Du bist alles

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Die Vorgeschichte von Kara und Cameron aus »Du bist mein Feuer«

Seit dem Zusammentreffen mit ihr bin ich dieser temperamentvollen Frau verfallen. Nie zuvor habe ich so empfunden. Ich brauche sie wie die Luft zum Atmen. Aber wir können nicht zusammen sein. Auch wenn ich in Karas Augen dasselbe verzehrende Feuer entdecke, das auch in mir lodert. Egal, wie sehr ich mich danach sehne, sie zu berühren - ich muss mich von Kara fernhalten. Denn es gibt Dinge aus meiner Vergangenheit, die sie nicht über mich weiß, die sie nie erfahren soll. Dinge, vor denen ich sie schützen muss. Und wenn ich erneut schwach werde, ist alles um uns herum verloren.

»Mit ihrem neuen Roman und einer Protagonistin, die mit frechem, schlagfertigen Mundwerk ausgestattet ist, gewinnt Isabelle Ronin die Leserin sofort für sich.«
EKZ Bibliotheksservice

»Langsam und gefühlvoll baut sich die Beziehung zwischen Caleb und Veronica auf, die genauso süß wie zerbrechlich ist.«
Romantic Times Book Reviews über »Du bist mein Feuer«

»Ich habe diese Geschichte so sehr gewollt.« Leserstimme auf Wattpad

»Isabelle, du bist unglaublich.« Leserstimme auf Wattpad

»Ich liebe diese Geschichte einfach!« Leserstimme auf Wattpad


  • Erscheinungstag 01.02.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783955769062
  • Seitenanzahl 285
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Kara

Ich war drauf und dran, einen großen Fehler zu begehen.

Es wäre nicht das erste Mal, dass das passierte, würde aber auch nicht das letzte Mal sein. Sämtliche Gründe, die dagegensprachen, waren mir sonnenklar. Auch der Schmerz, der sich zwangsläufig aus dem ergeben würde, was ich im Begriff war zu tun, war mir mehr als vertraut, doch das hielt mich nicht davon ab.

Ich senkte die Lider, zählte im Stillen bis drei und schnupperte ausgiebig. Dann nahm ich einen Bissen der superkäsigen vegetarischen Lasagne, die es einmal in der Woche in der Mensa gab.

»Mhhh.« Ich seufzte hingebungsvoll und genoss den cremigen, salzigen, süchtig machenden Käsegeschmack in meinem Mund. Die weichen Nudeln. Das war meine Belohnung dafür, dass ich mich in dieser Woche so mustergültig verhalten hatte, und ich verdiente …

»Warum tust du dir das an?«

Ich machte die Augen wieder auf. Meine beste Freundin Tala stand vor mir, in ihrer vollen Größe von knapp einem Meter fünfzig und mit einem enttäuschten Ausdruck im hübschen Gesicht. Sie legte ihre Bücher auf den Tisch, warf ihre Tasche auf den Boden und setzte sich.

Ich grinste und schob mir einen weiteren Bissen in den Mund.

»Du bist laktoseintolerant«, erinnerte sie mich überflüssigerweise und schaute mir beim genießerischen Kauen zu.

Ich leckte mir den warmen Käse von den Lippen und stöhnte.

»Ich hatte einen beschissenen Vormittag bei der Arbeit, deshalb belohne ich mich mit dieser käsigen Perfektion.«

»Ich weiß, dass du jetzt glücklich bist.« Sie öffnete ihre Handtasche und holte eine quadratische, über und über mit Bildern süßer Kätzchen beklebte Plastikbox heraus. Der Duft von Kräutern stieg auf, als sie ihr Lunchpaket öffnete. »Hast du vergessen, was beim letzten Mal in Professor Balajadias Seminar passiert ist?«

Angewidert verzog ich das Gesicht. »Ich habe die Tabletten genommen.«

Sie schüttelte den Kopf und nahm aus ihrer Tasche eine Serviette, in die Löffel und Gabel eingewickelt waren – sie benutzte stets beides beim Essen. »Du weißt doch, dass die bei dir nicht wirken.«

Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. »Du verdirbst mir gerade den ganzen wundervollen Augenblick. Und willst du das da nicht erst in der Mikrowelle aufwärmen?« Ich zeigte mit meiner Gabel auf ihre Lunchbox. Heute gab es Reis Adobo.

Sie sah mich verlegen an. »Und angezeigt werden? Nein danke.«

Ich verdrehte die Augen. Um ihr zu zeigen, wie gern ich sie habe, verschob ich das romantische Date mit meiner Lasagne, schnappte mir ihre Lunchbox und ging schnurstracks zur Mikrowelle. Davor standen nur drei Leute Schlange. Jackpot.

Talas Mom bereitete ihr immer das Mittagessen zu, meist Reis und Fleisch. Wurde es in der Mikrowelle aufgewärmt, erfüllte der durchdringende Duft den ganzen Raum. Ich weiß noch, wie sich die Leute beim ersten Mal, als sie ihr Essen in der Campus-Mensa aufwärmte, darüber beschwerten, dass der Geruch nicht mehr aus der Kleidung herausging. Daher hat sie es nie wieder gemacht.

Aber das hier war ja schließlich die Mensa. Wo sonst sollte sie ihr Essen aufwärmen? In der Sonne? Ich wollte nicht, dass sie wegen ihres Lunches ein schlechtes Gewissen hatte. Die Leute mussten sich einfach damit abfinden.

Ich habe Tala als Studienanfängerin auf dem College kennengelernt. Wir hatten denselben Wirtschaftskurs belegt. Eine Kommilitonin lästerte fies über Talas Figur, hielt ihr vor, sie sei übergewichtig. Ich reagierte angemessen auf diese Frechheit. Zwei Jahre später sind wir immer noch Freundinnen, es muss also was Echtes sein. Jedenfalls ist sie einer der besten Menschen auf diesem Planeten.

Als ich an der Reihe war, stellte ich ihr Essen für zwei Minuten in die Mikrowelle. Dreißig Sekunden später roch alles nach Gewürzen. Ich konnte das Gemurre in meinem Rücken hören und warf einen herausfordernden Blick hinter mich. Sollten sie ruhig wagen, etwas zu sagen.

Da sie schwiegen, drehte ich mich wieder um und starrte die Scheibe der Mikrowelle an. Nachdem die zwei Minuten um waren, riss ich die Tür auf, als hinge mein Leben davon ab. Ich hasste den Klingelton.

Warum konnten die kein einzelnes Piepen dafür verwenden? Oder meinetwegen einen netten eingängigen Song?

Ich drückte die Taste, um den Timer wieder auf Null zu stellen, zog meine Ärmel über meine Hände, um mir nicht die Finger an der Tupperdose zu verbrennen, und kehrte an meinen Tisch zurück.

»Es ist zwar nicht dein Gaspard Ulliel«, neckte ich sie; Tala ist besessen von dem Typen, »aber genieße es trotzdem.«

Sie lachte. »Schon gut, es sei dir verziehen.« Vorsichtig öffnete sie die Essensbox. »Weißt du noch, dieser süße Architekturstudent, von dem ich dir erzählt habe? Wir sind uns heute Morgen in der Bibliothek begegnet. Er hat mich angesehen«, berichtete sie. »Ich glaube, wir können zusammen Babys kriegen.«

»Oh, wirklich?« Ich blickte sie skeptisch an. »Wie mit dem angehenden Krankenpfleger, den du in Vegas heiraten wolltest?«

Sie lachte und warf ein Reiskorn nach mir.

Die Mensa füllte sich jetzt rasch. Die Neuankömmlinge schauten zu unserem Tisch herüber und versuchten abzuschätzen, wie lange wir noch hier sitzen würden, bevor sie unseren Platz haben konnten. Ich stellte mit einem von ihnen Blickkontakt her, und mein Lächeln sagte: Ich fühle mit dir.

»Man sollte meinen, dass sie uns mit den unchristlichen hohen Studiengebühren, die wir bezahlen, ein Raumschiff als Mensa bereitstellen könnten.« Ich betrachtete den wackligen Tisch und die orangefarbenen Kunststoffstühle abschätzend.

»Aber echt. Und dazu schnucklige Alien-Kellner.« Sie nahm einen Löffel Reis. »Du weißt schon – Raumschiffe? Aliens? Nur dass es sich in unserem Fall um sexy Aliens handelt«, fügte sie grinsend hinzu. Früher hat sie mir immer angeboten, ihr Essen mit mir zu teilen, bis ich ihr erklärte, dass ich kein Fleisch esse. »Wie gefällt es dir eigentlich, wieder auf dem College zu sein?«

»Gut«, antwortete ich.

Geld war nach wie vor ein Problem in unserem Haushalt, weshalb ich das College ein gutes Jahr lang unterbrochen hatte, um Dad finanziell zu unterstützen. Die finanzielle Situation wurde durch meine leidenschaftliche Liebe zu Klamotten und Make-up nicht unbedingt besser, doch ich kannte meine Prioritäten.

Ich hatte zwei Teilzeitjobs und einen Vollzeitjob: Unter der Woche saß ich am Empfangstresen unserer Autowerkstatt, die mein Dad und mein jüngerer Bruder führten, am Wochenende an der Kasse eines Coffeeshops, und Vollzeit arbeitete ich in einem Pflegeheim. Letzteres hatte ich aufgeben müssen, sowie ich mein Studium wiederaufnahm. Doch gelegentlich machte ich dort noch ein paar Schichten.

»Es ist schon eine gewisse Umstellung«, räumte ich wahrheitsgemäß ein und überlegte, ob ich meinen Teller ablecken sollte. »Doch ich werde mich daran gewöhnen. Ich habe eines der Wahlfächer für Fortgeschrittene belegt, die sie hier für Studenten ab dem dritten Semester anbieten.«

Mir kam es so vor, als hätte das Semester gerade erst begonnen und ich noch wahnsinnig viel aufzuholen. Ich hatte nichts gegen das College, allerdings zählte Studieren nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Manche Menschen wissen von Anfang an, was sie im Leben machen wollen. Na, herzlichen Glückwunsch! Ich kann euch nicht leiden.

Aber ich verneige mich vor euch, um ehrlich zu sein.

Ich jedenfalls hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich aus meinem Leben machen sollte … zumindest noch nicht. Deshalb hatte ich wie jede unentschlossene Möchtegern-Collegestudentin Betriebswirtschaft belegt. Mit einem solchen Abschluss würde ich viele Möglichkeiten haben.

»Das ist echt großartig, wirklich.« Tala kaute auf ihrer Lippe.

Ich beobachtete sie ein paar Sekunden. Ich wusste, was kommen würde. Sie war ein selbst ernanntes Medium.

Ich glaubte nicht an solche Dinge, doch ich glaubte auch nicht nicht daran. Feststand allerdings, dass ich kein besonders geduldiger Mensch war, daher fragte ich sie auf den Kopf zu: »Was ist los?«

Sie legte Löffel und Gabel hin. Hm. Offenbar war es ernst. »Hast du … heute jemand Neues kennengelernt?«

»Jemanden, der nicht blöd ist?« Ach egal, man lebt nur einmal. Ich leckte meinen Teller blitzblank. »Nee.«

»Kar!« Sie lächelte schon wieder.

Zufrieden wischte ich mir den Mund mit einer Serviette so anmutig wie möglich ab, lehnte mich zurück und tätschelte mir den vollen Bauch. »Werde ich im Lotto gewinnen?«, fragte ich trocken.

So sehr ich auch nicht beziehungsweise nicht nicht an ihre seherischen Fähigkeiten glaubte – falls sie überhaupt welche besaß –, konnte ich doch der Chance, dass etwas Aufregendes geschehen würde, nicht widerstehen. Bisher war mein Leben nämlich so aufregend gewesen wie mein leeres Bankkonto.

Ich hatte nicht mal einen Freund gehabt.

Ich gehörte zum Club der geborenen Singles. Yeah.

»Er wird dich finden«, sagte sie nach einem Moment.

»Jetzt bist du mir unheimlich. Wer wird mich finden?«

Ihr Blick schien sich in der Ferne zu verlieren, als liefe in ihrem Kopf ein Film ab. »Du wirst ihn finden. Oder er wird dich finden. Da bin ich mir nicht sicher.«

»Der Typ, dem ich Geld schulde?« Ich riss Witze, aber meine Nackenhaare richteten sich auf. Und mein verräterisches Herz machte einen Hüpfer.

»Du wirst sehen« war alles, was sie noch meinte, bevor sie ihre Sachen zusammenpackte und zum nächsten Kurs aufbrach.

Ich konnte nicht viel auf ihre Worte geben. Manchmal passierte das, was sie prophezeite, und manchmal eben nicht. Es war, als würde man eine Stripperin fragen, ob es nächste Woche regnet oder nicht. Ihre Vorhersage wäre genauso zuverlässig wie meine.

Ich beschloss, zu vergessen, was sie gesagt hatte, und wischte schnell unseren Tisch ab, bevor ich mir meinen Rucksack schnappte. Im Nu hatten zwei Mädchen die freigegebenen Plätze erobert. Ich zeigte ihnen den erhobenen Daumen.

Mir blieb noch etwa eine Stunde bis zum nächsten Seminar, die ich im Aufenthaltsbereich meiner Fakultät überbrücken wollte.

Die Korridore bestanden aus einer Glasfront auf der einen Seite, die reichlich Sonnenlicht durchließ, und einer Reihe von Spinden auf der anderen. Studenten hockten auf dem Boden oder lehnten stehend an den schmalen roten Schränken und unterhielten sich über ihre erste Studienwoche oder das neueste Smartphone. Von Austauschstudenten wusste ich, dass Spinde im College nicht in allen Ländern üblich waren. Am Esther Falls College in Manitoba, Kanada, hatten wir welche. Ich schätzte mich glücklich.

Ich blieb abrupt stehen, als mir einfiel, dass ich ja einen Ausweis vorlegen musste, um Zugang zum Aufenthaltsbereich meiner Fakultät zu erhalten. Ich zog meinen Rucksack nach vorn und kramte darin nach dem Dokument, dann schaute ich unvermittelt hoch.

Sein Haar war dunkler als Luzifers Seele.

Es ringelte sich unterhalb seiner Wangen und reichte bis zum Hemdkragen.

Mein Verstand setzte aus. Ich konnte nur noch denken: Drehen die einen Film auf dem Campus?

Wer ist das?

Er ging weiter und bekam entweder gar nichts von meiner Gefühlsaufwallung mit, oder es interessierte ihn wirklich nicht. Sein Gang war selbstsicher, als gehöre ihm das verdammte College. Breite Schultern, lange Beine.

Sein Gesicht war das eines dunklen Erzengels.

Alles an ihm war schwarz – schwarzes Shirt, schwarze Jeans, schwarze Stiefel, schwarzer Rucksack. Umso heftiger traf mich der Schock, als ich in seine Augen sah.

Sie waren von einem durchdringenden Blau.

Es war nur ein kurzer Moment – ein sehr kurzer Moment – in dem sich unsere Blicke trafen.

Aber ich wusste es dennoch.

Der größte Fehler meines Lebens war nicht die Lasagne.

Sondern er.

2. Kapitel

Cameron

»Shit.«

Ich schaute zum strahlenden Morgenhimmel rauf und schloss sofort die Augen, denn das grelle Sonnenlicht blendete mich. Ich versuchte ruhig zu bleiben. Zählte bis fünf. Funktionierte nicht. Ballte meine Hand zur Faust und biss mir auf die Fingerknöchel.

Im Schutzblech meiner Maschine war eine tiefe Delle.

Bei einer genaueren Untersuchung bemerkte ich noch weitere Kratzer überall an der Seitenverkleidung, und die Motorverkleidung war komplett ruiniert. Fahrerflucht, dachte ich zähneknirschend. Irgendwer oder irgendwas war gegen mein Bike gekracht, und wer immer das war, hatte sich immerhin die Zeit genommen, es hinterher wieder aufzustellen, bevor er vom Unfallort floh.

Vielen herzlichen Dank, Arschloch.

Ich kniete mich vor das Motorrad, strich sanft über die einst glatte Oberfläche, die jetzt völlig ramponiert war. Ich besaß dieses Gefährt schon so lange, dass es zu mir gehörte. Es war wie ein Kind für mich.

Jemand würde dafür bezahlen.

Langsam richtete ich mich auf, vor Zorn bebend. Als mein Handy klingelte, griff ich danach wie nach einer Rettungsleine.

»Ja?«

»Hey, Cam«, begrüßt mich Caleb.

»Hey.«

Ich bändigte meine Wut und versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was er sagte.

»Ich hab total verpennt«, begann er und klang, als sei er gerade erst aufgewacht. »Heute ist doch nicht Samstag, oder?«

Ich gab meinem Drang nach, an den Schrammen zu reiben, in der Hoffnung, sie würden verschwinden. »Du bist vielleicht ein Genie.«

»Das hör ich ständig.« Er zögerte kurz. »Fährst du mich zum College?«

»Stirbst du?«

»Glaub nicht.«

Ich entdeckte einen Riss auf dem Ledersitz und atmete scharf aus. »Dann nein, ich werde dich nicht fahren.«

»Mein Motorrad ist in der Werkstatt.«

Wo meins auch bald sein würde.

Er räusperte sich. »Und meinen Wagen habe ich letzte Nacht vor dem Club stehen lassen. Hab heute Morgen ein Taxi genommen.«

Er klang schuldbewusst. Das hieß, er hatte wieder mal bei irgendeiner Frau geschlafen und sich anschließend ein Taxi nach Hause genommen, statt vorher sein Auto abzuholen.

»Ich habe meine Meinung geändert«, verkündete er gedehnt. »Ich sterbe tatsächlich und …«

Was immer er sagen wollte, ging in einem Hupkonzert hinter mir unter. Ich drehte mich um und sah gerade noch, wie ein Honda Civic mit höllischem Tempo auf mich zugerast kam.

Mit einem Aufschrei sprang ich zur Seite und stieß dabei gegen mein Motorrad. Hilflos musste ich miterleben, wie es umkippte und auf den Boden krachte.

Dann hörte ich das Geräusch von Metall auf Stein.

Das war mein Seitenspiegel.

Ich riss entsetzt den Mund auf, brachte aber keinen Laut heraus.

Ich beobachtete, wie der Civic mit kreischenden Bremsen zwei Eingänge weiter zum Stehen kam. Er hielt ein paar Sekunden mit laufendem Motor und schoss dann zurück zu dem Haus, das neben meinem lag.

Ich spürte, wie ich mich körperlich für einen Kampf wappnete, und konnte die Wut bereits schmecken.

Dem Wagen entstieg eine große, schlanke kampfbereite Brünette. Sie trug eine Art Uniform – eine grüne Bluse, dazu eine Hose, und ihre langen Haare fielen ihr bis auf den Rücken. Sie marschierte zur Haustür und sah aus, als wollte sie irgendwem eine gepfefferte Predigt halten.

Sie presste ihren Finger auf den Klingelknopf, und da nach zehn Sekunden noch niemand aufgemacht hatte, fing sie an, mit den Fäusten gegen die Tür zu hämmern.

Hitzkopf, dachte ich unwillkürlich. Was für ein Hitzkopf.

Ich wohnte hier schon seit einigen Jahren, blieb aber meistens für mich und hielt mich besonders von meinen Nachbarn fern. Leute interessierten mich nicht. Warum das Leben unnötig verkomplizieren?

Ich hatte daher keine Ahnung, wer dort wohnte, war mir aber sicher, dass sie diese bedauernswerte Person glatt zum Frühstück verspeisen wollte.

Endlich wurde die Tür geöffnet, und ein alter gebrechlicher Mann mit Gehstock kam heraus. Er sah aus, als könnte ein Windstoß ihn umwerfen. Er trug ein kariertes Hemd, dazu Hosenträger und eine Boxershorts, als hätte er vergessen, seine Hose anzuziehen, bevor er an die Tür ging. Was angesichts der frühen Stunde nicht wirklich überraschend war.

Was in aller Welt konnte sie von dem armen alten Kerl wollen?

Ich sah ihr an, dass sie nicht erwartet hatte, dass er die Tür öffnen würde. Zögernd machte sie einen Schritt zurück. Ich konnte nicht hören, was sie redeten, doch sie schien sich zu entschuldigen. Und dann zeigte der alte Mann auf das Haus nebenan.

Offenbar hatte sie sich in der Adresse geirrt.

Ich musste lachen.

Mit zerknirschter Miene und gesenktem Haupt trat sie den Rückzug an. Als sie wieder aufschaute, hatte sich der Ausdruck in ihren Augen von schuldbewusst zu feurig gewandelt. Interessant.

Sie war groß und schlaksig, ohne Kurven. Ich konnte ihr Gesicht nicht deutlich erkennen, doch nach allem, was ich sah, war es eher unscheinbar: unauffällige Augen, kleine gerade Nase, blassrosa Lippen. Ihr Haar war allerdings etwas Besonderes: voll und glänzend, und im Sonnenlicht mischten sich honigblonde Strähnen unter das warme Braun.

Sie war nicht mein Typ, da war ich mir sicher. Warum also faszinierte sie mich dermaßen?

Sie ballte die Fäuste, als wollte sie irgendwen boxen. Sie bewegte sich zielstrebig und wirkte bewusst einschüchternd. Wer auch immer ihre Wut auf sich gezogen hatte, würde nichts zu lachen haben.

Sie mochte keine klassische Schönheit sein, doch das war aus der Entfernung schwer zu beurteilen. Feststand, dass sie auffiel wie eine Nonne im Hungerstreik.

Unwillkürlich musste ich grinsen. Ich wollte sehen, was passierte.

Ihr Blick fiel kurz auf mich, und ich schwöre bei Gott, dass es mich durchfuhr, als hätte man mir einen Stromstoß versetzt. Ich wusste, dass ich diesen Moment für den Rest meines Lebens nicht mehr vergessen würde. Mein ganzer Körper erstarrte. Ich hatte Angst, dass sich das Ganze als Traum entpuppen würde, sobald ich mich rührte.

Bevor sie auf den Klingelknopf drücken konnte, rief ihr jemand etwas von der Seite des Hauses zu. Sie stutzte, dann drehte sie sich quälend langsam zu der Person um. Ich hatte diese ebenfalls noch nicht gesehen, da meine Augen einzig und allein auf den Hitzkopf gerichtet waren.

Die Frau war hypnotisierend und beängstigend wie eine große Flutwelle mitten im Meer, auf dem friedlich dein Rettungsboot trieb. Sie taucht wie aus dem Nichts auf, verschluckt dich und löscht jede Spur von dir hier auf Erden aus.

Und sie hielt meine Aufmerksamkeit komplett gefangen.

Ihr Mund bewegte sich, ihre Oberlippe verzog sich zu einem spöttischen Ausdruck. Sie formte mit den Lippen etwas Unverständliches, und ich wollte mehr sehen, mehr hören. Reflexartig lief ich auf sie zu. Ich war noch nie in Trance gewesen, doch so musste sich das wohl anfühlen.

Weit gehen musste ich nicht, da sie quer über die Auffahrt auf ihr Opfer zumarschierte, noch immer brüllend und wütend gestikulierend.

Habe ich sie eben wirklich für eher unauffällig gehalten? dachte ich, sie unverwandt anschauend.

Sie war fantastisch. Stark. Beeindruckend.

Ihre Augen glühten wie Holzscheite im Feuer und schossen tödliche Blitze.

»Du verdammter Piranha«, stieß sie zischend hervor, und ich löste den Blick von ihr, um herauszufinden, wen sie da gerade in der Luft zerriss. Erschrocken stellte ich fest, dass es sich um einen Typen handelte, der groß wie ein Haus war, mit einem Nacken, so breit wie ihr Oberkörper. Außerdem behaart wie Chubaka.

Was zum Teufel hatte sie vor? Litt sie an Todessehnsucht?

Ich wollte ihr zu Hilfe eilen und überlegte bereits, wie ich diesen Kerl am besten aufhalten könnte. Er war schwer, also würde er langsam sein. Ich konnte sein Gewicht gegen ihn einsetzen. Wahrscheinlich würde ich ein paar Zähne verlieren und eine gebrochene Nase davontragen.

Sie bohrte ihm den Finger in die Brust und schrie ihm ins Gesicht: »Erinnerst du dich an den Typen, den du schikaniert hast? Der hier war, um die Rechnung der Autowerkstatt bei dir einzutreiben? Das war mein Bruder, du verdammter Idiot!«

Es schien nicht, als bräuchte sie Hilfe. Der Kerl wich zurück und hob abwehrend die Hände. Außerdem sah er aus, als sei er schon allein deshalb bereit, sich ihren Mist anzuhören, um sie in aller Ruhe anglotzen zu können.

Ich biss die Zähne zusammen. Sollte ich mich doch einmischen? Es machte nicht den Eindruck, sie wäre in Gefahr. Ich lehnte mich an einen geparkten Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete die Szene wachsam. Falls nötig, wäre ich innerhalb von fünf Sekunden bei ihnen.

»Hör mal, Süße, dein Bruder schuldet mir Geld. Von mir kriegst du jedenfalls keinen Cent!«

Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, als wollte sie ihn wie ein Insekt zerquetschen. »Hör genau zu, Kartoffelgesicht, denn ich werde mich nicht wiederholen: Was zwischen dir und meinem Bruder läuft, hat nichts mit dem zu tun, was du unserem Unternehmen schuldest. Entweder du lässt sofort die Kohle rüberwachsen, oder du trägst die Konsequenzen. Und die werden dir nicht gefallen, glaub mir.«

Er warf sich höhnisch in die Brust. »Denkst du ernsthaft, ein Hungerhaken wie du kann mir Angst einjagen?«

Mein ganzer Körper spannte sich an. Ich stieß mich vom Auto ab, bereit, den Typen zu attackieren, sobald er eine falsche Bewegung machte. Endlich nahm er mich zur Kenntnis. Ich schob die Hände in die Taschen und starrte ihn an. Er wandte sich ab.

»Oh, höchstwahrscheinlich nicht«, konterte sie. »Die Cops aber schon.« Sie hielt ihm ihr Handy direkt vors Gesicht. »Besitzt dein Hirn die Fähigkeit, dies hier als Telefon zu identifizieren? Pass auf, ich werde dir jetzt erzählen, was ich mit diesem schönen Handy tun werde. Ich rufe auf der Stelle die Bullen an und erkläre denen, dass du deinen Wagen bestens repariert zurückerhalten hast, dich aber weigerst, die Rechnung zu begleichen. Wie hört sich das an, Mr. Arschgesicht?«

Arschgesicht gefiel das offenbar gar nicht. Er lief dunkelrot an, und sein linkes Auge begann zu zucken. Er öffnete den Mund, hielt inne und warf mir erneut einen Seitenblick zu.

»Verschwinde von meinem Grundstück«, stieß er knurrend hervor. »Das ist unbefugtes Betreten.«

Er drehte sich um, marschierte zu seinem Haus zurück und warf die Tür hinter sich zu.

Ich stellte mich darauf ein, dass sie sich abwandte und mich bemerkte. Aber sie stand nur da, mit geballten Fäusten. Ich konnte ihre Wut und ihre Frustration förmlich spüren.

Ich wollte etwas sagen, doch sie lief zu ihrem Auto. Ich sprang hinter den Wagen neben mir, nur für den Fall, dass sie auf dumme Gedanken kommen würde.

Mit quietschenden Reifen fuhr sie los und nietete dabei zwei Gartenzwerge an der Ecke des Vorgartens um. Krachend legte sie den ersten Gang ein und raste davon.

Der Kopf einer der Porzellanfiguren rollte über die Straße und mir vor die Füße.

Ich schaute dem kleinen Honda hinterher, bis er um die nächste Ecke verschwand.

Wow … einfach nur wow.

Ich musste sie wiedersehen … oder sterben.

Doch zuerst musste ich mich um etwas kümmern. Ich drückte auf den Klingelknopf und wartete auf Arschgesichts Veranda. Er wirkte angriffslustig, während er die Tür aufmachte, doch das änderte sich, sobald er mich sah.

Er hatte wohl mit ihr gerechnet. Ich verkniff mir ein Grinsen.

»Hey«, sagte er und blockierte den Türrahmen.

Das konnte ich ihm nicht verdenken. Andere Menschen waren mir gegenüber meist auf der Hut. Mein bester Freund Caleb vertrat die Meinung, dass es an meiner Größe lag. Ich überragte fast alle anderen Leute. Ich war schlank, aber dem Training im Fitnessstudio und den Abrissarbeiten für einen Freund hatte ich ganz nette Muskeln zu verdanken. Mein Freund sagte außerdem: »Manchmal, wenn du so still und düster wirst, kriegst du diesen Gesichtsausdruck, der die Leute einschüchtert. Du schaust sie an, als könntest du in sie hineinsehen. Du hast keine Angst, das macht dich für sie schwer einschätzbar. Die Leute fürchten dich. Das ist echt cool. Wie Batman, Mann.«

Ich wusste, wie grausam und gemein die Menschen hinter ihren Masken sein konnten. Ich konnte genauso sein, falls es nötig war. Und ich hasste es. Vielleicht fühlte ich mich deshalb so hingezogen zu dieser Frau. Sie verbarg nichts. Sie war so … echt.

»Du bist der Typ, der gegenüber wohnt, richtig? Der mit dem coolen Bike.«

»Ja.«

Er kratzte sich am Kopf. »Hör mal, ich will keinen Ärger.«

Ich nickte und versuchte, freundlich zu erscheinen. »Dachte ich mir. Siehst du meine Maschine da drüben?« Ich wies mit dem Daumen über meine Schulter.

Er verlagerte sein Gewicht und machte große Augen, sowie er mein Bike entdeckte. »Mann, was ist passiert?«

Ich setzte die traurigste Miene auf, die mir zur Verfügung stand. »Sie ist passiert.«

Seine Kinnlade klappte herunter. »Du meinst, sie hat das getan?«

Ernst blickte ich ihn an. Weder bestätigte ich seine Schlussfolgerung, noch bestritt ich sie. Streng genommen, hatte sie es getan. »Möglicherweise habe ich vergessen, meine Rechnung zu bezahlen.«

Er seufzte und kratzte sich den Bart. »Es waren doch nur hundertdreißig Mäuse, Mann.«

Ich zuckte mit den Schultern. Was für ein saudämlicher Idiot. »Bei mir waren es nur fünfzig.«

»Oh, shit.« Ich konnte praktisch zusehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. »Ich will wirklich keinen Ärger. Morgen kommt meine Frau zurück.«

»Ich hab von einem anderen Typen gehört, der ihr Geld schuldete, dass sie seinen Arbeitgeber, seine Eltern, die Großeltern, seine Freundin und die Nachbarn mehrmals am Tag angerufen hat. Die hat ihn gestalkt, bis er es nicht mehr aushielt und bezahlte.«

Er machte ein entsetztes Gesicht. »Verdammt.« Er ließ den Kopf hängen. »Dann bezahle ich diese Rechnung wohl lieber.«

Ich war komplett erfüllt von den Gedanken an sie, weshalb mir erst auf dem Weg zum Fitnessstudio einfiel, dass ich gar nicht wusste, wo sie arbeitete. Ich könnte Mr. Arschgesicht fragen, aber dann würde ich leider auffliegen und er sie möglicherweise doch nicht bezahlen.

Verdammter Mist. Wie um alles in der Welt sollte ich sie finden?

Mein Handy vibrierte, als ich gerade meine Sachen in den Spind im Fitnessclub räumte. Es war mein Dad. Als wäre ich darauf konditioniert, stellte ich mich körperlich auf einen Kampf ein. Groll stieg in mir auf. Was zur Hölle wollte er? Ich ignorierte den Anruf und knallte die Spindtür zu. Ich wusste nicht, wie lange ich dort stand, vor mich hinbrütend und in Gedanken wieder in diesem verhassten Haus. Dann schüttelte ich den Kopf, um wieder klar denken zu können, und machte mich auf den Weg zum Pool.

Es war noch immer früh, daher hatte ich das Becken ganz für mich. Genau das gefiel mir: Ich war allein.

Ich setzte meine Schwimmbrille auf, hob die Arme und streckte mich ausgiebig, ehe ich kopfüber ins Wasser sprang. Sobald es mich umgab und alle Geräusche ausblendete, entspannte ich mich.

Ich glitt durchs Wasser und sah sie im Geiste vor mir. Ich lächelte.

Ich bedauerte, ihr nicht so nah gekommen zu sein, dass ich die Farbe ihrer Augen hatte erkennen können. Sie könnten grün oder braun gewesen sein, ich war mir nicht sicher.

Und ihre Beine. Himmel. Dieses Mädchen hatte lange, lange Beine. Ich fragte mich, wie die wohl in einem Kleid aussahen. Oder in einer engen Jeans.

Sie war furchtlos und geradezu waghalsig, einen Mann zu attackieren, der viermal so massig war wie sie. Ich stieß mich von der Poolwand ab, schwamm eine weitere Bahn und lachte bei der Erinnerung daran, wie sie diese Gartenzwerge überfuhr. Natürlich schluckte ich Wasser.

Nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, setzte ich meine Bahn fort.

War es wirklich so überraschend, dass ich mich zu ihr hingezogen fühlte? Die meisten Leute, die ich kannte, verdrängten alles und nahmen es hin, bis ihnen all die Zurückweisungen und Enttäuschungen zu viel wurden. Das machte sie unerträglich. Den Großteil meines Lebens habe ich selbst nichts anderes gekannt. Ich war genauso. Und ich habe es gehasst.

Mich selbst auch.

Ich erreichte die gegenüberliegende Wand, stieß mich ab und schwamm eine weitere Bahn. Und dann noch eine. Und noch eine.

Nach einer kurzen Dusche zog ich rasch mein schwarzes T-Shirt und die Hose an und schlüpfte in meine Stiefel. Danach warf ich mir den Rucksack über die Schulter und lief hinaus auf den Parkplatz vor dem Fitnessstudio.

»He, Süßer«, hörte ich ein Mädchen hinter mir rufen. Ich ging weiter.

»Verdammt«, murmelte ich, nachdem die Online-Recherche nach einer Werkstatt in Esther Falls über hundert Treffer ergab. Wie sollte ich sie bloß finden?

Ich grenzte die Suche auf meine eigene Gegend ein, und das reduzierte die Auswahl schon deutlich. Anschließend reduzierte ich die Trefferquote weiter, indem ich nur Familienunternehmen berücksichtigte. Da sie persönlich aufgetaucht war, um das Geld von Mr. Arschgesicht einzufordern, gehörte die Werkstatt vermutlich ihrer Familie. Vielleicht oder vielleicht auch nicht.

Ich musste mein Motorrad ohnehin reparieren lassen, also schlug ich auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe. Das war nur vernünftig. Keine große Sache.

Der Gedanke an mein ramponiertes Motorrad machte mich prompt sauer. Ich musste immer noch herausfinden, wer das getan hatte. Der wird dafür büßen müssen, dachte ich, stieg in meinen Wagen und fuhr zum Campus.

Ich machte das Fenster ein Stück herunter, um kühle Luft reinzulassen, schaltete das Radio ein und drehte die Lautstärke auf.

Ich fragte mich, wie es wohl wäre, wenn sie hier neben mir im Auto säße. Ich stellte mir vor, wie sie sich aufrichtete, um durch das Schiebedach zu schauen. Das Grinsen auf meinem Gesicht kam mir dämlich vor, aber das war mir egal.

Ich parkte und erwog kurz, einfach sitzen zu bleiben, bis die Mittagspause vorbei war. Ich mochte Menschenansammlungen nicht und mied sie, wann immer mir das möglich war. Doch nach dem Sport war ich durstig, und ich musste meinen Flüssigkeitshaushalt ausgleichen.

Ich nahm zwei Stufen auf einmal und schlug den Weg zur Mensa ein, um mir etwas zu trinken zu besorgen. Als ich die vielen Leute auf dem Gang entdeckte, verlangsamte ich meine Schritte und bemühte mich gar nicht erst, zu verbergen, wie genervt ich war. Wie gerne wäre ich woanders gewesen.

Ich kramte in meinem Rucksack nach den Kopfhörern, aber es dauerte mir zu lange, deshalb gab ich es auf. Ich fragte mich, ob Caleb schon auf dem Campus war. Zwar hatte ich ihn nicht zum College mitgenommen, aber der Kerl hatte bestimmt eine seiner Freundinnen dazu bewegen können, ihn abzuholen. Normalerweise hielt er sich auf dem Gang beim Team auf oder mit irgendwelchen Mädchen in einem der Aufenthaltsbereiche.

Ich hielt Ausschau nach ihm – und erstarrte. Da war sie – Hitzkopf! Ich wollte gerade ein zweites Mal hinsehen, da zog jemand von hinten an meiner Jeans. Im letzten Moment hielt ich meinen Hosenbund fest und wirbelte herum.

»Du Arsch«, brüllte ich, während Caleb in Gelächter ausbrach.

Ich boxte ihn gegen den Arm und wandte mich wieder um. Aber sie war fort.

Ich hätte schwören können, dass ich sie gesehen habe.

»Danke, dass du mich nicht abgeholt hast«, sagte Caleb. »Vielen Dank, Kumpel.«

War das wirklich sie gewesen, oder hatte mir meine Fantasie einen Streich gespielt? Mann, es hatte mich echt erwischt. Ich atmete scharf durch die Nase aus und schüttelte den Kopf über diese lächerliche Angelegenheit.

»Wen suchst du?«, wollte Caleb wissen. Er schob die Hände in die Taschen, neigte den Kopf zur Seite und musterte mich. Das tat er für gewöhnlich, wenn er etwas zu durchschauen versuchte.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Hm. Das ist eine Acht«, bemerkte er anerkennend, als eine Blondine vorbeiging und ihn anlächelte. Caleb hatte eine Schwäche für Blondinen.

Wir machten so was, um uns die Zeit zu vertreiben, doch heute war ich nicht in der Stimmung dafür. Nicht, wenn sie mir noch im Kopf herumspukte.

Was zur Hölle passierte mit mir?

»Ich brauche ein Gatorade. Bin gleich …« Ich wollte schon lossprinten, hielt aber inne, da mein Telefon klingelte. Es war mein Dad. Schon wieder. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.

Caleb warf mir einen wissenden Blick zu. »Dein Dad?«

Grimmig nickte ich und starrte mein Handy an.

»Gehst du ran?«

Ich ballte eine Faust und biss mir auf die Knöchel. Scheiße.

»Ja«, meldete ich mich knapp.

Es entstand eine Pause, ehe mein Dad etwas sagte. »Du solltest dich höflicher am Telefon melden, sonst denken die Leute, deine Mutter hätte dich nicht gut erzogen.«

In seiner Stimme schwang Enttäuschung mit. Wie üblich.

»Hat sie ja auch nicht«, erwiderte ich.

Er gab einen höhnischen Laut von sich. »Wie geht’s denn deinem Freund Rick so?« Jetzt klang er herablassend. »Bettelt er immer noch Leute um Geld an?«

Wir wussten beide, dass er mich provozieren wollte. Und wie sehr es mich traf, wenn er auf diese Weise über Rick sprach. Rick war für mich dagewesen, als ich keinen sonst mehr gehabt hatte.

»Willst du mir nicht antworten?«

Ich biss die Zähne zusammen und sagte dann so ruhig wie möglich: »Warum verrätst du mir nicht den Grund für deinen Anruf?« Damit wir beide anschließend wieder unserer Wege gehen können.

»Ich wollte mich nur mal nach dir erkundigen und hören, wie du mit deinem Studium vorankommst.«

»Sei nicht wie dein Dad, das passt nicht zu dir.«

Er lachte hohl. Er erinnerte mich an einen Vater, der mit seinem ungezogenen Kind spricht. »Deine Mutter ist wieder in der Stadt. Sie hat mich angerufen. Du musst dich noch mal mit ihr treffen und sie beruhigen, damit sie aufhört, mich zu belästigen.«

»Nein.«

Ich legte auf, schloss die Lider und presste die Finger darauf. Ich hatte keine Ahnung, wann ich meine Mom zuletzt gesehen hatte. Ich wusste nur, dass es nicht gut gelaufen war. Mein Vater wollte sich nicht mit ihr befassen und überließ das immer mir.

Ich merkte, wie mein Verstand dicht machte und der Zorn das Kommando übernahm. Ich musste mich abreagieren, sonst würde ich explodieren.

»Hey, Cameron.«

Eine flirtende Stimme. Ich machte die Augen wieder auf und sah Lydia vor mir.

»Hast du heute Abend schon was vor, Cam?«, erkundigte sie sich und klimperte vieldeutig mit den Wimpern. »Meine Eltern sind nicht zu Hause, und …«

Ich umfasste ihr Handgelenk. »Ich habe schon jetzt nichts mehr vor«, erklärte ich. »Gehen wir.«

3. Kapitel

Kara

Ihm zu begegnen, war ein Fehler.

Ein wunderschöner Fehler.

Der scharfe Schwung seines Kiefers.

Sein Hals.

Die Form seines Mundes.

Sein Mund.

Seine langen Arme.

Sein Mund.

Er hatte die Augen eines Löwen, unter schweren Lidern und durchdringend – auf eine Weise, die einem das Herz rasen ließ, wenn er einen auch nur für eine Sekunde ansah. Es bluten ließ, wenn er einem keine Beachtung schenkte.

Zunächst dachte ich, diese intensiven blauen Augen wären kalt und abgeklärt. Doch es lag ein irgendwie trauriger Ausdruck in ihnen.

Und genau diese Traurigkeit weckte in mir den Wunsch, länger hinzuschauen, weckte dieses Verlangen in meinem wissbegierigen Herzen.

Ich will wissen, warum er traurig ist.

Ich will, dass er es mir erzählt.

Ich will schön genug sein, um mit ihm zusammen zu sein.

Dieser letzte Gedanke riss mich aus meinem Tagtraum, als hätte man mir einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gekippt. Ich sah, wie sein Freund sich von hinten an ihn heranschlich, um ihm die Jeans herunterzuziehen.

Kaum hatte er sich umgedreht, setzte ich meine Kapuze auf und lief in die andere Richtung davon. Mein Gesicht glühte.

Was zum Teufel habe ich mir eingebildet. Schön genug für ihn?

Auf keinen Fall würde ich zulassen, dass mich wieder die gleichen Unsicherheiten plagten wie in meiner Kindheit. Schöne Gesichter hatten keinerlei Wirkung auf mich.

Na ja, doch, hatten sie schon, um ehrlich zu sein.

Aber nicht so! Nicht auf eine Weise, die in mir den Wunsch weckte, jemand anderes sein zu wollen. Nicht noch einmal.

Was also hatte er an sich?

Ich beschloss, ihn nicht zu mögen.

Tatsächlich hoffte ich, ihn nie wiederzusehen. Ich sollte nicht an einen Jungen denken, der mir ohnehin keine Beachtung schenkte und dem ich normalerweise auch keine Beachtung schenken würde.

Ich war mir sicher, dass ich auf seinem Radar nicht auftauchte.

Das Mädchen auf dem Gang machte einen großen Bogen um mich und warf mir einen nervösen Blick zu, ehe es um die Ecke verschwand.

Ich verdrehte die Augen. Mir wurde ganz komisch.

Kaum dachte ich das, krampfte sich auch schon mein Magen zusammen.

Verdammter Mist.

Den unnatürlichen Geräuschen nach zu urteilen, die mein Magen von sich gab, würde ich leiden.

Ich wusste es. Ich hatte es gewusst. Und rein rational sah ich ein, dass ich es verdient hatte, weil ich dermaßen gierig gewesen war.

Die Schlange reichte bis vor die Tür zur Toilette. Es war fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn, und alle wollten noch mal schnell gehen.

Idioten. Alle waren Idioten. Ich würde sämtliche Toilettentüren fünf Minuten vor dem Weltuntergang abschließen, damit keiner mehr rein konnte. Hinterher würde ich mich darüber schlapp lachen. Leider war jetzt nicht hinterher und meine Lage ziemlich ernst.

Mir blieb keine andere Wahl. Ich musste zur Toilette im zweiten Stock gehen. Besser gesagt, zum Vögel-Klo im zweiten Stock.

Die Studenten hatten dem stillen Örtchen diesen bezeichnenden Spitznamen gegeben, weil Paare sich dorthin zurückzogen, um … na ja, zu vögeln. Man musste drei Treppen hinauflaufen und dann über einen langen Gang gehen. Niemand, der noch bei Verstand war, würde diesen umständlichen Weg auf sich nehmen, nur weil er musste.

Niemand außer mir.

»Oh, shit!«

Ein heftiger Krampf, der mir durch und durch ging. Ich klammerte mich am Treppengeländer fest und atmete tief durch, wobei ich den Unterarm auf die klamme Stirn gelegt hatte.

»Du schaffst das. Du bist stahlhart.«

Ich stieß mich vom Geländer ab, presste die Pomuskeln zusammen und rannte. Ich hörte den Widerhall meiner Schritte, spürte den kalten Schweiß an meinem Gesicht hinunterlaufen.

Keuchend erreichte ich die Toilettentür und wäre beinah gestürzt, weil ich es so eilig hatte, aufs Klo zu kommen. Ich drückte die erste Kabinentür auf und musste mich nicht länger zusammenreißen.

Plötzlich hörte ich, wie die Tür geöffnet wurde, gefolgt von Stöhnen und dem Geraschel von Klamotten. Es hörte sich an, als wollte da irgendwer zur Sache kommen, auf dem Boden der Toilette.

»Du fühlst dich so gut an, Cam«, säuselte eine sinnliche weibliche Stimme.

Prrrrrrtttttt!

Das war ich. Pupsend. Und wie.

Stille.

Dann hörte ich erneutes Geraschel, als würden die beiden sich schnell wieder anziehen, gefolgt vom neuerlichen Öffnen und Schließen der Toilettentür.

Zum Glück waren sie weg.

Ich beeilte mich und versprühte anschließend ein bisschen Parfüm, damit die nächste arme Seele nicht meinem Gestank ausgesetzt sein würde. Ich wusch mir gründlich die Hände, zog meinen Lippenstift nach, trat hinaus auf den Gang und blieb wie angewurzelt stehen.

Da war er, mit seinen intensiven blauen Augen und den pechschwarzen Haaren.

Er lehnte an der Wand gegenüber der Toilette, heiß wie der Teufel und doppelt so gefährlich. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und einen Lolli im Mund.

Seine Augen weiteten sich, als er mich sah. Wir standen uns eine gefühlte Ewigkeit gegenüber und starrten einander an.

Dann … grinste er.

4. Kapitel

Kara

Mein Hirn war leer. Komplett leer.

Es war, als würde man versuchen, sich einen Film online anzusehen, und plötzlich stockt das Bild, und ein Text erscheint: Ihr Gehirn lädt 7 % …

Er lehnte an der Wand und beobachtete mich mit diesem wundervollen schiefen Lächeln. Träge bewegte er die Schultern, als hätte er alle Zeit der Welt, und nahm den roten Lolli aus dem Mund.

Es war einer dieser flachen runden Lutscher, die in der Mensa verkauft wurden, und ich war erstaunt, dass er die mochte.

Tiefblaue Augen waren auf mein Gesicht gerichtet. Ich hörte mich selbst schlucken.

Langsam öffnete er die Lippen und schob sanft den Lolli wieder hinein, doch anstatt daran zu lutschen, hielt er ihn zwischen den Zähnen fest.

Und biss zu.

Knirsch.

Ich spürte es bis tief in mein Innerstes.

Ich sah seine vom Lolli rot gefärbte Zunge.

Bald, dachte ich, ist mein Mund total ausgetrocknet.

Er war fertig mit dem Lolli und warf den Stiel hinter sich. Ich dachte, dass er mich unmöglich noch intensiver fixieren konnte.

Aber ich irrte mich. Ein gefährliches Funkeln flackerte in seinen Augen auf.

O-oh.

Seine ersten an mich gerichteten Worte lauteten: »Dein Pupser war so heftig, dass er mich glatt umgehauen hat.«

Ich verschluckte mich und schnappte nach Atem.

In meiner Kehle brannte ein Schrei, wie der eines gefangenen Tieres. Eigentlich neigte ich nicht dazu, sprachlos zu werden. Ich hatte immer etwas zu sagen, doch in diesem Moment wünschte ich mir, dass sich der Himmel öffnete und ich ins All gebeamt wurde.

Seine Lippen zuckten. »Du schuldest mir was, Hitzkopf.«

Hitzkopf? Darauf sollte ich etwas sagen. Ich wusste, dass da irgendeine Erwiderung in meinem Kopf herumschwirrte, aber wo zur Hölle war sie?

Lädt 7,001 % …

»Wie heißt du?«, fragte er, mich weiter musternd, weiter so konzentriert mein Gesicht betrachtend.

Ich schluckte erneut. Versuchte zu sprechen. Nichts.

Jetzt funkelten seine Augen belustigt; diese großen tiefblauen Augen, an deren Winkeln sich Lachfältchen bildeten. Dann senkte er den Blick, als könnte er seine Belustigung nicht länger unterdrücken, hob die Faust an seinen wunderschönen Mund und … biss er sich etwa auf die Knöchel?

Oh, Gott. Warum ist das so sexy?

Wieder schaute er mir in die Augen.

Ich glaube, ich werde feucht.

»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, neckte er mich.

Hätte jemand anderes mir diese Frage gestellt oder hätte ich meine Schlagfertigkeit nicht vorübergehend eingebüßt, wäre die betreffende Person von mir zum Frühstück verspeist worden.

Aber das ging nicht. Mein Akku war leer, und ich musste ihn erst wieder aufladen.

»Verrat es mir.«

Er schien mir nicht der Typ zu sein, der »bitte« sagen konnte, ohne sich dabei höchst unbehaglich zu fühlen. Doch irgendwie hörte ich es aus seiner Stimme heraus.

Sag mir deinen Namen. Bitte.

»K… Kara«, stammelte ich. Meine eigene Stimme klang schwach. »Kara«, wiederholte ich, diesmal fester.

Ein erbärmlicher Versuch, mich wieder zu fangen.

Ich hatte das Gefühl, als seien meine Augen weit aufgerissen. Hatte ich überhaupt schon geblinzelt?

Ich versuchte es, doch meine Lider wollten nicht. Stattdessen sah ich ihn unverwandt an und speicherte alles in meinem Kopf ab.

Wie seine schwarzen Haare im Sonnenlicht fast bläulich schimmerten.

Wie er seinen Kopf neigte und die seidigen schwarzblauen Strähnen sein Gesicht streiften und ihm in die Augen fielen.

Wie er sich an die Wand lehnte … in genau der richtigen lässigen Art.

Er war groß. Mann, war er groß. Schlank, aber muskulös. Wie ein Schwimmer. Seine Schultern waren breit, sein Oberkörper verjüngte sich zu einer schmalen Taille.

»Und deine Nummer?«, erkundigte er sich.

Diesmal schwang kein »Bitte« in seinem Ton mit. Das war ganz schön dreist und selbstbewusst.

Ich gab sie ihm.

Sein Grinsen war frech. Er sah aus wie ein Junge, der mit irgendeinem Streich davongekommen war.

Was machte ich da bloß? Das sah mir doch überhaupt nicht ähnlich. Irgendwer hatte Besitz von meinem Körper ergriffen.

Er hatte mich jeglicher Kraft beraubt. Ich musste hier weg. Doch meine Beine wollten sich absolut nicht bewegen. Diese Verräter!

Er stieß sich von der Wand ab und richtete sich auf. Für einen Moment stieg Panik in mir auf. Nicht, weil ich Angst vor ihm hatte. Ich fürchtete mich vor dem, was ich tun würde.

Er kam auf mich zu, näher und näher. Dabei sah er mich allerdings gar nicht mehr an, sodass ich mich schon fragte, ob das ein Test war. Ein Spiel.

Leicht lächelnd lief er dicht an mir vorbei, nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Unwillkürlich schloss ich die Augen.

Und dann … spürte ich eine hauchzarte Berührung an meinem Handrücken. Federleicht, als strichen Schmetterlingsflügel über meine Haut.

Ich machte die Augen wieder auf. Hielt den Atem an und blickte nach unten. Es war, als würde man sich etwas in Zeitlupe anschauen. Wir standen Seite an Seite, in entgegengesetzte Richtungen gewandt. Langsam und zärtlich streifte seine Fingerspitze meine.

Ich fühlte, wie er den Kopf ein klein wenig zu mir herunterbeugte, spürte seine Körperwärme, atmete seinen männlichen Duft ein.

Und dann war er fort.

5. Kapitel

Kara

Kaum war ich zu Hause, marschierte ich auf direktem Weg ins Badezimmer. Diesmal jedoch nicht, um mich zu entleeren.

Ich saß voll bekleidet in der Badewanne, ohne Wasser, das Kinn auf den Knien, die Hände im Nacken. Ich starrte auf die gelben Flecken, die ich nie wegbekam, egal wie gründlich ich die Wanne schrubbte, und ließ meinen Gedanken freien Lauf.

Es war still bis auf das Plitsch, Plitsch, Plitsch aus dem Wasserhahn. Und wenn ich genau hinhörte, konnte ich auch das schwere Ticken der unheimlichen Standuhr im Wohnzimmer hören. Die musste mal wieder richtig aufgezogen werden oder, meiner Ansicht nach, einfach rausfliegen. Leider liebte mein Dad es, Plunder zu sammeln – nützliches Zeug, wie er das nannte –, und deshalb blieb sie, wo sie war.

Wenn Damon hier wäre, mein Freund seit Kindertagen, hätte sich das mit dem Ticken erledigt. Er war ein ziemlich guter Handwerker, unter anderem.

Nur war er eben nicht hier. Seiner letzten Nachricht zufolge war er in British Columbia. Und tat dort wer weiß was.

Ich hob den Blick von meinen Füßen zum anderen Ende der Badewanne, wo ich mein Handy hingelegt hatte. Das dunkle Display verspottete mich. Ich starrte es an wie meinen Erzfeind.

Ich sollte es ausschalten.

Warum machte ich das nicht einfach?

Und, oh Gott. Er hatte meinen Pupser gerochen. Meinen lauten Pupser.

Ich schlug mir die Hände vors Gesicht, hauptsächlich vor den Mund, und schrie. Qual. Es war die reinste Qual. Wenn ich daran dachte, dass ich nur Minuten, bevor er mich im Flur vor der Toilette sah, von ihm fantasiert hatte … oder vielmehr: bevor er mich auf der Toilette gehört hatte …

Mist.

Warum hatte er nach meinem Namen gefragt? Und nach meiner Nummer? Er konnte unmöglich an mir interessiert sein … oder?

Die viel größere Frage lautete jedoch: Warum, um alles in der Welt, habe ich ihm beides gegeben?

Ich dachte an die Art, wie er mich nach meinem Namen gefragt hatte. Es war mehr ein Flüstern gewesen. Als ginge es um ein Geheimnis, das er unbedingt wissen wollte. Und in seiner Stimme schwang eine Spur Verzweiflung mit.

Verrat es mir.

Sag mir deinen Namen. Bitte.

Wie hätte ich mich da verweigern können?

Ich kniff die Augen zu. Warum? Warum wollte er das wissen?

Als er nach meiner Nummer fragte, klang er so dreist, so selbstbewusst, als hätte er das Kommando. Warum auch nicht? Wahrscheinlich dachte er: Dieses Mädchen ist leicht zu haben.

Leicht zu haben! Ich? Leicht zu haben? Ha! Das ärgerte mich. Am liebsten hätte ich jetzt gegen etwas getreten oder geschlagen … vorzugsweise sein attraktives Gesicht.

Cam.

Das war sein Name. Ich hatte gehört, wie sie ihn so nannte.

Und dann war da noch meine Antwort.

Ich hätte sie ihm verweigern können, denn schließlich war er drauf und dran gewesen, mit seiner Freundin zu schlafen – streicht das; er war drauf und dran gewesen, es mit ihr auf dem Vögel-Klo zu treiben, und ein paar Minuten später wollte er meine Nummer haben!

Er glaubte also, er könnte seine Freundin mit mir betrügen, oder?

Ich knirschte mit den Zähnen. Das machte mich echt sauer. Betrüger standen auf meiner schwarzen Liste. Schließlich war meine Mutter eine Betrügerin. Sie war mit dem Staubsaugervertreter durchgebrannt und hatte meinen Dad mit zwei Kindern sitzengelassen. War besser so, fand ich.

Ich musterte meine Socken. Am Zeh hatte ich vor Wut ein kleines Loch hineingemacht. Dabei waren das meine Lieblingskatzensocken. Noch etwas, was ich auf seine Vergehensliste setzen konnte.

Ich empfand Zorn, und das war gut, aber da war auch noch etwas anderes.

Enttäuschung.

Ich lehnte mich in der Badewanne zurück und starrte an die Decke. Viele Idioten betrogen ihren Partner. Das war nichts Neues. Weshalb war ich also enttäuscht darüber, dass jemand, von dessen Existenz ich bis heute nicht mal etwas wusste, ein Betrüger war?

Warum?

Ich hatte ihn nie zuvor gesehen oder von ihm gehört. Sicher, es war ein riesiges College, aber jemand, der dermaßen attraktiv war, müsste eines der heißen Themen auf dem Campus sein. Allerdings hatte ich mehr als ein Jahr ausgesetzt, da war ich natürlich nicht auf dem Laufenden. Möglicherweise war er ein Austauschstudent. Oder Studienanfänger. Ich schüttelte den Kopf über diesen absurden Gedanken. Der Typ hatte auf keinen Fall gerade erst mit dem Studium begonnen … nicht dieser große, starke Kerl.

Ich war größer als die meisten Frauen oder Männer, die ich kannte, doch er überragte mich. Das allein hätte mich schon auf ihn aufmerksam gemacht. Es war, als ob ich im Laden ein wunderschönes Paar Schuhe in meiner Größe entdeckte. Ich brauchte Schuhgröße 44 und fand fast nie etwas Heißes in diesen Dimensionen. Daher musste ich einfach genauer hinschauen. Ich musste ausprobieren, anfassen, anprobieren.

Das war es! Deshalb hatte ich ihm meinen Namen und meine Telefonnummer gegeben. Und deshalb war ich jetzt auch enttäuscht. Die atemberaubend schönen Schuhe passten nicht. Totale, riesige Enttäuschung.

Zufrieden mit dieser Analyse, schnappte ich mir mein Handy und stieg aus der Badewanne, bereit, die ganze Angelegenheit hinter mir zu lassen.

In meinem Kopf entstand ein Bild von ihm, wie er neben mir stehen blieb, sich zu mir neigte und seine Haut beinah meine berührte.

Bei dieser Vorstellung schlug mein Herz unwillkürlich schneller. Jetzt war ich nicht nur wütend auf ihn, sondern auch auf mich, weil ich auf diese Weise an ihn dachte. Ich schüttelte den Kopf, um ihn von derlei Fantasien zu klären. Ich weigerte mich, auch nur eine Sekunde länger an diesen Typ zu denken, und wenn er meinen Seelenfrieden erneut stören sollte, würde ich den Kraken loslassen!

Er soll es bloß nicht wagen, mich anzurufen!

Mein Telefon klingelte.

»So ein verdammter Mist!«, schrie ich.

Ich rieb mir das Gesicht und raufte mir die Haare. War er das etwa, der da anrief?

Einen Moment lang zog ich in Erwägung, mein Handy wegzuschleudern. Aber dann könnte es kaputtgehen. Mein Handyvertrag lief noch ein paar Monate, und ich wollte weder eine Reparatur bezahlen noch ein neues Smartphone kaufen müssen.

Das war er nicht wert.

Mein Herz klopfte wie wild. Ich schloss die Augen, damit ich nicht sah, wer anrief. Ich ließ es klingeln und in meiner Hand vibrieren, umschloss das Handy fest mit den Fingern – auf ziemlich verquere Weise mein Elend auskostend, indem ich mich mit der Möglichkeit marterte, dass er es vielleicht war und ich mich vielleicht melden würde.

Und was genau sagen würde?

Ich könnte ihm die Meinung geigen. Wie wäre das?

Verärgert über mich selbst, öffnete ich die Hand und ließ das Telefon zum Waschbecken gleiten, dann ging ich aus dem Badezimmer und machte die Tür hinter mir zu. Das ist alles seine Schuld. Dieser lügende, betrügende Pavian.

Es klingelte.

»Was ist denn jetzt schon wieder, verdammt!« Stöhnend schleppte ich mich zur Tür. »Muss ich denn erst meine Seele verkaufen, um ein bisschen Ruhe und Frieden auf dieser Erde zu finden?«

Ich schaute auf die Uhr. Um diese Zeit kamen mein Dad und mein Bruder von der Arbeit zurück, und wenn die schon wieder ihre Schlüssel vergessen hatten, dann würde ich …

Als ich die Tür unseres winzigen Apartments öffnete, begrüßten mich das ewig griesgrämige Gesicht meines Onkels Andrew sowie das runde freundliche Gesicht seiner Frau Charity. Die Werkstatt gehörte Andrew und meinem Dad, und die kleine Zweizimmerwohnung, in der wir lebten, lag direkt dahinter. Da Andrew der Laden zur Hälfte gehörte, rief er uns liebend gern in Erinnerung, wie glücklich wir uns schätzen konnten, mietfrei hier wohnen zu dürfen, was wir bekanntlich ihm zu verdanken hätten.

Und da er der Meinung war, dass das Apartment ebenfalls zu seinen Besitztümern zählte, fand er, er könne kommen und gehen, wann immer er wollte. Er hatte meinen Dad sogar nach einem Schlüssel für die Wohnung gefragt, für den Notfall. Daraufhin habe ich meinem Dad gesagt, er würde mich künftig in der Salome Avenue bei Faye finden, einer Freundin der Familie, die an den Wochenenden als Prostituierte arbeitete. Er gab Onkel Andrew den Schlüssel nicht.

Besagter Onkel fläzte nun seinen dürren Hintern in einen der eleganten Sessel, die ich für unser Wohnzimmer hatte restaurieren lassen. Abschätzend schaute er sich im Apartment um. Charity setzte sich neben ihn.

Mit der Größe konnte man nicht prahlen, und ich war wohl auch nicht die ordentlichste oder sauberste Person auf dem Planeten, doch ich verstand es, eine Wohnung aufzupeppen. Die meisten Sachen waren secondhand, Zeug, das ich bei Value Village oder der Heilsarmee gefunden und anschließend neu gestrichen oder hergerichtet hatte. Einige Sachen waren von Verwandten und Freunden. Irgendwelcher Kram, den mein Dad überall auflas. Ich war da pingeliger bezüglich der Frage, was bleiben durfte und was nicht. Damon und Dylan mussten für Dad einen Schuppen bauen, damit er darin all den Krempel aufbewahren konnte, den er sammelte. Und um mich davon abzuhalten, meinen eigenen Vater umzubringen.

»Warum ist es dermaßen heiß hier drin?«, beschwerte Andrew sich. »So kalt ist es draußen doch gar nicht. Hast du eine Vorstellung, wie hoch die Heizkosten heutzutage sind? Dass ihr hier umsonst wohnen dürft, heißt nicht, dass ihr Energie verschwenden könnt. Stell die Heizung ab.«

Für was hält er mich? Für einen Kaltblüter? Ich starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an und lehnte mich trotzig an die Wand.

Als er merkte, dass ich seiner Aufforderung nicht nachkommen würde, schürzte er missbilligend die Lippen.

»Mach uns Kaffee. Ein wenig Gastfreundschaft wird dich nicht überfordern«, sagte er.

Gerade hat er noch gemeckert, dass es hier drin zu heiß ist.

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Also, ich weiß nicht. Ich müsste Wasser kochen, und Strom kostet Geld. Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«

Charity prustete und kaschierte es sofort mit einem Hustenanfall.

Andrew funkelte sie böse an. »Von allen meinen Nichten und Neffen bist du die einzige, die mir Kopfschmerzen verursacht. Warum bist du immer so garstig?«

Meine ganze Kindheit hindurch hatte ich mir exakt diesen Vorwurf in wechselnden Variationen anhören müssen. Damals tat es weh, und es wurmte mich heute noch. Ich verschränkte die Arme. »Tatsächlich? Möglicherweise liegt’s ja daran, dass du auch nicht gerade meine Lieblingsperson bist.«

Er hielt sich nicht zurück, weshalb sollte ich es also tun?

Höhnisch grinste Andrew. »Ich habe gehört, du bist jetzt wieder auf dem College«, bemerkte er. »Du solltest endlich damit aufhören, sinnlos herumzublödeln, und einfach dein Studium beenden. Sieh dir meinen Sohn John an, der ist inzwischen erfolgreicher Apotheker. Meine Töchter Chloe und Judith sind beide Lehrerinnen. Deine anderen Cousinen – Cecille, Miriam, Naomi – haben alle erfolgreich ihr Studium abgeschlossen. Was ist mit dir und Dylan? Dein Dad …«

Ich kann ja einige Beleidigungen an meine Adresse ertragen, doch wenn er glaubte, er könnte meinen Dad beleidigen, hatte er sich geschnitten. Ich würde ihn mit einem Tritt in seinen armseligen Arsch hinausbefördern.

»Oh, aber ich bin sehr stolz auf meine Kinder, Drew«, verkündete mein Dad gut gelaunt von der Wohnungstür aus und trat sich die Schuhe auf der Fußmatte ab, bevor er hereinkam. Er war schlaksig wie ich, und bei seiner Größe von fast einem Meter neunzig kaum zu übersehen. Er nahm seine Baseballkappe ab, zog die Schuhe aus und stellte sie in den Schuhschrank neben der Tür. »Immerhin haben sie niemanden ermordet … noch nicht.« Dad zwinkerte mir zu. »Wie läuft’s denn so, Charity?«

Er trat an die Küchenspüle, um sich das Schmieröl von den Händen zu waschen, soweit das möglich war. Gänzlich los wurde er es nie. Seit ich denken konnte, sahen seine Hände so aus. Er trocknete sie am Küchenhandtuch ab, das am Kühlschrankgriff hing, und setzte Wasser auf.

»Du solltest deine Kinder mehr ermutigen, Mike, damit sie große Träume haben, im Gegensatz zu …«

Zu dir, wollte er sagen.

Drecksack. Ich öffnete den Mund, um ihm gründlich die Meinung zu geigen, doch bevor ich etwas sagen konnte, schob Dad mir ein Stück Brot zwischen die Lippen. Dann setzte er sich auf einen der Barhocker an der winzigen Kücheninsel, die uns auch als Esstisch diente.

»Ich will nur, dass anständige Menschen aus ihnen werden.« Er lächelte Andrew nachsichtig an. »Kara hilft mir mit dem Papierkram, und Dylan macht eine Ausbildung bei mir in der Werkstatt. Sie sind beide bei mir, gesund und glücklich. Mehr kann ich nicht verlangen, ehrlich.«

Andrews Kinder besuchten ihn nicht einmal. Die hatten zu viel mit ihrem eigenen Leben zu tun, um sich auch noch mit ihren Eltern zu befassen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Charity meinen Dad wehmütig anschaute. Von ihrer Schwester wusste ich, dass sie ihn in jüngeren Jahren sehr gemocht hatte. Doch leider verliebte er sich in meine Schlampen-Mutter, die ihm das Herz brach und ihn am Ende verließ.

Möglicherweise war das der Grund, weshalb Andrew ihn immer so von oben herab behandelte. Er war noch immer verbittert. Mein Dad hingegen hatte seinen Bruder stets respektiert. Als es mit der Farm meiner Großeltern nicht gut lief, hatte Andrew ihnen Geld geschickt, bis sie wieder auf die Füße kamen. Dad predigte mir dauernd, ich müsste Geduld mit meinem Onkel haben, weil er tief in seiner Schuld stehe. Dafür brachte ich durchaus Verständnis auf. Was glaubte er denn, warum ich Andrew bislang noch nicht ermordet hatte?

Doch in diesem Moment musste ich dringend Abstand zwischen mich und meinen Onkel bringen. Abgesehen davon fand ich das Apartment mit vier Leuten schon ein bisschen klaustrophobisch. Ich konnte mich entweder in mein Zimmer zurückziehen und damit meinen Vater verärgern, der das für unhöflich halten würde. Oder gleich ganz aus der Wohnung verschwinden, was wohl am besten war. Ich würde einfach behaupten, dass ich zur Bibliothek musste, um wie eine pflichtbewusste Studentin zu lernen. Aber zuerst … brauchte ich mein Handy.

Ich blendete die anderen aus, trat vor die Badezimmertür und lauschte. Mein Herz schlug schneller bei der Vorstellung, dass mein Telefon klingeln könnte. Doch auf der anderen Seite der Tür war kein Laut zu hören. Ich atmete tief ein und öffnete die Tür.

Zehn verpasste Anrufe.

Von Dylan.

Was zum Teufel hatte er jetzt schon wieder angestellt?

Die Wände der Wohnung waren papierdünn. Ich drehte den Wasserhahn am Waschbecken auf und stieg in die Wanne, damit mich keiner hören konnte – bestimmt würde ich mir nachher von Andrew einen Vortrag zur Wasserrechnung anhören müssen.

»Kar? Warum gehst du nicht ans Telefon?«

Ich kratzte mir den Nacken. Weil es juckte und weil ich frustriert war. »Nur zu deiner Information, Griesgram ist hier.«

»Ah. Na, dann bin ich froh, dass ich nicht da bin.«

»Wo steckst du?«

»Bei einem Freund. Kar, ich brauche deine Hilfe.«

Pause.

»Hast du jemanden umgebracht?«, erkundigte ich mich.

»Nein.«

»Hast du jemanden ins Krankenhaus geprügelt?«

»Nein.«

»Bist du im Krankenhaus?«

»Nein. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich bei einem Freund bin.«

»Ich habe kein Geld, Dylan. Ich hab dir doch …«

»Darum geht es nicht. Ich … du weißt doch, dass ich heute Morgen die Rechnung für den Camaro eintreiben wollte?«

»Was du ziemlich versaut hast. Wenn ich nachmittags keine Vorlesung gehabt hätte, hätte ich mir diesen haarigen Giganotosaurus gründlicher vorgenommen. Was hat es eigentlich damit auf sich, dass du ihm Geld schuldest? Was geht da ab zwischen dir und …«

»Kar, konzentriere dich. Hör mir zu.«

Die Dringlichkeit in seiner Stimme ließ mich innehalten.

»Kar«, meinte er leise.

Ich wartete.

»Ich …« Er holte tief Luft. »Ich bin gegen das Motorrad von jemandem gefahren.«

6. Kapitel

Kara

»Stopp mal kurz. Wie war das?« Ich drückte das Telefon fester gegen mein Ohr. »Habe ich das richtig verstanden? Du bist gegen ein fremdes Motorrad gefahren?«

Am anderen Ende der Leitung folgte ein Moment des Schweigens, bevor Dylans leise Antwort kam: »Ja.«

Autor

Isabelle Ronin
Isabelle Ronin ist eine kanadische Autorin aus Winnipeg, Manitoba. Seit ihrem enormen Erfolg auf Wattpad -- ihre Geschichte wurde über 127 Millionne mal gelesen -- haben sich mehrer große Verlage weltweit die Rechte an dem Roman gesichert. Isabelle ist eine Meisterin des Erzählens und Unternehmen wie E! Network kreieren mithilfe...
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