Ein Erbe für den Duke?

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Ist sie es wirklich? Lord Roland Northbridge Wilde kann nicht glauben, wer vor ihm steht: Miss Diana Belgrave, die er einst heiraten wollte, die ihn am Tag der Verlobungsfeier aber urplötzlich und ohne eine Erklärung verließ! Sie ist mindestens so schön wie damals und arbeitet jetzt als Gouvernante für seine Familie auf Lindow Castle. Was ist in der Zeit geschehen, als er in den Kolonien im Krieg war, um Diana und sein gebrochenes Herz zu vergessen? Und was ihn fast noch mehr beschäftigt: Ist der kleine Junge an ihrer Seite wirklich sein Sohn, wie die gesamte feine Gesellschaft Londons behauptet?


  • Erscheinungstag 12.10.2021
  • Bandnummer 371
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500937
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch ist meinem Ehemann, Alessandro, gewidmet.
Die schlichte Freude, zu wissen, dass er mein Mann ist,
unterstreicht jede Zeile, die ich schreibe.

VORREDE

Lindow Castle, Cheshire

Landsitz des Duke of Lindow

6. Juli 1778

Verlobungsfeier von Lord Roland Wilde und Miss Diana Belgrave

Lord Roland Northbridge Wilde – von seinen Freuden und der Familie North genannt – hatte schon auf den Knien seiner Gouvernante gelernt, dass ein Gentleman sich durch ein respektvolles und geziemendes Betragen gegenüber dem schönen Geschlecht auszeichnet. Er stellte weder unschickliche Fragen noch benahm er sich jemals rüpelhaft.

Nicht einmal, oder vielleicht vor allem dann nicht, wenn es sich bei der Dame um seine Verlobte handelte.

Es wäre North niemals in den Sinn gekommen, sich anders zu benehmen. Als zukünftiger Duke hielt er es für unter seiner Würde, Miss Diana Belgrave auf Knien zu bitten, ihm die Ehre zu erweisen und seine Gemahlin zu werden. Immerhin hatte er zu diesem Anlass einen Gehrock getragen, den der König höchstselbst gelobt hatte. Der Ring, den er ihr an den Finger gesteckt hatte, hatte seiner Großmutter gehört, der verstorbenen Duchess of Lindow.

Er beugte sich vor, um ihre Wange zu küssen. Dabei fiel ihm erneut auf, wie sehr er diese grauen, von dunkelblauem Lidschatten eingefassten Augen bewunderte. Miss Belgrave deutete seine Geste falsch und drehte den Kopf, sodass ihre weichen Lippen die seinen berührten.

Das war der Moment, in dem er begriff, dass das gesittete Betragen nicht mehr war als ein dünner Anstrich über dem inneren Mann. Er verspürte den heftigen Wunsch, etwas zu tun, was ein Gentleman auf gar keinen Fall tun durfte.

In den nächsten Wochen sagte er sich selbst immer wieder, dass ein Mann von Ehre seine Braut nicht in Versuchung führt. Gott wusste, dass sein älterer Bruder Horatius – der an seiner Stelle hätte stehen sollen – niemals so einem unschicklichen Drang nachgegeben hätte.

Horatius hatte vermutlich niemals einen unschicklichen Drang verspürt.

Vielleicht war es ganz gut, dass North sich auf der seiner Verlobten entgegengesetzten Seite des Raumes befand. Die Gesellschaft, die sein Vater zu Ehren ihrer Verlobung auf Lindow Castle ausrichtete, bot zu viele Gelegenheiten, sich in verborgenen Winkeln zu küssen … oder noch Schlimmeres. Sein Bruder Alaric zumindest schien jeden Anstand vergessen zu haben, wenn es darum ging, Miss Willa Ffynche zu erobern.

Doch Diana suchte niemals seine Nähe oder sah sich nach ihm um. Sie fand häufig Entschuldigungen und floh aus dem Zimmer. Alaric hatte North ganz direkt gefragt, ob seine Verlobte ihn mochte.

Ob sie ihn mochte?

North dachte nicht darüber nach, ob Menschen ihn mochten. Eines Tages würde er ein Duke sein, da war dieser Punkt unwichtig.

Doch jetzt nagte diese Frage an ihm.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er Diana zum letzten Mal lachen gehört hatte. Dabei war es ihr fröhliches Lachen gewesen, das als Erstes seine Aufmerksamkeit erweckt hatte. Sie wirkte nicht wie eine junge Dame, die ihre Verlobung feiert. Sie sah nicht aus, als hätte sie die beste Partie auf dem Heiratsmarkt ergattert.

Sie sah elend aus.

In diesem Augenblick starrte seine Verlobte aus dem Fenster des Salons, die Arme fest um ihren Bauch geschlungen. Während er sie beobachtete, hob sie die Hand und … wischte sich eine Träne fort?

Nachdenklich schob er sich zwischen den Gästen seines Vaters hindurch. Es war zu spät, um die Verlobung aufzulösen. Außerdem hatte das tiefe Gefühl, dass er sie unbedingt wollte, nicht nachgelassen.

Also mussten sie reden.

Kurz darauf führte er sie in die Bibliothek. Als sie fragend zu ihm aufblickte, fielen ihm die dunklen Ringe unter ihren Augen auf.

„Wollen wir uns nicht setzen?“, schlug er vor, aber im Grunde war es gar keine Frage.

Diana nahm Platz, faltete die Hände im Schoß und musterte ihn stumm. Sie war eine außergewöhnlich gut erzogene junge Dame.

Als zukünftige Duchess sollte sie das auch sein, fand er.

Sein Unbehagen wuchs, und er wählte seine Worte sorgfältig. „Sind Sie vollkommen glücklich mit unserer bevorstehenden Vermählung, Diana?“ Beinahe hätte er „Miss Belgrave“ gesagt.

Sie erwiderte seinen Blick für einen Moment, ehe sie hinunter auf ihre Hände schaute. „Gewiss doch“, murmelte sie.

Zum Teufel, Alaric hatte recht: Sie mochte ihn nicht. Diese Verbindung war ein Fehler.

Aber er wollte sie trotzdem. Und er war zu sehr daran gewöhnt, stets zu bekommen, was er wollte. Vielleicht war sie einfach nur schüchtern. Vielleicht …

Er vergaß die Regeln für Anstand und Sitte, beugte sich vor und legte seine Lippen auf ihre.

Für die Dauer eines Wimpernschlags saßen sie wie erstarrt da, wie Liebende in einem Gemälde. Überrascht öffnete sie den Mund, und er konnte sich nicht zurückhalten und drängte schmeichelnd ihre Lippen noch weiter auseinander.

Ihre Zungen trafen sich, neugierig und unschuldig. Er vertiefte den Kuss, und sie hob die Arme und schlang sie ihm um den Nacken. Sie stieß einen unartikulierten, entzückenden Ton aus, der ihn wie ein Schlag traf.

Wenn er jetzt nicht innehielt, würde er sie auf das Sofa legen und sie küssen, bis sie immer wieder aufstöhnen und jeden Anstand vergessen würde. Bis sie ihn weinend um mehr anflehte.

Es kostete ihn fast übermenschliche Kraft, den Kuss zu beenden, bevor er die Beherrschung verlor. Aus ihren wunderschönen Augen starrte Diana ihn mit offenem Mund an.

„Sie werden eine wunderbare Duchess abgeben“, flüsterte North mit tiefer Stimme.

Einen kurzen Moment lang sah er die Lust in ihrem Blick, eine überraschte Freude. Aber genauso schnell folgte eine andere Regung – Trauer? Schuldgefühle? Sie entzog sich ihm und stand hastig auf.

Ehe er selbst aufspringen konnte, sank Diana in einen tiefen Knicks und sagte, dass sie das Puderzimmer aufsuchen müsse, um ihren Saum festzustecken.

Das war das letzte Mal, dass er sie sah.

Ohne ein Wort der Erklärung ließ sie ihn sitzen. Sein Ring lag achtlos auf ihrem Toilettentisch bei ihrem anderen Schmuck. Lediglich eine Hutschachtel hatte sie bei sich, als sie in die Postkutsche stieg.

North ritt nach London, doch dort erfuhr er, dass Dianas Mutter nichts von ihrer Flucht wusste. Er suchte monatelang nach ihr, und endlich, kurz bevor sein Regiment nach Amerika aufbrechen sollte, fand er sie. Diana öffnete die Tür eines winzigen Hauses, weit weg von London.

Das Sonnenlicht liebt sie, dachte er benommen. Es malte einen perfekten cremefarbenen Hauch auf ihre Wangen, und ihre gebogenen Wimpern warfen einen zarten Schatten. Erschrocken starrte Diana ihn an. Eine schlichte Haube umrahmte ihr Gesicht. Verblendeter Narr, der er war, prägte er sich jedes Detail ein, damit er es mit in den Krieg nehmen konnte.

Er hätte schwören können, dass sie glücklich war, ihn zu sehen, auch wenn der Anblick seiner Uniform sie verwirrte. Vielleicht konnten sie es doch noch schaffen. Er würde den Grund herausfinden, warum sie davongelaufen war, und es wieder in Ordnung bringen.

Dann ertönte ein Schrei hinter ihr im Haus, hoch und jung und voller Tränen. Ein Baby, das kurz davor war, loszubrüllen.

Ein Kind, das nicht von ihm sein konnte.

Diana sah ihn an. „Es tut mir leid, North“, flüsterte sie. „Es tut mir so leid.“

Eiseskälte durchdrang ihn bis ins Mark, obwohl er die Kälte eher in seiner Brust hätte spüren sollen. Seine Welt zerbrach.

Wortlos machte er kehrt, schwang sich auf sein Pferd und ritt im schnellen Galopp davon.

Schwerer Nebel stieg aus den Wiesen auf und streifte sein Gesicht, was ihm sehr willkommen war. Ein Offizier – und ein Gentleman – blinzelte, um die feinen Sandkörner zu vertreiben, die ihm ins Auge geraten waren.

Er vergoss keine Tränen, niemals.

Beatrix‘ Plauderei

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12. März 1780

Die jungen Damen, die von dem berühmt-berüchtigten Abenteurer und Autor Lord Wilde schwärmten, haben vielleicht noch nicht bemerkt, dass sein älterer Bruder Lord Roland ihm inzwischen in Sachen Unverschämtheiten in nichts mehr nachsteht. Wie Beatrix erfahren hat, hat der zukünftige Duke auf dem amerikanischen Kontinent nicht wenige Heldentaten vollbracht – Taten, die jede anständige Frau auf der Stelle in Ohnmacht fallen lassen würden!

Die Älteren unter uns werden sich erinnern, dass Lord Rolands Verlobung vor fast zwei Jahren unerwartet aufgelöst wurde, als die betroffene Dame von ihrer eigenen Verlobungsfeier floh. Zu einer wahrhaftig schockierenden Wendung der Ereignisse kam es, wie Beatrix aus gut informierten Kreisen erfuhr, als diese Dame nach Lindow Castle zurückkehrte – mit einem Kind und als Gouvernante des Hauses! Man benötigt kein Übermaß an Verstand, um festzustellen, dass Lord Roland eine schöne Überraschung erwartet, sobald er aus den Kolonien zurückkommt, in denen er die Rebellion niedergeschlagen hat.

Im Allgemeinen zieht Beatrix es vor, die Ohren junger Damen nicht mit solcherlei Geschichten zu beflecken. Aber sie fühlt sich verpflichtet, allen Müttern ans Herz zu legen, Obacht walten zu lassen. Dieser spezielle Wilde ist allem Vernehmen nach zu wild, um zu heiraten!

1. KAPITEL

Lindow Castle

15. Mai 1780

Diana Belgrave dachte nur noch selten an jene Zeit, in der sie die verhätschelte Erbin gewesen war, die London im Sturm erobert und das Herz eines zukünftigen Duke gewonnen hatte. Wenn sie doch einmal daran dachte, konnte sie nur den Kopf schütteln.

Sie war so unglaublich jung gewesen! Sie hätte alles getan, um ihre ehrgeizige Mutter zufriedenzustellen – eine Meisterleistung, die unmöglich zu bewältigen war. Was Diana allerdings erst im Rückblick erkannt hatte. Vielleicht war das die Definition von Reife: zu erkennen, dass es nicht möglich war, alle Menschen zufriedenzustellen.

Auf lange Sicht hätte sie auch ihren Verlobten North – oder korrekterweise Lord Roland – nicht zufriedengestellt. Zumindest redete sie sich das ein, wenn sie sich schuldig fühlte. Schließlich hatte er nicht wirklich um ihre Hand angehalten. Ihre Mutter hatte sie gezwungen, die Rolle einer stillen und fügsamen jungen Dame zu spielen, und dieser jungen Frau hatte North einen Heiratsantrag gemacht. Nicht Diana Belgrave.

Und die aufflackernde Sehnsucht, die sie früher in seinem Blick gesehen hatte? Die galt nicht ihr, sondern der Schöpfung ihrer Mutter, diesem sanftmütigen Wesen mit den turmhohen, verzierten Perücken.

Sie war davon überzeugt, dass es North nie gefallen hatte, was er für sie empfand. Seine Sehnsucht nach ihr ärgerte ihn, als würde dieses Verlangen seine Macht schmälern. Als würde sie dadurch einen Teil von ihm besitzen. Dabei war der zukünftige Duke of Lindow daran gewöhnt, in seiner Welt der absolute Herrscher zu sein.

Man stelle sich nur vor, wie wütend er geworden wäre, wenn er gemerkt hätte, dass die Frau, die er zu seiner Gemahlin auserkoren hatte, überhaupt gar nicht die Frau war, um die er geworben hatte.

Seufzend konzentrierte Diana sich wieder auf die Gegenwart. Früher einmal war sie die zukünftige Herrin von Lindow Castle gewesen; jetzt lebte sie hier als Bedienstete. Doch es gab etwas, das wichtiger war: Früher war sie eine unglückliche junge Dame gewesen, jetzt war sie eine sehr glückliche Gouvernante. Vielleicht keine gute Gouvernante, aber sie mochte ihre Arbeit.

Meistens jedenfalls.

Sie beugte sich vor und hob ihren zweijährigen Schützling, Lady Artemisia Wilde, hoch. Sie setzte sich das Mädchen auf die Hüfte und drehte sie sich zu dem dreijährigen Jungen um, der auf dem Boden saß und Muster in sein Rübenmus malte. „Godfrey, musst du auf den Topf?“

Ihr Neffe, Godfrey Belgrave, schüttelte den Kopf. Zum Glück, denn in diesem Moment sah Diana, dass der Nachttopf auf dem Kaminvorleger auf der Seite lag, anstatt ordentlich hinter dem Wandschirm verstaut zu sein.

Hoffentlich war er leer gewesen.

Sie roch nach Rüben und sehnte sich nach einer Tasse starken Tee mit Milch. Aber der Tee war kalt, und die Milch tropfte vom Kinderzimmertisch in das Rübenmus.

Die Haushälterin würde einen Schreianfall bekommen, wenn sie das Esszimmer der Kinder sah, bevor Diana es schaffte, hier sauberzumachen. Mrs. Mousekin war immer wieder verblüfft über die Unordnung, die Diana und den Kindern überall hin zu folgen schien, aber die Haushälterin hatte die Angewohnheit, sich ständig zu ärgern.

Zumindest redete Diana sich das ein.

Es schien ihr einfach nicht gelingen zu wollen, die grundsätzlichen Sauberkeitsregeln und einen glücklichen Tag für zwei Kleinkinder unter einen Hut zu bekommen.

„DeeDee“, sagte Artie, steckte ihre kleinen Pummelfinger in Dianas Haarknoten und zog eine Locke heraus, woraufhin der ganze Zopf Diana über den Rücken fiel. Es war ziemlich anstrengend gewesen, das Essen im ganzen Raum zu verteilen, und Artie war schon lange vor der Dämmerung aufgewacht, sodass es jetzt Zeit für ein Nickerchen war. Das Kind steckte sich Dianas Haar in den Mund und bettete schläfrig den Kopf auf ihre Schulter.

Diana holte tief Luft, als eine Woge der Erschöpfung sie überkam. Es lag nicht nur an dem langen Tag, sondern auch an dem nervenaufreibenden Gefühl einer Gefahr, die über ihrem Kopf schwebte.

North war zu Hause.

Diese vier Worte hallten ihr in den Ohren wider. Ihr früherer Verlobter war aus dem Krieg in den Kolonien zurückgekehrt.

Sie hatte gewusst, dass er auf dem Heimweg war. Nachdem der Duke verkündet hatte, sein Sohn habe den Dienst quittiert, hatte sie die halbe Nacht vor Erleichterung geweint. Es bedeutete, dass sie nicht dafür verantwortlich war, dass ein zukünftiger Duke getötet wurde. Soweit sie wusste, hatte ihre gelöste Verlobung dazu geführt, dass er sich vollkommen überstürzt ein Offizierspatent gekauft hatte. Wenn er gestorben wäre …

Nun, er war nicht gestorben.

Doch nach dem Schrecken waren da immer noch die Schuldgefühle wegen all der anderen Dinge, die sie ihm angetan hatte. Auch wenn er von den meisten noch nicht einmal wusste.

In den letzten Minuten hatten zwei livrierte Diener nach Ausreden gesucht, um hinauf in den Kindertrakt zu laufen und Diana vorzuwarnen, dass Norths Ankunft bevorstand – besser gesagt Lord Rolands, wie sie ihn jetzt zu nennen hatte. Jeder hier im Haushalt wusste, dass der Duke angeordnet hatte, Diana in keinem einzigen Brief an seinen Sohn zu erwähnen. Er wollte nicht, dass North im Krieg von häuslichen Angelegenheiten abgelenkt wurde.

Anders gesagt: Jeder wusste, dass Norths angeblicher Bastard hier in diesem Haus lebte – außer North selbst.

Vielleicht würde ihm niemand erzählen, dass sie hier war. Arties Eltern, der Duke und die Duchess of Lindow, weilten in London, und Lady Knowe, die Zwillingsschwester des Dukes, stattete dem Kindertrakt nur selten einen Besuch ab …

Nein.

Boodle, sein Kammerdiener, würde ihm die Neuigkeiten auf jeden Fall mitteilen. Boodle sah in North eine Erhöhung seiner eigenen Bedeutung, und jede Verunglimpfung seines Herrn kam für ihn einer persönlichen Beleidigung gleich. Ein Bastard war auf jeden Fall eine Schande für den Ruf eines Gentlemans.

Boodle musste völlig berauscht sein von der Rückkehr Seiner Lordschaft. Nachdem North in den Krieg gezogen war, hatte er Norths Vater, dem Duke, gedient. Doch sehr zum Verdruss des Kammerdieners mangelte es Seiner Gnaden erheblich an Interesse für sein Äußeres. Jetzt, da der überaus modebewusste Erbe zurückgekehrt war, würde Boodle erneut uneingeschränkter Herrscher unter den Kammerdienern der englischen Gentlemen sein – zumindest, sobald das lästige Problem von Norths illegitimen Sprössling geklärt war.

Während ihrer Verlobungszeit war North stets steif und respektvoll gewesen. Er hatte niemals gelacht, gerülpst oder einen Witz erzählt. Er war auch niemals ungehalten gewesen. Er hatte seine Gefühle fest im Griff gehabt. War Lachen zu spontan für einen zukünftigen Duke? Vielleicht hatte er auch einfach keinen Humor.

Egal, wie ruhig er von Natur aus war – jeder Mann würde fuchsteufelswild werden, wenn er erfahren würde, dass er – oder besser sein Vater – ein Kind unter falschen Voraussetzungen in seinem Haus beherbergte.

Diana straffte die Schultern und wappnete sich. Sie war nicht länger das fügsame Mädchen, das sie früher einmal gewesen war. Sie war eine starke und unabhängige Frau, die sich ihren Lebensunterhalt selbst verdiente.

Es gab vieles, was sie North gerne sagen würde, egal, wie wütend er sein würde – und er hatte jedes Recht, wütend zu sein. Aber sie wollte unbedingt loswerden, was sie zu sagen hatte. Die unzähligen schlaflosen Nächte, in denen sie sich damit gequält hatte, was sie ihm angetan hatte, sollten nicht umsonst gewesen sein. Selbst wenn er sie noch heute Abend aus dem Haus warf, würde sie sich vorher bei ihm entschuldigen.

„Augen zu und durch“, hätte ihr Großvater gesagt.

Godfrey kam zu ihr und griff mit seiner klebrigen Hand nach ihrem Rock. Mit den knotigen Knien, den eckigen Wangenknochen und dem rostroten Haar war er kein hübscher Junge.

Aber er gehörte zu ihr, egal, wie er aussah. Diana versuchte immer noch zu begreifen, wie sie einen Blick auf ein dürres, plärrendes Baby hatte werfen und sofort wissen können, dass sie alles tun und alles opfern würde, um für das Kind zu sorgen.

„Zeit für das Bad“, sagte sie zu den Kindern. Auf dem halben Weg den Korridor hinunter blieb sie stehen, um Arties Gewicht auf der Hüfte zu verlagern. „Spatz, bitte sabbere meinen Hals nicht voll. Godfrey, könntest du bitte etwas schneller gehen?“

Sie hätte über ihre eigene Dummheit stöhnen können. Man musste Godfrey nur um etwas bitten, um ihn zu veranlassen, genau das Gegenteil zu tun. Schon ließ sich der kleine Junge auf die Knie fallen und kroch den Korridor zurück in Richtung Esszimmer.

„Godfrey!“, rief sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. Wenn man ihn anschrie, wurde er nur noch frecher.

„Ich gehe“, sagte Artemisia, spuckte Dianas Haare aus und zappelte herum. „Ich hole Free.“ So nannte sie Godfrey. Godfrey hatte keinen Namen für seine Spielgefährtin, weil er noch immer kein Wort sprach, obwohl er bereits über drei Jahre alt war.

Als Diana Artie auf den Boden setzte, hörte sie Schritte auf der nackten Holztreppe, die in den Kindertrakt führte. Panik erfasste sie.

Nein.

North trägt Absätze, rief sie sich in Erinnerung. Hohe Absätze. Gestreifte Socken mit aufwändigen Verzierungen. Leuchtende Seidenjacken. Perücken, die den Träger zwangen, sich wiegend vorwärts zu bewegen, weil das Gebilde sonst aus großer Höhe herunterfallen könnte. Er war ein korrekter, langweiliger Dandy.

North war so sehr Boodles Geschöpf gewesen wie sie das ihrer Mutter gewesen war.

Ein Mann bog um die Ecke. Ihr Herz schlug schneller und beruhigte sich dann wieder. Es war nicht North, sondern der Butler des Schlosses, Prism.

Zu ihrem Unmut stellte Diana fest, dass sie sich an die Wand gepresst hatte, als hätte sie den Henker erwartet. Sie sank in einen theatralischen Knicks. „Guten Tag, Prism ...“ Sie hüstelte. „Mr. Prism.“

In ihren ersten Wochen im Kindertrakt hatte sie ständig solche Fehler gemacht. Das hatte man davon, wenn man als Dame erzogen worden war und dann als Bedienstete arbeitete. Aber schon seit über einem Jahr war ihr kein Fauxpas unterlaufen.

Mr. Prism war groß und sehr vornehm. Auf Diana wirkte er wie ein Gentleman, doch dem hätte Prism energisch widersprochen. Hierarchie und Herkunft gingen ihm über alles; es spielte überhaupt keine Rolle, dass er bessere Manieren hatte als die meisten Lords. Seine Empfindsamkeit hatte arg gelitten, als eine Dame, die das Schloss einst als geschätzter Gast besucht hatte, als Bedienstete zurückgekehrt war.

„Miss Belgrave.“ Er verneigte sich nicht, doch eine unsichtbare Verbeugung schien seine Taille zu umspielen.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Diana. Als gehätschelte junge Erbin hatte sie sich in Gegenwart von Dienstboten stets unwohl gefühlt. Sie schienen niemals zu vergessen, dass Dianas Großvater ein Vermögen als Kaufmann verdient hatte. Jetzt, da sie selbst in Diensten stand, stellte sie fest, dass die meisten von ihnen unendlich freundlich waren. Prism zum Beispiel ignorierte beharrliche ihre Missgeschicke im Kinderzimmer.

In diesem Moment hörte sie das Krachen einer Hand voll Besteck, das im Esszimmer gegen den Kaminschirm geworfen wurde.

Der Butler zuckte zusammen. Jeder im Schloss kannte Godfreys feuriges Temperament, und die Dienerschaft liebte es, Norths Kinderstreiche mit Godfreys zu vergleichen.

Dabei regte sich stets Dianas schlechtes Gewissen, denn die beiden hatten nichts gemeinsam außer kindischem Fehlverhalten. Sie war diese Flunkerei, die sie in den Kindertrakt von Lindow Castle geführt hatte, so leid, dass es beinahe eine Erleichterung sein würde, aus dem Schloss auszuziehen – wenn nur die Aussicht, Artie zu verlassen, ihr nicht so zusetzen würde.

Diana hatte Arties ersten Zahn und ihren ersten Schritt gesehen. Drei Nächte nacheinander war sie wach geblieben, als Artie an Husten erkrankt war. Als die Duchess aus London zurückgekehrt war, fand sie ihre jüngste Tochter am Tisch sitzend, wo sie vergnügt ihren Kuchen verspeiste.

Eine weitere Handvoll Besteck donnerte gegen den Kaminschirm aus Eisen. In einer eindrucksvollen Vorstellung der starken Nerven eines Butlers gelang es Prism, den Krach zu ignorieren.

„Miss Belgrave, ich möchte Sie darüber in Kenntnis setzen, dass Lord Roland im Schloss eingetroffen ist und sich gerade seines Reisekostüms entledigt. Natürlich ist sein Kammerdiener bei ihm. Man hegt allgemein die Hoffnung, dass Mr. Boodle es Lady Knowe überlässt, ihrem Neffen wichtige Neuigkeiten über die Familie mitzuteilen.“

Seiner herablassenden Haltung nach zu urteilen hatte Prism nicht mehr Vertrauen in Boodles Diskretion als Diana.

Trotzdem empfand sie eine gewisse Erleichterung, weil sie jetzt etwas Zeit hatte, eine Tasse Tee zu trinken und sich zu überlegen, was sie North sagen sollte. Boodle bräuchte mindestens drei Stunden, um seinen Herrn so auszustaffieren, wie es einem zukünftigen Duke gebührte.

Boodle konnte es nicht abwarten, alle Welt erneut mit seinen Künsten als Kammerdiener zu beeindrucken. Er würde seinen Herrn nicht eher aus dem Ankleidezimmer entlassen, bis North funkelte und glänzte wie ein preisgekröntes Spanferkel.

Dianas bescheidener Meinung nach.

Ob in London oder auf dem Schloss, ihr früherer Verlobter war stets tadellos gekleidet – und das war noch vor der Zeit gewesen, als sie fast sicher war, dass er sich die Lippen färbte. Kein Mann hatte so tiefrote Lippen.

Sie verschränkte die Arme vor dem Bauch, so wie ihre eigene Gouvernante es getan hatte. „Vielen Dank für die Warnung, Mr. Prism.“

„In Anbetracht der Tatsache, dass Lord Roland nicht weiß, dass Sie und Master Godfrey zum Haushalt gehören, könnte er überrascht sein“, sagte der Butler, was reichlich untertrieben war. „Ich möchte Ihnen versichern, dass Seine Lordschaft ein vollendeter Gentleman ist, der die Neuigkeit mit Fassung aufnehmen wird.“

Das konnte Diana nur bestätigen. Schon damals hatte sie bisweilen das Gefühl gehabt, mit der Pappversion eines englischen Gentleman verlobt zu sein … einer Pappfigur, die sich verbeugen konnte und die Mimik und Gestik eines Höflings beherrschte. North war ein Gentleman durch und durch, und seine Gefühle würden genauso versteckt bleiben, wie seine Kleidung extravagant war.

Als jemand rasch die Treppe zum Kindertrakt heraufgeeilt kam, sahen Prism und Diana sich an. Dianas Herz klopfte so hektisch, dass ihr fast schlecht wurde.

Keine drei Stunden Schonzeit.

Kein Tee.

Prism war niemand, der gerne Zeuge einer unangenehmen Begegnung wurde. „Ich sollte noch mit Mabel sprechen, sie hat das Morgengebet versäumt“, sagte er und verschwand in Richtung Esszimmer des Kindertrakts.

Er würde feststellen, dass das Kindermädchen noch mehr versäumt hatte als das Morgengebet, doch Diana sagte kein Wort. Der entsetzte Ausruf des Butlers „Miss Belgrave!“ überschnitt sich mit Norths Ankunft auf dem obersten Treppenabsatz.

Diana gab Prism keine Antwort, und sie gestattete sich auch nicht, an die beruhigende Wand zurückzuweichen. Stattdessen hielt sie den Blick auf ihren ehemaligen Verlobten gerichtet.

North hatte sich verändert. Sein Gesicht war schmaler und kantiger, die Falten in den Augenwinkeln verrieten seine Erschöpfung und ließen ihn älter wirken als seine neunundzwanzig Jahre.

Überraschenderweise schien er kein bisschen wütend zu sein. Doch sein Gesicht hatte noch nie etwas von seinen Gefühlen verraten. Mit dem kräftigen Kinn, den hohen Wangenknochen und der mühelosen Vornehmheit sah er stets so aus, als würde er für ein Porträt sitzen.

Das Porträt eines Dukes natürlich.

Als er auf sie zukam, knallten seine Stiefel auf den Boden. Boodle hatte keine Zeit gehabt, seinen Herrn in einen zukünftigen Duke zu verwandeln; North trug noch seine Reisekleidung, und sein schwarzer Reitrock war mit Schlamm bespritzt.

Direkt vor ihr blieb er stehen. Wenn überhaupt, wirkte er leicht amüsiert.

„Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, wollten Sie sich gerade die Nase pudern“, stellte er fest. „Das muss einer der längsten Aufenthalte im Damenzimmer sein, den dieses Schloss je erlebt hat.“

„Ich hätte niemals gehen dürfen, ohne unser Verlöbnis persönlich aufzulösen. Ich hätte Ihnen zumindest einen Brief schreiben sollen“, sagte Diana. Die Worte, die sie seit fast zwei Jahren sehnlichst hatte aussprechen wollen, purzelten ihr nur so über die Lippen. „Es tut mir leid, North. Es tut mir aufrichtig leid. Ich habe mich schrecklich benommen, und ...“

Sie brach ab, als Prism aus dem Esszimmer zurückkehrte. Seine Wangen waren eingezogen, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Lord Roland“, sagte er mit einer Verbeugung. Dann wandte er sich an Diana. „Wo ist Mabel?“

„In der Molkerei“, entgegnete sie. „Sie wird bald wieder hier sein, Mr. Prism.“

„Mr. Prism?“, wiederholte North. Seine Augenbrauen stießen fast zusammen.

Boodle musste ihm doch erzählt haben, dass Diana als Gouvernante im Schloss arbeitete. Glaubte er etwa, sie könnte den Butler weiterhin so ansprechen wie eine Dame? Was für einen Gast vollkommen angemessen war, wäre für eine Bedienstete eine Anmaßung.

„Ich werde Mabel zurück an ihren Posten schicken“, sagte Prism. Er nahm keine Notiz von North und verschwand geräuschlos in Richtung Treppe, wie nur Butler es fertigbrachten.

Diana wandte sich wieder an North. Sie versuchte zu entscheiden, ob sie die Sprache auf Godfrey bringen oder wiederholen sollte, wie leid es ihr tat, dass sie ihm auf diese Weise den Laufpass gegeben hatte.

„Wer ist Mabel?“, fragte North.

„Sie ist das Kindermädchen. Ich bin die Gouvernante“, erklärte Diana. „Ich bin eigentlich auch nur ein Kindermädchen, aber Lady Knowe war so freundlich, mir diesen Titel zu gewähren. Mabel ist verliebt und oft nicht auf ihrem Posten.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Ich entschuldige mich noch einmal für die schamlose Art, wie ich unser Verlöbnis beendet habe.“

Er zuckte nicht mit den Schultern, aber seine Miene verriet, dass ihn das kaum interessierte. Für ihn war das eine uralte Geschichte. Sie war diejenige, die ihr schlechtes Benehmen nicht vergessen konnte.

„Diana“, sagte North, „was machen Sie in meinem Haus?“ Ein Hauch von ironischem Humor schwang in seinen Augen mit, doch vor allem wirkte er müde.

Wo war der Blick, den er ihr früher zugeworfen hatte? Mit dem er ihr geheime Freuden versprochen hatte?

Spurlos verschwunden.

Natürlich war er verschwunden. Sie wollte es auch nicht anders.

„Mein Kammerdiener glaubt anscheinend, ich wäre der Vater Ihres Kindes“, fuhr er mit ruhiger Stimme fort.

„Dazu hätte die Zeit gar nicht gereicht“, platzte sie heraus. „Bei all den Vorträgen, die Sie mir über die Pflichten einer Duchess gehalten haben.“

Mit einem stummen Stöhnen setzte sie diesen Satz auf die Liste von Dummheiten, die sie bereute, sobald sie ausgesprochen waren. An manchen Tagen wuchs die Liste kaum an. An anderen … nun, an anderen Tagen brachte sie sich wohl fünfzig Mal selbst in Verlegenheit, bevor sie ins Bett ging.

Aufrichtige Überraschung spiegelte sich auf Norths Gesicht. Natürlich hielt er sie für das sanftmütige Geschöpf, das ihre Mutter gerne aus ihr gemacht hätte und das den Anforderungen eines Gentlemans entsprach.

„Das hätte ich nicht sagen sollen“, fügte sie rasch hinzu. „Ich scheine vergessen zu haben, wie sich eine Dame zu benehmen hat, ganz zu schweigen eine zukünftige Duchess. Dienstboten sind da wesentlich direkter. Aber ich habe es nicht gesagt, um mein Verhalten zu rechtfertigen.“

„Ich wollte Ihnen nur den Eintritt in den Hochadel erleichtern“, meinte North. Er zuckte mit keiner Wimper, trotzdem schaffte er es irgendwie, seinen Worten einen bitteren Beiklang zu verleihen. „Ich bitte um Verzeihung, wenn Sie sich mit mir unbehaglich gefühlt oder sich gelangweilt haben.“

„Stellen Sie sich vor, Sie hätten beinahe eine Frau geheiratet, deren Herz in die Dienstbotenzimmer gehört.“ Diana lächelte zaghaft. „Sie sollten mir auf den Knien danken, dass ich davongelaufen bin.“

„Wenn ich mich recht entsinne, habe ich Sie nicht auf Knien gebeten, meine Frau zu werden“, bemerkte North. „Wir sind uns also einig, dass es besser ist, wenn wir nicht heiraten. Zumindest nicht einander.“

Er hatte recht. Also war es albern, dass seine Feststellung sie traf. Es war weniger das, was er sagte, als sein gleichgültiger Blick dabei. Was immer er jemals für sie empfunden hatte – es hatte sich in Luft aufgelöst.

Sie hatte sich furchtbar verhalten. Sie war es nicht wert, dass er ihr seine Zuneigung schenkte – wenn es das gewesen war.

Etwas, was er zuvor gesagt hatte, fiel ihr wieder ein. „Sie haben Boodle nicht die Wahrheit gesagt?“, sagte sie leicht atemlos.

„Ich bin ein Gentleman, Diana. Ich hielt es für besser, zuerst Sie zu fragen, welche Absichten Sie betreffend meines angeblichen Sohnes hegen.“

Als sie ihn anstarrte, ertönte ein lautes Krachen im Esszimmer – dieses Mal keine Messer und Gabeln, sondern Porzellan. Aus Erfahrung wusste sie, dass Godfrey es geschafft hatte, auf den Tisch zu klettern, und jetzt die Teller hinunterwarf.

Sie drehte sich um und rannte den Korridor entlang. Artie konnte in die Fluglinie der Teller geraten, und die Haushälterin hatte gedroht, zerbrochenes Geschirr von Dianas Lohn abzuziehen.

Hinter ihr rief North laut: „Diana!“

Als sie schlitternd den Raum betrat, saß Godfrey mitten auf dem Tisch. Artie saß neben ihm, und sie rangen um einen Teller. Diana empfand einen Hauch von Panik, als sie sich vorstellte, die beiden trennen zu müssen. Artie war Godfreys Anker in der Welt, die einzige Person, die ihn wirklich verstand.

„DeeDee!“, rief Artie, ließ den Teller los und wedelte hektisch mit den Armen. „Free wirft wieder mit Sachen.“

Just in dem Moment, in dem North hinter ihr auftauchte, warf Godfrey den Teller an die Wand.

Mit einer schwungvollen Bewegung hob Diana Godfrey vom Tisch, setzte ihn auf den Boden und hockte sich vor ihn. Es war schwer, Norths Gegenwart zu ignorieren, aber sie hatte gelernt, dass Godfrey nur auf sie hörte, direkt nachdem er ungehorsam gewesen war. Ein verspäteter Tadel war so gut wie ein Lob.

„Liebling“, sagte sie und sah ihm in die Augen, „du darfst keine Teller kaputtmachen. Das ist sehr ungezogen, und Mrs. Mousekin wird auf uns beide wütend sein.“

North war an den Tisch herangetreten. „Du musst Artemisia sein“, hörte sie ihn sagen. „Ich bin dein ältester Bruder. Als wir uns zuletzt gesehen haben, warst du gerade neugeboren.“

„Mein Name ist Artie“, informierte seine Schwester ihn.

Diana konzentrierte sich auf Godfreys Gesicht. Er sprach niemals, aber sie war sicher, dass er tief nachdachte. Sie vermutete, dass er möglicherweise gescheiter war als ein durchschnittliches Kind.

„Bitte versprich mir, dass du keine Teller mehr vom Tisch oder an die Wand wirfst.“ Sie musste sehr deutlich sein, wenn sie ihren Neffen tadelte.

Godfreys klare blaue Augen waren so süß wie die eines Engels, als er ihr einen nassen Kuss auf die Wange gab. Sie umarmte ihn kurz, dann ließ sie ihn los.

Artie schwang die Beine über die Tischkante. „Runter.“ Sie streckte North die Arme entgegen.

Der Höfling, an den Diana sich erinnerte, der Mann, der violette, mit Silberfäden durchwirkte Seide trug, hätte einen großen Bogen um ein klebriges Kind gemacht.

„Sie ist auf jeden Fall eine Wilde“, murmelte North. Ohne ein Anzeichen des Widerwillens hob er Artie hoch.

Als er sie absetzte, stürmte Mabel in den Raum.

„Du hättest mich nicht bei Prism verpetzen dürfen ...“ Sie stockte. „Vergebt mir, Mylord. Ich wusste nicht, dass Sie hier sind.“ Mit gesenktem Kopf knickste sie.

„Sind Sie verantwortlich für den Zustand dieses Zimmers?“, fragte North sie.

Diana folgte seinem Blick und sah die gelbe Flüssigkeit, die den Kaminvorleger durchweicht hatte. Der Nachttopf lag umgedreht daneben. Kein Wunder, dass Prism solche Qualen gelitten hatte. „Nein“, sagte sie rasch. „Mabel ist nicht für das Benehmen der Kinder verantwortlich, das bin ich. Wenn Sie also jemanden tadeln wollen, dann sollten Sie mich tadeln.“

„Bringen Sie die Kinder fort“, sagte er zu Mabel. Diana hatte vergessen, wie selbstsicher er auftrat. North beherrschte seine Welt und jeden Menschen darin, außer seinen Vater und seine Stiefmutter.

Ein weiterer Grund, warum sie froh sein sollte, dass ihre Hochzeit nie stattgefunden hatte. Sie hatte stets den Moment gefürchtet, in dem ihr Verlobter herausfinden würde, dass Unterwürfigkeit ganz und gar nicht ihrer Natur entsprach.

„Gewiss, Mylord“, murmelte Mabel und fügte in freundlichem Ton, den Artie und Godfrey kaum zu Gehör bekamen, hinzu: „Kommt, meine Lieben.“

North sah ihnen nach, als sie den Raum verließen, ehe er sich wieder an Diana wandte. „Meine Schwester lutscht am Daumen“, stellte er entsetzt fest. „Sie hat mich nicht angemessen begrüßt. Ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt wüsste, wie sie mich zu begrüßen hat. Sind Sie wirklich ihre Gouvernante?“

Diana unterdrückte ein Kichern. Auf merkwürdige Weise ergab es vollkommen Sinn, dass seine Miene nur dann heftige Gefühle verriet, wenn es um fehlerhafte Etikette ging. „Hat Boodle Sie nicht über meine Stellung in Kenntnis gesetzt?“

„Mein Kammerdiener sagte mir, dass Sie zusammen mit meinem Sohn hier auf dem Schloss leben, und ich habe Sie im Kindertrakt gefunden. Es ist mir nicht im Traum eingefallen, dass eine Frau, die einmal meine Duchess werden sollte, hier als Bedienstete arbeitet“, sagte er und fügte trocken hinzu: „Ich war wohl auch etwas abgelenkt durch das Wunder meiner Vaterschaft.“

Dianas Herz begann so heftig zu pochen, dass ihre Brust schmerzte, aber es wäre zu verräterisch gewesen, hätte sie sich die Hand beruhigend auf die Stelle gelegt. „Es ist nichts Schändliches daran, eine gute Arbeit zu haben“, brachte sie heraus. „Es ist weit respektabler, als sein Leben damit zu verbringen, in einem Salon herumzuschlendern.“

Im selben Moment wurde ihr klar, dass der Dienst in der Armee Seiner Majestät wohl kaum dem Herumschlendern in einem Salon glich. Doch er hatte offensichtlich beschlossen, ihre Bemerkung nicht weiter zu beachten.

„Sie sind die Gouvernante des Schlosses? Wo sind meine anderen Geschwister?“, fragte North und sah sich um, als könnten seine Brüder und Schwestern jeden Moment aus einem Winkel hervorspringen.

„Viola, Betsy und Joan sind mit Ihrer Gnaden in London, da die Ballsaison in vollem Gange ist. Bevor Sie irgendetwas sagen – ich war eine ausgezeichnete Gouvernante für die Mädchen, wenn sie von ihrem Pensionat nach Hause kamen.“

„Was ist mit den Jungs? Wollen Sie mir sagen, Sie können sie in Latein unterrichten?“

Das konnte Diana gewiss nicht. Ihre Mutter hatte energisch verhindert, dass sie etwas anderes als damenhafte Fertigkeiten lernte. Mrs. Belgrave war der Ansicht gewesen, dass Lords bei ihren Frauen Unwissenheit vorzogen, damit sie ihre Gemahlinnen belehren konnten. Offen gesagt, hatten Norths wiederholte Versuche, ihr die Benimmregeln der höchsten Krise beizubringen, bewiesen, dass ihre Mutter recht hatte. Aber es wäre nicht klug, das einzugestehen.

„Spartacus und Erik sind in Eton und brauchen keinen Unterricht“, sagte sie und beließ es dabei.

„Diana, bitte gestatten Sie mir, dass ich Sie noch einmal frage: Was tun Sie hier? Sie haben mich verlassen, was zweifelsohne Ihr Recht war. Aber ob es an meinem Vorträgen über die Pflichten einer Duchess lag oder nicht – wir haben kein Kind zusammen.“

Diana schluckte hart. Jetzt rächte sich ihre zweite unüberlegte Entscheidung. „Lady Knowe besuchte mich, kurz nachdem Sie in den Krieg aufgebrochen waren.“

Sein Stirnrunzeln wurde tiefer. „Sie hat es versäumt, diesen Besuch in ihren Briefen zu erwähnen.“

„Sie fand mich verzweifelt vor“, sagte Diana und knetete sich die Hände so kräftig, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Meine Mutter hatte uns hinausgeworfen, und ich hatte fast kein Geld. Lady Knowe nahm an, das Kind wäre von Ihnen, und ich habe sie in diesem Glauben gelassen. Das tut mir aufrichtig leid.“

Sie betrachtete ihn prüfend. Er machte noch immer keinen wütenden Eindruck, aber er schien ihr auch nicht zu verzeihen. Vergebung ist etwas, um das man nicht bitten darf, rief sie sich in Erinnerung. Auch diese Lektion hatte sie von ihrer Mutter gelernt.

„Ich habe keine Unterstützung von Ihrer Familie angenommen“, sprach sie weiter, und ein Hauch von Stolz schlich sich in ihre Stimme. Sie war in der Tat stolz darauf, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Es war das Einzige, worauf sie stolz war. „Das Schloss brauchte eine Gouvernante, also bekam ich die Stellung. Es war die Idee Ihrer Tante, mich als Gouvernante einzustellen.“

„Warum?“

„Gouvernanten gehören zu den höheren Dienstboten“, erklärte Diana. „Lady Knowe war der Meinung, es wäre einfacher für den Haushalt, meine Anwesenheit zu akzeptieren, wenn ich als Gouvernante für die jungen Damen diene. Das war sehr großzügig von ihr, da eine Gouvernante sehr viel mehr verdient als ein einfaches Kindermädchen.“

Einen Moment herrschte Stille. Dann sagte North: „Ich könnte mir vorstellen, dass es einige Menschen gibt, die glauben, ich hätte meine Verlobte in eine niedere Stellung gezwungen, damit sie meinen Bastard aufzieht.“

„Das ist wahr, fürchte ich, aber das ist niemals meine oder Lady Knowes Absicht gewesen“, erwiderte Diana vollkommen aufrichtig. Ihre Hände zitterten deutlich sichtbar, sodass sie die Finger verschränkte. „Ich habe diesen übereilten Entschluss seitdem oft bereut. Ich wäre auch fortgegangen und hätte mir eine andere Stellung gesucht, aber Artie ...“ Ihre Stimme verlor sich. „Ich liebe Ihre Schwester. Ich will sie nicht verlassen.“

Im Rückblick war es ausgesprochen selbstsüchtig gewesen, das Schloss nicht zu verlassen. „Ich habe nichts aus böser Absicht getan“, fügte sie leise hinzu. „Das schwöre ich!“

„Ich weiß.“

Sie hatte ihn unterschätzt, als sie verlobt gewesen waren. North lebte nach einem strengen Verhaltenskodex, nach den Regeln eines Gentlemans, die ihm vorschrieben, jederzeit freundlich und zuvorkommend zu sein. Er prüfte jede Entscheidung sorgfältig auf ihre guten und schlechten Seiten, bevor er sie traf. Sie dagegen brachte sich regelmäßig in Teufels Küche und verletzte ständig andere Menschen.

„Es tut mir wirklich leid“, wiederholte sie.

„Das sagten Sie bereits.“

„Ich fühle mich wie eine verurteilte Gefangene, die sich verzweifelt danach sehnt, Reue zu zeigen.“

„Und ich diene als Vollstrecker? Oder als Richter? Wird man Ihnen den Kopf mit dem Schwert abschlagen, wie den Frauen von Heinrich dem Achten, oder wird man Sie zum Galgen schicken wie räuberische Dienstboten?“

„Sie haben jedes Recht, den Vollstrecker zu spielen, North. Ich habe Sie tadelnswert behandelt. Entsetzlich.“

2. KAPITEL

Wenn North sich jemals die Mühe gemacht hätte, die schlimmsten Tage seines Lebens zu benennen, hätte er den Tag, an dem sein älterer Bruder Horatius starb, auf der Liste an die erste Stelle gesetzt. Die Schlacht von Stony Point und Dianas Flucht aus ihrem Verlöbnis würden um den zweiten Platz wetteifern.

Diese drei schrecklichen Ereignisse waren schon schlimm genug.

Doch dieser Tag war durchaus geeignet, ihnen den Rang abzulaufen. North hatte sich gezwungen, nicht mehr an Diana zu denken, und als er sie jetzt sah, erfasste ihn ein Schwindelgefühl. Als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, hatte sie ihn an die auserlesene Porzellanstatue einer französischen Hofdame erinnert. Ihr Gesicht war mit Reispuder geweißt gewesen, die Lippen tiefrot und hoch an einer Wange hatte ein Schönheitsfleck geklebt.

Jetzt trug sie eine Musselinhaube, die leicht zur Seite gerutscht war, und rote Haare fielen ihr über den Rücken. Rote Haare?

Angesichts ihrer Vorliebe für gepuderte Perücken hatte er keine Ahnung gehabt, dass ihre Haare rot waren. Ihre Wimpern passten zu ihrem Haar, und die Wangen hatten einen rosigen Schimmer. Sie wirkte zerzaust und appetitlich, als wäre sie gerade erst aus dem Bett gestiegen.

Der Gedanke ließ ihn innerlich zusammenzucken.

Wichtiger als ihre Haarfarbe war, dass sie während ihres Verlöbnisses nie viel gesagt hatte. Meistens hatte sie auf seine Versuche, ihr das Leben als zukünftige Duchess nahezubringen, nur mit gemurmelten Zustimmungen geantwortet. Aber jetzt konnte sie gar nicht aufhören zu reden. Sie näherte sich einem Thema gerne auf Umwegen, aber sie war sehr klar in ihren Entschuldigungen.

Er wollte diese Entschuldigungen nicht und brauchte sie auch nicht, aber ihre Ernsthaftigkeit hatte etwas Tröstliches. Es hatte ihn maßlos geärgert, dass die Frau, die er zu seiner Duchess bestimmt hatte, nicht einmal den Anstand besaß, ihn persönlich von der Auflösung der Verlobung zu informieren.

„Es war sehr falsch von mir, Ihre Familie in dem Glauben zu lassen, Sie wären der Vater meines Kindes.“ Diana rang die Hände, und ihre rosigen Wangen wurden dunkelrot.

In der Tat.

Doch tief in seinem Herzen grollte er mehr darüber, dass sie ihn sitzen gelassen hatte, als dass sein Vater seinen angeblichen Bastard unterstützte.

„Wo ist der Vater des Jungen?“, fragte er.

„Er ist tot“, antwortete sie und errötete noch stärker. „Aber er ...“

„Ich will es nicht wissen“, fiel North ihr ins Wort. Der Junge war eindeutig geboren worden, bevor sie sich kennengelernt hatten. Es leuchtete ein, dass der Vater gestorben war. North konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mann Diana verlassen würde, nachdem er ihre Zuneigung gewonnen hatte.

Heftiger Zorn flackerte in ihm auf, als er daran dachte, dass sie das Kind vor ihm und allen Menschen geheim gehalten und ihn zu einem Heiratsantrag verführt hatte. Doch sofort verrauchte die Wut wieder. Er war im Krieg gewesen. Wen scherte es da noch, was sie getan hatte?

Ihn nicht.

Wahrscheinlich hatte sie ihm sogar noch einen Gefallen damit getan, dass sie ihn in einen Skandal verwickelt hatte. Das würde heiratswütige Mütter abschrecken. Er hatte nicht Absicht, eine Frau zu suchen, bevor es unbedingt nötig und er gezwungen war, sich um einen Erben zu kümmern. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn der Titel durch Alarics Linie weitervererbt würde.

„Weiß meine Stiefmutter, dass Artemisia die Eleganz einer Krämerstochter an den Tag legt?“, fragte er. Er würde die Unterhaltung auf die Tatsache lenken, dass Diana das Schloss verlassen musste. Er konnte nicht gestatten, dass seine frühere Verlobte im Haushalt seines Vaters arbeitete. Das gehörte sich nicht, wie seine eigene Gouvernante gesagt hätte.

„Sie müssen mir sehr zürnen, wenn Sie meinen Großvater erwähnen“, sagte Diana, ohne seinem Blick auszuweichen. „Sie waren einer der wenigen Menschen der feinen Gesellschaft, der mich nie für meine Verwegenheit gerügt hat, einen Kaufmann zum Großvater gehabt zu haben.“

„Ich entschuldige mich, wenn Sie glauben, ich würde mich auf Ihren Großvater beziehen. Ich habe diesen Ausdruck benutzt, ohne nachzudenken.“

„Warum nur hält die Welt einen Krämer für unhöflicher als einen Schuster?“, fragte sie mit einem verzagten Lächeln. „Aber so ist es.“

North war nur selten sprachlos, aber angesichts Dianas Lächelns und ihrer Selbstbeherrschung fehlten ihm die Worte. Wie sehr sie sich von dem Mädchen unterschied, um dessen Hand er angehalten hatte! Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, welche Frage er ihr gestellt hatte, irgendwie waren sie ganz woanders gelandet. Weitschweifige Unterhaltungen waren offenbar typisch für sie.

„Ich schäme mich nicht für meinen Großvater.“ Diana rümpfte die Nase, eine entzückende Geste. „Offen gestanden wäre ich auch über Artie entsetzt gewesen, bevor ich Gouvernante wurde. Darum werden Kinder im Kinderzimmer eingesperrt, wissen Sie. Damit niemand erfährt, wie unzivilisiert sie sind. Oder besser gesagt: ihre Gegenwart ertragen muss.“

Er erinnerte sich an ihr Lächeln. Als er Diana zum ersten Mal gesehen hatte, war er in einen Ballsaal geschlendert und hatte eine ihm unbekannte junge Dame beobachtet, die etwas zu ihrem Begleiter sagte, was diesen zum Lachen brachte.

Diana hatte zusammen mit ihm gelacht, eine Art unbändiges Lachen, das die meisten Damen unterdrückten, bevor ihnen auch nur ein Ton über die Lippen kam. North war aufgefallen, dass sie wunderschön war, mit einem herzförmigen Gesicht und einer schmucken Erscheinung. Doch das war nicht das Wichtigste. Ihre Lippen sahen aus, als würde sie von Natur aus immer lächeln.

„Was Arties Betragen angeht, so fürchte ich, dass sie die Konzentration eines Kanarienvogels und das Temperament eines gereizten Bullen hat“, sagte Diana. „Ich wollte ihr beibringen, einen ordentlichen Knicks zu machen, aber ihre Beine sind zu pummelig, um sie richtig zu beugen.“

„Ihre Beschreibung würde auf alle Kinder meines Vaters in diesem Alter zutreffen“, stellte North fest.

Diana verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah ihm direkt in die Augen. „Ich habe viele Nächte kein Auge zugetan, weil ich darüber nachgedacht habe, wie unehrlich ich war – Ihnen gegenüber, Ihrer Familie und dem Haushalt gegenüber. Sie alle waren stets so freundlich zu mir gewesen.“

North merkte, dass ihm widerstrebte, wie sie von ihm sprach. Als wäre er ein älterer Onkel oder so etwas. Ein freundlicher Nachbar. „Was geschehen ist, ist geschehen“, sagte er. „Aber jetzt ...“

„Ich weiß schon, warum ich nie in den Kindertrakt komme.“ Seine Tante, Lady Knowe, tauchte in der Tür auf. Die Hand auf die Brust gepresst, sah sie sich im Raum um. „Ist das ein Nachttopf, der da umgekippt ist? Oh ja, tatsächlich“, antwortete sie sich selbst. „Und ist das einer meiner geliebten Neffen, der von gefährlichen Gestaden zurückgekehrt ist und mir noch nicht seine Aufwartung gemacht hat? Oh ja, in der Tat!“

North grinste und durchquerte den Raum, um seine Tante in die Arme zu schließen. Lady Knowe war hochgewachsen und breitschultrig, und zu ihrem Leidwesen ähnelte sie ihrem Zwillingsbruder, dem Duke. Diejenigen, die ihre ungestüme Freundlichkeit liebten, gaben jedoch keinen Heller auf ihre stattliche Nase. „Ich wollte erst meine Reisekleidung ablegen, bevor ich dich begrüße, Auntie Knowe.“

Sie legte ihm die Hände an die Wangen und sah ihm in die Augen. „Bist du wohlbehalten an Körper und Geist, mein Lieber?“

„Ja“, gab er kurz und knapp zurück. Er hatte zwar noch alle Gliedmaßen, gleichwohl hatte er etwas verloren. Nicht den Verstand, zumindest nicht vollständig. Aber er konnte nicht mehr schlafen. Und er hatte keine Freude mehr am Essen oder an Frauen.

Seine Tante ließ die Hände sinken. „Es ist ein sinnloser Krieg, und ich bin bestürzt, dass diese Tölpel im Parlament das nicht erkennen. Dein Vater tut sein Bestes, um sie zu überzeugen, aber vergebens.“

North hatte bei seiner Entlassung im Ministerium seine Meinung laut und deutlich vertreten. Aber die Narren, mit denen er gesprochen hatte, waren niemals in den Kolonien gewesen. Sie begriffen nicht, wie sehr die amerikanischen Soldaten an die Freiheit glaubten oder wie gerissen ihre Generäle waren. Weit entfernt vom Blut und Rauch eines Schlachtfeldes, schob eine Horde Tölpel – um das Wort seiner Tante zu benutzen – Regimenter hin und her wie kleine Jungen, die mit ihren Zinnsoldaten spielten.

„Wenigstens bist du da raus“, sagte seine Tante und rümpfte die Nase. „Diana, meine Liebe, was ist das für ein schrecklicher Gestank?“

„Bitte verzeihen Sie, Mylady.“ Diana machte einen tiefen Knicks.

Bevor er nachdenken konnte, streckte North die Hand nach ihr aus und zog sie hoch. „Aufhören.“

Sie errötete leicht. „Ich gehöre zum Hauspersonal.“

„Nein“, sagte er. Da er schon einmal dabei war, nahm er ihr die große Musselinhaube ab, die in das Dienstbotenquartier gehörte, nicht auf den Kopf einer Dame. „Auch wenn Sie übermäßig viel Zeit im Kindertrakt verbringen, Sie werden meine Tante – genau wie Prism – nicht anreden, als wären Sie eine Bedienstete.“

„Ich bin eine Bedienstete.“

Gleichzeitig warf Lady Knowe ein: „Sie ist stur wie ein Maulesel, North. Du wirst nicht mehr Glück haben als ich.“

Stirnrunzelnd sah er Diana an. „Ich gestatte meiner Verl... meiner früheren Verlobten nicht, Teil der Dienerschaft zu werden.“

„Das bin ich bereits“, widersprach Diana. „Alle haben sich daran gewöhnt.“

„Das ist nicht ganz richtig“, meinte Lady Knowe. „Falls du Boodles Meinung zu diesem Thema noch nicht gehört hast, North, dann wirst du sie gewiss schon bald erfahren.“

„Sie können nicht in dieser Stellung bleiben“, sagte er und wies auf das Offensichtliche hin.

Ein Ausdruck huschte so schnell über Dianas Gesicht, dass er ihn nicht deuten konnte. „Ich stimme Ihnen zu. Und es tut mir leid.“

Das wievielte Mal entschuldigte sie sich jetzt? Das siebente? Er hatte das Gefühl, sie würde am liebsten den ganzen Tag so weitermachen.

„Ich glaube, Diana macht sich Sorgen, sie hätte dir das Herz gebrochen, North.“ Seine Tante zwinkerte ihm zu.

„Seien Sie ganz beruhigt; ich bezweifle, dass Sie dazu fähig gewesen wären“, sagte er und fügte bitter hinzu: „Mein Gefühl von Wichtigkeit bekam allerdings eine Delle, was meinem Charakter vermutlich ganz gutgetan hat.“

„Zweifelsohne“, bestätigte seine Tante leise lachend.

Zu seiner Überraschung lachte Diana ebenfalls. „An dem Tag, an dem ich diese Haube aufgesetzt habe, wurde ich vollkommen unwichtig, und ich glaube wirklich, dass es gut für meine Seele ist. Ich wünschte nur, ich hätte wegen Godfrey die Wahrheit gesagt.“

North versuchte zu entscheiden, ob Godfrey der Mann war, mit dem Diana verkehrt hatte, oder der Junge, den sie ihm noch nicht vorgestellt hatte. Doch da wechselte seine Tante bereits das Thema.

„Dieser Raum ist eine Zumutung“, verkündete sie. „North, ich muss dich bitten, mich zu meinen Gemächern zu begleiten, und danach musst du aus dieser schmutzigen Reisekleidung heraus. Ich habe dich nicht mehr so derangiert gesehen, seit Alaric dich in den Pferdetrog getaucht hat.“ Sie wandte sich an Diana. „Er trug die Ritterrüstung, die jetzt still in der Ecke in der Eingangshalle steht.“

„Ich bin beeindruckt“, sagte Diana zu North. „Es sieht aus, als wäre es sehr schwer, darin zu laufen.“

„Umso mehr, da die Scharniere eingerostet waren“, sagte seine Tante. „Ich werde Prism bitten, sofort ein Hausmädchen hochzuschicken, Diana. Im Vergleich zum Kaminvorleger ist der Zustand meines Neffen tadellos.“

„Vielen Dank.“ Diana versank abermals in einen tiefen Knicks. „Als ich zu Gast auf Lindow Castle war, habe ich auch vor Lady Knowe geknickst“, sagte sie, als North die Stirn runzelte.

„Ich habe Diana angefleht, mein Gast zu sein“, erklärte seine Tante, „aber sie hat sich geweigert. Komm, North. Ihr beide müsst aufhören, euch zu zanken. Nur in Melodramen verliebt sich ein Duke in eine Gouvernante.“ Es gelang ihr, amüsiert, schadenfroh und zufrieden zugleich auszusehen. „Ich erwarte, dass Sie mit uns zu Abend essen, Diana.“

Diana öffnete den Mund, offenkundig, um zu protestieren, aber seine Tante hob die Hand. „Wir müssen Pläne für Ihr Wohlergehen schmieden. In einem so übel riechenden Raum wie diesem sollte man keine wichtigen Unterhaltungen führen. Und wenn man unwegsames Gelände vor sich hat, kann ein gutes Glas Wein nicht schaden.“

North verneigte sich.

Diana konnte sich gerne eine Gouvernante nennen, wenn es ihr beliebte, aber er hatte sich noch nie zuvor vor einer Bediensteten verbeugt. Er senkte den Kopf sogar noch einen Hauch tiefer als nötig, um seine Geste zu unterstreichen.

„Was für eine Aufregung!“, meinte seine Tante, sobald sie auf dem Gang waren. „Ich finde dich im Streit mit dem Mitglied des Haushalts, der mir am liebsten ist. Du hast dunkle Ringe unter den Augen. Du hast es geschafft, schon fast unanständig muskulös und gleichzeitig hager zu werden.“

„Unsinn“, sagte North und schob die Erinnerungen an die madigen Rationen beiseite, die seine Soldaten in den Kolonien zugeteilt bekommen hatten. „Was hält Prism von Dianas Anwesenheit auf dem Schloss?“

„Prisms großes Talent als Butler ist es, zu wissen, was die Familie will, bevor wir es wissen“, erwiderte seine Tante. „Diana weigerte sich, mit mir zu Abend zu speisen, bis Prism sie überzeugte, dass ich aus lauter Einsamkeit mit den Kindern nach Bath reisen und sie allein zurücklassen würde. Als würde ich irgendetwas mit zwei Kleinkindern im Schlepptau unternehmen.“

„Ich bin überrascht, dass mein Vater eingewilligt hat, Diana einzustellen. Ihr glaubt doch wohl nicht etwa, der Junge wäre von mir.“

„Natürlich nicht, mein Lieber. Ich habe den Duke vor vollendete Tatsachen gestellt.“ Seine Tante ergriff seinen Arm, als sie Treppe hinunterstiegen. Lady Knowe trug gerne Schuhe mit hohen Absätzen, was Holztreppen wie diese zu einer Gefahr für sie machten.

North war hin- und hergerissen zwischen Verärgerung über die Situation und Enttäuschung über sich selbst, weil er sich immer noch zu Diana hingezogen fühlte, und sei es auch nur eine flüchtige Empfindung. „Wie um alles auf der Welt hast du überhaupt erfahren, in welcher Lage sie sich befand?“

„Ich kenne dich. Etwas war geschehen, bevor du das Land verlassen hast, und Diana war die offenkundige Antwort.“

Norths Mutter war früh gestorben, und er konnte sich kaum noch an sie erinnern, doch Auntie Knowe war immer auf dem Schloss gewesen. „Ich brauchte Monate, um Diana zu finden, da Mrs. Belgrave sich weigerte, mir ihre Adresse zu verraten“, sagte er. „Wie ist es dir gelungen?“

„Ich bin geradewegs in das Wohnzimmer dieser Frau spaziert und habe gedroht, sie zu vernichten“, berichtete seine Tante vergnügt. „Ein durch und durch abstoßendes Geschöpf, wenn ich das hinzufügen darf. Sie hatte die Unverfrorenheit, mir weismachen zu wollen, dass ihre Tochter Schmuck gestohlen hat, der ein Vermögen wert war.“

„Prism hat Dianas Schmuck und ihre Kleidung zu ihrer Mutter gebracht“, sagte North und musste daran denken, wie Prism ihm den Verlobungsring zurückgegeben hatte. Er hatte es erst nicht glauben wollen.

„Diana ist keine Diebin. Als ich das arme Mädchen fand, besaß sie kaum einen Penny. Ich habe sogar Mr. Belgraves Testament prüfen lassen, um mich zu vergewissern, dass Dianas Mutter sie nicht um ihr Erbe gebracht hat.“

„Mrs. Belgrave hat sie verstoßen?“ Voll Unbehagen dachte er an das schäbige kleine Haus, in dem er Diana damals aufgesucht hatte.

„Ihr dummer Vater hat lediglich eine Klausel hineingeschrieben, dass seine Gattin ihren Töchtern eine Mitgift zu zahlen hat“, antwortete Lady Knowe und nickte. „Wie ich hörte, macht sich die Frau in der Stadt eine schöne Zeit und lässt sich von Glücksrittern hofieren. Ohne Zweifel trägt sie dabei den Schmuck, den Diana angeblich gestohlen hat.“

North hatte angenommen, dass Diana sich anstatt für ihn für einen armen Mann entschieden hatte. Doch ihr Liebhaber war gestorben, bevor North sie kennengelernt hatte. Immerhin war ihr Kind inzwischen bereits drei oder vier Jahre alt. „Zum Teufel!“, rief er aus und klang dabei etwas heiser. „Und ich bin abgereist und habe sie zurückgelassen.“

„Verständlicherweise.“ Lady Knowe tätschelte ihm den Arm. „Ich musste ihr schrecklich zusetzen, bevor sie einwilligte, ins Schloss zurückzukehren. Am Ende kam Diana nur unter der Bedingung, dass wir sie einstellen. Leider hat niemand von uns vorhergesehen, was für einen Skandal das geben würde.“

North zuckte mit den Schultern. „Die Wildes sind doch an Skandale gewöhnt.“

„Ich werde sie vermissen“, sagte seine Tante und blieb am Fuß der Treppe zum Kindertrakt stehen. „Als du sie das erste Mal mitgebracht hast, war sie so düster und niedergeschlagen, dass ich an deinem Urteil gezweifelt habe, aber jetzt kann sie mich einen ganzen Abend lang zum Lachen bringen. Wenigstens bei den Gelegenheiten, wenn ich sie überreden kann, mit mir zu speisen.“

Zu Norths Überraschung klang seine Tante einsam. Wenn er an seine Tante dachte, sah er sie immer glücklich durch ein Schloss voller Gäste schwirren.

„Haben mein Vater und meine Stiefmutter die meiste Zeit in London verbracht?“

„Das House of Lords und der Krieg“, sagte sie seufzend. „Außerdem muss die liebe Ophelia Ehemänner für die Mädchen finden. Betsy ist im Begriff, London im Sturm zu erobern, doch bisher hat sie jeden Antrag naserümpfend abgelehnt. Ophelia vermisst Artie schrecklich.“

„Warum nimmt sie sie nicht einfach mit nach London?“

„Ich habe dich auch niemals mit nach London genommen, als du noch klein warst, oder? Kinder gedeihen in diesem Kohlenstaub nicht. Die zweite Duchess deines Vaters hat Joan mit nach London genommen. Innerhalb einer Woche hatte das arme Kind einen schlimmen Husten.“

„Warum hat sie Joan nach London mitgenommen? Ich kann mich nicht daran erinnern, diese spezielle Duchess jemals im Kindertrakt gesehen zu haben.“

Die zweite Gemahlin seines Vaters war ausgesprochen fruchtbar gewesen – sie hatte ihm vier Kinder in sechs Jahren geschenkt. Aber sie war ehebrüchig geworden und war kurz nach Joans Geburt mit einem preußischen Grafen durchgebrannt. Das Parlament hatte dem Duke in Windeseile gestattet, sich scheiden zu lassen.

„Joan ist die Jüngste, und sie hat slawische Gesichtszüge“, antwortete seine Tante geradeheraus. „Ich vermute, ihre Mutter wollte sie mit ins Ausland nehmen, aber Joan hatte das Glück, diesen Husten zu bekommen. Sie weinte Tag und Nacht, sodass man sie schließlich zum Schloss zurückgeschickt hat.“

„Das ist widerwärtig“, stellte North erschüttert fest. Es hätte sie alle sehr getroffen, wenn man Joan der Familie entrissen hätte.

„Dein Vater hätte sie aufgespürt“, meinte Lady Knowe. „Er hätte niemals zugelassen, dass eine seine Töchter auf dem Kontinent aufwächst, bei einer Mutter, die sich nicht einmal die Namen ihrer Kinder merken konnte.“

„Also ist Joan nicht sein Kind?“, fragte North, unsicher, wie sie eigentlich auf dieses Thema gekommen waren.

„Was ich damit sagen will, ist, dass die Erziehung eines Kindes nichts mit Blut zu tun hat. Mein Bruder ist Joans Vater, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

„Ich verstehe.“

Sie hatten das Schlafgemach seiner Tante erreicht. Lady Knowe drückte ihm kurz den Arm und ließ ihn dann los. „Als du fort warst, hat sich der arme Boodle gegrämt wie ein liebeskrankes Milchmädchen. Es wird Zeit, dass der Mann sich wieder um dich kümmern kann.“

North stöhnte. In der Armee war er sehr gut ohne Kammerdiener ausgekommen. „Ich bin überrascht, dass er sich keine andere Stellung gesucht hat.“

„Dein Vater brauchte einen Kammerdiener, und natürlich hat Boodle es genossen, einem Duke zu Diensten sein zu dürfen. Aber du bist sein Meisterwerk“, erklärte seine Tante. „Sobald wir Nachricht von deiner baldigen Rückkehr erhielten, besorgte er deinem Vater einen anderen Kammerdiener. Er bildet sich ein, du hättest ihn eingestellt, damit er dich stets auf der Höhe der Mode hält. Er träumt bereits von deinen zukünftigen prachtvollen Auftritten.“

„Das wird nicht gut enden“, murmelte North.

„Er hat jede Menge Schnittmuster von französischen Courtiers gehortet und brütet über ihnen wie eine Henne mit goldenen Eiern“, sagte seine Tante. „Ich muss damit rechnen, dass du in wenigen Stunden von Kopf bis Fuß funkelst und glänzt.“

Autor

Eloisa James
New-York-Times-Bestseller-Autorin Eloisa James schreibt nicht nur packende historische Liebesromane, sie ist auch Professorin für Englische Literatur. Eloisa lebt mit ihrer Familie in New York, hält sich aber auch oft in Paris oder Italien auf. Sie hat zwei Kinder und ist mit einem waschechten italienischen Ritter verheiratet.
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