Ein Licht im Herzen

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Obwohl Lord William Sommerville nie wieder lieben wollte, fühlt er sich von der entzückenden Rosemary unwiderstehlich angezogen. Doch ist sie nur eine schamlose Diebin? Oder gekommen, um an Weihnachten die Dunkelheit in seinem Herzen mit dem Licht der Liebe zu erhellen?


  • Erscheinungstag 14.11.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504591
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London, 19. Dezember 1387

Es war genau die richtige Nacht, um auf Diebestour zu gehen.

Der Himmel war dunkel und mondlos, die Straßen beinahe menschenleer. Der eisige Wind, der durch die Gassen der Stadt mit ihren Gebäuden aus Stein und Holz pfiff, hatte die meisten Leute in ihre Häuser getrieben. Selbst Cosen Lane in The Steelyard, wo es sonst wegen der nahen Docks laut und geschäftig zuging, lag ruhig da.

Was für Rosemarys Vorhaben genau das Richtige war.

Selbstverständlich ist es keine richtige Diebestour, überlegte sie bei sich und zog selbstgerecht die Nase kraus. Die Ware war schließlich ihr Eigentum. Sie hatte sie gekauft und auch dafür bezahlt. Und jetzt holte sie sie nur ab.

Rosemary zog ihren Mantel enger um sich, während sie wütend zu dem Lagerhaus auf der anderen Straßenseite hinüberstarrte. Geschlagene zwei Stunden lauerte sie nun schon hier in dem dunklen Gässchen. Hätte dieser Narr von einem Mann ihren Erklärungen richtig zugehört, wäre das alles nicht nötig. Aber Master Jasper Pettibone, der Dockvogt des hochwohlgeborenen und offensichtlich einflussreichen Lord William Sommerville, hatte sie wie den letzten Dreck behandelt.

Als sich jetzt die Doppeltür des Lagerhauses öffnete, richtete Rosemary sich auf. Der Wind erwischte einen der Türflügel und donnerte die von Metallbändern zusammengehaltenen Bohlen gegen die Mauer. Helles Licht fiel auf die Straße. Rosemary zog sich vorsichtig in den Schatten zurück.

Ein Mann in grauer Tunika und ausgebeulten Hosen stürzte laut fluchend der Tür hinterher. Er wurde der Dicke John genannt und war einer der Wächter, die drohend dabeigestanden hatten, als Master Jasper Rosemarys einzige Chance zunichtemachte, ihre Familie zu retten. Während John jetzt mit der Tür kämpfte, traten noch zwei Männer aus dem Lager. Es waren ein weiterer Wächter und ein kleinerer Mann, dessen auffälliger weißer Haarschopf im Wind wehte.

Das war Jasper Pettibone, der herzlose, gemeine Kerl, der sie heute Morgen verjagt hatte. „Mach, dass du wegkommst, du lästiges Frauenzimmer“, hatte er sie angeknurrt. „Wenn du keine Rechnung vorzeigen kannst, die beweist, dass du bezahlt hast, bekommst du auch deine Waren nicht.“

„Aber ich sagte Euch doch, dass ich George Treacle die Hälfte bereits …“

„George ist tot.“

„Ich weiß.“ Das Herz war ihr schwer, weil sie ihren Freund verloren hatte. „Bestimmt hat er Lord William Bescheid gegeben, dass ich bezahlt habe.“

„Hat er nicht. Und die Diebe, die ihn umbrachten, stahlen seine Rechnungsbücher. Es gibt also keine Aufzeichnungen.“ Und dabei hatte Jasper sie so wütend angestarrt, als wäre sie an allem schuld. „Mein Herr sagt, wer keine Rechnung vorweisen kann, kriegt auch nichts von Georges Waren.“

„Dann will ich mit Eurem Herrn sprechen und ihm erklären …“

„Einsperren lassen wird er dich, weil du dich seinen Anweisungen widersetzt.“

Rosemary war gegangen, aber sie hatte nicht aufgeben. Ihren Anteil an der Ladung würde sie noch erhalten – die zerstoßene Parietaria officinalis, auf Deutsch nannte man die Pflanze Glaskraut, und ihre kostbare Myrrhe. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete sie jetzt Master Jasper.

„Arnald, hilf John dabei, die Tür zu sichern“, befahl der Vogt. „Gib acht, dass sie fest verschlossen ist.“ Er wandte den Kopf und ließ den Blick aufmerksam über die dunklen, verwinkelten Straßen und die unbeleuchteten Gebäude schweifen.

Rosemary kroch noch weiter in die Gasse zurück und zog sich die Kapuze tiefer in die Stirn. Nicht nur aus Furcht wegen ihrer Tollkühnheit, sondern auch vor Kälte zitternd sah sie zu, wie die Tür geschlossen wurde, und hörte das Klacken von Schritten, das von den Gebäuden widerhallte und langsam verklang. Immer noch zögernd beobachtete sie, wie der Wind mit der Tafel über der Tür spielte. Sie war geformt wie ein großer Schild. Über der diagonalen Linie waren drei Schiffe und darunter das Wappen der mächtigen Familie Sommerville zu sehen. Dieses Lagerhaus, sein Inhalt und drei seetüchtige Schiffe gehörten Lord William Sommerville. Er muss ein ganz schön arroganter Adelssprössling sein, dachte Rosemary und stellte sich einen aufgeblasenen, alten Mann mit mindestens drei Doppelkinnen und kleinen, harten Augen vor.

Rosemarys Entschluss stand fest. Die Myrrhe gehörte ihr. Sie hatte George Treacle die Hälfte des Preises als Abschlag gezahlt und würde so oder so dafür sorgen, dass sie ihre Ware erhielt. Wieder schweifte ihr Blick zum Lager hinüber.

Ob sie drinnen eine Wache zurückgelassen hatten? Ihre Hand fuhr zu dem Messer an ihrer Hüfte. Mit seinem Gebrauch war sie vertraut, denn ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sein kleines Mädchen nicht in dem wilden, gesetzlosen London herumlief, ohne sich verteidigen zu können. Aber würde sie ihre Geschicklichkeit auch nutzen können, wenn es darum ging, ihr Eigentum zu fordern?

Rosemary seufzte. Gebe Gott, dass es nicht dazu kam. Und da sie gerade dabei war, gebe Gott, dass ihr Erfolg beschieden war. Ohne die Myrrhe standen sie und ihre kleine Familie vor dem Ruin.

Es war der Mut der Verzweiflung, der sie die Furcht überwinden ließ. Sie legte den Mantel ab, der hinderlich sein konnte, wenn sie am Abflussrohr an der Rückseite des Lagerhauses hinaufkletterte. Dann schlich sie aus ihrem Versteck und huschte über die Straße. Der Wind zerrte an der Kappe, die den oben auf dem Kopf festgesteckten Zopf verbarg. Er drang kalt durch die grobe Wolle der Tunika und der Hose, die sie sich von Malcolm, dem Lehrling ihres Onkels, geliehen hatte.

Die beißende Kälte erinnerte sie ebenfalls daran, was alles auf dem Spiel stand. Wenn ihr Vorhaben nicht gelang, würden sie die Apotheke verlieren und auf die Straße geworfen werden. Sie und Malcolm könnten den Winter vielleicht überleben. Onkel Percy, alt und krank wie er war, würde noch nicht einmal zwei Wochen überstehen.

Eine Katze sprang kreischend von einem Regenfass und ergriff die Flucht, als Rosemary um das Gebäude herumging. Ihr stand beinahe das Herz still. Keuchend lehnte sie sich an die Mauer und überblickte hastig das Gelände. Erstaunlicherweise war es frei von irgendwelchem Gerümpel. Und was noch wichtiger war, kein Wächter patrouillierte hier.

Sie ging zu dem tönernen Rohr, durch das die Regentonne gefüllt wurde. Es fühlte sich glatt und kalt an. Aber weil es im Erdgeschoss keine Fenster gab, hatte sie von Anfang an entschieden, dass der Weg über das Regenrohr ihr die beste Möglichkeit bot, ins Innere zu kommen. Es reichte an dem Gebäude zwei Stockwerk hoch bis zum Dach hinauf und führte dabei im zweiten Stock an einem schmalen, mit Läden verschlossenen Fenster vorbei. Die Metallbänder, die dazu da waren, das Regenrohr an der Wand festzuhalten, lagen eng genug beieinander, um Rosemary als Leiter zu dienen.

Sie kletterte auf den Rand des Regenfasses und überprüfte ihre Theorie. Die Bänder knirschten, aber sie trugen ihr Gewicht. Die Kletterei ging langsam voran und war gar nicht so einfach, aber sie war zu bewältigen. Gott sei Dank hatten ihre Eltern, Gott schenke ihren Seelen Frieden, nie etwas gegen Rosemarys Vorliebe einzuwenden gehabt, vorzugsweise mit den Buben der Nachbarschaft zu spielen. Wenn ihre arme Mutter und ihr armer Vater natürlich gewusst hätten, dass die beliebteste Mutprobe der Kinderbande darin bestand, aufs Kirchendach zu klettern und den First entlangzulaufen, hätten sie ihre Tochter in der Apotheke eingesperrt.

Als Rosemary auf einer Höhe mit dem Fenster war, schätzte sie die Maße des Fensterbretts ab. Sie stellte fest, dass es zwar schmal, aber begehbar war. Sie beugte sich vor, stellte einen Fuß auf das Sims und zog das Messer aus seiner Scheide. Die Spitze der Klinge passte zwischen die beiden Hälften der Läden und rührte an den Metallhaken, der sie von innen zusammenhielt. Zwei rasche Drehungen ihres Handgelenks, und sie hatte den Haken nach oben gedrückt.

Die Läden öffneten sich und schwangen auf gut geölten Angeln nach innen. Während sie sich am Fensterflügel festhielt, stieg sie auf den Sims und sah vorsichtig ins Innere des Raumes. Der Schein eines Kaminfeuers hellte die Dunkelheit ein wenig auf. Das hier musste Jaspers Kontor sein, denn unter dem Fenster stand ein Tisch, der mit Papierstapeln und Rechnungsbüchern bedeckt war.

Vorsichtig, damit sie nichts durcheinanderbrachte, schlüpfte Rosemary durch das Fenster, sprang auf den Tisch und dann auf den Boden. Er war mit einem dicken Teppich bedeckt. Sommerville musste wirklich reich sein, wenn er seinen Vogt mit solchem Luxus ausstatten konnte. Die weiche Wolle schluckte jedes Geräusch ihrer Schritte, als sie zur Tür schlich, die sie auf der anderen Seite des Raumes schwach erkennen konnte. Auf ihrem Weg kam sie an zwei hochlehnigen Sesseln vorbei, die vor dem Kamin standen, und einer Wand, an der stabil aussehende Truhen aufgereiht waren. An jeder glänzte ein schweres Schloss.

Ob sie wohl voller Münzen und Juwelen waren? Wäre sie wirklich eine Diebin, hätte sie versucht, die Schlüssel zu finden, dann die Truhen geöffnet und sie geleert. Aber sie wollte nur das, was ihr gehörte.

Erstaunlicherweise war die Tür nicht verschlossen. Entweder war Master Jasper unvorsichtig oder so eingebildet, zu glauben, das Lager wäre einbruchsicher. Was bewies, wie sehr er sich irrte, denn das Gebäude konnte sogar von einer Frau geknackt werden.

Schmunzelnd öffnete sie die Tür. Der muffige Geruch nach Wolle und der scharfe Duft von Gewürzen bewiesen, dass Lord William mit den unterschiedlichsten Waren handelte. Rosemary war vorsichtig. Sie sah, dass das schwache Licht des Feuers nur bis auf die ersten Stufen fiel. Es reichte nicht aus, um ihr den Weg zu zeigen. Unter ihr und um sie herum gähnte der weitläufige Lagerraum wie ein riesiger, schwarzer Schlund. Die kalte, mit Gerüchen geschwängerte Luft schien vor gedämpfter Erwartung zu vibrieren.

War dort unten jemand? Nein, sie hätten sich bemerkbar gemacht, als sie die Tür öffnete. Rosemary kehrte zum Amtszimmer zurück, nahm eine Kerze vom Tisch und zündete sie an der Glut im Kamin an. Seltsam, wie ein nur schwach flackerndes Licht einem doch Vertrauen einflößen konnte.

Zurück auf der Treppe hielt sie die Kerze hoch. Ihre schwachen, blassen Strahlen konnten die entfernten Wände des Lagerhauses nicht erreichen. Doch sie glitten über ein Meer von Handelswaren. Von ihrem Besuch am Morgen erinnerte sie sich noch an ordentliche Reihen von Kisten, Tonnen und Fässern, die auf den Transport zu Käufern in London und darüber hinaus warteten. Die Schiffsladung, die auch ihre Myrrhe enthielt, lag einen Gang von dem großen Eingangsportal entfernt und war mit Segeltuch bedeckt. Dorthin war nämlich Master Jaspers Blick gegangen, als Rosemary sich ihm vorgestellt hatte.

Sie entdeckte den mit Segeltuch bedeckten Stapel, eilte die Treppe hinunter und kniete sich nieder, um unter das Tuch zu schauen. Da standen ein Dutzend kleine Truhen. Sie waren zusammengebunden und jede mit einem stabil aussehenden Schloss gesichert.

„Verdammt“, murmelte Rosemary. Gebe Gott, dass Master Jasper nicht auf die Idee kam, vor Morgengrauen zurückzukehren, denn die Zeit bis dahin würde sie brauchen, um die Kästen zu öffnen und ihre Myrrhe zu finden. Sie stellte den Kerzenhalter auf den festgestampften Boden, zog das Messer aus dem Gürtel und begann das Schloss der obersten Truhe zu bearbeiten.

Ein fast unhörbares Rascheln hinter ihr warnte Rosemary, dass sie nicht allein war. Erschrocken hielt sie die Luft an und drehte sich um.

Zu spät.

Ein langer Arm packte sie um die Taille und zerrte sie gegen einen Körper, der hart wie Fels war. „Wo ist der Rest deiner Mörderbande?“, zischte eine kalte Stimme ihr ins Ohr.

Die Worte vermochten kaum ihr Entsetzen zu durchdringen. „La… lasst mich los!“ Rosemary trat um sich. Mit dem rechten Fuß traf sie das Bein ihres Gegners und erntete dafür eine Welle des Schmerzes in ihrem eigenen.

„Zum Teufel!“ Der Arm des Mannes schloss sich noch fester um ihre Rippen und presste ihr die Luft aus den Lungen. „Halt still. Sag mir, wo sie sind!“

Sie? Vor Rosemarys Augen tanzten schwarze Punkte, und ihre Lungen brannten vor Verlangen nach Luft. Sie wurde nur noch von einem einzigen Gedanken beherrscht: Wie konnte sie sich von dem Kerl befreien? Mit letzter Kraft richtete sie das Messer gegen den Arm, der sie umfasst hielt.

Die Klinge glitt an der Oberfläche seines Kettenhemdärmels ab, rutschte dann zwischen zwei Kettenglieder und traf. Ihr Häscher fluchte laut in irgendeiner fremden Sprache. Für den Bruchteil eines Augenblicks lockerte sich sein Griff.

Rosemary, die daran gewöhnt war, jede Gelegenheit zu ergreifen, die sich ihr im Leben bot, entwand sich seinem Griff. Das Messer immer noch umklammert stolperte sie auf den dunklen Gang zwischen den Truhen und Tonnen zu.

„Miststück!“, schrie der Mann. Sie hörte seine Schritte hinter sich. Viel zu nahe. Noch ein Schritt, und er würde sie erneut packen.

Rosemary fuhr herum und hielt abwehrend das Messer hoch. Ihr Atem ging stoßweise, und sie war der Panik gefährlich nahe. „Bleibt zurück! Ich zögere nicht, das hier zu benutzen, wenn ich muss.“

Der Mann blieb stehen. Sein Atem ging ebenso schnell wie der ihre. Er war viel größer als sie. Im flackernden Kerzenlicht war sein Gesicht eine wütende Maske. Rosemary hatte den flüchtigen Eindruck strenger Gesichtszüge, die von schulterlangen, sonnengebleichten Haaren eingerahmt wurden. Es waren seine Augen, die ihre Aufmerksamkeit weckten. Sie waren so dunkel, dass sie fast schwarz erschienen, und sie glühten vor Zorn. Sein Blick wanderte zu ihrem Messer. „Hast du das bei George Treacle benutzt?“

„Nein, natürlich nicht“, zischte sie. „Er war mein Freund.“

„Das sagst du.“ Regungslos stand er da, doch der muskulöse Körper bebte förmlich vor Spannung. Er ähnelte einer sprungbereiten Katze.

Rosemary schloss die verschwitzte Hand fester um den Griff des Messers. „George liefert … lieferte mir Kräuter und ähnliche Sachen für meinen Laden.“

„Deinen Laden?“, schnaubte er. Die harten Augen wanderten verächtlich über ihre verschmutzte Gestalt. „Du bist keine Händlerin. Hat dich dein niederträchtiger Anführer hierher geschickt, weil er glaubt, eine Frau bestrafe ich nicht, wenn ich sie in meinem Lagerhaus beim Stehlen erwische?“

Seine Schroffheit verletzte Rosemary. Kerzengerade richtete sie sich auf und erwiderte: „Ich bin auch keine Diebin. Ich kam, um zu holen, was rechtmäßig mir gehört.“

Wieder ließ er ein Schnauben hören. „Du brichst hier ein und sprichst von Rechtmäßigkeit?“

Wütend erwiderte Rosemary seinen Blick. Ihr Temperament, das sie nie zu zügeln gelernt hatte, brachte seine Verachtung zum Kochen. „Ich war gezwungen, einzubrechen, weil diese dummen, eingebildeten Männer, die Euer Herr hier beschäftigt, keine Vernunft annehmen wollten.“

„Mein Herr?“ Er hob erstaunt die Brauen.

„Aye, dieser Lord William, den George anheuerte, um unsere Gewürze zu importieren. Ich will ja nicht schlecht von meinem toten Freund sprechen, aber ich glaube, George zeigte wenig Urteilsvermögen, als er die Dienste eines so niederträchtigen Menschen in Anspruch nahm.“

„Niederträchtig?“ Er machte große Augen, sodass die feinen Falten, die sie umgaben, sich weiß von der bronzefarbenen Haut abhoben.

„Ja, niederträchtig“, bekräftigte Rosemary. Sie entschied, dass der Wächter alles in allem gar nicht so schlecht aussah, wenn er die Stirn einmal nicht furchte und sie nicht anknurrte. „Das muss er ja wohl sein, wenn er solch grausame und herzlose Bedienstete beschäftigt.“

„Grausam?“ Er runzelte die blonden Brauen, während er ihre Worte bedachte. „Also ich finde, dass ich mich mehr als freundlich benehme, wenn man bedenkt, dass du hier eingebrochen …“

„Dazu wäre ich nicht gezwungen gewesen, wäre Master Jasper heute Morgen meinem Ansuchen nachgekommen und hätte mir meine Fracht ausgehändigt. Aber nein, er schob mich auf die Straße, bevor ich ihm auch nur zur Hälfte alles erklären konnte.“ Sie zuckte die Schultern. „Ich hatte gar keine andere Wahl, als heute Nacht wiederzukommen und mir zu nehmen, was mein ist.“

„Du hättest die Angelegenheit Lord William vortragen können.“

„Darum habe ich ja gebeten. Aber Jasper sagte, sein Herr würde nicht mit einer Frau reden. Und wenn ich mich widersetzte, würde er mich ins Gefängnis werfen lassen.“

„Hm.“ Der Mann strich sich das stoppelige Kinn. „Jasper war ein wenig zu eifrig in seiner Pflichterfüllung.“

Rosemary nickte. „Er trug Arnald auf, mich davonzujagen.“

„Und … jagte er dich davon?“

„Aye. Arnald sieht aus wie einer, der einem den Arm bricht, wenn er ihn nur anrührt.“ Sie lächelte schuldbewusst. „Aber ich bin nicht weit gegangen.“

Es zuckte um seine Lippen, aber er lächelte nicht. „Noch hast du dich von dem Lagerhaus ferngehalten.“

„Das konnte ich doch nicht.“ Rosemary sah ihm tief in die braunen Augen. Sie las darin kein Mitleid, keinen Funken Mitgefühl. Aber wenigstens schien er bereit, ihr zuzuhören. Und das war immerhin mehr, als Jasper ihr zugebilligt hatte. „Ich muss die Gewürze haben, die George für mich bestellt hat.“ Unbewusst trat sie einen Schritt vor und legte die Hand auf den Arm des Soldaten. „Wenn Ihr mir helfen würdet …“

„Was bietest du mir dafür?“, brummte er.

„Ich kann Euch die andere Hälfte dessen zahlen, was ich George schuldete.“

„Ist das alles?“

Rosemary sah ihn fest an und nickte. Sie spürte seine geschmeidigen Muskeln unter ihrer Hand. Die Bewegung schickte einen seltsamen Schauer über ihren Arm und weckte ein komisches Gefühl in ihrem Bauch. „Ich bin nicht reich.“

„Du bist jung und schön. Würdest du in dieser Münze zahlen?“

„In dieser Münze zahlen?“ Rosemary blinzelte verwirrt und versuchte den raschen Wechsel von Vorsicht zu Verachtung zu verstehen. „Oh!“, rief sie aus, als sie den Sinn seiner Worte erkannte. Betroffen riss sie die Hand von seinem Arm und trat einen Schritt zurück.

„Beleidigt?“ Er trat auf sie zu, zwang sie so, rückwärtszugehen, bis sie gegen einen Stapel kleiner Fässer stieß, die stark nach Wein rochen. „Oder beabsichtigst du, mit deiner Weigerung mein Interesse anzufeuern? Wenn ja, dann ist das nutzlose Liebesmüh. Für Frauen habe ich im Allgemeinen nur wenig Verwendung. Ich interessiere mich überhaupt nicht für sie.“

„Nun, da seid Ihr bei mir genau richtig“, schnappte Rosemary. „Denn ich habe keine Verwendung für Männer.“

„Hast du das auch George erzählt? Hast du dir so deinen Weg in sein Haus erschlichen? Hast du ihn getötet, bevor oder nachdem du erfuhrst, dass er nicht besaß, was du wolltest?“

„Ich habe George nicht getötet, du sturer Töl…“

Die Tür zum Lagerhaus flog mit lautem Krachen auf.

„Mylord?“ Arnald stürmte herein, gefolgt von Jasper.

„Lord William, wo seid Ihr?“, rief der Vogt.

„Ich bin hier“, erwiderte der Mann, den Rosemary gerade einen Tölpel genannt hatte.

„Lord William?“ Mit offenem Mund und wachsendem Entsetzen starrte Rosemary ihn an. Erst jetzt fiel ihr auf, was sie zuvor übersehen hatte: der teure Stoff und der feine Schnitt seiner schwarzen Tunika und Hose. Der aristokratische Schwung seiner Nase, als er so arrogant auf sie hinabsah. „Oh, mein Gott!“

„Ihr habt den Dieb gefangen!“, rief Arnald aus.

Lord William starrte sie böse an. „So scheint es.“ Er wandte sich leicht um und fügte über die Schulter hinzu: „Sucht nach einem Strick.“

Mehr brauchte Rosemary nicht zu hören. Sie wartete nicht länger, sondern stürzte um den Stapel kleiner Fässer herum, gab ihnen im Vorbeirennen einen festen Stoß und lief weiter. Das Rumpeln der herabrollenden Weinfässer, das scharfe Krachen und Gurgeln, als ein oder zwei davon zerbrachen, entlockten ihr ein Lächeln. Lord Williams gebrüllte Flüche ließen aus ihrem Lächeln einen Schrei des Triumphs werden, während sie die Treppe zum Kontor hinaufkletterte und so mit etwas Glück in die Freiheit entwischte.

2. KAPITEL

26. Dezember, St. Stephen’s Day

William Sommerville, zweiter Sohn des Earl of Winchester, besaß drei Segelschiffe, einen florierenden Schiffshandel und ein kleines Gut, das er von seinem Großvater väterlicherseits geerbt hatte. Er verfügte über ausgezeichnete Beziehungen, sah gut aus, war reich … und unglücklich.

Seit fast einem Jahr hatte er keinen einzigen glücklichen oder friedlichen Augenblick erlebt, wie ihm jetzt bewusst wurde, während er aus dem Fenster des Schlafgemachs blickte, das er gewöhnlich im Stadthaus seiner Eltern bewohnte. Elf Monate, zwei Wochen und sechs Tage, um genau zu sein.

Am Dreikönigstag des vergangenen Jahres hatte er das Wichtigste in seinem Leben verloren: seine Ella. Wenn Ella la Beaufort nicht gestorben wäre, hätten sie im vergangenen Frühjahr geheiratet. Und mit etwas Glück hätte sie jetzt ihr erstes Kind erwartet.

Sein Glück und sein Lebenswille hatten ihn an jenem kalten und frostigen Morgen verlassen, an dem Ella von ihm genommen wurde.

„Hör auf, dich zu quälen“, brummte eine trockene Stimme. Will fuhr herum und sah zum Kamin, wo sein älterer Bruder vor dem knisternden Feuer saß. „Tu ich doch gar nicht“, log William.

Richard seufzte. „Ich ertrage es einfach nicht, dich so leiden zu sehen.“

„Dann geh. Keiner hat dich gebeten zu kommen.“

„Mutter hat mich darum gebeten.“ Richard trat zum Fenster. „Sie machte sich Sorgen, weil du zu Weihnachten nicht nach Ransford gekommen bist.“ Er drückte leicht Wills Schulter. „Komm mit mir nach Hause, wenigstens bis nach Dreikönig. Wir wollen nicht, dass du den Tag allein verbringst.“

William blickte in das Gesicht, das dem seinen so ähnelte, dass man sie oft fälschlicherweise für Zwillinge hielt. Doch bei aller äußerlichen Ähnlichkeit waren sie innerlich völlig verschieden. Richard war der zukünftige Erbe einer Grafschaft und zufrieden damit, den gewaltigen Besitz der Sommervilles zu beaufsichtigen. William war der Rebell, der mehr nach der Familie seiner Mutter schlug. Er war Kaufmann geworden. „Ich werde kommenden 6. Januar nicht in London sein. In einigen Tagen – sobald diese Angelegenheit mit der Gewürzdiebin erledigt ist – werde ich nach Italien segeln.“

Autor

Suzanne Barclay
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