Der Abenteurer und die englische Rose

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Seit sein Leben als Theaterstück aufgeführt wurde, ist Lord Alaric der begehrteste Junggeselle Englands. Dabei hegt der freiheitsliebende Entdeckungsreisende keinerlei Heiratsabsichten! Bis er der klugen, kratzbürstigen Willa begegnet, der ersten Frau, die seine Abenteuer kaltlassen - und die rätselhafterweise heißes Verlangen in ihm weckt. Aber Willa wünscht sich einen seriösen, zurückhaltenden Gemahl, keinen berühmten Frauenschwarm wie ihn! Immerhin ist sie bereit, seine Scheinverlobte zu spielen, natürlich nur, um eine aufdringliche Verehrerin abzuwimmeln! Er allerdings wittert seine Chance, doch noch ihr Herz zu erobern …


  • Erscheinungstag 02.02.2021
  • Bandnummer 362
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500845
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

25. Juni 1778

London

In ganz England gab es wohl keinen Menschen, der gedacht hätte, dass der kleine Alaric Wilde eines Tages eine Berühmtheit sein würde.

Höchstens berühmt-berüchtigt.

Sein eigener Vater hatte diesen Begriff benutzt, nachdem Alaric im Alter von elf Jahren aus Eton nach Hause geschickt worden war, weil er seine Klassenkameraden mit Piratengeschichten unterhalten hatte.

Die Piraten waren dabei nicht das Problem gewesen. Das Problem war, dass der junge Alaric den betrunkenen Seeleuten eine verblüffende Ähnlichkeit mit den kleinkarierten Lehrern von Eton angedichtet hatte. Heutzutage vermied er es, selbstgerechte Engländer zu porträtieren, aber der Drang, sie zu beobachten, hatte nie nachgelassen. Er beobachtete und zählte eins und eins zusammen – gleichgültig, ob er sich gerade in China oder im afrikanischen Dschungel aufhielt.

Lord Alaric hatte schon immer aufgeschrieben, was er sah. Seine Lord Wilde-Reihe war das Ergebnis dieser Marotte, seine Betrachtungen festzuhalten. Ein Wesenszug, der sich bei ihm zeigte, sobald er gelernt hatte, die ersten Wörter zu schreiben. Wie alle anderen Menschen hätte auch Alaric niemals gedacht, dass diese Bücher ihn eines Tages berühmt machen würden.

So war es auch, als er auf der Royal George aus seiner Koje kletterte. In diesem Moment wusste er lediglich, dass er endlich bereit war, seine Familie wiederzusehen – alle acht Geschwister, ganz zu schweigen von dem Duke und der Duchess.

Er war jahrelang fort gewesen, als könnte er den Tod seines ältesten Bruders Horatius dadurch ungeschehen machen, dass er sein Grab nicht besuchte.

Doch jetzt war es an der Zeit, nach Hause zurückzukehren.

Er wollte eine Tasse Tee. Ein dampfend heißes Bad in einem richtigen Badezuber. Eine Lunge voll rauchiger Londoner Luft.

Zur Hölle, er vermisste sogar den torfigen Geruch von Lindow Moss, dem Sumpf, der sich vom väterlichen Schloss aus meilenweit Richtung Osten erstreckte.

Er zog gerade den Vorhang vor dem Bullauge zurück, als der Schiffsjunge klopfte und eintrat.

„Es ist mächtig neblig, Mylord, aber wir sind schon ein gutes Stück die Themse hoch. Der Kapitän schätzt, dass wir jeden Moment Billingsgate Wharf erreichen.“ Seine Augen leuchteten vor Aufregung.

Oben an Deck entdeckte Alaric Kapitän Barsley am Bug der Royal George, die Hände in die Hüften gestemmt. Alaric wollte schon zu ihm, doch dann blieb er verblüfft stehen. Durch den Nebel leuchtete der Hafen wie ein Kinderspielzeug, eine verschwommene Masse aus rosa, lila und hellblauen Farbtupfern, die sich erst allmählich voneinander lösten, je weiter das Schiff sich dem Pier näherte.

Frauen.

Der Pier war überfüllt mit Frauen – oder, genauer gesagt, mit Damen, wenn er all die Sonnenhüte mit den hohen Federn bedachte, die in der Brise hin- und herwedelten. Grinsend gesellte Alaric sich zum Kapitän.

„Was zum Teufel ist da denn los?“

„Ich vermute, sie warten auf einen Prinzen oder etwas ähnlich Närrisches. Diese Passagierlisten, die im Morning Chronicle abgedruckt werden, sind blanker Unsinn. Die Damen werden ziemlich enttäuscht sein, wenn sie feststellen, dass sich kein Tropfen königlichen Blutes an Bord der Royal George befindet“, knurrte der Kapitän.

Alaric, der über seinen Großvater mit der Krone verwandt war, lachte kurz auf. „Sie haben eine edle Nase, Barsley. Vielleicht wurde eine Verwandtschaft aufgedeckt, von der Sie bisher noch nichts wussten.“

Barsley schnaubte nur. Inzwischen waren sie nah genug, um zu erkennen, dass die Damen sich bis zurück zum Fischmarkt drängten. Sie schienen ständig auf und ab zu hüpfen wie bunte Bojen auf dem Wasser, während sie versuchten, durch den Nebel etwas zu erkennen. Schwache Schreie verrieten Aufregung, wenn nicht gar Anflüge von Hysterie.

„Das ist ja das reinste Tollhaus“, sagte Barsley angewidert. „Wie sollen wir denn bei diesem Gedränge ausschiffen?“

„Da wir aus Moskau kommen, glauben sie vielleicht, wir hätten den russischen Botschafter an Bord“, sagte Alaric. Aufmerksam beobachtete er das Ruderboot, mit dem der Hafenmeister auf sie zusteuerte.

„Warum in Teufels Namen sollte eine Horde Frauen einen Russen begaffen wollen?“

„Kochubey ist ein gut aussehender Kerl“, sagte Alaric, als das Boot mit einem dumpfen Aufprall am Schiff anlegte. „Er beklagt sich gerne, die englischen Damen würden ihn regelrecht bestürmen, ihn einen Adonis nennen und sich mitten in der Nacht in seine Gemächer schleichen.“

Doch der Kapitän hörte gar nicht zu. „Was zum Teufel haben all diese Frauen am Kai zu suchen?“, brüllte Captain Barsley, als der Hafenmeister über die Kante des Ruderboots kletterte. „Machen Sie Platz für meine Gangway, oder ich übernehme keine Verantwortung, wenn die Fische heute eine feine Mahlzeit bekommen!“

Der Mann sprang an Deck und machte große Augen. „Es ist wahr! Sie sind hier!“, platzte er heraus.

„Natürlich bin ich hier“, knurrte der Kapitän wütend.

Doch der Mann sah Barsley gar nicht an.

Sein Blick war auf Alaric gerichtet.

Cavendish Square

London

Miss Wilhelmina Everett Ffynche ging ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: lesen. Sie saß zusammengerollt in einem Lehnsessel und verschlang den Augenzeugenbericht von Plinius über den Ausbruch des Vesuvs.

Genau diese Art von Erzählungen waren ihr am liebsten: aufrichtig und gemäßigt statt übertrieben reißerisch, sodass die Leserin ihre eigene Vorstellungskraft benutzen konnte. Plinius’ Beschreibung der Aschewolke, die wie ein Regenschirm immer höher stieg und sich immer weiter ausbreitete, war faszinierend.

Die Tür wurde ungestüm aufgerissen. „Madame Legrand hat meinen neuen Hut geliefert!“, rief ihre Freundin Lavinia. „Was denkst du?“

Willa ließ ihre Augengläser sinken und blickte auf, als Lavinia sich im Kreis drehte. „Absolut perfekt. Die schwarze Feder ist ein Geniestreich.“

„Ich finde, es verleiht dem Hut eine gewisse Würde“, sagte Lavinia glücklich. „Damit sehe ich sehr ehrwürdig aus, wenn nicht gar philosophisch. Wie du mit deinen Augengläsern.“

„Ich wünschte nur, diese Gläser wären genauso bezaubernd wie deine Feder“, sagte Willa lachend.

„Was liest du da?“, fragte Lavinia und setzte sich auf die Armlehne von Willas Sessel.

„Plinius’ Beschreibung von dem Vulkanausbruch, der Pompeji begraben hat. Stell dir nur vor, sein Onkel ist direkt in die Staubwolke gefahren, um die Überlebenden zu retten. Und er wollte, dass Plinius ihn begleitet.“

„Lord Wilde hätte sich auch direkt in den Tumult gestürzt“, sagte Lavinia mit einem Ausdruck träumerischer Verliebtheit.

Willa verdrehte die Augen. „Dann wäre er umgekommen, genau wie Plinius’ Onkel. Ich muss sagen, Wilde scheint mir genau der Schlag Mann zu sein, der immer dorthin rennt, wo die Gefahr lauert.“

„Aber er würde sich der Gefahr stellen, um Menschen zu retten“, stellte Lavinia klar. „Das kannst du kaum kritisieren.“ Sie war daran gewöhnt, dass Willa den Entdecker ständig schlechtmachte – den Mann, von dem sie behauptete, ihn mehr als alles andere zu lieben – außer Hüte.

Und Willa.

„Ich bin so froh, dass mein Hut gerade rechtzeitig für die Gesellschaft in Lindow Castle gekommen ist“, stellte sie fest. „Das erinnert mich daran, dass die Truhen gepackt sind und Mutter gerne nach dem Mittag aufbrechen würde.“

„Natürlich!“ Willa sprang auf und verstaute ihre Augengläser und das Buch in einer kleinen Reisetasche.

„Ich brenne darauf, das Haus zu sehen, in dem Lord Wilde aufgewachsen ist“, sagte Lavinia mit einem glücklichen Seufzen. „Sobald ich kann, will ich mich in sein Kinderzimmer stehlen.“

„Warum?“, fragte Willa. „Willst du dir ein Andenken mitnehmen? Vielleicht ein Spielzeug, mit dem er früher gespielt hat?“

„Die Gärtner schaffen es nicht, die Blumenbeete des Schlosses zu bewachen“, sagte Lavinia kichernd. „Alle Welt will Blumen zwischen den Seiten seiner Bücher pressen.“

Was für eine Aufregung würde wohl herrschen, wenn Lord Wilde höchstpersönlich auftauchen würde! Aber der Mann war seit Jahren nicht mehr in England gewesen. Wenn man den beliebten Kupferstichen von ihm glaubte, die überall im Umlauf waren, war er zu beschäftigt damit, gegen Piraten zu kämpfen und mit Riesentintenfischen zu ringen.

Manchmal hatte Willa das Gefühl, das ganze Königreich wäre von einem Fieber befallen – wenigstens die weibliche Hälfte davon. Nur sie selbst war davon verschont geblieben.

Während der gerade zu Ende gegangenen Ballsaison hatten die jungen Damen nur selten über die Männer gesprochen, die sie vermutlich heiraten und mit denen sie ihr Leben verbringen würden. Stattdessen hatten sie sich vor allem über den Autor von Büchern wie Wilde Saragossasee geredet.

Wilde Saragossasee? Wilde Breiten?

Die einzige vernünftige Reaktion darauf war ein Prusten.

Willa war sich ziemlich sicher, dass Lord Wilde allen anderen Männern verdächtig ähnlich sein würde. Vermutlich rülpste er, roch nach Whiskey und beäugte bei jeder Gelegenheit den Busen einer Frau.

Sie nahm Lavinia am Arm und zog sie auf die Füße. „Dann also los. Auf nach Lindow Castle, um das Kinderzimmer zu plündern!“

2. KAPITEL

Lindow Castle, Cheshire

Landsitz des Duke of Lindow

28. Juni 1778

Später Nachmittag

Alaric schritt einen der langen Gänge im Haus seiner Kindheit entlang. Ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit erfüllte ihn. Sein älterer Bruder, Lord Roland Northbridge Wilde – oder North, wie er lieber genannt werden wollte – war an seiner Seite.

Der Erbe und die Reserve. Der Höfling und der Entdecker. Der Liebling des Dukes und der Schandfleck der Familie.

Der berühmt-berüchtigte Sohn, der die ganze Familie blamierte.

Er und North waren ungefähr gleich groß, von ähnlicher Statur und Kinnform. Aber damit hörten die Ähnlichkeiten auch schon auf. Wenn sie es absichtlich darauf angelegt hätten, hätten sie von der Persönlichkeit her nicht unterschiedlicher sein können.

„Ich habe nicht mit der Zarin geschlafen“, sagte Alaric, sobald sie den Fuß der Treppe erreicht hatten. Vor dem vergoldeten Spiegel in der Eingangshalle des Schlosses blieb er stehen, um sich eine ramponierte, gepuderte Perücke aufzusetzen. Beim Anblick seines Spiegelbildes schnitt er eine Grimasse. „Vielleicht sollte ich meine Meinung ändern und an den russischen Hof zurückkehren. Dort müsste ich wenigstens nicht dieses Ungetüm tragen.“

„An diesen Gerüchten ist also wirklich nichts dran?“, hakte North nach und tauchte hinter Alarics Schulter im Spiegel auf. „Joseph Johnson verkauft ein Bild mit dem Titel England erobert Russland im Sturm. Die Szene spielt im Schlafgemach der Zarin Katharina, und der Mann sieht dir bemerkenswert ähnlich.“

Ihre Blicke trafen sich im Spiegel, und North zuckte sichtlich zusammen. „Gütiger Gott, ist das deine Perücke?“ Stirnrunzelnd musterte er den verfilzten Klumpen auf Alarics Kopf. „Vater wird es nicht gefallen, wenn du das Ding zum Dinner trägst. Und mir gefällt es auch nicht.“

Das überraschte Alaric nicht. North trug eine hohe schneeweiße Kreation, mit der er aussah wie eine Kreuzung aus einem Papagei, den man in Gipsstaub getaucht hatte, und einem schrillen Huhn. Alaric hatte seinen Bruder fünf Jahre nicht gesehen, und er hatte ihn kaum wiedererkannt.

„Ich komme direkt vom Hafen, aber ich habe meinen Diener nach London geschickt. Quarles müsste in ein paar Tagen ankommen, mitsamt neuer Perücke. Obwohl seine Neuerwerbung natürlich niemals an die Eleganz deiner Perücke heranreichen wird.“

North zupfte an seinen Manschetten. Rosa Seidenmanschetten. „Ganz gewiss nicht. Diese Perücke wurde in Paris gefertigt und mit dem besten zyprischen Haarpuder von Sharp bestäubt.“

Genau in diesem Moment betrat der Butler der Familie, Prism, die Eingangshalle. Er gehörte zu jenen Butlern, die fest daran glaubten, dass die Aristokratie nichts verkehrt machen konnte. Im Dienst für die Wildes wurde diese Überzeugung immer wieder auf eine harte Probe gestellt, doch er war bemerkenswert begabt darin, jeden Beweis des Gegenteils auszublenden.

„Guten Nachmittag, Lord Roland, Lord Alaric“, sagte er. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Guten Tag, Prism“, entgegnete Alaric. „Mein Bruder ist wild entschlossen, die Duchess beim Tee zu stören, um mich seiner Verlobten vorzustellen.“

„Die Damen werden außer sich sein vor Entzücken“, sagte Prism und räusperte sich diskret, um sein Missfallen über Alarics unerwarteten Ruhm zum Ausdruck zu bringen.

„Ich bin genauso verblüfft wie Sie“, erklärte Alaric ihm. Er war der Meute am Kai nur entkommen, indem er sich Captain Barsleys Hut aufgesetzt hatte. Keine der Frauen, die seinen Namen kreischten, hatte ihn erkannt, als er sich seinen Weg durch die Menge gebahnt hatte, was das Erlebnis nur noch merkwürdiger gemacht hatte.

„Gib mir eine Minute“, sagte North und korrigierte den Sitz seiner perfekt gebundenen Krawatte im Spiegel. „Wappne dich, Alaric. Ich vermute, jede Frau im Raum hat mindestens eines deiner Abenteuer gelesen.“

„Der Duke sagt, sie hätten in den Jahren, in denen ich fort war, das ganze Land damit überzogen. Ich glaube, das Wort, das er verwendete, war ‚besudelt‘.“

„Die Gerüchte, die die Menschen sich über dich erzählen, ganz zu schweigen von den Porträts, die sie sammeln, gefallen unserer Familie ganz und gar nicht. Vater findet, dass deine Berühmtheit sich für unsere Stellung nicht geziemt. Erinnerst du dich an Lady Helena Biddle? Vermutlich hat sie ihr Haus mit Bildern von dir tapeziert. Gut möglich also, dass sie in Ohnmacht fällt, sobald du eintrittst.“

Alaric unterdrückte einen Fluch. Helena Biddle hatte ihm schon vor fünf Jahren nachgestellt.

„Sie ist jetzt verwitwet“, fügte sein Bruder hinzu und begann, an den Locken zu zupfen, die ihm über die Ohren hingen.

Bei diesem Tempo würden sie in einer Stunde noch hier stehen. „Ich freue mich darauf, deine Verlobte kennenzulernen“, sagte Alaric.

North beherrschte den Trick, stets streng auszusehen, egal, in welcher Stimmung er sich befand, aber jetzt zuckten seine Mundwinkel. „Halte einfach nach der schönsten und elegantesten Frau im Zimmer Ausschau.“

Wen scherte es, wenn North sich in den letzten Jahren in einen Pfau verwandelt hatte? Alarics älterer Bruder war offensichtlich verliebt.

Er umarmte North grob, aber herzlich, mit einem Arm und gefährdete damit die Perfektion der brüderlichen Halsbinde. „Ich freue mich für dich. Jetzt hör auf, an deiner Perücke herumzufummeln, und stelle mich diesem entzückenden Wesen vor.“

Prism riss die großen Türen zum Salon auf, in dem die weiblichen Mitglieder des herzoglichen Haushalts sich zum Tee versammelt hatten. Der Raum vor ihnen war gedrängt voll mit Dingen, die Alaric verabscheute – Seidenstoffen, Perücken, Diamanten und geistlosen Gesichtern.

Er liebte Frauen, aber aristokratische Damen, die nur geboren wurden, um zu kichern und über nichts anderes als Mode zu reden?

Nein.

In dem Raum befanden sich wohl zwanzig adlige Damen, einschließlich seiner Stiefmutter, der Duchess. Doch Norths Blick wanderte direkt zu einer Dame, deren Rock nicht weniger als drei Mal üppig gebauscht war. Die Kleider anderer Frauen waren hinten ebenfalls mit Bäuschen verziert, doch bei dieser Dame waren sie riesiger als bei allen anderen.

Wie es aussah, war man umso modischer, je größer der Hintern war.

„Das ist sie“, raunte North ihm zu. Er klang, als hätte er einen Blick auf ein königliches Wesen erhascht.

Wenn das Volumen des Kleides ein Hinweis auf den Rang gewesen wäre, dann hätte Miss Belgrave ohne Zweifel der Thron zugestanden. Ihr Rock hatte unzählige Schleifen, das offene Obergewand war mit weiteren Rüschen bedeckt. Und auf dem Kopf trug sie einen kompletten Obstkorb.

Alaric runzelte die Stirn. Hatte sein Bruder tatsächlich die Absicht, so eine Frau zu heiraten?

„Lord Roland … und Lord Alaric“, verkündete Prism.

Die Damen reagierten auf die Ankündigung mit einem hörbaren Seufzen. Alaric biss die Zähne zusammen. Er wandte sich an seinen Bruder. „Spielen wir anschließend noch Billard?“

North zwinkerte. „Ich freue mich immer, wenn ich dir dein Geld abnehmen kann.“

Notgedrungen betrat Alaric den Raum.

Zum Glück schaute Willa gerade zufällig zur Tür, als der große Entdecker angekündigt wurde. So blamierte sie sich wenigstens nicht, indem sie ihren Tee verschüttete, während sie sich zur Tür umdrehte – wie fast jede andere Frau im Raum.

Willa konnte ihnen kaum einen Vorwurf machen. Im ganzen Land zierte Lord Wildes Konterfei die Wände von Schlafkammern, doch keine der Damen hatte erwartet, ihn tatsächlich einmal kennenzulernen. Die Dame rechts von ihr legte sich eine Hand auf den Busen, sobald sie den Mann leibhaftig vor sich erblickte. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

Wie tragisch, dass Lavinia sich zum Tee verspätete! Sie würde vor Zorn über sich vergehen, weil sie so herumgetrödelt hatte.

Der Mann, der in ihre Mitte trat, blickte weder nach links noch nach rechts. Er trug grobe Stiefel anstelle der feinen Schuhe, die ein Gentleman normalerweise im Haus anzog. Seine Hände waren nackt, seine Perücke war ungelockt, und er kam ganz und gar ohne Putz aus.

Willa ließ ihren Fächer aufschnappen, um dieses Vorbild an Männlichkeit, wie die Morning Post ihn genannt hatte, besser unter die Lupe nehmen zu können. Ein Vorbild in Sachen Mode war er jedenfalls nicht.

Er sah aus, als wäre er in einem anderen Jahrhundert zu Hause – im Mittelalter beispielsweise, als Edelmänner noch mit Breitschwertern gekämpft hatten. Stattdessen steckte er jetzt in einer Zeit fest, in der die Füße eines Gentlemans in zierlichen Schühchen mit kleinen Seidenblumen zu stecken hatten.

In diesem Moment löste sich das Schweigen, das sich über den Raum gelegt hatte. Ein gewaltiges Geplapper setzte ein, hier und da von einem leisen Aufschrei unterbrochen.

„Ich sehe seine Narbe!“, sagte jemand hinter Willa heiser.

Erst jetzt erkannte Willa die dünne weiße Linie, die sich an einer sonnengebräunten Wange entlang wand. Man sollte meinen, dass so eine Narbe das Gesicht entstellen müsste, aber das war ganz und gar nicht der Fall.

Es gab viele Geschichten darüber, wie Lord Alaric zu dieser Narbe gekommen war, doch Willa hatte schon immer vermutet, dass er in den Abort gestürzt war und sich den Kopf an der Kante gestoßen hatte.

Lavinias entfernte Cousine, Diana Belgrave – Lord Alarics zukünftige Schwägerin – hatte übellaunig aus dem Fenster in den Garten gestarrt. Jetzt kam sie zu Willa geeilt und stellte sich mit dem Rücken zum Raum. „Glaubst du, Lord Roland hat mich gesehen?“, zischte sie.

Die beiden Brüder küssten ihrer Stiefmutter die Hand und …

… wandten sich direkt ihnen zu.

Willa hätte beinahe geseufzt, wenn sie sich nicht schon vor Jahren die Regel auferlegt hätte, dass Wilhelmina Everett Ffynche niemals seufzte. Aber wenn es je eine Situation geben würde, die einen Seufzer rechtfertigte, dann war es der Moment, in dem eine junge Dame – Diana zum Beispiel – so angewidert von ihrem zukünftigen Gemahl war, dass sie alles getan hätte, um ihm auszuweichen.

„Ja, er hat“, stellte Willa klar. „Ihm den Rücken zuzukehren ist nicht die beste Tarnung, wenn deine Perücke höher ist als alle anderen. Sie kommen direkt hierher wie heimkehrende Tauben zu ihrem Schlag.“

Willa sah sie näherkommen, und plötzlich verstand sie zum ersten Mal, warum die Bilder von Lord Wilde unzählige Schlafkammerwände zierten. Er hatte etwas Aufregendes an sich.

Er war so groß und auf primitive Art sehr lebendig.

Was vermutlich im Zusammenleben ziemlich unbehaglich wäre. Willa besaß nur einen Kupferstich von Sokrates: ein nachdenklicher, intelligenter Mann, dessen Schenkel ohne Zweifel genauso mager waren wie ihre eigenen.

„Willa, ich flehe dich an, übernimm du das Reden“, flüsterte Diana. „Ich musste bereits am Frühstückstisch eine Unterhaltung mit Lord Roland über mich ergehen lassen.“

Ihr Verlobter erreichte sie, bevor Willa antworten konnte. „Miss Belgrave, darf ich Ihnen meinen Bruder Lord Alaric vorstellen, der soeben aus Russland zurückgekehrt ist?“, fragte er Diana.

Diana stellte ihre bemerkenswerte Fähigkeit unter Beweis, mit einem halben Gemüseladen auf dem Kopf einen höflichen Knicks zu machen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Währenddessen stellte Willa fest, dass Lord Alaric wohlgeformte Wangenknochen hatte, seine Lippen einem italienischen Höfling zur Ehre gereicht hätten und die blauen Augen …

Oh, und diese gerade Nase!

Diese Porträts von ihm, die es an jeder Straßenecke zu kaufen gab, wurden ihm ganz und gar nicht gerecht.

Mit überraschender Gewandtheit verbeugte er sich vor Diana. Seine Jacke spannte an den Schultern. Kaum zu glauben, dass jemand mit einem so kräftigen und muskulösen Oberkörper sich so mühelos verneigen konnte. Allerdings sollte sich der Sohn eines Dukes einen besseren Schneider leisten können.

„Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Miss Belgrave“, sagte er und küsste Diana die Hand. „Ich fühle mich geehrt, Sie in unserer Familie willkommen zu heißen.“

Diana brachte ein schwaches Lächeln zustande.

Als Lord Alaric sich ihr zuwandte, wich Willa beinahe einen Schritt zurück. Er war so groß, dass sie das absurde Gefühl hatte, er könnte die Luft um sie herum ganz für sich beanspruchen.

Immerhin hätte das ihr leichtes Schwindelgefühl erklärt.

Lord Roland hatte nur Augen für seine zukünftige Gattin und zog sie beiseite, um ungestört mit ihr plaudern zu können. Was bedeutete, dass Willa unvermittelt mit dem Entdecker allein war. „Lord Alaric, es ist mir ein Vergnügen“, sagte sie und streckte ihm die Hand für einen Kuss entgegen.

Das feine Mädchenpensionat für höhere Töchter, das sie besucht hatte, war bekannt dafür, den jungen Damen beizubringen, wie man mit peinlichen Situationen umging. In diesem Fall bedeutete es, dass Willa so tat, als würde der Kreis aus jungen Frauen, die atemlos darauf warteten, dieselbe Erfahrung zu machen wie sie, nicht existieren.

Interessanterweise schien Lord Alaric ihnen ebenso wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Während er ihre Hand an seine Lippen hob, schien sein Lächeln nur ihr allein zu gelten. „Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite“, murmelte er.

Seine Stimme war tief und heiser, genauso ungewöhnlich wie seine Aufmachung. Es war nicht die Stimme eines Höflings. Oder die eines Jungen, wie bei vielen ihrer Verehrer. Es war die Stimme eines erwachsenen Mannes.

Anstatt den Rücken ihrer Hand zu küssen, führte er ihre Fingerspitzen an den Mund. Als er sie mit den Lippen berührte, trafen sich ihre Blicke.

Sie trug keine Handschuhe, aber das erklärte nicht, warum ihre Finger heftig zu kribbeln begannen. Willa spürte, dass sie unwillkürlich lächelte, ganz im Gegensatz zu der gefassten Miene, mit der sie einen Fremden üblicherweise begrüßte.

„Wie ich hörte, sind Sie gerade erst nach England zurückgekehrt“, sagte sie und zog hastig ihre Hand zurück. „Was haben Sie auf Ihren Reisen im Ausland am meisten vermisst?“

Lord Alarics Augen, halb verborgen unter den dichten Wimpern, waren so blau wie der Himmel in der Zeit der Dämmerung.

Schönheit war angeboren. Aber Augen? Das war etwas anderes. Schöne Augen zeigten Gefühle.

„Meine Familie“, sagte er. „Danach eine Matratze ohne Läuse, Brandy, freundliche Diener und einen guten Teller Schinken und Ei am Morgen. Ach ja, und natürlich die Gesellschaft von Damen.“

„Es muss berauschend sein, so bewundert zu werden“, sagte Willa leicht entrüstet. Ein Teller Schinken war ihm wichtiger als Damen?

Lord Alaric lächelte schief. „Bewunderung ist ein wenig zu viel. Ich freue mich einfach, wenn meinen Lesern meine Arbeiten gefallen.“

Sie ließ einen Hauch von Verachtung in ihren Augen aufblitzen angesichts dieser … falschen Bescheidenheit. „Ich habe Montaignes Essay über die Kannibalen gerne lesen, aber das hat mich nicht dazu veranlasst, ein Bild von ihm in meinem Zimmer aufzuhängen.“

Er wirkte überrascht. Widersprach ihm denn niemals jemand? Oder wusste er nicht, dass sein Bild in vielen Schlafzimmern einen Ehrenplatz hatte?

„Wohin planen Sie Ihre nächste Reise?“, fragte sie und wechselte das Thema.

„Ich habe mich noch nicht entschieden. Haben Sie einen Vorschlag?“

„Ich bin nicht sicher, wo Sie bereits überall waren“, räumte Willa ein. „Ich fürchte, ich bin einer der wenigen Menschen im Königreich, die sich nicht für Lord Wildes Unternehmungen interessieren.“

Er öffnete die Augen mit den schweren Lidern ein winziges Stück, die Mundwinkel hoben sich ein wenig mehr. „Es sind ja auch eher belanglose Erzählungen. Ich versichere Ihnen, dass Sie nicht die Einzige sind, die meine Bücher meidet.“

Willa hätte zu gerne mit den Schultern gezuckt, aber Schulterzucken war wie Seufzen: eine unelegante Methode, Gefühle zu zeigen, die sie sich besser verkniff. „Darauf gibt es nur wenige Hinweise“, stellte sie fest. „Sie waren einige Zeit fort, aber Sie werden feststellen, dass Ihre Bücher überall gelesen werden.“

„Ziehen Sie Romane vor?“, fragte er.

„Nein, tut mir leid, ich interessiere mich nicht für ausgedachte Geschichten gleich welcher Art“, sagte Willa. Er sah sie so eindringlich an, dass ihr leicht schwindelig wurde.

Was für ein lästiger Mann!

„Ich denke mir die Erlebnisse, die ich beschreibe, nicht aus“, sagte Lord Alaric mit einem Hauch von Belustigung in der Stimme.

„Gewiss nicht“, erwiderte sie hastig. Doch dann konnte sie nicht widerstehen. „Aber nach dem, was meine Freundin Lavinia mir erzählt hat, würden Sie doch gewiss zustimmen, dass Ihre Abenteuer, sagen wir, überlebensgroß sind?“

„Nein“, sagte er, anscheinend noch amüsierter. „Was lesen Sie im Moment?“

„Die Briefe des Plinius an Tacitus, aber ich werde sie beiseitelegen und einen Ihrer Berichte lesen. Was empfehlen Sie, womit ich beginnen soll? Vielleicht mit dem über die Kannibalen?“

Eine seiner Brauen schoss in die Höhe. „Kannibalen?“

„Ach, stimmt ja!“, rief Willa. „Lavinia sagte, dass die Kannibalen nur in dem Theaterstück auftauchen.“

Wie ein Punkt das Ende eines Satzes markiert, beendete diese Bemerkung seine Heiterkeit. Er runzelte die Stirn. „Theaterstück?“

„Wilde in Love“, antwortete Willa verblüfft. Wusste Lord Alaric etwa nichts von dem überaus erfolgreichen Theaterstück, das sein Leben beschrieb?

„Der verliebte Wilde? Oder wilde Liebe?“ Er sah gar nicht glücklich aus. „Was genau passiert in diesem Stück?“

„Wie Sie sich denken können, lernen Sie dort eine Dame kennen“, sagte Willa und genoss es, dass sein Gesichtsausdruck immer gequälter wurde.

Als Lord Roland sich neben ihr räusperte, schreckte sie unmerklich zusammen. Anscheinend hatte Diana die Flucht ergriffen, und Lord Alarics Bruder konnte sich wieder zu ihnen gesellen. „Ich vergaß es dir zu erzählen“, sagte er und grinste seinen Bruder an. „Wir haben mit ein paar Freunden extra einen Ausflug nach London gemacht, um dein Stück zu sehen, Alaric. Auntie Knowe hat jedes einzelne Medaillon aufgekauft, das vor dem Theater verkauft wurde.“

Lord Alaric runzelte die Stirn.

„Reproduktionen des Medaillons, das Sie Ihrer Verlobten schenken“, erklärte Willa.

„Ich bin also nicht nur verliebt, sondern auch verlobt?“

„Mit deiner einzigen wahren Liebe“, sagte Lord Roland, und sein Lächeln wurde noch breiter. „Du schreibst jede Menge Liebesgedichte und trägst sie vor – das ist im Wesentlichen der erste Akt. Am Ende überreichst du ihr das Medaillon als Zeichen deiner Zuneigung. Du wirst gewiss ein paar Damen sehen, die es tragen. Auntie Knowe hat sie gestern verteilt wie Ostereier.“

„Was für ein hanebüchener Unsinn! Ich war nie verlobt und habe nie auch nur eine Gedichtzeile geschrieben. Was passiert sonst noch in dieser Schmierenkomödie?“

„Es tut mir leid, aber es ist keine Komödie, sondern eine Tragödie. Die Kannibalen verspeisen am Ende Ihre Liebste“, sagte Willa. Sie konnte nicht anders und lächelte breit, zusammen mit Lord Roland.

„Ich kann nicht behaupten, dass der Tod einer Verlobten, die ich nie kennengelernt habe, mich besonders erschüttern würde“, meinte Lord Alaric.

„Wenn ich dir einen Rat geben darf“, sagte sein Bruder unbeeindruckt, „dann hättest du das Frühstück auslassen und deine Angst vor Wasser überwinden sollen, um die Tochter des Missionars vor den Kannibalen zu retten.“

Lord Alaric starrte ihn verständnislos an. „Was meinst du mit der ‚Tochter des Missionars‘?“

Unwillkürlich trat Willa einen Schritt zurück. Plötzlich erinnerte der Mann sie an ein Raubtier kurz vor dem Angriff. Auch wenn kein anderer es wahrzunehmen schien.

In dem Moment, in dem Willa ihren kleinen Kreis öffnete, drängten die ungeduldigen Damen hinter ihr nach vorn und stießen ihr dabei unsanft die Ellenbogen in die Seiten.

Sie beschloss, sich ohne große Worte zurückzuziehen. Doch als sie den Raum zur Hälfte durchquert hatte, drehte sie sich doch noch einmal um, nur um peinlicherweise festzustellen, dass Lord Alaric ihr nachsah.

Vermutlich war er daran gewöhnt, dass Frauen sich sehnsüchtig nach ihm umschauten, denn sein rechter Mundwinkel hob sich, als ihre Blicke sich begegneten.

Machte er sich über ihren Rückzug lustig?

Brüsk wandte Willa sich ab. Er hätte nicht deutlicher machen können, dass er sich nicht an die Regeln des Anstands und des kultivierten Betragens hielt.

Der Mann war eine Gefahr für die feine Gesellschaft.

Eine verlockende Bedrohung, aber nichtsdestotrotz eine Bedrohung.

3. KAPITEL

Billardzimmer

Früher Abend

Ich erinnere mich nicht, dich jemals in Seide gesehen zu haben. Noch dazu in rosa Seide“, sagte Alaric. Er lehnte am Billardtisch und beobachtete seinen Bruder dabei, wie der die rote Kugel ein ums andere Mal mit einer Beiläufigkeit versenkte, die wahre Meisterschaft verriet. „Wenn du nicht aufpasst, wirst du noch richtig herzogisch. Weißt du nicht mehr, wie es bei Horatius war?“

Als er noch lebte, hatte ihr älterer Bruder Horatius großen Gefallen an diesem ganzen Unsinn gefunden, den das Erbe des Titels eines Dukes mit sich brachte. Schon als kleiner Junge in kurzen Hosen hatte er pompös ausgesehen. Wahrscheinlich bereits in Windeln.

„Herzogisch ist kein richtiges Wort, und englische Edelmänner kleiden sich heutzutage so“, entgegnete North rundheraus. „Jetzt bist du wieder in England, und du solltest dich ebenfalls standesgemäß kleiden.“

„Ich habe mich rasiert“, gab Alaric zu bedenken.

North ließ die weiße Kugel gegen die rote krachen, die erneut in der Tasche verschwand. „Es könnte sein, dass die Luft um einen zukünftigen Duke herum verdorben ist. Ich muss zugeben, dass ich mich manchmal selbst überrasche.“

„Bin ich immer noch nicht dran?“ Alaric nahm einen ordentlichen Schluck von seinem französischen Brandy.

„Nein.“

„Ich finde, mit deiner Perücke siehst du aus wie ein afrikanischer Papagei, den man mit einem exotischen Huhn gekreuzt hat.“

North zielte mit seinem Queue, die weiße Kugel prallte gegen die Bande, dann noch einmal und traf schließlich die anvisierte rote Kugel – die überraschenderweise nicht eingelocht wurde. „Horatius ist tot. Ich musste erwachsen werden.“

Alaric schob den vertrauten Schmerz beiseite. „Du hast drei Locken über jedem Ohr“, stellte er fest. „Dazu ein paar schicke Rüschen an den Handgelenken und einen Gehrock mit Goldstickereien. Das lässt sich nicht allein mit Reife erklären.“

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie uninteressant ich deine Kommentare zu meiner Kleidung finde“, sagte North. „Da du so mit meiner Garderobe beschäftigt bist – soll ich die nächste Runde spielen?“

„Mach ruhig“, sagte Alaric und trank noch einen Schluck Brandy. „Es ist nicht nur deine Garderobe. Als ich vor fünf Jahren aufgebrochen bin, bist du ohne Perücke herumgelaufen, mit einer plumpen Tänzerin im einen und einer schmollenden italienischen Sängerin im anderen Arm. Und jetzt wirst du heiraten.“

North beugte sich vor, um sein Queue zu positionieren. „Menschen verändern sich.“

„Und du trägst Schuhe mit Absätzen“, fuhr Alaric fort, als sein Blick auf die Füße seines Bruders fiel. „Verdammt, sie sind nicht einmal schwarz, oder?“ Er schaute genauer hin und fügte mit einigem Abscheu hinzu: „North, deine Strümpfe sind gestreift, und deine Absätze sind gelb. Gelb!

„Das ist der neueste Stil. Du bist 1773 aufgebrochen, und jetzt haben wir 1778. Die Mode ändert sich.“ Er versenkte die nächste rote Kugel.

„Du hast dich in einen verdammten Dandy verwandelt. Es würde mich nicht überraschen, wenn du anfangen würdest, mit großen Silberschnallen an den Schuhen herumzulaufen.“

Sein Bruder richtete sich auf. „Alaric.“ Seine Stimme war gefährlich ruhig, ein Tonfall, dem in ihrer Kindheit oft genug der Versuch gefolgt war, den Bruder zu Boden zu schlagen.

Doch Alaric hatte es sich noch nie verkneifen können, die Bestie weiter anzustacheln – in diesem Fall den Mann, der kaum noch Ähnlichkeit mit dem Bruder hatte, an den er sich erinnerte. „Soll ich mich schon einmal darauf einstellen, dich auf knallroten Absätzen den Mittelgang der Kirche entlangtänzeln zu sehen? Mit Rouge auf den Wangen und Schönheitspflästerchen?“

Norths dunkelblaue Augen, die Alarics unheimlich ähnlich waren, wurden schmal. „Muss ich davon ausgehen, dass du in der Kirche wie ein Grobschmied aussehen wirst? Denn im Moment tust du das.“

„Quarles wäre sehr verletzt, wenn er das hören würde“, sagte Alaric. Sein Diener gab sich allergrößte Mühe, in Anbetracht der Tatsache, dass sein Herr sich weigerte, Seidenstoffe, Absätze, Rüschen oder Rouge zu tragen.

Ihre Familie war groß, egal, welche Maßstäbe man anlegte. Die dritte Frau ihres Vaters würde demnächst einem weiteren kleinen Wilde das Leben schenken, doch Horatius, North und er waren die ersten im Kinderzimmer gewesen.

Alaric würde sagen, dass sie einander in- und auswendig kannten. Horatius war arrogant, aber aufrichtig gewesen, Alaric war abenteuerlustig, schon fast draufgängerisch, und North war verwegen und halbverrückt.

Doch von Verwegenheit und Verrücktheit war im Moment nichts zu sehen. Stattdessen war sein Bruder zimperlich, modisch und empfindlich geworden. Und schon bald verheiratet.

Das war schwer zu glauben.

Unmöglich.

„Wie heißt Miss Belgrave mit Vornamen?“, fragte Alaric. Er hatte es nicht geschafft, mit seiner zukünftigen Schwägerin zu plaudern. Er war zu sehr von diesem hitzigen kleinen Zankteufel abgelenkt gewesen, der seine Bücher nicht gelesen hatte.

Sie war aber auch verdammt reizend gewesen. Feine Gesichtszüge, gepaart mit vollen Lippen, bei denen ein Mann sich unwillkürlich die Frage stellte, wie es wäre, mit dieser Frau zu schlafen. Dabei hatte sie ihren Mund ständig zu einem spöttischen kleinen Lächeln verzogen, weil sie offensichtlich der Ansicht war, dass er bestenfalls ein Geschichtenerzähler war, wenn nicht gar ein Müßiggänger.

Ein betrügerischer Müßiggänger noch dazu, der die Erlebnisse in Lord Wildes Büchern aus dem Nichts erschuf.

Doch das Feixen sei ihr vergönnt. Als er sie angesehen hatte, hatte er begriffen, was es mit diesen Perücken auf sich hatte. Unter einer Perücke verbarg die Frau ihre Haare für sich selbst – und ihren Liebhaber. Ihre Haarpracht wurde so zu einem rein privaten Vergnügen.

Doch dann, als er gerade von diesem absurden Theaterstück erfahren hatte, wurde er von den Damen überrannt, die Wilde in Love gesehen hatten und allesamt zu glauben schienen, dass sein Leben tatsächlich Ähnlichkeit mit diesem lächerlichen Schauspiel hatte.

„Meine Verlobte heißt Diana“, sagte North lächelnd. Es war ein spontanes Lächeln, das seine Augen zum Leuchten brachte.

Diana? Himmel, damit gehört sie ja praktisch schon zur Familie“, sagte Alaric und schüttelte den Gedanken an Wilde in Love ab.

Ihr Vater hatte alle seine Kinder nach Kriegern benannt. Alaric und Roland hatten früher die Schlachten zwischen Alaric, dem König der Westgoten, und Roland, dem obersten Heerführer Karls des Großen, nachgespielt. Horatius war sich zu vornehm für solche kindischen Spielchen gewesen und hatte sie nur zu gern daran erinnert, dass sein Namenspate ganz allein eine ganze Armee besiegt hatte.

„Ich habe der Duchess gesagt, dass sie diesen Namen nicht für das neue Baby nehmen darf“, sagte North.

„Die passenden Namen werden bald knapp“, meinte Alaric und zählte auf. „Horatius, du und ich von Mutter. Leonidas, Boadicea, Alexander und Joan von der zweiten Duchess. Der dritten haben wir Spartacus, Erik und wen auch immer als Nächstes zu verdanken.“

„Vergiss Viola nicht“, sagte North. Viola war die Tochter der derzeitigen Duchess aus erster Ehe. Der Duke of Lindow hatte seine dritte Frau kennengelernt, als diese schon ein paar Jahre verwitwet gewesen war.

„Viola hat keinen Kriegernamen, weil unser Vater nicht zur Stelle war, um ihr einen auszusuchen. Was ich sagen wollte, ist, dass Diana ausgezeichnet zu uns passt. Erzähl mir mehr von ihr.“

„Du hast gesehen, wie schön sie ist“, begann North, und sein Gesichtsausdruck wurde weicher. „Sie ist eine der elegantesten Damen in London. Und sie verfügt über eine erkleckliche Mitgift.“

„Die brauchen wir nicht“, sagte Alaric. „Oder hat sich das etwa geändert?“

„Das nicht, aber Geld kann man immer gebrauchen.“

„Das stimmt. Wo liegen ihre Interessen?“

Sein Bruder sah ihn ratlos an.

„Außer Mode“, erklärte Alaric. „Ist sie interessant?“

„Ich brauche und ich will keine interessante Frau“, sagte North und holte die rote Kugel aus der Tasche. „Im Gegenteil, eine interessante Gemahlin ist einem Mann wie mir ein Gräuel.“

„Einem Mann wie dir“, wiederholte Alaric. „Was für ein Mann genau bist du geworden, North?“

Der Mund seines Bruders wurde zu einer schmalen Linie. „Du kannst vielleicht durch die Welt reisen, dich selbst Lord Wilde nennen und Pygmäen und wilde Elefanten jagen, aber ich kann das nicht. Der Grundbesitz erfordert viel Arbeit, und unser Vater hat gerade erst einen sechsten Landsitz in Wales erworben.“

„Ich wusste nicht, dass du mich brauchst“, sagte Alaric. Es fühlte sich an, als hätte er soeben einen Schlag in den Magen bekommen.

„Das tue ich auch nicht“, erwiderte North prompt. „Es ist mir ziemlich egal, ob du in Afrika schmorst oder in St. Petersburg erfrierst.“

Doch offensichtlich war es ihm nicht egal. Ganz und gar nicht.

Verdammt.

Alaric stellte sein Glas ab. „Ich entschuldige mich dafür, dass ich so lange fort war, und dass ich dir zu allem anderen auch noch die Sorge um meinen Landsitz aufgehalst habe.“

„Diesbezüglich muss ich dir sagen, dass ich ein paar Männer eingestellt habe, die dein Haus bewachen sollen. Aber die Leute schleichen sich ständig heran und stehlen die Mauersteine.“

„Warum zum Teufel sollten sie das tun?“

„Andenken“, gab North schulterzuckend zurück. „Erinnerungen an ihre Liebe. Ich habe keine Ahnung.“

Alaric unterdrückte einen Fluch. Eine hohe Hecke würde die Eindringlinge fernhalten. Vielleicht zusätzlich zur Hecke noch ein Rudel Wolfshunde?

„Es gibt einen regen Handel mit Kleinoden für Wilde-Bewunderer“, fuhr sein Bruder fort. „Ein paar deiner Ziegelsteine sind vermutlich in London gelandet.“

„Dieses verdammte Theaterstück!“, rief Alaric angewidert. „Ich muss dafür sorgen, dass es abgesetzt wird.“ Doch nach seiner langen Abwesenheit konnte er unmöglich sofort nach London aufbrechen. Sein Vater hatte ihn gebeten, ein paar Wochen in Lindow Castle zu bleiben, wenigstens so lange, bis sein neues Geschwisterchen auf der Welt war.

„Ich glaube nicht, dass es gegen das Gesetz ist, ein Theaterstück über das Leben von jemandem zu schreiben. Wilde in Love ist alles, was du dir wünschen kannst: melodramatisch, albern und sehr lustig. Die Eintrittskarten sind Monate im Voraus ausverkauft.“

„Es ist eine Sache, wenn das Stück von Julius Cäsar handelt“, stellte Alaric klar. „Ich dagegen lebe noch. Wie würde es dir gefallen, einen Haufen Unsinn über dich auf der Bühne zu sehen?“

„Du bist derjenige, der Bücher über sein Leben schreibt“, meinte North nur.

„Ich schreibe Bücher. Keine Theaterstücke. Die Bücher sind korrekt, wohingegen ich niemals etwas mit irgendwelchen Kannibalen zu tun hatte.“ Alaric kippte seinen restlichen Brandy herunter, und die Flüssigkeit brannte ihm angenehm in der Kehle.

Die Missionarstochter musste ein Zufallstreffer sein. Er konnte sich gut vorstellen, dass ein Stückeschreiber eines Tages beschlossen hat, gutes Geld damit zu verdienen, unter dem geistlosen Titel Wilde in Love zweifelhafte Abenteuer auf die Bühne zu bringen. Aber wie zum Teufel war dieser Trottel auf die Idee gekommen, die Tochter eines Missionars eine Rolle spielen zu lassen?

Tatsächlich hatte er nur ein einziges Mal die Tochter eines Missionars kennengelernt. Miss Prudence Larkin hatte ihn geliebt, obwohl er diese Gefühle nicht erwidert hatte. Ihr war es zu verdanken, dass er sich von tugendhaften jungen Damen fernhielt. Im Grunde genommen gehörten Damen und Kannibalen für ihn zur selben Kategorie: gefräßige Wesen mit einer Vorliebe für Engländer.

Doch sowohl das Theaterstück als auch seine diebischen Leserinnen waren unwichtig angesichts Norths Bedrängnis. „Es tut mir leid, dass du dich um mein Anwesen kümmern musstest.“ Alarics Miene wurde hart. „Es war einfacher, an Bord eines anderen Schiffes zu gehen, als nach Hause zu kommen und ständig daran denken zu müssen, dass Horatius sein Leben im Sumpf verloren hat.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er in Richtung Lindow Moss, dem riesigen Moorgebiet östlich des Schlosses.

„Glaubst du, du wärst der Einzige, der so empfindet? Wir alle vermissen Horatius. Aber wir haben auch dich vermisst.“ Norths weiße Kugel rollte über den Tisch, drehte sich und verpasste die Tasche nur knapp. „Ich habe sogar dein letztes Buch gelesen. Nicht, weil ich zu deiner Schar aus Bewunderern gehöre, sondern um wenigstens eine Idee davon zu bekommen, was mein Bruder so treibt und wo er gewesen ist.“

„Bitte verzeih“, sagte Alaric. Er strich sich mit der Hand durchs Haar. „Verdammt, es tut mir wirklich leid.“

„Horatius hätte dein letztes Buch gefallen. Er wäre ungeheuer stolz auf dich gewesen. Wahrscheinlich hätte er uns jeden Abend in das Theaterstück gezerrt.“ North stieß seine Kugel so hart, dass sie über die Bande sprang und über den Boden rollte.

„Du bist dran“, sagte er und blickte auf.

In mehr als einer Ansicht, wie es aussah.

4. KAPITEL

Später am selben Abend

Als Lord Alaric den Salon betrat, machte Lavinia große Augen. „Er ist ja noch hübscher als auf den Bildern!“, wisperte sie atemlos.

„Hübsch?“ Willa warf einen Blick auf den Mann, der im Handumdrehen von einem Rudel Damen umzingelt war. Auf sie wirkte er wie ein Tiger, den man versucht, hinter Rosenbüschen einzusperren. Doch so würde sich das wilde Tier nicht zähmen lassen.

„Nein, nicht hübsch“, stimmte Lavinia zu und beäugte Lord Alaric schamlos. „Er ist zu groß, um hübsch zu sein. Sein Kinn ist zu kräftig.“

Kräftig war in der Tat das passende Wort. Willa fand, sein Kinn sah eher eigensinnig aus. Eine Eigenschaft, die ihr Gemahl ganz sicher nicht haben dürfte. Eigensinn führte zu ungemütlichen Ehen.

Lord Alaric war auf dieselbe Weise spannend wie diese Tiger in der Königlichen Menagerie. Sie beobachtete sie gerne, aber sie würde nie im Traum daran denken, sich einen davon mit nach Hause zu nehmen.

Sie beugte sich vor und flüsterte Lavinia ins Ohr: „Interessanter als sein Kinn finde ich ja, dass seine Beinkleider demnächst ihren Geist aufgeben werden.“ Lord Alarics kräftige Muskeln dehnten den Seidenstoff auf eine Art, die alle Blicke auf sich zog.

Unschicklich, aber auffallend.

„Wil-la!“, sagte Lavinia und hustete, um ein Lachen zu unterdrücken. Gleichwohl öffnete sie ihren Fächer und ließ in seinem Schutz den Blick von Lord Alarics Hüfte nach unten wandern. „Falls das die Mode in Russland ist, muss ich sagen: Hut ab!“, flüsterte sie.

„Ich habe mir nie besonders viel aus Schenkeln gemacht“, stellte Willa fest, „mit Ausnahme von diesen Froschschenkeln, die deine Mutter bei ihrem letzten Dinner serviert hat.“

„Frösche?“, jaulte Lavinia auf. „Er ist kein Frosch. Frösche sind grün und schleimig.“

„Mit großen, kräftigen Muskeln“, fügte Willa lachend hinzu.

„Ich kann es einfach nicht fassen, dass Lord Alaric sich unter demselben Dach aufhält wie ich“, sagte Lavinia atemlos. „Erst letzte Woche hat die Morning Post berichtet, dass er sich in der russischen Steppe verlaufen hat. Ich wusste, dass es nicht stimmt. Er ist ein viel zu erfahrener Reisender, um bei schlechtem Wetter einfach verloren zu gehen.“

„Ich erinnere mich an das Bild, das du von ihm besitzt. Lord Wilde im arktischen Sturm“, sagte Willa.

„Ich habe es zu Hause gelassen. Ich habe nur ein Bild von ihm mitgebracht, das ihn am Steuerrad eines Schiffes zeigt, verfolgt von einem anderen, das die Piratenflagge gehisst hat. Es ist eine Szene aus Wilde Breiten.“

Willa rümpfte die Nase. „Dieser Titel ist ein gutes Beispiel dafür, warum ich seine Bücher nicht gelesen habe. Was soll das bedeuten? Soll er eine Breite haben, oder was?“

„Nein, es bedeutet nur, dass sein Schiff zwischen den Inseln segelt, auf denen die Piraten zu Hause sind.“

Willa lachte. „Wir sollten das Bild nehmen und einen genauen Vergleich anstellen. Vielleicht können wir Lord Alaric bitten, sich im Profil aufzustellen und ein Steuerrad festzuhalten, damit du sichergehen kannst, dass du dein Geld nicht verschwendet hast.“

„Wir müssten erst seine Bewunderinnen aus dem Feld schlagen.“

„Das ist viel zu viel Arbeit.“ Willa hakte sich bei Lavinia unter und zog sie in die entgegengesetzte Richtung von Lord Alaric und seinem Knäuel aus Bewunderinnen.

Ihr missfielen diese hungrigen Mienen, die sich wie eine Seuche im Raum ausgebreitet hatten, sobald er in den Salon getreten war. Viele Damen waren ganz offensichtlich für die Jagd gekleidet. Die Mieder hätten nicht tiefer geschnürt sein können. Schönheitsflecken zierten die Gesichter der Frauen so üppig, dass es aussah, als hätte es schwarze Seide vom Himmel geregnet.

Zu ihrer Überraschung schien Lord Alaric sich ganz und gar nicht in all der Bewunderung zu sonnen. Wenn sie hätte raten müssen, hätte sie sogar gesagt, dass es ihm zuwider war.

Sie weigerte sich, Teil dieser allgemeinen Anhimmelei zu sein – oder zuzulassen, dass er Lavinia ebenfalls in diesem Licht sah. Was, wenn Lavinia sich in den Kopf setzte, ihn zu heiraten? Ihrer Meinung nach sollte keine Frau ihren Gatten bewundern. Das führte nur dazu, dass dieser seine Macht schamlos ausnutzte.

„Guten Abend, Mr. Fumble“, sagte sie und lächelte dem jungen Mann zu, der ihren Weg kreuzte.

Er verneigte sich. „Guten Abend, Miss Ffynche.“ Und mit einem sehnsüchtigen Blick: „Miss Gray. Ich hoffe, Sie sind wohlauf?“ Als sie sich am Vortag kennengelernt hatten, war er prompt Lavinias Liebreiz verfallen.

Lavinia tat währenddessen so, als wäre ihr zu warm, damit sie, verborgen durch ihren Fächer, weiterhin Lord Alaric anstarren konnte.

„Hatten Sie beim Frühstück die Gelegenheit, den Morning Chronicle zu lesen?“, fragte Willa. „Die Zeitung ist ein paar Tage alt, aber heute Morgen lagen einigen Ausgaben auf dem Tisch.“

Mr. Fumble blinzelte sie unsicher an. „Seine Gnaden hat uns heute Morgen zur Jagd eingeladen, aber ich habe die erste Seite gelesen. Das meiste davon. Ein wenig.“

Willa spielte auf ein geplantes Verbot von schikanösen Berichten über den Ritterorden an, doch offenkundig interessierte Mr. Fumble sich nicht dafür. Er war vielmehr fasziniert von den Lebensgewohnheiten des Rotfuchses und hielt ihnen einen langen Vortrag über Fuchsbauten, bis Lavinia ihn schließlich unterbrach.

„Lady Knowe steht hinter dir, Willa!“, rief sie. „Lord Alaric ist bei ihr, und ich glaube, sie wollen mit uns sprechen!“

„Bitte entschuldigen Sie“, sagte Willa zu Mr. Fumble und drehte sich um. Lady Knowe, die Schwester des Dukes, war eine hochgewachsene Frau mit einem scharfen Verstand und einem ansteckenden Lachen. Da die Duchess in nicht allzu ferner Zukunft ein Kind erwartete, hatte Lady Knowe die Rolle der Gastgeberin übernommen. Sie hatte die für die Familie typischen kurzen Brauen und den hohen Wuchs.

Sie nutzte ihre Körpergröße, um sich durch eine Gruppe Damen zu pflügen, die versuchten, sich an Lord Alaric zu klammern. Sie sah aus wie eine Entenmutter, die mit einer Schar Küken im Schlepptau in Richtung Land schwimmt.

Als sie alle bei Willa angekommen waren, warf Lady Knowe Miss Kennet und Lady Ailesbury so strenge Blicke zu, dass diese tatsächlich einen Schritt Abstand hielten. Lady Helena Biddle schien aus härterem Holz geschnitzt zu sein, denn sie klammerte sich stur an Alarics anderen Arm.

„Lady Biddle“, sagte Lady Knowe mit schauderhafter Stimme, „bitte lassen Sie meinen Neffen los. Ich warte.“

„Wir feiern unsere Wiedervereinigung“, erwiderte die junge Dame mit einem Hauch Verzweiflung in der Stimme. „Ich habe Lord Wilde so lange nicht gesehen!“

„Lord Wilde ist eine ausgedachte Figur“, widersprach Lady Knowe. „Deswegen können Sie sich gerne mit ihm in Ihrer Fantasie wiedervereinigen, die ohne Zweifel die Quelle unzähliger fesselnder Erlebnisse ist. Jetzt würde ich gerne meinen Neffen, Lord Alaric, diesen jungen Damen vorstellen.“

So weit entfernt von London war Lady Knowe die Person, die der Königin am nächsten kam. Also gab Lady Biddle sich geschlagen und ließ sich ein paar Schritte zurückfallen.

„Miss Willa Ffynche und Miss Lavinia Gray“, sagte Lady Knowe. „Darf ich Sie mit Lord Alaric Wilde bekannt machen? Alaric, diese beiden gehören zu den von mir bevorzugten jungen Damen.“

„Guten Abend, Lord Alaric“, sagte Willa und zu seiner Tante: „Ich hatte bereits beim Tee das Vergnügen, Ihren Neffen kennenzulernen, Lady Knowe.“

„Es ist mir eine wahre Freude, Sie kennenzulernen, Lord Alaric“, sagte Lavinia. „Ich finde Ihre Arbeiten überaus packend.“

Überraschenderweise bekam Lord Alarics Blick keinen verträumten und bewundernden Ausdruck, als Lavinia ihm ihr schwindelerregendes Lächeln schenkte, aber vielleicht war er ein Spätzünder.

Vielleicht half es, wenn er eine volle Ladung von Lavinias Charme und Schönheit abbekam.

„Mr. Fumble hat uns soeben von der morgendlichen Jagd berichtet“, sagte Willa zu Lady Knowe, wandte sich ab und überließ es Lavinia, den Entdecker zu betören.

„Das tut uns allen sehr leid“, sagte Lady Knowe zu Mr. Fumble. „Natürlich ist ganz allein Ihr Pferd daran schuld. Der Duke sollte keine Reittiere halten, die so schwer zu bändigen sind.“

Wie es aussah, war Mr. Fumble über eine Wurzel gepurzelt. Willa schaffte es, diese wenig poetische Wendung für sich zu behalten. Sie war sehr geschickt darin, sich wohlanständig zu unterhalten, doch gelegentlich schien ein rebellischer Charakterzug mit ihr durchgehen zu wollen. Wahrscheinlich lag es an der Jahreszeit.

Lavinia und sie hatten sich monatelang überaus damenhaft gegeben und sich alle Kommentare, unanständige und andere, für zu Hause aufgespart. Oder, falls es partout nicht warten konnte, für eine geflüsterte Unterhaltung in den Ruheräumen der Damen.

Jetzt hatte sie ständig das Bedürfnis, zu seufzen, die Schultern zu zucken, zu widersprechen und alle selbstauferlegten Regeln zu brechen, die ihre erste Ballsaison zu so einem Erfolg gemacht hatten. Aber diesem Impuls nachzugeben, würde in einer Katastrophe enden. Die „echte“ Willa wäre eine unliebsame Ernüchterung für die meisten ihrer Verehrer, die sich gewiss nicht vorstellen konnten, dass sie zum Lesen Augengläser trug – oder dass sie unzüchtige Witze liebte.

„Ich stimme Ihnen zu“, sagte Mr. Fumble steif. „Mein Pferd war taub für alle Überredungsversuche und weigerte sich, eine Hecke zu nehmen, die selbst für ein kleines Pony kein Hindernis gewesen wäre.“

„Ich hoffe, Sie haben sich nicht verletzt?“, fragte Willa und machte ein mitfühlendes Gesicht.

„Er ist im hohen Bogen mit dem Allerwertesten voran in den Bach geflogen“, antwortete Lady Knowe. „Was seinen Sturz ohne Zweifel abgefedert hat.“

Diese Bemerkung stellte eine so schreckliche Beleidigung dar, dass der Gentleman sie nur finster anstarrte und davonstapfte.

Willa schaute zu Lavinia und stellte fest, dass es nicht so verlief, wie es sollte. Ihre Freundin sah Lord Alaric genauso an, wie Pygmalion seine Statue angeblickt haben musste, bevor sie lebendig wurde.

Schweigend.

Die Statue hatte es vermutlich nicht bemerkt, aber Lord Alaric sah einigermaßen unbehaglich drein.

Lady Knowe kam offensichtlich zu demselben Schluss. „Dein älterer Bruder erzählte mir, dass du behauptest, niemals einem Kannibalen begegnet zu sein, Alaric“, sagte sie. „Ich muss zugeben, dass Wilde in Love überaus fesselnd ist. Ich habe jeden Moment der Aufführung genossen.“

Lord Alarics Blick wurde düster. „Auch wenn ich dich nur ungern enttäusche, Tante, aber mit Kannibalen kenne ich mich nicht aus.“

„Ach, komm schon!“, rief Lady Knowe. „Du könntest doch gewiss einen Kannibalen finden, wenn du dir nur genug Mühe geben würdest. Ich an deiner Stelle würde rasch einen aufspüren. Nach Wilde in Love erwarten deine Leser genau das von dir. Entdecker dürfen keine Feiglinge sein.“

Willa betrachtete die festen Konturen von Lord Alarics Kinn und hielt es für ziemlich unwahrscheinlich, dass Feigheit bei seinen Entscheidungen eine Rolle spielte. Oder dass ein Kannibale ihn überrumpeln könnte.

Mit verträumtem Blick sah Lavinia sein Profil an und achtete gar nicht auf die Unterhaltung.

Verstohlen stieß Willa sie an. Der Mann war nur ein Mann, egal, wie viele Bücher er geschrieben hatte.

Egal, wie schön und mächtig und reich er war.

Oder wie überwältigend.

Er war nur ein Mann.

„Lavinia und ich haben uns erst heute Nachmittag recht kurzweilig über dieses Thema unterhalten“, sagte sie. „Wir haben uns gefragt, ob wohl Kannibalen aus verschiedenen Stämmen heiraten dürfen, wenn einer von ihnen vor Kurzem ein Festmahl genossen hat, das aus einem Verwandten des anderen bestand.“

„Wie grässlich!“, rief Lady Knowe aus. „Ich würde mich strikt weigern, jemanden zu heiraten, der einen Verwandten von mir verspeist hat.“

„Wenn wir Hamlet glauben“, sagte Lavinia und wurde langsam lebendig, als wäre sie Pygmalions Statue, „ist der Staub unserer Ahnen überall. Wahrscheinlich trinken wir mit diesem Glas Sherry davon.“

„Das ist wohl unwahrscheinlich. Schließlich waren unsere Vorfahren keine Spanier“, stellte Willa fest. „Ich bin sicher, dass es ein Amontillado ist.“

„Ich habe eine spanische Großtante“, sagte Lady Knowe nachdenklich. Sie hob ihr Glas. „Ich werde meine Meinung über den Verzehr von Verwandten überdenken müssen. Auf Tante Margarida!“

„Aber was, wenn Ihre Verwandten eher körperlich als staubig wären?“, fragte Willa.

Lord Alarics Augen funkelten unter den schweren Lidern, doch er sagte nichts. Willa hatte nicht die leiseste Idee, was er dachte.

„Lord Alaric“, fragte sie – noch einmal – „was denken Sie, besteht die Möglichkeit, dass Mitglieder von zwei verfeindeten Kannibalen-Stämmen heiraten können?“

„Das wird bei jedem Stamm verschieden sein“, antwortete er. „Es käme ganz darauf an, aus welchem Grund Kannibalismus praktiziert wird. Einige Kulturen sehen beispielsweise Hundefleisch als Delikatesse an, während es für andere unvorstellbar wäre, diese Tiere zu essen.“

„Wollen Sie damit sagen, dass für einige Stämme Kannibalismus nur eine praktische Möglichkeit ist, sich eines Feindes zu entledigen und gleichzeitig das Abendessen auf den Tisch zu bringen?“, fragte Lavinia. „So habe ich es noch nicht gesehen.“

„Ihr seid beide überaus morbide!“, rief Lady Knowe. „Was ist nur mit den jungen Damen los? Zu meiner Zeit verstanden sie sehr viel vom Sticken und wenig von allem anderen.“

„In manchen Kulturen werden heilige Tiere niemals gegessen, weil man sie für Inkarnationen von Göttern hält“, erklärte Lord Alaric. „In anderen kann das gleiche Tier jeden Tag gegessen werden.“

Willa verspürte das starke Verlangen, ihm irgendwie zu beweisen, dass er Unrecht hatte. Aber leider wusste sie nichts über heilige Tiere.

„Für meinen Vater waren seine Jagdhunde heilig“, sagte Lavinia, „aber meine Mutter konnte es nicht ausstehen, wenn sie sich beim Abendessen um seinen Stuhl scharten. Da wir gerade von heiligen Dingen sprechen, Lord Alaric, ich nehme an, dieses Medaillon ist nicht das Symbol einer verlorenen Liebe? Lady Knowe war so freundlich, mir eines zu schenken.“ Sie hielt ihr Medaillon in die Höhe.

„Ich fürchte, dieser Gegenstand ist kein Zeichen für irgendetwas. Außer für die leichtsinnige Tendenz meiner Tante, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen.“

Lady Knowe seufzte theatralisch. „Deine Medaillons sind so wunderbar gestaltet und auf beiden Seiten so hübsch verziert, mein lieber Alaric. Jeder bewundert sie.“

„Haben Sie auch so ein Medaillon?“, fragte er Willa. Seine Stimme klang abweisend.

Sie stellte sich vor, dass die Menschen normalerweise beim leisesten Anzeichen seiner Ablehnung vor Furcht erzittern. Falls es so war, war sie genau die Richtige, um ihn eines Besseren zu belehren.

„Dafür bin ich nicht qualifiziert“, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln.

Er runzelte die Stirn. „Was für eine Qualifikation braucht man dafür?“

„Opferbereitschaft“, sagte Willa. „Als Lady Knowe ihre Medaillons verteilte, gab es fast einen handfesten Streit.“

„Wie Bulldoggen, die um ihr Revier kämpfen“, fügte Lavinia hinzu. Ihre Augen leuchteten, als sie lachte. „Ich versichere Ihnen, Lord Alaric, dass ich mir mein Medaillon schwer erkämpft habe.“

„Ich musste einige Regeln aufstellen“, erklärte Lady Knowe. „Nur wahre Verehrerinnen bekamen eines. Einige hatten sich allerdings bereits selbst eines verschafft.“ Sie räusperte sich. „Helena Biddle besitzt eine Nachbildung aus reinem Gold.“

„Wie lauteten die Regeln?“ Lord Alaric biss sichtlich die Zähne zusammen.

Beinahe … beinahe tat er Willa leid. Aber wenn er seinen eigenen Ruhm so wenig mochte, hätte er keine Bücher über sich selbst schreiben dürfen.

„Lady Knowe hat einen Wettbewerb veranstaltet“, erläuterte Lavinia. „Die Fragen bezogen sich allesamt auf Ihre Arbeit. Oh, und natürlich auf das Theaterstück.“

„Du überraschst mich, Tante“, sagte er. „Ich hatte keine Ahnung, dass du meine Bücher so aufmerksam liest.“

„Ich habe mir die Fragen nicht selbst ausgedacht“, gab Lady Knowe ungeniert zu. „Dazu musste ich nur ins Kinderzimmer gehen. Die Kinder spielen deine Abenteuer immer wieder nach. Sie kennen alle deine Bücher auswendig.“

Er wirkte noch bestürzter. „Die Kinder lesen meine Bücher? Ich war heute Morgen im Kinderzimmer, aber niemand hat ein Wort gesagt.“

„Dein Vater hat befohlen, dass sie dich nicht gleich an deinem ersten Tag zu Hause bedrängen. Glaub mir, sie kennen jeden Satz auswendig. Ihre arme Gouvernante musste ihnen die Bücher immer wieder im Bett vorlesen. Vermutlich hat sie uns deswegen verlassen. Bis jetzt haben wir noch keine neue gefunden.“

Willa schluckte ein weiteres Grinsen herunter. Lord Alaric sah aus, als würde er ernsthaft darüber nachdenken, sofort zum nächsten Hafen zu fliehen. Vielleicht wollte er lieber die Segel setzen und das Land der Kannibalen ansteuern?

„Die Kinder haben das Stück noch nicht gesehen, aber Leonidas hat ihnen nach seinem letzten Ausflug nach London alles haarklein erzählt“, fuhr Lady Knowe fort.

„Betsy gibt eine feine, wenn auch etwas pathetische Missionarstochter, wenn sie ihre Liebe erklärt und gleich darauf von den Kannibalen gefangen wird.“

Lord Alaric verlagerte verstohlen sein Gewicht. Willa vermutete, dass ihm die ganze Unterhaltung, die Nachrichten von seinen Geschwistern, die Sache mit den Medaillons und vor allem dieses Theaterstück gehörig gegen den Strich gingen. Sobald es nur erwähnt wurde, wurden die Furchen in seiner Stirn noch tiefer.

Aber er war zu höflich, um vor seiner Tante die Beherrschung zu verlieren. Im Grunde war das recht bewundernswert.

„Worüber ärgern Sie sich mehr – über Wilde in Love oder über den vorzeitigen Tod der Missionarstochter?“, fragte sie.

„Das ist doch beides das Gleiche“, gab er zurück. „Beides hat sich wie Unkraut ausgebreitet, während ich im Ausland war.“

Autor

Eloisa James
New-York-Times-Bestseller-Autorin Eloisa James schreibt nicht nur packende historische Liebesromane, sie ist auch Professorin für Englische Literatur. Eloisa lebt mit ihrer Familie in New York, hält sich aber auch oft in Paris oder Italien auf. Sie hat zwei Kinder und ist mit einem waschechten italienischen Ritter verheiratet.
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