte Kneipe gepasst. Er war gut. Wirklich gut.

Gerade als sie an ihm vorbeiging, sprach er sie an. Seine Worte waren so sanft wie ein Flüstern in ihrem Kopf. „Das ist zu viel des Guten.“

Sie blieb abrupt stehen und drehte sich um. „Wie bitte?“

„Na, deine Aufmachung.“ Er musterte sie kurz von Kopf bis Fuß.

„Du kritisierst meine Kleidung?“, fragte sie.

Er blickte sie ruhig an. „Ich habe nur meine Meinung geäußert.“

„Nun, das kann ich auch. Du zum Beispiel brauchst dringend einen neuen Haarschnitt.“

Er dachte über ihre Worte nach und warf ihr dann ein schiefes Lächeln zu.

Tauschte sie gerade mit einem Obdachlosen Stylingtipps aus? Nun, warum nicht? Als sie schnell weiterging, spürte sie den Blick des Gitarrenmannes im Rücken. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Oder wünschte sie es sich etwa? Das wäre nicht ungewöhnlich nach allem, was geschehen war. Schließlich brauchte eine Frau nach so einem Erlebnis die Bestätigung, noch attraktiv zu sein.

Claire stürmte verbissen weiter und ignorierte die Tatsache, dass ihre Pumps drückten. Der Anzug ließ ungefähr so viel Sauerstoff durch wie eine Plastiktüte. Als sie B&V Advertising erreichte, hatte sie Blasen an den Füßen und war völlig verschwitzt. Na bitte. Jetzt konnte sie sich wenigstens über etwas anderes Gedanken machen als über Jared.

Vor der Tür legte sie eine kurze Verschnaufpause ein und wappnete sich gegen die unvermeidlichen Sprüche der Radio-K-BUZ-Fans, zu denen Georgia, die Rezeptionistin, mit Sicherheit gehörte. Als sie bereit war, holte sie tief Luft, marschierte mit erhobenem Kopf, herausgestreckter Brust, schmerzenden Füßen und schweißtriefend ins Gebäude.

Zum Glück saß Georgia nicht am Empfang, was nicht weiter überraschend war. Wann immer sie keine Lust mehr hatte, verließ sie einfach ihren Posten. Claire konnte also unbehelligt am Empfang vorbeischleichen.

Da sie dringend einen Kaffee brauchte, steuerte sie auf die winzige Küche zu … wo sie direkt auf Georgia und deren Freundin Mimi aus der Buchhaltung traf. Da hatte sie ja mal wieder das große Los gezogen! Claire versuchte noch, unbemerkt zu verschwinden, als Georgia sie bereits ansprach. „Hast wohl jetzt einen Nebenjob beim Radio, wie?“, fragte sie mit ihrer rauchigen Stimme.

„Du hast es gehört?“ Claire wurde knallrot.

„War das alles nur Theater, der Anruf und alles?“, wollte Mimi wissen.

„Nein, das war echt.“ Unheimlich und schmerzhaft echt.

Georgia starrte sie an. „Sie haben ausgepiept, wie du ihn beschimpft hast. Was hast du zu ihm gesagt? Scheißkerl oder Mistkerl?“

„Scheißkerl.“

„Ja, das ist wohl die einzig richtige Bezeichnung für ihn.“

„Du siehst schlimm aus, Mädchen“, meinte Mimi und betrachtete sie von oben bis unten. „Ungefähr so, als ob du deinen Vibrator ins Badewasser hättest fallen lassen – total nervös und zappelig.“

Georgia blies kichernd den Rauch aus. Zwar handelte es sich um ein Nichtraucherbüro, aber Georgia war nicht bereit, sich etwas vorschreiben zu lassen. „Der war gut“, sagte sie. Dann kniff sie die Augen zusammen. „Wie geht es dir damit?“

„Ihr solltet besser die Rasierklingen verstecken“, entgegnete Claire mit einem gequälten Lächeln.

„Mach dir nichts draus, Honey. Du verdienst was Besseres als diesen Schwachkopf.“

Georgia und Mimi waren beide vierzig Jahre alt, geschieden und absolut zufrieden mit ihrem Singledasein. Claire beneidete sie um ihre Unabhängigkeit.

„Zumindest hast du jetzt eine wirklich irre Geschichte zu erzählen“, verkündete Mimi. „Weißt du, wie ich erfahren habe, dass mein Mann mich betrügt? Ich habe eine Rechnung über Dessous in seiner Anzugjacke gefunden. Wie langweilig!“

Die drei Frauen brachen in Gelächter aus. Das fühlte sich gut an – ein bisschen so wie ein Mini-Spieleabend.

„So gesehen, hast du recht.“ Claire tröstete sich damit, ihren Kaffee mit drei Stückchen Zucker und Kondensmilch zu trinken. Sie lehnte sich an den Küchenschrank und schaute die beiden Frauen an. „Danke für das nette Gespräch“, sagte sie dann, hob den Kaffeebecher und prostete den beiden Frauen zu. Dann wandte sie sich zum Gehen.

„Eines noch“, sagte Georgia.

„Ja?“ Claire erwartete einen mütterlichen Rat.

„In diesem Anzug siehst du aus wie eine Stewardess.“

Aha. „Möchten Sie vielleicht noch ein paar geröstete Erdnüsse?“, fragte sie. Dabei fielen ihr ganz spezielle Nüsse ein, die sie jetzt mit dem größten Vergnügen geröstet hätte. Hmm …

„Mach dir keine Gedanken.“ Mimi zuckte mit den Schultern. „Mann muss ein bisschen herumprobieren, bevor man weiß, was einem wirklich steht.“

„Genau“, entgegnete Claire. Dieser Ratschlag betraf nicht nur Klamotten, sondern überhaupt das ganze Leben. Nur leider war alles, was Claire bisher probiert hatte, entweder zu eng oder zu weit oder ließ ihren Hintern dick aussehen. Hastig steuerte sie auf ihr Büro zu.

Das Telefon klingelte. „Claire Quinn“, meldete sie sich.

„Bitte leg nicht auf!“ Jared.

Genau das sollte sie tun, doch irgendwie schien der Hörer an ihrem Ohr festzukleben.

„Ich wollte es dir tausend Mal sagen“, fuhr Jared fort. „Aber ich wollte dir nicht wehtun.“

Seine Stimme klang tränenerstickt. Tränen. Sie konnte es nicht ändern, sie war gerührt. Und auch ein wenig genervt. „Seit wann bist du …?“

„Verheiratet?“

Nein, ein solcher Mistkerl. „Ja.“

„Seit drei Jahren.“

Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Gedanke. „Habt ihr Kinder?“

„Nein, keine Kinder. Und wir haben uns auseinander gelebt. Wie sehr ist mir allerdings erst klar geworden, als wir uns ineinander verliebt haben.“

„Verstehe.“ Sie versuchte ironisch zu klingen, aber das Wort verliebt ließ sie dahinschmelzen wie Eis in der Sonne.

„Ich bin froh, dass du jetzt die Wahrheit kennst. Du hast ja keine Ahnung, wie ich mich gequält habe.“

„Du armer, armer Kerl.“

„Ich weiß, ich weiß. Natürlich ist es für dich viel schlimmer als für mich. Lass uns am Samstag darüber reden.“

„Am Samstag?“

„Wenn ich einziehe.“

„Du kannst nicht einziehen. Falls du es vergessen haben solltest – du bist verheiratet.“

„Wir gehören zusammen, Claire. Das mit uns ist etwas ganz Besonderes. Ich brauche nur etwas Zeit, um mit Lindi darüber zu sprechen.“ Seine Worte milderten ihren Schmerz.

„Wir bekommen das hin“, fuhr er fort. „Und am Samstag können wir ein Sofa kaufen und eine Lampe, sogar einen Teppich. Alles, was du willst, Baby.“

Alles, was sie wollte. Baby. Sie liebte es, wenn er sie so nannte. Entschieden rang sie die Hoffnung nieder, die in ihr aufwallen wollte. Einen Augenblick mal, du verlogener Mistkerl. Doch sie beschloss, sich zivilisierter auszudrücken.

„Wie kann ich dir noch vertrauen?“, fragte sie. „Du hast mich belogen. Unsere ganze Beziehung basiert auf einer Lüge.“

„Nein. Meine Ehe ist eine Lüge. Natürlich hast du Grund genug, mich zu hassen, Claire, aber bitte hör nicht auf, mich zu lieben. Bitte.“

Das rührte sie, selbstverständlich, sie konnte aber nicht umhin, zu bemerken, dass er klang wie ein schlechter Schauspieler in einer Seifenoper. Und irgendwie bekam sie auch das Bild, wie sie seine Nüsse röstete, nicht so richtig aus dem Kopf.

„Ich will dich festhalten“, sagte er. „Ich muss dich in meinen Armen spüren, nur dann geht es mir gut.“

Nun, das klang schon besser. Vielleicht würde ja doch noch alles gut werden. Männer musste man schließlich immer zu ihrem Glück zwingen, das war einfach so.

„Ich weiß nicht so recht, Jared. Ich muss darüber nachdenken.“

„Lass dir ein oder zwei Tage Zeit. Aber vergiss nicht, dass ich dich liebe. Wir finden einen Weg. Unsere Liebe ist stark und einzigartig.“ Das klang schon wieder nicht mehr so überzeugend. Sie riss sich zusammen. Dieser Mann gestand ihr gerade seine Liebe, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich über seine Wortwahl aufzuregen? Nun, aber so war sie eben. Mit Ironie konnte man sich wenigstens den Schmerz vom Leib halten.

„Ich muss auflegen, Jared.“ Sie riss sich den Hörer vom Ohr, warf ihn auf die Gabel und wünschte sich sogleich, ihn wieder hochzunehmen. Sie tat sich wirklich nicht leicht damit, Entscheidungen zu fällen. Ja, nein. Bleib, geh. Ach je.

Claire blickte auf die Uhr. Noch sieben Stunden und fünfzehn Minuten, bevor sie ihre Last auf die bereitwilligen Schultern der anderen Musketiere abladen konnte. Sie dankte Gott für diese Spieleabende.

2. KAPITEL

Punkt siebzehn Uhr dreißig sprang Claire aus dem Bus und betrat das Talkers. Claire liebte diese Kneipe und den wöchentlichen Spieleabend. Die letzten Sonnenstrahlen fielen schräg auf die Bar und beleuchteten die gut aussehenden Leute, die zur Happy Hour miteinander flirteten, einander ihr Leid klagten und Wontons in Erdnusssoße dippten.

Am anderen Ende der Bar entdeckte sie Kitty, die wie eigentlich immer neben einem Mann stand. Sie beugte sich zu ihm und ließ ihr Weinglas lasziv zwischen zwei Fingern baumeln. Wenn Claire nur ihre Ausstrahlung hätte! Wobei Kitty allerdings auch noch das Gesicht eines Supermodels hatte, ein witziges Mundwerk und Silikonimplantate. Von den ersten beiden Vorzügen konnte Claire keinen aufweisen, am dritten war sie nicht interessiert.

Als Claire näher kam, konnte sie erkennen, wie der Typ etwas in seinen Palm tippte. Vermutlich Kittys Telefonnummer. Kurz bevor er verschwand, schenkte Kitty ihm diesen umwerfenden Blick, den Claire einmal vor dem Spiegel geübt hatte, der bei ihr aber nur äußerst albern wirkte.

Kitty entdeckte sie ebenfalls, rutschte von ihrem Stuhl und umarmte sie. Ihre Umarmung war wie immer gut gemeint, aber fast schmerzhaft.

Autor

Dawn Atkins
Obwohl es immer Dawn Atkins’ größter Traum war, Autorin zu werden, war sie nicht sicher, ob sie wirklich den Funken Genialität besaß, den es dazu braucht. So wurde sie zunächst Grundschullehrerin und fing dann allmählich an, für Zeitungen und Zeitschriften Artikel zu verfassen. Schließlich gab sie ihre Arbeit an der...
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